1 New Work und Organisationskultur

Die große gesellschaftliche Transformation, die wir derzeit erleben, ist in der Arbeitswelt anhand vielfältiger Phänomene zu erkennen. Die inzwischen hinlänglich bekannten Konzepte von Agility und New Organizing etc. umfassen dabei eine Veränderung von Zusammenarbeit und Führung, das Experimentieren mit neuen Organisationsstrukturen sowie das vermehrte Auftreten neuer Arbeitsformen, begleitet von immer tiefergreifenden Prozessen und neuen Möglichkeiten der Digitalisierung. Gerahmt und katalysiert werden diese Entwicklungen durch die aktuellen und allgegenwärtigen umfassenden gesellschaftlichen Umbrüche und Krisen.

Inzwischen werden diese Entwicklungen für das gesellschaftliche Subsystem der Wirtschaft und dabei speziell für die Welt der Arbeit und der Organisationen unter dem Begriff New Work subsumiert, obwohl deren Vielfalt und Komplexität kaum eine homogene Subkategorie zu bilden vermag. New Work meinte ursprünglich etwas anderes: Der Begründer dieser Idee Frithjof Bergmann (2004) kam beim Nachdenken über die Arbeit von Morgen zu dem Schluss, dass diese nicht nur dem Gelderwerb, sondern vor allem auch der Gesellschaft und der persönlichen Erfüllung dienen sollte. Eine New Work-Organisation vereint in sich bzw. ermöglicht die Prinzipien Freiheit (Experimentierräume, Kultur des Unperfekten, Vernetzung), Selbstverantwortung (Selbstorganisation, Budget und Beteiligung), Sinn (persönliches Wachstum, dreiteilige Wertschöpfung, sinnhaftes Gestalten), Entwicklung (kollektives Lernen und Entscheidungen, Selbsterneuerung) und soziale Verantwortung (Nachhaltigkeit, Regionalität, ehrbarer Kaufmann) (vgl. weiterführend auch Väth et al. 2019).

Wie immer, wenn neue Ideen von Arbeit, neue Organisationsmodelle oder Management- bzw. Führungstheorien auftauchen, sind sie zunächst als Ausdruck gesellschaftlicher Trends und damit notwendiger einzuleitender Veränderungen zu verstehen, denn um ihr Überleben zu sichern, muss die Innenkomplexität einer Organisation die Komplexität ihrer Umwelt hinreichend abbilden (Ashby 2011). Auf der anderen Seite dienen neue Entwicklungen ebenso als Projektionsflächen für Sehnsüchte aller Art, wie etwa höhere Produktivität, Innovativität, Flexibilität und Menschlichkeit (vgl. Schölmerich et al. 2023, in diesem Heft). Damit werden sie schnell – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – zu Heilsversprechen (Kühl 2018). Sie vermitteln den Eindruck, dass durch die neuen Ideen, Methoden, Strukturen und das „New Work-Mindset“ angestaute Probleme gelöst und mehr für die Humanisierung von Organisationen getan werden kann (Matthiesen et al. 2022).

Das Konzept von New Work wurde inzwischen verallgemeinert und meint eigentlich alles, was von eher traditionellen Formen von Arbeit und Organisationen abweicht. Im Wesentlichen geht es dabei um die Abschaffung von Hierarchien, Grenzen und Zugehörigkeiten sowie Formalismen und um die Auflockerung von klassischen Formen der Arbeit und Zusammenarbeit durch agiles Arbeiten, Empowerment, Shared Leadership, Remote Office, virtuelle Teamarbeit und Führung u. v. a. m. Damit ist New Work zum Leitbegriff der Umbrüche und Veränderungen in der Arbeits- und Organisationswelt dieses Jahrzehnts geworden und hat wahrscheinlich seinen Zenit schon überschritten bzw. steht in der Krise, wie der trend-sensitive New Work-Forscher Carsten Schermuly (Schermuly und Geissler 2021) feststellte.

Soziale Systeme, zu denen Organisationen gehören (Luhmann 1985), sind komplex und in noch komplexere Umwelten eingebettet. Ortmann (2011) beschreibt Komplexität sinngemäß als das Zusammenkommen von Vernetztheit, Mehrlagigkeit und Folgelastigkeit. Das bedeutet vor allem, dass die Folgen von intendierten Veränderungen im System nur schwer abschätzbar sind. Mit den Vorteilen, die man sich durch bestimmte Veränderungen auf der einen Seite erhofft, erkauft man sich auf der anderen Seite Nachteile, die einem vorher oft nicht bewusst sind. So erhofft man sich z. B. durch die „Abschaffung“ von Hierarchien mehr Beweglichkeit, Flexibilität, Selbstorganisation und Empowerment, fängt sich damit jedoch zahlreiche andere Probleme ein, die sich auf Steuerungsmöglichkeiten, Entscheidungsfähigkeit oder etwa die Verortung von Verantwortung und Fürsorge in der Organisation beziehen. Die Lösung eines Problems schafft also an anderer Stelle neue Probleme (vgl. auch Kühl 2015). Dies zeigt, dass Organisationen auf unterschiedlichen Dimensionen permanent damit beschäftigt sind, die gerade bestmögliche Anpassung an die Gegebenheiten ihrer Umwelten zu finden, indem sie unterschiedliche Probleme lösen müssen, für die an anderer Stelle neue Probleme entstehen, für die Lösungen gefunden werden müssen usw. Dabei lässt sich ein gewisses Oszillieren um Grundthemen beobachten, die einem immer wieder begegnen: Hierarchie vs. Heterarchie, Zentralisierung vs. Dezentralisierung, Steuerung vs. Selbstorganisation, Outsourcing vs. Insourcing, Humanisierung vs. Technisierung, Standardisierung vs. Individualisierung usw.

Letztlich prägen die organisationalen Bewegungen auf diesen Veränderungsdimensionen das, was im Allgemeinen mit dem Begriff Organisationskultur bezeichnet wird und dafür steht, welche impliziten und expliziten Normen, Einstellungen, Werte, Regeln, Tabus, Mythen usw. das Handeln der Organisationsmitglieder prägen. Hierzu gibt es zahlreiche populäre Ansätze (z. B. Deal und Kennedy 1982; Hofstede und Hofstede 2012; Quinn und Rohrbaugh 1983; Quinn 1988; Sackmann 2004; Schein 2003; Trompenaars 1997). Allen gemeinsam ist die kulturelle Beschreibung von Organisationen als Ausprägungen auf verschiedenen Dimensionen.

