1 Einleitung

Ein aktuelles Tabu dieser Gesellschaft ist die Komfortzone: Sie muss verlassen werden, schnellstmöglich, das richtige Leben beginne erst jenseits ihrer Grenzen, heißt es von vielen Seiten. Wer in der modernen Welt etwas auf sich hält, verlässt sie demnach. Wer das nicht tut, riskiert, als langweilig, bequem und nicht anpassungsfähig zu gelten. Es reicht dabei jedoch nicht aus, die eigene Entwicklungsbereitschaft nur mit Worten kundzutun, sie muss mit Taten belegt werden. Je extremer, desto besser, könnte das Motto dafür lauten, weil Anstrengung, Selbstüberwindung, Risiko und Unannehmlichkeit klar darauf hinweisen, dass die Komfortzone verlassen worden ist. Genau für dieses Verlassen gibt es zahlreiche Vorschläge und Hilfestellungen in Form von Zeitschriftenartikeln, Büchern, Coachings und Workshops. Fast alle dieser Angebote lassen allerdings offen, was dieser Bereich eigentlich ist, den es zu verlassen gilt – und was wiederum beim Verlassen betreten wird: Die Angstzone, wie im Weiteren erklärt wird. Auch die Zusammenhänge zwischen Zonenverlassen und der Veränderung, Optimierung und Verbesserung werden, wenn überhaupt, nur vage erklärt.

Das Verlassen hat sich paradoxerweise zu einem stabilen Fluchtpunkt entwickelt, der am Horizont der persönlichen und beruflichen Entwicklung zu stehen scheint. Paradox deshalb, weil die Zone verlassen werden soll, sie aber dennoch zentraler Orientierungspunkt bleibt und nicht das Außerhalb. Das Verlassen der Komfortzone ist damit zu einer gängigen Metapher geworden, die als Impetus über dem modernen Menschen schwebt. Dient der Raum außerhalb damit nur mehr als Platzhalter, der niemals ausgefüllt werden kann und soll? Oder bietet sie doch einen erkennbaren Nutzen? Auf den folgenden Seiten werden wir uns mit dieser für die Gesellschaft anscheinend so wichtig gewordenen Zone auseinandersetzen. Es geht darum nachzuforschen, was die Komfortzone ist, woher sie kommt und was dort beginnt, wo sie endet. Außerdem geht es um eine Suche nach ihren Qualitäten, um eine Neubestimmung und damit einhergehende Aufwertung der Komfortzone, für die dieser Artikel Stellung bezieht.

2 Die Komfortzone als Negation

Schon bei der Bestimmung beginnen die Schwierigkeiten. Internetsuchen nach dem Begriff „Komfortzone“ liefern als Ergebnisse nämlich vor allem Ratschläge und Tipps, warum diese Zone möglichst schnell und oft verlassen werden solle, ohne sich mit Definitionen aufzuhalten. Selbstverständlich lässt eine einfache Internetsuche keine belastbare und wissenschaftliche Definition erwarten. Nachdem das Phänomen jedoch gesellschaftsgegenwärtig ist, kann der Wortgebrauch, ganz im wittgensteinschen Sinne („Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“; Wittgenstein 1922, § 43) dabei helfen zu erklären, was unter dieser Zone allgemeinsprachlich verstanden wird. Das ist jedoch erstaunlich wenig. Allein die Titel von Texten über diese Zone plädieren grundsätzlich für ein Verlassen: „Raus aus der Komfortzone!“ (Seiwert 2004) oder „Komfortzone verlassen“ (Brockhaus 2021). Wieso sollte dieser Bereich auch erst ausführlich definiert werden, wenn er möglichst schnell hinter sich gelassen werden soll?

Das Verlassen wird dagegen mit Heilsversprechen übersät: Selbstbestimmung, Weiterentwicklung, aus dem Leben etwas Besonderes machen sowie der Hinweis, die Magie beginne erst außerhalb der Komfortzone (Mai 2022) und viele mehr. Diese starken Kontraste werten die Komfortzone damit ab und den Vorgang des Verlassens auf. Genau dieser gestaltet sich aber keinesfalls als einfacher Weg, da viele Gründe aufgelistet werden, die in die Komfortzone zurückdrängen: Angst vor Versagen, Angst vor Anstrengung, Angst vor Veränderung u. v. m. (ebd.). Sollte die Komfortzone doch einmal näher beschrieben werden, geschieht das meist mit negativen oder negativ konnotierten Aussagen: risikolos, kein Raum zum Wachsen, Angst vor Veränderung – sie wird mitunter sogar als Sackgasse bezeichnet (ebd.). Der Duden listet als Bedeutung einen „von Bequemlichkeit und Risikofreiheit geprägten Bereich des privaten oder gesellschaftlichen Lebens“ auf (Dudenredaktion o.J.). Als Synonyme werden dagegen Zustände wie Annehmlichkeit, Behaglichkeit, Bequemlichkeit und Gemütlichkeit aufgeführt, die im Alltag durchaus als erstrebenswert betrachtet werden können.

