Welches Bild entsteht in Ihrem Kopf, wenn Sie an einen Narzissten denken? Donald Trump? Thomas Mann? Wladimir Putin? Al Capone? Salvaor Dali? Die Liste an Personen, denen eine hoch ausgeprägte narzisstische Disposition bis hin zu einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung unterstellt wird (u. a. Grüttefien o.J.), ist lang. Es liegt im Trend, Narzissmus zu „diagnostizieren“ und sich mit Narzissmus zu beschäftigen. Man könnte meinen, dass es kein anderes psychologisches Konzept vermag, so sehr zu faszinieren, wie der Narzissmus. Eher negativ konnotiert und gern abwertend verwendet, hat der Begriff sich einen festen Platz im populärwissenschaftlichen Wortschatz gesichert. Nicht selten wird er als Grund genannt, warum man mit einer bestimmten Person einfach nicht zurechtkommen kann. Es finden sich unzählige Ratgeber, Fach- und Sachbücher, die dabei helfen wollen, Narzisst:innen zu erkennen, mit ihnen zu leben, sie zu verstehen. Auch in der Coachingforschung und unter Coaches scheint das Thema Narzissmus zunehmend an Beliebtheit zu gewinnen. Erste empirische Arbeiten nehmen sich dem Thema an (u. a. Diller et al. 2021; Kauffman und Coutu 2009; Mansi 2009); sie betrachten häufig die Sicht der Coaches auf vermeintlich narzisstische Klient:innen.

Doch ergibt es Sinn, sich als Coach dem Trend anzuschließen und Narzissmus zu „diagnostizieren“? Wirken narzisstische Persönlichkeitszüge möglicherweise störend? Ist die Verwendung des Etiketts „narzisstische/r Klient:in“ sinnvoll und zielführend? Eine Annäherung an diese Fragen setzt eine fundierte Betrachtung dessen voraus, was sich hinter dem alltagssprachlich als „übersteigerte Selbstliebe“ definierten Begriff Narzissmus (Duden 2006, S. 719) verbirgt. Daher gehen wir in diesem Beitrag auf die Entwicklung des heutigen Narzissmus-Verständnisses detaillierter ein. Anschließend geben wir Einblicke in die Coachingforschung, zeigen Stolpersteine auf, die bei der Verwendung des Etiketts Narzissmus auftreten können und schlagen Alternativen vor.

Gleichwohl kann Narzissmus auch in anderer Weise im Coaching zum Thema werden, z. B. durch Klient:innen, die unter vermeintlich narzisstischen Führungskräften leiden. Wir fokussieren uns in diesem Beitrag ausschließlich auf Narzissmus, der auf Seiten der Klient:innen gesehen wird.

1 Die Entwicklung des heutigen Narzissmus-Verständnisses

Der Begriff Narzissmus verweist auf die Mythologie und den Jüngling Narziss. Narziss verstarb, nachdem er im Wasser sein Spiegelbild erblickte und in Liebe entbrannte; seine Leiche verschwand, und zurück blieb eine Narzisse. Nach der ersten Überlieferung dieses Mythos folgte eine lange Rezeptionsgeschichte, bis der Mythos Ende des 19. Jahrhunderts in der Sexualwissenschaft und kurze Zeit später in der Psychoanalyse aufgegriffen wurde (Renger 2021). Freud bezeichnete mit NarzissmusFootnote 1 u. a. einen notwendigen Entwicklungsschritt eines Menschen, auf dem Weg vom Autoerotismus hin zur Fähigkeit der Objektliebe (u. a. Freud 1914); er prägte auf diese Weise ein zentrales Konzept der klassischen Psychoanalyse (List 2014). Im Zeitverlauf wurde zunehmend zwischen diesem Konzept und einem klinischen Begriffsverständnis unterschieden (Kernberg 2021).

Das klinische Begriffsverständnis bildete sich insbesondere ab den 1960er-Jahren immer stärker heraus (Levy et al. 2021) und ging auf Beobachtungen aus der therapeutischen Praxis zurück. Es entstanden verschiedene, nebeneinanderstehende theoretische psychoanalytische Ansätze (u. a. Kernberg 1975; Kohut 1971; Rosenfeld 1964), die mitunter unterschiedliche Annahmen zur Entstehung und zielführenden Behandlung der narzisstischen Persönlichkeitsstörung aufwiesen. Ein gemeinsamer Nenner unterschiedlicher Ansätze besteht darin, dass bei Betroffenen eine pathologische Selbstwertregulation und eine von der Norm abweichende Selbststruktur angenommen werden (Kernberg 2021); störungsspezifisches Erleben und Verhalten können entsprechend als unbewusster Versuch gesehen werden, das Selbst zu schützen. Schon früh unterschied Kernberg (1970) zwischen normalem und pathologischemFootnote 2 Narzissmus. Ein einheitlicher Ansatz sollte sich auch später nicht herauskristallisieren.