Im Folgenden werden die Grundbewegungen von Organisationen, die im Kern auch die New Work-Bewegung charakterisieren, aus einer gruppen- bzw. organisationsdynamischen Personenperspektive betrachtet, und daraus werden dann Problemsichten, Erlebensweisen und Handlungsmöglichkeiten abgeleitet.

2 Der gruppendynamische Raum

In der Gruppenpsychotherapie (Schutz 1966; Yalom 1995) und später in der Gruppendynamik (Amann 2009; Bachmann 2022) wird angenommen, dass alle Konflikte einer Gruppe auf letztlich drei zugrundeliegende Dimensionen zurückzuführen sind. Die Grundkonflikte entspringen dabei drei Grundfragen, die für jedes Gruppenmitglied permanent nach Antworten verlangen bzw. für alle Gruppenmitglieder bei der Beobachtung der Gruppenentwicklung und damit für die Gruppe als soziales System von Bedeutung sind.

Die erste Frage ist die nach der eigenen Position in der Gruppe: „Top or bottom?“. Wie wichtig bin ich für die Gruppe? Wie ist meine Position gegenüber den anderen? Werden meine Beiträge gewürdigt? Habe ich Einfluss auf die Gruppe? Diese Fragen referieren auf die Dimension Hierarchie. Unabhängig davon, ob in der Gruppe (oder im Team bzw. in der Organisation) eine formale Hierarchie existiert, gibt es eine informelle Hierarchie, die sich jenseits der Formalstruktur herausbildet und für die Mitglieder von enormer Bedeutung ist. Die Bedeutung der informellen Kommunikation und der daraus resultierenden Positionen dominiert aus individueller Sicht über die Formalstruktur, weil die Mitglieder durch informelle Kommunikation umfassender und vor allem emotionaler adressiert werden, als es durch die Kommunikation der Formalstruktur jemals möglich wäre. Während sich die formale Kommunikation vor allem auf die Sachdimension bezieht (und Versuche der Organisation, die Sozialdimension zu adressieren, von den Mitgliedern oft schnell durchschaut werden), ist die informelle Kommunikation vor allem für die Sozialdimension und oft auch zu einem erheblichen Teil für die Sachdimension zuständig, wenn z. B. strukturelle Probleme in Organisationen durch informelles Handeln ausgeglichen werden (müssen) (Matthiesen et al. 2022). Die informelle Hierarchie, die Position jedes einzelnen Mitglieds im sozialen Gefüge, ist demnach von enormer Bedeutung für alle Beteiligten und lässt alle danach streben, zumindest in der individuellen Bezugsgruppe eine Position zu erlangen, die mit dem Selbstbild kompatibel und zudem bezogen auf Alter, Erfahrung, Dauer der Zugehörigkeit und Bedeutung des Beitrags zur Gruppe bzw. zum Team stimmig ist (Weber 2000).

Die zweite Dimension wird durch die Grundfrage „In or out?“ beschrieben. Gehöre ich dazu? Wo ist mein Platz in der Gruppe? Bin ich im Zentrum oder eher am Rand? Werden meine Beiträge von den anderen aufgenommen? Wo verläuft die Gruppengrenze? Wer gehört zu uns und wer nicht? Diese und andere Fragen beziehen sich auf die Dimension Zugehörigkeit. Mit Luhmann (1985) gesprochen, beschreibt sie, inwieweit Gruppenmitglieder von anderen Anschlusskommunikation bekommen und damit das gruppeneigene Muster bedienen, prägen bzw. stabilisieren. Je mehr Anschlusskommunikation ein Mitglied von anderen bekommt, desto fester ist dessen Platz in der Gruppe. Das Gegenteil von Anschlusskommunikation, das Rauschen, zeigt an, dass jemand zwar anwesend sein kann, aber trotzdem nicht zur Gruppe zugehörig ist. Nicht zugehörig zu sein, adressiert archaische Ängste des Allein‑, Ausgeliefert- bzw. Ausgestoßenseins, im Überlebenskampf auf sich selbst gestellt zu sein, ohne den Schutz der Gemeinschaft, die nicht nur Unterschlupf, sondern auch Identität, geteilte Wirklichkeit und Sinn gibt. Gruppen sind permanent damit beschäftigt, ihre Gruppengrenze und damit die Zugehörigkeit zu beobachten bzw. zu regulieren. Wer ist dabei? Wer darf, muss, soll dabei sein? Was ist anders, wenn Person X plötzlich zur Gruppe stößt? Wer nimmt mit welchen Absichten am Gruppengeschehen teil? Gerade am Anfang, wenn eine Gruppe entsteht, sind diese Fragen von besonderer Bedeutung, denn es ist zunächst unklar, mit welchen Zielen oder Motiven die einzelnen Mitglieder angetreten sind. Stahl (2007) beschreibt diesen Prozess sehr anschaulich mit der Metapher des Zielepools, in den anfangs alle Mitglieder ihre Ziele hineinwerfen. Der Pool ist gefüllt, aber die Ziele unter der Oberfläche sind nicht erkennbar. Erst nach und nach werden sie aus dem Pool geholt, indem die Gruppenmitglieder beginnen, über ihre Einstellungen und Vorstellungen bezüglich der Gruppe zu sprechen. Die Gruppe beginnt sich zu differenzieren, Konflikte entstehen über Sinn, Ziele und Vorgehensweisen, und es kann in deren Verlauf zum Weggang oder Ausschluss oder zur Neuverhandlung der Mitgliedschaft von Gruppenmitgliedern kommen. Damit wird die Systemgrenze definiert und gestärkt, die Gruppe intern stabilisiert und das positive Erleben der Gruppenmitglieder gefördert.