Wie ist es der Komfortzone gelungen, mit solchen positiven Synonymen derart negative Zuschreibungen bekommen zu haben? Wieso soll sie trotz ihrer Annehmlichkeit verlassen werden? Diese Fragen beantworten die genannten Aufrufe nicht. Im gegenwärtigen Sprachgebrauch wird dieser Raum vor allem negativ definiert, und das in einem doppelten Sinn: zum einen dadurch, dass er als eigener Raum nicht definiert wird: Woraus besteht er? Was leistet er? Welche Qualitäten besitzt er? Zum anderen wird er selbst meist nur durch sein Verlassen definiert, selten durch sein Dort-Sein oder gar sein Betreten. Die Komfortzone existiert dadurch, dass sie verlassen wird. Damit erfüllt sie einen pragmatischen Zweck: Angebote wie Workshops und Coachings zum Verlassen können unter den Scheinwerfer der Verbesserung gestellt werden, ohne in die Not einer Erklärung zu geraten, woher kommend es für die Teilnehmer:innen wohin gehen soll.

Um die Komfortzone mit ihren grundsätzlichen Möglichkeiten und Beschränkungen zu verstehen, sollte sie nach unserer Meinung umfassend in den Blick genommen werden. Auch wenn die zugrundeliegende Theorie heutzutage wenig prägnant ist, hilft sie dabei, das Modell zu verstehen.

3 Ursprünge

Sie taucht erstmals in den USA der 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts auf. Die Comfort Zone stellt dabei den von Menschen angenehm empfundenen Temperaturbereich in Wohnungen dar (Hildmann 2018). Der Begriff erhält seine größere Aufmerksamkeit allerdings erst seit 1991 in der Organisationspsychologie und seit 1992 in der Erlebnispädagogik als Lernmodell, unabhängig voneinander und ohne ersichtliche oder nachgewiesene Bezüge zueinander.

3.1 Danger in the Comfort Zone

Die ersten theoretischen Auseinandersetzungen, die aus organisationspsychologischer Sicht gefunden werden können, stammen aus Judith Bardwicks Danger in the Comfort Zone (Bardwick 1991). Obwohl der Buchtitel die Zone bereits im Titel trägt, wird sie im weiteren Verlauf überraschenderweise weder explizit definiert oder erklärt und auch nur zweimal wörtlich genannt. Sie entzieht sich auch hier ihrer Definition. Bardwick analysiert die Angestelltenverhältnisse der USA in der Zeit kurz vor der Jahrhundertwende, die von dem Anspruchsdenken (entitlement) getragen seien, Erwartungen auf Gehaltserhöhungen und Beförderungen zu besitzen trotz ausbleibender Leistung (performance). Die Angestellten hätten sich in ihr Angestelltenverhältnis eingefunden, das geprägt sei von einem statischen und beschränkten Zustand – Angst-Neutralität wird hier als Schlüsselbegriff verwendet.

Die Angst ist ebenfalls der Bezugspunkt, wenn die Mitarbeiter:innen nun von ihren Führungskräften in diese vom Unternehmen geforderte performance gebracht werden sollen, um organisationale Gewinne zu erhöhen. Das sei dabei recht simpel zu erreichen, nämlich durch Druck. Der Appell Bardwicks an die Vorgesetzten lautet: „more than a carrot, you will need a stick“ (ebd., S. 82). Auf den Weg dorthin sei es normal, dass die Mitarbeiter:innen Angst hätten, die nach Erreichen des Zielzustands allerdings wieder abnehmen würde – wie genau das geschieht, wird allerdings nicht konkretisiert; der Druck muss groß, darf aber nicht so groß sein, dass als Extrempunkt der Angst die Panik erreicht werde. Dabei führt Bardwick auch die wertschätzende Unterstützung durch Kolleg:innen als Antrieb auf, um das Ziel der Performance-Steigerung zu erreichen; primär sei jedoch der Druck durch das Management, und die wertschätzende Unterstützung relativiert sich schnell, da auch Peer-Pressure legitimes Mittel der Wahl sei. Das wirkt drastisch, ist aber aus Bardwicks Perspektive die einzige Möglichkeit für Veränderung. Mit ihren Vorschlägen aus dem Jahr 1991 rennt sie bei einigen Führungskräften vermutlich auch heutzutage noch offene Türen ein, im modern denkenden Feld der Organisationsentwicklung stoßen sie aber vermutlich auf wenig Resonanz.