Die dritte Dimension wird durch die Leitfrage „Near or far?“ charakterisiert. Wie nah dürfen wir uns kommen? Wie persönlich darf es werden? Wieviel darf ich von meinen Schwächen preisgeben? Kann ich meine Bedürfnisse nach Nähe in der Gruppe erfüllen? Kann ich um Unterstützung bitten? Gibt mir die Gruppe emotionale Sicherheit? Diese Fragen beziehen sich auf die Dimension Intimität. Diese beschreibt, inwieweit die Gruppenmitglieder mehr als nur wenige positions- bzw. rollenbezogene Facetten ihres Selbst in die Gruppe einbringen können. Es braucht Vertrauen, Intimität und psychologische Sicherheit, um mehr als nur das „offiziell“ erwartete Verhalten zu zeigen. Intimität entsteht, wenn sich die Gruppenmitglieder hinter ihren formalen Positionen bzw. Rollen hervorwagen, wenn sie Schwächen, Wünsche, Bedürfnisse und Sehnsüchte ausdrücken und damit andere einladen, dem gleichzutun. Damit entsteht ein sicherer Boden jenseits der Formalstruktur. Wieviel Intimität nötig und möglich ist, das ist von Gruppe zu Gruppe unterschiedlich. Sie ist nötig, damit psychologische Sicherheit entstehen kann und die Gruppenmitglieder sich trauen, auch interpersonelle Risiken einzugehen, ohne dass die Beziehungen leiden. Das meint, Schwächen zeigen können, um Hilfe bitten, in seiner Individualität akzeptiert werden, ungewohnte Ideen einbringen usw. (Edmondson und Lei 2014).

3 Die Dimensionen von New Work

Die Veränderungen, die New Work in all ihren Facetten und auf den verschiedenen Ebenen (Person, Team, Organisation) hervorbringt, lassen sich durch die drei Dimensionen Hierarchie, Zugehörigkeit und Intimität charakterisieren. Jede Veränderung hat bestimmte Vorteile und hilft dabei, die Ideale von New Work für die Individuen und damit die Ziele der Organisationsgestaltung zu erreichen, und bringt gleichzeitig wiederum bestimmte Nachteile mit sich, die durch die Organisation bzw. durch ihre Mitglieder ausgeglichen werden müssen (Tab. 1 zeigt einen Überblick).

Tab. 1 Dimensionen von New Work

3.1 Hierarchie

Beim Gedanken an New Work stehen zunächst die „Abschaffung“ der Hierarchie bzw. deren Ersetzen durch andere Strukturen und Prozesse im Vordergrund. Organisationsformen wie die Soziokratie, die Holakratie, die evolutionäre oder die agile Organisation (z. B. Laloux 2014; Robertson 2015; Rüther 2017; Oestereich und Schröder 2019) ersetzen hierarchische Strukturen durch den Fokus auf Zwecke, Einbeziehung des „ganzen Menschen“, Selbstführung und -organisation, partizipative Entscheidungsverfahren und -strukturen (z. B. durch wechselseitig verlinkte Kreise auf mehreren Ebenen) bzw. durch agile Zusammenarbeit und geteilte Führung. Diese Veränderungen ermöglichen, das ist unbestritten, mehr Partizipation und damit Verantwortungsübernahme und fördern das Empowerment, also das Erleben von Kompetenz, Bedeutsamkeit, Selbstbestimmung und Einfluss (Spreitzer 2008). Sie stärken somit die Personenebene von Organisationen und führen zu höherer Mitarbeiterzufriedenheit und mehr Innovationsverhalten (Schermuly et al. 2011, 2013). Bezüglich der Organisation geht man davon aus, dass Organisationen, die nicht klassisch-hierarchisch strukturiert sind, weniger bürokratisch sind und damit flexibler und schneller agieren können. Die Hoffnung ist weiterhin, dass ohne Hierarchie mehr Raum für Innovativität und Kreativität entsteht und für die Organisation somit Wettbewerbsvorteile entstehen. Soweit die Idee. Mit dem Wegfall formaler hierarchischer Strukturen entstehen jedoch etliche neue Herausforderungen und Folgeprobleme.

3.1.1 Steuerung und Entscheidung

Die formale Hierarchie macht es einfach, soziale Systeme zu steuern und entsprechende Entscheidungen zu treffen. Die Vorgänger moderner Organisationen sind im Militär und in religiösen Institutionen zu finden. Beim Militär erlaubt die Befehlskette eine relativ fehlerfreie und geradlinige Weitergabe von Informationen und Entscheidungen. Damit lassen sich große soziale Systeme koordinieren. Um die Einsamkeit der Entscheider etwas zu kompensieren, wurden Stabsfunktionen etabliert, die dem Befehlshaber fachlich beistanden. Diese Struktur ist bis heute in hierarchischen Organisationen zu finden.

Ohne die formale Hierarchie entstehen daher mindestens zwei Fragen: Wie kann die Organisation kommunikativ gesteuert werden und wer trifft die nötigen Entscheidungen? Für deren Beantwortung haben New Work-Ansätze verschiedene Konzepte entwickelt. Das Steuerungsproblem wird z. B. durch holakratische Kreise oder durch shared leadership oder distributed leadership adressiert. Shared leadership bedeutet, dass Führung gerade dort entsteht, wo sie gebraucht wird, und durch die Person ausgeübt wird, die die meisten Kompetenzen für das gerade anliegende Thema hat (vgl. Moe et al. 2009). Shared leadership und seine mehr formalisierte Variante distributed leadership sind somit mehr oder weniger eine offizielle Einladung zu gruppendynamischen Prozessen, denn Führung in hierarchiefreien Gruppen erfolgt nach dem gleichen Prinzip, wie es z. B. im four player-Modell von Kantor und Lehr (1977) beschrieben wurde: Bei der Beobachtung von Familiengesprächen wurden die vier Positionen mover, follower, opposer und bystander sichtbar, die sich herausbilden, wenn eine Entscheidung getroffen werden soll. Auch das Modell nach Schindler (1957) beschreibt solche Prozesse, indem die Bildung einer informellen Rangstruktur nach einem psychodynamischen Prinzip von Projektion und Abwehr angenommen wird, bei dem die Gruppenmitglieder γ die Erfüllung ihrer Bedürfnisse in einer Position α sehen, die unterstützt von β die beste Antwort auf ein (drohendes) Gegenüber hat. Der Gegenpol zu α ist ω und wird als mit dem Gegenüber assoziiert wahrgenommen.