Der Arbeitsplatz muss ungemütlich werden, um einen betriebswirtschaftlichen Aufschwung zu erreichen. Von Bequemlichkeit darf keine Spur sein, wenn man dem Wachstum auf den Fersen ist. Mit diesen Thesen fügen sich die Gedanken von Bardwick wiederum kohärent in das dominierende zeitgenössische Bild der Komfortzone nach dem Motto: Weg von der Gemütlichkeit, hin zum Wachstum. Auch wenn die Organisationspsychologie sich in den letzten 30 Jahren weiterentwickelt und verändert hat, überlebten Gedanken aus Bardwicks Modell damit durchaus, wobei nur den wenigsten deren Ursprünge bewusst sein dürften.

3.2 Raus aus der Komfortzone zum Lernen

In der Erlebnispädagogik entwickelte sich die Komfortzone maßgeblich durch das Lernzonenmodell von Luckner und Nadler (1997). In der Mitte von zwei oder drei konzentrischen Kreisen befindet sich die Komfortzone, die von einer Lern- oder Wachstumszone umgeben ist. Das Modell wird von den Annahmen getragen, dass Erleben von Stress, Herausforderung und Risiko zu einem notwendigen Verlassen des Zentrums in die Lernzone führe, wodurch Neues erlernt und das Zentrum vergrößert wird. Sind Stress und Herausforderung jedoch zu groß, gerate man in die Panik- oder Überforderungszone, die sich außerhalb der Lern- oder Wachstumszone befindet (im dritten Kreis). Dort finde kein Lernen mehr statt, alles ist nur noch auf das Überleben ausgerichtet (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Lernzonenmodell

Der Fokus liegt auf dem persönlichen Lernprozess, der mithilfe dieses theoretischen Modells erklärt werden soll, um die erlebnispädagogische Praxis entsprechend auszurichten. Klassische Settings sind z. B. Klettern, (mehrtägige) Wanderungen, gemeinsames Bootfahren (evtl. nach einem Bootsbau), – Situationen, die sich deutlich vom Alltag der Teilnehmenden unterscheiden, sie also aus ihrer Komfortzone in die Lernzone führen. Reflexionsprozesse verankern Erkenntnisse aus den gemeinsam gemeisterten Herausforderungen, um die Komfortzone dadurch dauerhaft zu erweitern. Die Aufgaben sollen von den Verantwortlichen so weit dosiert werden, um Lernende zwar aus dem Zentrum in die Lernzone zu bringen, nicht jedoch so stark, dass die Panikzone betreten wird. Als Erklärungsgrundlage werden die Konzepte von Piaget (1976) zum Ungleichgewicht (Desäquilibrium) sowie von Festinger (1957) zur kognitiven Dissonanz herangezogen. Neue Informationen durch erlebnispädagogische Aktivitäten sollen zu einem Ungleichgewicht in den im Menschen vorhandenen Schemata führen; die erlebte kognitive Dissonanz (eigene Grundüberzeugungen werden in Frage gestellt) motiviert und führt zu erfolgreichem Lernen.

Die Parallelen zwischen den beiden Modellen und ihren Zielrichtungen sind frappierend. Einem gegenwärtig harmonisch erlebten Zustand wird ein attraktiverer Zustand gegenübergestellt, der durch die Reaktion auf Stress, Druck oder kognitive Herausforderung erreicht wird.