Um diese gruppendynamischen Prozesse zu regulieren und damit handhabbar zu machen, wird in New Work-Organisationen mit vielfältigen Methoden der Entscheidungsfindung (Oestereich und Schröder 2016, 2019; Rüther 2017) gearbeitet, die von allen Beteiligten neben spezifischen methodischen Kompetenzen auch ausgeprägte persönliche Kompetenzen verlangen (Breidenbach und Rollow 2019). Im Kern geht es dabei darum, persönliche Belange (Anerkennung, Karriereziele, Status etc.) gegenüber der Steuerungs- und Entscheidungsfähigkeit der Gruppe oder der Organisation zurückstellen zu können und Probleme methodisch anzugehen, damit die Lösungen am Ende nicht Ergebnisse gruppendynamischer Rangkonflikte sind. Um dies sicherzustellen, wird in New Work-Organisationen viel mit Moderatoren und Coaches gearbeitet, die intern oder von extern dabei helfen, Methoden zu erlernen, einzuüben und zu etablieren. Der bekannteste Vertreter dieser Zunft ist hier der agile coach oder scrum master.

Die agile Organisationsentwicklung hat zur Bewältigung dieser Veränderungen bis dato eine Unmenge an Konzepten und Tools zusammengetragen (Oestereich und Schröder 2016, 2019) und damit einen komplexen Werkzeugkasten geschaffen und sich dabei gleichzeitig (wohl ungewollt) in ein bürokratisches Monster verwandelt, das versucht, die abgeschafften formalen Strukturen durch neu anzuschaffende formale Strukturen zu ersetzen. Strukturen bleiben Strukturen, sie müssen etabliert, gelebt und erhalten werden, und sie ermöglichen und verhindern zugleich. Die gescheiterte Einführung von Holakratie bei einem Schweizer Telekommunikationsunternehmen (Bauer et al. 2019) zeigt beispielhaft, wie die anfallenden Opportunitätskosten in Form von Lernen, Üben, Engagement und Ressourceneinsatz die beteiligten Personen überfordern können.

3.1.2 Führung

Führung ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die in Organisationen erledigt werden muss, damit koordiniertes Handeln auf ein gemeinsames Ziel hin entstehen kann und alle Individuen persönliche Orientierung erfahren. Dabei können mindestens vier Funktionen von Führung identifiziert werden (Grannemann 2016): die Selbstführung, die transaktionale, die interaktionale und die transformationale Führung. Nach Seliger (2018) werden dabei die Verbindungen zwischen Person und Organisation adressiert, indem die Verknüpfungen von Person und Rolle, von Person und Aufgabe, von Personen mit Personen (dem Team) und von Personen mit der Organisation und ihren Zielen hergestellt und gestaltet werden. Dies geschieht durch „Beziehungsgestaltung in Machtumgebungen“, wie Wolfgang Looss es in Supervisionssitzungen auszudrücken pflegte. Die teilweise oder vollständige Übertragung dieser Aufgaben von einzelnen Führungspersonen auf mehrere Individuen bzw. Subsysteme ist ein komplexes Unterfangen, das in der Praxis niemals schmerzfrei abläuft (z. B. Bauer et al. 2019).

New Work entledigt sich des formalen Führungsproblems durch die Fokussierung auf den purpose und die Etablierung von shared leadership. Und in der Tat lässt sich beobachten, dass Organisationen mit starker ideeller Ausrichtung weniger transaktionale und transformationale Führung benötigen und ausprägen. Das betrifft vor allem Non Profit-Organisationen, deren Idee und Zweck sinnstiftend, täglich präsent und damit handlungsleitend für die Organisationsmitglieder ist. Die Organisation führt sich quasi selbst. Vor allem der „Management-Esoteriker“ Laloux (2014) setzt bei seiner Organisationserfindung auf die Wirkung des purpose und referiert damit auf die Grundidee des New Work-Vordenkers Bergmann (2004), dass die Arbeit der Zukunft sinnstiftend sein muss. Dass Sinn ein komplexes Konstrukt ist, wird dabei gerne unterschätzt. Luhmann (1985) denkt soziale Systeme als sinnverarbeitende Systeme. Das bedeutet, dass Sinn durch selbstreferentielle Kommunikation hergestellt wird und damit Produkt von dynamisch-stabilen Selbstorganisationsprozessen ist. Sinn lässt sich weder gezielt erzeugen noch von außen zuführen. Welchen Sinn die Personen letztlich einem sozialen System zuschreiben und miteinander teilen, ist nicht steuerbar und prinzipiell nicht erfassbar. So kann man zwar immer wieder auf den Sinn oder purpose einer Unternehmung hinweisen, kann sich aber nie sicher sein, ob das alle so sehen und nicht aus ganz anderen Motiven folgen, z. B. aus Mangel an Alternativen, eigenen Motiven, aus Angst oder aus Faulheit, sich nach etwas anderem umzusehen. Das wirkt sich natürlich unmittelbar auf die Führung des Systems aus, das somit der Selbstorganisation oder dem Chaos (je nach bevorzugter Wortwahl) ausgeliefert ist.

3.1.3 Verantwortung und Entlastung

Hierarchie bedeutet nicht nur, dass einige wenige Personen anderen übergeordnet sind und für diese steuern und entscheiden, sie bedeutet auch – und das ist sehr entscheidend –, wer die Verantwortung für Entscheidungen trägt. Entscheiden bedeutet, eine Alternative aus vielen Möglichkeiten auszuwählen und damit alle anderen auszuschließen. Dabei ist es niemals klar, ob es nicht auch bessere Möglichkeiten gegeben hätte. Wenn mit einer getroffenen Entscheidung jedoch negative Konsequenzen für die Organisation oder die Personen verbunden sind, wenn also Fehlentscheidungen getroffen wurden, wer übernimmt dann die Verantwortung? Was ist, wenn wirtschaftliche Einbußen entstehen oder Regressforderungen oder Vertragsstrafen drohen? Wer in eine verantwortungsvolle Position in einer Organisation eintritt, nimmt in Kauf, auch die Konsequenzen für Fehlentscheidungen zu tragen. Die Frage der Haftung ist z. B. bei einer Geschäftsführungsposition explizit mit eingepreist.

Das Dilemma, dass alle mitreden, aber nicht entscheiden können oder wollen, ist uns ja in der Corona-Krise eindrucksvoll begegnet. Eine Sache sieht eben ganz anders aus, wenn man die Verantwortung trägt, als wenn man nur zuschaut. Auch Laloux (2014) betont, dass sein Ansatz nur funktioniert, wenn das Top-Management bzw. die Eigentümer mitspielen. Er geht also davon aus, dass neue Organisationen auf das Wohlwollen der finalen Entscheider angewiesen sind. Dies karikiert den Ansatz maßgeblich. Es bleibt: Solange alles gut läuft, dürft ihr New Work machen, und wenn es ernst wird, wird wieder durchgegriffen. Einen ähnlichen Gedanken äußern auch Schermuly und Geissler (2021), indem sie von der Krise von New Work sprechen, oder auch Zirkler (2023, in diesem Heft), der betont, dass alle Organisationen letztlich den Logiken von Finanzmärkten und Wettbewerb unterworfen sind.

Hierarche hat somit auch eine Entlastungsfunktion für die Untergebenen und bedeutet damit paradoxerweise auch, mehr Freiheit zu haben als die Führungsperson über mir, die oftmals am Wochenende noch Mails bearbeitet, sich zu Geschäftsessen trifft und für Entscheidungen geradestehen muss, während Untergebene mit freiem Kopf ihrem privaten Leben nachgehen können. Diese Dynamik aus Freiheit und Verantwortung ist ein wesentlicher Aspekt, wenn man über Abschaffung oder „Verflachung“ von Hierarchie in Organisationen nachdenkt. Je mehr Verantwortung in der Organisation verteilt wird, desto weniger frei werden die Organisationsmitglieder. Die Organisation wird zum hauptsächlichen Lebensinhalt und dominiert das Leben ihrer Mitglieder, manchmal in einem nicht mehr erträglichen Maß an Selbstausbeutung, Überforderung und Erschöpfung.

3.1.4 Entwicklung und Fürsorge

Mit diesen Aspekten eng verbunden sind Fürsorge für die Untergebenen und deren Entwicklung. Verantwortungsvolle Mächtige sind sich dessen bewusst und achten darauf, dass Mitarbeitende nicht über ihre Grenzen gehen, Urlaub machen, bei persönlichen oder familiären Problemen Unterstützung bekommen, sich entwickeln und Erfüllung finden und weder im Burnout noch im Boreout landen. Wie diese Aspekte in New Work-Organisationen Beachtung finden, deren Mitarbeitende tendenziell zur Selbstausbeutung neigen, ist eine offene Frage. In New Work-Organisationen ist das Arbeitspensum hoch. Das liegt nicht nur daran, dass es sich hier meistens um Start-Ups der Tech-Branche handelt, die ohnehin schnell getaktet sind, sondern an einer wechselseitigen Beobachtung des Arbeitsverhaltens der Organisationsmitglieder untereinander (kollektive Leistungssteuerung). Dies manifestiert sich als entgrenzender Konformitätsdruck, der es der einzelnen Person schwer macht, auszuscheren: Pünktlich Feierabend zu machen, am Wochenende keine Mails mehr zu checken, nicht noch eine Aufgabe anzunehmen und ein erfüllendes Leben auch außerhalb der Arbeit zu haben usw., fällt schwer, wenn alle anderen auch ohne solche Eingrenzungen leben. Obwohl Arbeit in solchen Organisationen zum erfüllenden Lebensinhalt umdeklariert wird (nach dem Motto: „Mach’ deine Leidenschaft zum Beruf und du musst nie wieder arbeiten“), bleibt sie trotzdem Arbeit mit allen positiven und eben auch negativen Auswirkungen für das Individuum, denn die Dosis macht das Gift.

Hinzu kommt der gesellschaftliche Erwartungsdruck, alles zu erreichen, Karriere, Partnerschaft, Kinder, gesellschaftliches Engagement, sich dabei in seiner Einzigartigkeit zu entfalten und unter dem Singularitätsdruck der postmodernen Gesellschaften nach Erfüllung streben. Aber nach dem Prinzip „Be yourself and do your thing“ sind doch alle irgendwie konform, wenn sie dem Zwang der Freiheit folgen, diese zu nutzen und mit Sinn zu füllen (vgl. Han 2013; Reckwitz 2019). Der Begriff „Erschöpfungsstolz“ von Grünewald (2013) bringt auf den Punkt, welcher Mechanismus hier greift. Es gibt so viel Anerkennung von innen und von außen, was man so alles schafft, wie leistungsfähig und durchoptimiert man ist (s. Fallbeispiel 1, J. Jung).

In den ersten Minuten unseres Kontaktes zeichnet sie mir unaufgefordert ein sehr ausführliches Bild ihres Tagesablaufs: Sport, gesundes Frühstück, ein Spaziergang um den Block „zum Entspannen“, arbeiten, dann Mittagessen kochen, „die Pause genießen“, weiter arbeiten, häufig bis spät in den Abend. „Es geht auch nicht anders, es ist sehr viel zu tun“. Dann sei sie meist sehr erschöpft. Die Wochenenden verbringe sie häufig in Kopenhagen, wo ihr Partner lebt. An manchen Tagen schaffe sie dann auch zwischen all den Dingen, die sie für sich selbst tun müsse (spazieren, kochen, Sport, aufräumen …), gar nicht zu arbeiten, dann fühle sie sich allerdings schuldig und leer. Sie frage sich, warum sie es nicht schaffe, regelmäßig weniger zu arbeiten, und würde gern mehr in Balance kommen.