4 Kritik

In der folgenden Kritik werden die theoretischen Ideen von Bardwick (1991) sowie Luckner und Nadler (1997) nur insoweit berücksichtigt, als sie Bezugspunkte zur gegenwärtigen Verwendung der Komfortzone haben, weshalb eine tiefergehende Analyse der beiden Konzepte in diesem Rahmen ausbleibt. Selbstverständlich stellen wir uns hier der Kritik, diese Konzepte nur sehr verkürzt dargestellt zu haben. Die Intention liegt darin, zu den Ursprüngen zurückzugehen, um die grundsätzlichen Überlegungen zusammenzufassen und sie wieder an den aktuellen Diskurs anzuschließen. Erst dann erhält die Komfortzone wieder ihr theoretisches Fundament und bleibt nicht nur eine leere Metapher, die keine Substanz hat (vgl. Fladerer 2021).

4.1 Das richtige Maß an Stress

Allein die Dosierung des genau richtigen Maßes an Druck oder Stress – genug, um Veränderung anzustoßen, nicht zu viel, um nicht in die Panikzone zu geraten – dürfte eine unmögliche Aufgabe sein (vgl. Hildmann 2018). Wenn es sich um Gruppen oder Teams handelt, die eine Komfortzonenerweiterung durchlaufen, gibt es zudem die Herausforderung der Gruppenheterogenität: Was für die eine zu leicht ist, fällt dem nächsten bereits schwer. In der Praxis wird daher wohl ein möglichst großer Schnittbereich gesucht, in dessen Rahmen die Komfortzonenüberschreitung stattfindet. Die Komplexität dieses Unterfangens wird dabei durch das Konzept der Ambiguitätstoleranz deutlich: Personen mit einer hohen Ambiguitätstoleranz sehen in einer besonders schweren Aufgabe eher eine Herausforderung, während eine niedrige Ambiguitätstoleranz dieselbe Aufgabe bedrohlich wirken lassen kann (Hartinger et al. 2005).

Das allein wäre noch nicht dramatisch, denn auch ein kleiner Fortschritt ist einer. Doch zeichnet sich in der Lernpsychologie und in verwandten Disziplinen zunehmend ab, dass speziell beim Vorgang des Lernens recht unterschiedlich mit Stress umgegangen wird. Während es Lernende gibt, die durch eine große Diskrepanz zwischen Ursprungs- und Zielzustand herausgefordert werden und das Verlassen der Komfortzone für sie demnach einen gewinnbringenden Reiz darstellt, gibt es andere, die dadurch verunsichert werden und sich ihre Komfortzone infolgedessen sogar noch verkleinern kann. Aktuelle Studien und Metastudien im Bereich der Arbeitsweltbelastung kommen zu dem Ergebnis, dass Stress Mitarbeiter:innen, Unternehmen und die Gesellschaft mehr kostet, als er in Form von Performance und Umsatz generiert (Hassard et al. 2018, S. 1–2). Der Stress, der in der Theorie maßgeblich sei, um die Komfortzone hinter sich zu lassen, kann damit gravierende Folgen haben. Ein aktuelles Beispiel dafür stellen die Digitalisierungsbemühungen dar, die als Stressoren zu spürbarem Druck führen, die Prozesse aber keineswegs beschleunigen.

4.2 Kritik am Kausalnexus

Die zugrundeliegende Theorie des Zonenmodells der Erlebnispädagogik und der Idee, dass Stress Veränderung bewirkt, beruft sich in weiten Teilen auf Piaget und die Idee des Desäquilibriums. Das Zentrum des Modells könnte dabei metaphorisch als der im Gleichgewicht (Äquilibrium bzw. Homöostase) erlebte Zustand sein, den es zu verändern gilt. Druck, Stress, Herausforderungen fordern diesen Gleichgewichtszustand heraus. Piaget spricht in diesem Zusammenhang von Perturbation, die ein Desäquilibrium erzeuge, was wiederrum nach Bewältigung der Herausforderung zu einer Neuanpassung und Vergrößerung führen solle, damit zukünftig besser mit Herausforderungen umgegangen werden könne.

Doch so simpel, wie der Vorgang hier zusammengefasst wurde, beschreibt ihn Piaget nicht. Bei den über 1000 Titeln der Piaget-Bibliographie muss zwar zwangsläufig eine Vereinfachung seiner Theorie in Kauf genommen werden, und Luckner und Nadler liefern immerhin auf 429 Seiten Erklärungen und Begründungen, die jedoch in der heutigen Debatte gänzlich zu fehlen scheinen. Gerade da Piaget als einer der Vorläufer des Konstruktivismus gilt, wäre es viel zu kurz gedacht, den ablaufenden Prozess als einfaches Reiz-Reaktions-Schema darzustellen im Sinne von: Stress verursacht ein Ungleichgewicht, dadurch wird zwangläufig gelernt (vgl. u. a. Brown 2008).