Nach einem ersten Widerstand erzählt sie mir aus ihrer Kindheit: Sie hatte damals eine Vorliebe für Frauenfiguren in Filmen, die ein Business-Kostüm tragen, wichtige Dokumente im Aktenkoffer haben und sehr beschäftigt sind. Das fand sie toll, so wollte sie auch mal sein. Diese Frauen waren wichtig, sie machten wichtige Dinge. Sie erzählt von ihren schulischen Leistungen, dem Stolz der Eltern, ihrem eigenen Stolz auf den ebenfalls sehr erfolgreichen Bruder. Wir würdigen dieses Narrativ, und dass es vielleicht dazu beiträgt, dass sie sich immer wieder in Unternehmen begibt, die ihr viel abverlangen, in denen sie ständig gefragt ist. Wer gefragt ist, ist beschäftigt. Wer beschäftigt ist, ist erfolgreich. Und wer erfolgreich ist, wird anerkannt.

Was mir hier begegnet, ist keine Ausnahme. Ich sehe mehr und mehr Klient:innen, vor allem junge Frauen, die gefangen im Leistungsprinzip einem neoliberalen, pseudofeministischen Idealtypus der erfolgreichen „has-it-all“-Frau nacheifern und dabei ständig erschöpft und abgeschnitten von ihrem Körper sind. Dabei reproduzieren sie in sorgfältigen Inszenierungen des glücklichen Lebens auf Instagram denselben Mythos für andere Frauen. „Become the best version of yourself!“ Bei mir sitzen Klientinnen, die einander Beispiele dafür aufführen, wie es aussieht, erfolgreich zu sein, die einander erzählen, wie glücklich es sie macht, morgens um 5:30 Uhr Sport zu machen.

3.2 Zugehörigkeit

Organisationen regeln die Zugehörigkeit ihrer Mitglieder im Gegensatz zu anderen sozialen Systemen durch einen formalen Vertrag (u. a. Kühl 2011). Die Mitgliedschaft ist dabei als ein sozialer Austauschprozess zu verstehen, der sich sozialer Steuerungsmedien bedient. Für die Hingabe an die Organisation zur Erfüllung einer Rolle bedienen Organisationen Bedürfnisse nach Macht und Gestaltung, nach Wahrheit und Sinn, nach Geld und anderen materiellen Werten oder nach Liebe und Anerkennung (frei nach Luhmann). In keiner Organisation kann man alles finden. Einmal gibt es mehr Liebe, aber dafür weniger Geld, einmal mehr Sinn, aber keine Macht usw. Die aus der Mitgliedschaft sich ergebende Zugehörigkeit ist aus Sicht der Organisation ein zentrales Element der Steuerung, denn die Disziplinierung ihrer Mitglieder – oder anders ausgedrückt, die Erfüllung von Rollenerwartungen – lässt sich neben den üblichen Motivationsversuchen letztlich nur mit einem angedrohten Mitgliedschaftsverlust erreichen (Kühl 2011). Die darüber hinausgehende nicht-formale Bindung der Mitglieder an die Organisation, die Identifikation mit Arbeit, Kultur, Werten und Zwecken ist daher eine wesentliche Überlebensfunktion des Organisationsseins und wird durch zahlreiche Maßnahmen vom employer branding bis zur Weihnachtsfeier, vom hoody mit Firmenlogo bis zum team retreat oder vom Leitbildprozess bis zur „Purpose-Findung“ unterstützt.

Für die Organisationsmitglieder bedeutet die Zugehörigkeit zu einer Organisation meist mehr als nur Broterwerb. Die Zugehörigkeit zu einem großen Ganzen, zu einer Gemeinschaft, die sich einer Aufgabe verschreibt, gemeinsam Erfolge feiert oder Herausforderungen angeht, ist erfüllend, generiert Anerkennung und macht, dass man sich „zusammen weniger allein“ fühlt. Einen Platz in dieser Gemeinschaft zu finden, gehört zu werden, mitzugestalten und eingebunden zu sein, ist von hohem Wert. Mit den Kollegen und Kolleginnen verbringt man im Laufe eines Arbeitslebens mehr Zeit als mit Partnern und Partnerinnen oder den Kindern (wenn man die Zeit zum Schlafen einmal herausrechnet). Organisationen und die Teams, aus denen sie bestehen, werden damit oft (gewollt oder ungewollt) zum Familienersatz (die Werbeagentur Scholz & Friends nannte ihre Teams in den 2010er-Jahren – ungewollt ironischerweise – „Families“).

New Work setzt die Dimension der Zugehörigkeit für Organisationen und Individuen unter Stress: durch Arbeitszeit- und Arbeitsort-Autonomie, Mehrfachzugehörigkeiten zu verschiedenen Teams, sich schnell ändernde Organisationsstrukturen, netzwerkartige Organisationen, gig economy, offene Bürokonzepte, Jobsharing, remote Work usw. Die Beziehung von Person und Organisation wird lockerer, fluider, unschärfer, teils unverbindlicher, und die Corona-Pandemie hat hier wie ein Katalysator gewirkt (s. Fallbeispiel 2, J. Jung).

Ein Online-Unternehmen hat sich im Zuge der Pandemie auf eine hybride Organisationsform umgestellt und setzt auf Selbstorganisation der einzelnen Teams. Neben den beiden festen deutschen Standorten, an denen die Mehrzahl der Mitarbeitenden angesiedelt ist, hat das Unternehmen begonnen, auch ortsunabhängig Mitarbeitende einzustellen. Um das soziale Miteinander zu stärken, lud das Unternehmen alle Mitarbeitenden zu einer Woche am Hauptstandort ein. Eine Mitarbeitende meines Klienten lehnt die Kalendereinladung zum Event ab und taucht nicht auf, meldet sich aber nicht bei ihrer Führungskraft ab, sondern arbeitete einfach von zu Hause aus weiter. Die Führungskraft fühlt sich durch das Nichterscheinen, das sie nicht erklären konnte, bloßgestellt. Die HR-Abteilung verwies auf eine E‑Mail, in der die Teilnahme als verpflichtend markiert wurde, und eskalierte den Fall. Da die Mitarbeitende auch schon vorher allen optionalen Präsenzmeetings des Teams ferngeblieben ist, fragt sich die Führungskraft nun, was ihre Handhabe, aber auch was ihre Fürsorgepflicht in diesem Fall ist.

Inwieweit New Work die Veränderungen auf der Zugehörigkeitsdimension konzeptionell bearbeiten und gestalten kann, ist noch mit vielen Fragezeichen versehen. Wichtig ist, dass die Auswirkungen sowohl für die Organisation als auch für die Personen erheblich sein können, weil sie erst einmal nur unterschwellig wirken.

Für die Organisationen bedeuten die Veränderungen auf der Zugehörigkeitsdimension, dass sie massiv vor (nicht mehr ganz neue) Probleme von Kooperation, Kommunikation und Information gestellt werden. Die feste Bindung an die Organisation (teilweise über Generationen wie z. B. in Familienunternehmen), die gemeinsame Arbeit an einem Ort und zur gleichen Zeit die Identifikation mit einem Team, die Möglichkeit persönlicher, schneller und informeller Absprachen, der Buschfunk, Routinen und Rituale (Arbeitsweg, gemeinsames Mittagessen, Kaffeepausen etc.) müssen durch – meist digitale – Kollaborationstools und neue Ansätze von Führung und Zusammenarbeit kompensiert werden. Studien und Ansätze zu virtueller Führung und Teamarbeit (z. B. Bachmann et al. 2022; Herrmann et al. 2012; Kunert 2022) zeigen, wie schwer es für Führung und Organisation ist, gegen die Fliehkräfte zu arbeiten, die Verbindung zu ihren Mitarbeitenden zu gestalten und die Führungsarbeit zu leisten. Die losere Koppelung von Person und Organisation und die unschärfer werdenden Grenzen der Organisation führen zu Problemen der Steuerbarkeit, der Informationsweitergabe und der Qualität der Zusammenarbeit (Csar 2022), wenn die Organisation diese Themen nicht explizit z. B. durch gute Führung bearbeitet.

Auf der Personenebene sind die Veränderungen auf der Zugehörigkeitsdimension vor allem durch eine nachlassende Bindung an die Organisation, eine geringere Identifikation und nachlassende Teilhabe zu erkennen. In einer Studie konnten Bachmann und Bravo (2021) zeigen, dass remote-Arbeit zu einer höheren individuellen psychologischen Sicherheit und zugleich zu weniger Identifikation mit dem Team führt, weil man sich durch die Distanz mehr geschützt fühlt und zugleich nicht mehr so stark mit den Mitgliedern des eigenen Teams verbunden ist. Die schwachen Bindungen und fluiden Strukturen erzeugen immer mehr Singularitäten, zur Selbstentfaltung verdammt in der zunehmenden sozialen Entropie der Multioptionsgesellschaft (Bailey 1990; Gross 2002; Reckwitz 2019). Dies wird im New Work-Kontext aber so nicht thematisiert, sondern liegt im Bereich des „Nicht-Besprechbaren“, der durch den alles dominierenden „Überschuss an Positivität“ (Han 2013) definiert wird. Diese Positivkultur ist sprachlich (vielfach durch Anglizismen) wie Optionen, Challenges, Chancen, Optimierung, Leadership, Purpose usw. markiert und wirft die Individuen damit auf sich selbst zurück, verdammt dazu, den eigenen Entwurf zu gestalten, wie die Existenzialisten es schon im letzten Jahrhundert formulierten.

3.3 Intimität

Die Dimension der Intimität steht in enger Verbindung mit der Zugehörigkeit zu einem sozialen System. Sie ist gewissermaßen ihr Produkt, wenngleich die jeweilige Ausprägung sehr unterschiedlich sein kann. Im New Work-Kontext wird vor allem von Laloux (2014) betont, dass der „ganze Mensch“ in der Organisation gefragt ist und nicht nur die Rolle, die durch eine formale job description beschrieben wird. Die innere Ganzheit ist willkommen, und alles, was wir Menschen sind, kann zum Ausdruck kommen. Kann oder muss? Mit diesem Anspruch von New Work sind wiederum die beiden Perspektiven Person und Organisation verbunden. Wenden wir uns zunächst der Organisationsperspektive zu.

In welchem Verhältnis steht der Anspruch nach menschlichem Ausdruck und Ganzheit mit den formalen Rollen, die charakteristisch und wichtig für das Funktionieren einer Organisation sind? Wenn New Work die Ganzheit fördert, sich also mit allen Facetten einzubringen, können Organisationen dann auch mit all diesen Facetten angemessen operieren? Kühl (2011) beschreibt anhand des formalen Mitgliedschaftsvertrags zwischen der Organisation und ihren Mitgliedern nicht nur die wechselseitigen Erwartungen, sondern auch die damit verbundenen Entlastungen. Ob jemand FC Bayern-Fan ist, sich am Wochenende mit anderen im Wald zum Live Action Role-Playing trifft oder eine Vorliebe für Norwegische Walkatzen hat, kann und muss der Organisation egal sein, solange es nicht ihre Mitgliedschaftskriterien tangiert. Das entlastet die Personen und nimmt Komplexität aus der Organisation, da die Organisationsmitglieder weniger Varianz einbringen, die durch Entscheidungskommunikation versorgt werden muss. Selbstverständlich geht der Organisation damit auch viel Potenzial verloren, da ihre Mitglieder viele ihrer Ideen, Fähigkeiten und Kompetenzen nicht in die Organisation einbringen. Es geht also wie immer darum, das „richtige“ Maß zu finden, denn alle Facetten einer Person, die die Organisation adressiert, müssen von ihr auch versorgt und gewürdigt werden können. Wenn sich Organisationen den ganzen Menschen wünschen, müssen daher auch Strukturen und Prozesse zu dessen Versorgung vorgehalten werden. In der Tat lassen sich in vielen Organisationen in den letzten Jahren zunehmend derartige Rundum-Pakete beobachten. Das geht vom legendären Kicker-Tisch in den Start-Ups über den Bio-Obstkorb, den Feel-Good-Manager, Massagen und Yoga, den Betriebskindergarten, das Mitbringen von Haustieren, gemeinsame Partys und Freizeitaktivitäten, Sport bis hin zu Therapie- und Beratungsangeboten oder Gymnastik und Rückenschulen. Die Organisationen scheinen sich darin überbieten zu wollen, auf jede erdenkliche Facette ihrer Mitglieder eine Antwort zu haben. Selbst das Dilemma zwischen Kinderwunsch und Karriere kann durch social freezing, dem Einfrieren von Eizellen für später, bei Google, Apple & Co. mitversorgt werden.