Lernen oder Anpassung heißt aus konstruktivistischer Sicht vielmehr die Verbesserung des Gleichgewichts des Organismus (Homöostase). Damit geht es nicht um eine permanente Veränderung, also die tägliche Komfortzonen-Challenge, sondern um einen permanent ablaufenden und niemals endenden Stabilisierungsprozess. Nicht Veränderung ist das Ziel, sondern Stabilisierung (v. Glasersfeld 2015). Doch auch diese Stabilisierung findet nicht in einem linearen Prozess statt. Wie auch im Sport kann eher von Zyklen ausgegangen werden: Nach Einheiten der Anstrengung folgen Erholungsphasen, die zu einem Wachstum führen. Das Gegenmodell dazu bildet die Heterostase, die eine kontinuierliche Veränderung betont und eben keine Rückkehr zur ursprünglichen Stabilität (die es als Zustand nur theoretisch gibt, wenn von einem dynamischen Prozess ausgegangen wird). Damit gehen durchaus auch Kulturunterschiede einher, da in der westlichen Welt die Heterostase angestrebt wird, im asiatischen Denken dagegen die Homöostase (Franke 2012).

Außerdem setzt dieses Schema den Lernenden nur als passiven Rezipienten ein, mit dem gemacht wird und der zum Lernen gebracht wird. Piaget zufolge wird jedoch aktiv konstruiert, um Neues und Ungewohntes in das Bekannte zu integrieren, was auch aktuellen Erkenntnissen der Lernpsychologie entspricht. Sowohl Veränderung als auch Stress entstehen dabei im Subjekt, wobei nur der Stress von außen absichtsvoll erzeugt werden kann, die Veränderung nicht.

Ebenfalls nicht im Sinne Piagets dürften darüber hinaus die Zuspitzungen sein, die das Modell mitunter erfährt. Das Allheilmittel für alle Probleme liegt nämlich irrigerweise nicht in einer Vergrößerung der eigenen Komfortzone, sondern im Verlassen derselben. Damit wird suggeriert: Wenn du deine Komfortzone erst verlassen hast, sind alle deine Probleme, oder zumindest die wesentlichen, gelöst. Dadurch schreitet das Verlassen der Zone zum universalen Selbstzweck voran und bringt die Frage mit sich, ob das Ziel eigentlich nur erreicht wurde, weil die Komfortzone verlassen worden ist, oder ob sie verlassen worden ist, um ein Ziel zu erreichen. Sollte sich dann trotzdem noch Enttäuschung einstellen, wenn nach dem erfolgreichen Verlassen nicht alle Probleme restlos beseitigt sind, kann durchaus in dieselbe Richtung weiter gestochen werden: Hast du sie denn wirklich verlassen? Vielleicht warst du nicht weit genug draußen?

4.3 Die Komfortzone wertet ab

Die Komfortzone im heute verbreiteten Verständnis besitzt damit auch das Potenzial einer permanenten Abwertungsspirale. Wenn sich die Erfolge nicht einstellen, folgt der beschriebene Aufruf, die Zone noch weiter und noch länger zu verlassen. Doch selbst wenn neue Wege beschritten und Fähigkeiten erlernt werden, kann das in der Logik des Komfortzonendenkens erst als richtiger Erfolg wertgeschätzt werden, wenn dabei Schweiß und Tränen investiert worden sind. Es muss weh tun, muss anstrengend, muss unbequem sein. Dieses Mantra vermittelt die Botschaft, die mit der Abwertung verbunden ist.

Eine weitere Abwertung kommt noch dazu: Wir beschneiden unsere individuellen Fähigkeiten und Stärken, wenn wir alles, was wir erreichen, nur in einer anderen, fremden Sphäre erreichen – als ob kein Erfolg in der Komfortzone denkbar wäre. Wenn nur wertgeschätzt wird, was schwerfällt, werden die bereits vorhandenen Fähigkeiten entwertet und mit ihnen alle vorausgegangenen Leistungen, Errungenschaften und Erfolge.