All diese Angebote und Möglichkeiten sind natürlich auch Aufforderungen. Warum machst du eigentlich nicht bei der Yoga-Gruppe mit? Iss gesund! Bringe dich ein! Zeige deine Gefühle! Entfalte dein Potenzial. Dies führt uns zu einer weiteren Kehrseite von New Work, zu den greedy organizations (Coser 1967). Je mehr Organisationen den ganzen Menschen adressieren wollen, entsteht damit nicht eine potenzielle Übergriffigkeit bzw. die Vereinnahmung der Individuen durch die Organisation? Selbst ein Eindringen in die privaten Räume wurde mit der Coronapandemie zur Normalität. In Zoom-Meetings trugen Kleinkinder auf dem Schoß, Katzen, die durchs Bild schnurrten, oder Lebenspartner, die im Hintergrund Essen zubereiteten, zur Belustigung bei. Der weichgezeichnete Hintergrund von Zoom oder MS Teams, der das noch nicht gemachte Bett hinter dem Home-Office-Desk kaschiert, steht hier symbolisch für die letzten noch erkennbaren Grenzen (s. Fallbeispiel 3, J. Jung).

Ein Gründerduo, das regelmäßig zur Supervision kommt, berichtet in einer Sitzung von einer schwierigen zu treffenden Personalentscheidung: Eine Mitarbeiterin ist neu in das junge Online-Plattform-Unternehmen eingetreten und hat schon nach wenigen Tagen zu meiner Klientin, ihrer Vorgesetzten, gesagt, sie sei „kurz vor einem Nervenzusammenbruch“. Auf Rückfrage wollte sie sich aber nicht weiter dazu äußern oder Hilfe annehmen und wirkte beschämt. Sie war zuvor in einem großen Konzern tätig gewesen und soll nun ein Team des 40-köpfigen Unternehmens führen, das zum großen Teil aus jungen Frauen besteht, die sich „ähnlich kleiden, viel zusammen auf Partys gehen und teils eng befreundet sind“. Meine Klientin fragt sich, was mit der Mitarbeiterin los sei und wie sie ihr den Start erleichtern könne. Sie beobachtete, dass diese keinen Anschluss im eigenen Team findet, dass, wenn sie in Meetings Präsentationen hält, die Aufmerksamkeit schnell abflacht und sie einen angespannten Eindruck macht. Meine Klientin möchte gern mit ihr an dem „root cause“ ihrer Unsicherheit arbeiten. Sie glaubt fest an den „radical candor“-Ansatz (also schnell und ungeschönt Feedback geben) und möchte ihre Organisation ermutigen, sich durch Feedback nicht nur in ihren Rollen, sondern auch als Personen weiterzuentwickeln. Beim genaueren Ausleuchten wird deutlich: Die Mitarbeiterin hat zu wenig Klarheit über die an sie gestellten Rollenerwartungen und ist ein Umfeld gewohnt, in dem man weniger Persönliches in die Arbeit einbringt. Das sehr vertraute Miteinander in der neuen Firma, das weit über die üblichen Grenzen hinausgeht, überfordert sie, ist zugleich einladend, aber auch potenziell beschämend für sie. Meine Klientin fragt sich derweil: Kann diese Person zu „einer von uns“ werden? Zum ersten Mal seit Gründung des Unternehmens scheint aber auch die Frage auf: Was sollte und kann bei wachsender Mitarbeitendenschaft Teil einer Unterhaltung zwischen Chefin und Mitarbeiterin sein und was nicht? Wo verlaufen die Grenzen zwischen Person und Rolle, und was kann die Organisation langfristig (bein)halten? Müssen alle, die sich hier einbringen wollen, auch persönliche Sorgen Ängste und Entwicklungswünsche einbringen?

Intimität bedeutet das „Innerste“ und setzt damit eine Intimsphäre voraus, die dieses schützt. Sie grenzt Außenstehende ab und schafft damit einen sicheren Bereich tiefster Vertrautheit nach innen. Wird die Intimsphäre verletzt, hat das Folgen für die psychische Stabilität. Das Schrumpfen der Intimsphären macht die Individuen verletzlicher gegenüber dem zwecklogischen Handeln der Organisation. Um dies zu kompensieren, legen sich viele eine oberflächliche positive Als-Ob-Nahbarkeit zu, die dem Intimitätsanspruch der Organisation nach außen gerecht wird und das Innere der Person zu schützen vermag. Duz-Kultur, zelebrierte Lockerheit, übergriffige Feedbackveranstaltungen voller lerneifriger Selbstoptimierer, wenn es sein muss auch mal ein „Deep Talk“, überbordende Emotionalität beim Feiern von Erfolgen oder Verarbeiten von Rückschlägen, TikTok-Gehabe (viel Ausdrücken und wenig Sagen) suggerieren sich offenbarende und voll involvierte New-Worker im Sog des Ganzheitsmusters. Fassadengestaltung wird zur Kernkompetenz, das innere Drama dahinter kommt dann erst später in Therapie und Coaching zum Vorschein.

4 Schlussbemerkung

Im vorliegenden Text wurden die Auswirkungen von Veränderungen in der Arbeits- und Organisationwelt durch New Work-Ansätze aus einer gruppendynamischen Perspektive untersucht. Aufgrund der Komplexität des Gegenstands konnten nur einige wesentliche Aspekte thematisiert und tiefer untersucht werden. Viele weitere Phänomene und Konsequenzen sind für Menschen, Organisationen und Gesellschaft denkbar. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Einführung von bzw. die Veränderungen durch New Work für Menschen und Organisationen von Verantwortlichen und Betroffenen sorgfältig abgewogen, beobachtet und reflektiert werden müssen, damit sich erhoffte Vorteile nicht in neue Probleme verwandeln. Dazu gilt es, in Organisationen ideologiefreie Reflexionsräume zu schaffen, in denen Beobachtungen und andere Daten von Organisationsmitgliedern und anderen relevanten Umwelten – vielleicht unter Zuhilfenahme der drei Dimensionen von New Work – besprochen werden können, um der Organisation zu ermöglichen, zu lernen und Anpassungen ihrer Strukturen und Prozesse vorzunehmen.