4.4 Der Sog in die Komfortzone ist Wunschdenken

Wird den vorgestellten Modellen Glauben geschenkt, dann braucht es Kraft, Anstrengung und Druck, um aus der Komfortzone herauszukommen, und trotzdem besteht jederzeit die Gefahr, wieder in sie zurückzufallen. Wenn sie allerdings nur einen Bruchteil dieser zugeschriebenen Sogwirkung besitzen würde, gäbe es aber sicherlich nicht den Boom an Angeboten für Yoga, Achtsamkeit, Work-Life-Balance und weitere Burnout-Prophylaxen auf der einen Seite und auf der anderen eine jährlich steigende Zahl von Arbeitsunfähigkeitstagen aufgrund psychischer Erkrankungen (DAK 2022). Zugegeben, dies ist eine simple, lineare Erklärung für eine komplexe Thematik, ohne Rücksichtnahme auf Korrelationen und Kausalitäten. Trotzdem gibt es zu denken, wenn Unternehmen nicht unerhebliche Beträge in den Aufbau einer Komfortzone investieren – die ergonomische Einrichtung des Arbeitsplatzes, Präventionskurse, Führungsprogramme und immer häufiger eigene Feelgood- oder Wellbeing-Manager. Damit sollen Fehltage durch Krankheit (psychisch und physisch) reduziert werden. Das alles spricht nicht für eine Komfortzone, in die automatisch und ohne Anstrengung zurückgekehrt werden kann. Vielleicht haben sich die Zeiten und die Anforderungen seit Bardwicks Analyse geändert, heutzutage kostet es Kraft, Anstrengung und manchmal sogar Überwindung, dorthin zu gelangen.

Unsicherheit, Rollenunklarheit und Stress, die am Arbeitsplatz in einen immer größeren Fokus geraten und ohne weiteres in das Mantra des Verlassens passen, bremsen die Performance entgegen Bardwicks Hoffnung jedoch aus. Die Leistungsfähigkeit (und ihre Einschränkung) im beruflichen Kontext korreliert am stärksten mit Rollenambiguität, -konflikten, -überlastung und anderen Unsicherheiten (Arbeitsplatz, Umwelt, in Form von Konflikten) (Gilboa et al. 2008). Das Verharren in der Komfortzone scheint nicht mehr das Problem zu sein, sondern gerade das nicht Vorhandensein eines solchen Raumes im arbeitsweltlichen Kontext, das von Unsicherheiten aller Arten geprägt ist (Ellis und Shpielberg 2003).

Um Bardwicks Forderung zu aktualisieren, sollte es statt Danger in the Comfort Zone heutzutage im arbeitsweltlichen Kontext mehr um eine Stability of the Comfort Zone gehen, manchmal erst um eine Building of the Comfort Zone.

5 Aufwertung der Komfortzone

Nach der Kritik am gegenwärtigen Verständnis bietet es sich an, noch weiter in der Zeit zurückzugehen, lange bevor die Organisationspsychologie oder die Erlebnispädagogik sich dieses Begriffes angenommen haben. Confortare (lat.) bedeutet keineswegs aufschieben, sich drücken oder vermeiden, sondern trösten oder stärken. Eine Zone der Stärkung und des Trostes wirkt bei weitem nicht mehr so abschreckend wie eine Zone der Zurückhaltung, des Stillstands und der Wachstumsbegrenzung. Auch in den wenigen Beschreibungen, die existieren, wird sie als Ort der Sicherheit betitelt, in dem alles beherrschbar und kontrollierbar sei. Gepaart mit den Synonymen, die Duden auflistet (Annehmlichkeit, Behaglichkeit, Bequemlichkeit und Gemütlichkeit, s. oben), zeichnet sich das Bild der Komfortzone als durchaus erstrebenswerter Ort.

Damit wären wir bei einer vorläufigen Definition angelangt: Die Komfortzone repräsentiert den persönlichen Bereich der eigenen Ressourcen, der Resilienz, Regeneration und des eigenen Kompetenzerlebens.

Viele Coachings, Supervisionen und Organisationsentwicklungen beginnen einen Prozess mit dem Zugriff auf genau diesen Bereich. Auch im weiteren Verlauf ist dieser Bereich wesentlich an den Entwicklungs- und Veränderungsprozessen beteiligt, manchmal steht er sogar vollkommen im Fokus, nicht unter diesem Namen, aber mit den von uns vorgeschlagenen Bedeutungen. Umso absurder mag in diesem Kontext die Vorstellung erscheinen, dass die Komfortzone ein Bereich sei, in den man automatisch zurückfalle, wenn nichts unternommen würde. Denn das Aufrechterhalten dieses Zustandes erleben täglich Hunderte von Menschen als unglaublich arbeitsintensiv, sodass viele auf Unterstützung von außen angewiesen sind. Die eigene Komfortzone erst zu konstruieren, um sie dann aufrecht und stabil zu halten, ist eine Leistung und bedeutet konstante Arbeit. Eine Arbeit, die lohnend ist und eine Arbeit, die gesellschaftlich unbedingt höher wertgeschätzt werden sollte.

Dieser Artikel möchte aber auch auf keinen Fall in die andere Richtung schwenken, im Sinne einer Abwertung des Verlassens dieses Bereiches. Wenn immer Coachees, Supervisand:innen, Klient:innen unsere Dienste in Anspruch nehmen und dabei diese Zone als Metapher verwenden, sollte die Leitfrage heißen: „Inwieweit ist das, was wir hier besprechen und tun, hilfreich […] [im] Heimatsystem?“ (Neumann-Wirsig 2015, S. 20). Sie davon zu überzeugen, dass die von ihnen gebrauchte Metapher Unsinn ist, erscheint wenig hilfreich. Vielmehr kann sie im Prozess der Veränderung produktiv genutzt werden, im Sinne eines Vorher-Nachher-Vergleichs oder in Hinblick auf die verfügbaren Ressourcen, die persönliche Resilienz und gegebenenfalls nötige Ruhepausen.

6 Fazit

Gesellschaftlich betrachtet befinden wir uns in Zeiten ständiger Veränderung. Schlagwörter wie Agilität, VUCA-Welt, Disruption und viele weitere sind in aller Munde, um diese Komplexität zumindest begrifflich fassbar zu machen. Organisationen und Individuen erleben permanente Veränderungen, meist begleitet von großen Unsicherheiten bezüglich der Zukunft. Diese war immer schon unsicher und noch nie vorhersagbar, doch treten immer mehr Szenarien auf, deren Eintrittswahrscheinlichkeit gleich groß und gleich unberechenbar ist. Die Komfortzone regelmäßig zu verlassen, nicht wieder in sie zurückzukehren oder erst gar keine zu besitzen, ist schon lange der Normalzustand.

Täglich sehen sich Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Das jüngste Beispiel ist das Home-Office, durch das Arbeitgeber:innen bisher bewährte Konzepte der Führung anpassen müssen und für alle die Grenzen zur Arbeit immer weiter aufgelöst werden. Das automatische Zurückkehren in die Komfortzone, wie es die oben vorgestellten Theorien und das gesellschaftliche Mantra proklamieren und vor denen sie warnen, ist dadurch schon lange keine Selbstverständlichkeit mehr, sofern es das überhaupt einmal gewesen ist, wie an der enormen Konstruktionsleistung dieser Zone hoffentlich gezeigt werden konnte. Sie wird dadurch abgewertet und fälschlicherweise als Ort für Faulenzer verurteilt. Ihr Verlassen scheint die einzige Möglichkeit zu sein, mit der Komplexität der Welt zurecht zu kommen. Also vom Unbekannten in das Unbekannte. Das erinnert an blinden Aktionismus. Noch blinder wird dieser Aktionismus, wenn sich viele Menschen ihrer eigenen Komfortzone nicht einmal bewusst sind. Wie sollten sie auch, da es immer nur um ein Verlassen dieses Bereichs geht. Statt aber die letzte Bastion der wahrgenommenen Sicherheit zu verlassen, sollte dringend eine Gegenbewegung einsetzen: eine Aufwertung und Stärkung – ein Komfortzonencoaching.

Langfristig sind dadurch die Ziele von Bardwick, Luckner und Nadler durchaus erreichbar: zu lernen, sich anzupassen und möglicherweise sogar den Unternehmensprofit zu steigern. Doch auf dem Weg dorthin gilt es, die eigene Komfortzone zu entdecken, zu erkunden und diese Leerstelle auf der eigenen Landkarte zu füllen. Das Ziel dabei ist es, den Rückzugsort für wahrgenommene Sicherheit und Stärkung aktiv zu (re-)konstruieren. Oder anders formuliert: Die Herausforderungen kommen von ganz allein, lasst sie uns aus einer gestärkten Haltung in unserer Komfortzone bewältigen.