Da das klinische Begriffsverständnis in der psychotherapeutischen Praxis breite Anwendung fand, wurde es im Jahr 1980 in Form der narzisstischen Persönlichkeitsstörung in das Klassifikationssystem der American Psychatric Association DSM-III aufgenommen; die Diagnosekriterien wurden auf Grundlage der bisweilen überwiegend theoretischen Literatur formuliert (Levy et al. 2021). Zwar wurden die diagnostischen Kriterien stellenweise für die folgenden DSM-Versionen überarbeitet, sie stehen jedoch nach wie vor in der Kritik, das Phänomen der narzisstischen Persönlichkeitsstörung nicht umfassend abzubilden (ebd.) und ganze Subtypen nicht zu inkludieren. Die diagnostischen Kriterien des aktuellen DSM‑5 sind in Tab. 1 dargestellt.

Tab. 1 Diagnostische Kriterien für die narzisstische Persönlichkeitsstörung nach DSM‑5

Seit Anfang der 2000er-Jahre widmen sich zunehmend auch andere Therapiekonzepte und Forschungsrichtungen der bis dahin vorwiegend psychoanalytisch geprägten Auseinandersetzung mit dem Thema Narzissmus (Doering et al. 2021). Die Beachtung in der klinischen Praxis und die zunehmende Forschung sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Konzept der narzisstischen Persönlichkeitsstörung hoch umstritten ist (Levy et al. 2021), nicht zuletzt aufgrund des extrem uneinheitlichen Begriffsverständnisses (Pincus und Lukowitsky 2010). Aussagen über die Prävalenz der narzisstischen Persönlichkeitsstörung lassen sich nur schwer treffen. Zwar gibt es einige Studien, die Aussagekraft ist jedoch aufgrund zahlreicher Einschränkungen (u. a. Qualität der Messverfahren, Klarheit des Konstruktes) fraglich. Levy et al. (2021) stellen auf Grundlage übereinstimmender Schätzungen eine ungefähre Prävalenz in der Bevölkerung von 1 % in den Raum.

Als pathologisch im klinischen Sinne gilt Narzissmus erst, wenn ein bedeutsamer Leidensdruck bei der Person besteht oder diese Einschränkungen in wichtigen Funktionsbereichen erlebt (z. B. im Alltag, in Beziehungen, bei der Arbeit; Lammers und Doering 2018). Dies bedeutet nicht, dass ein Gegenüber bestimmte Verhaltenstendenzen nicht schon zuvor im zwischenmenschlichen Kontakt als störend erleben kann. Nach dem gegenwärtig vorherrschenden klinischen Verständnis bewegen sich Menschen hinsichtlich ihrer narzisstischen Ausprägung auf einem Kontinuum (u. a. Sachse 2019); eine klare Kategorisierung anhand einzelner Verhaltenstendenzen in pathologisch oder gesund ist nicht möglich.

Im Zuge der Abkehr von den bisherigen Kategorien von Persönlichkeitsstörungen (Herpertz et al. 2022) ist auch die narzisstische Persönlichkeitsstörung aus der neusten, am 1. Januar 2022 in Kraft getretenen Fassung des in Deutschland genutzten Klassifikationssystems ICD-11 verschwunden. Einer der Gründe kann darin gesehen werden, dass die starre, alleinstehende Kategorie Narzissmus sich in der klinischen Praxis nicht als hilfreich erwiesen hat (Hubert 2022).

2 Narzissmus als Persönlichkeitskonstrukt

Die Aufnahme der narzisstischen Persönlichkeitsstörung in das DSM-III nahmen Raskin und Hall (1979) zum Anlass, eine Skala zur Erfassung der narzisstischen Persönlichkeit zu entwickeln (Narcissism Personality Inventory, kurz NPI). Hierbei orientierten sich beide Autoren an den diagnostischen Kriterien und gaben mit ihrer Arbeit den entscheidenden Impuls, Narzissmus auch als subklinische Disposition intensiver zu beforschen und auch als komplexes und facettenreiches Persönlichkeitskonstrukt näher in den Fokus zu nehmen (Judge et al. 2006; Kets de Vries und Rooke 2018; Miller et al. 2017; Morf und Rhodewalt 2001; Rosenthal und Pittinsky 2006; Schütz et al. 2004).

In der Arbeits‑, Organisations- und Wirtschaftspsychologie gibt es in den letzten Jahrzehnten einen starken Zuwachs an Forschung zu Narzissmus. Zahlreiche Meta-Analysen und Überblicksartikel sind bisher entstanden (u. a. Anninos 2018; Braun 2017; Fatfouta 2019; Furnham et al. 2013; Grijalva et al. 2015; Grijalva und Newman, 2015; Grijalva und Zhang, 2016; O’Boyle et al. 2012; Spain et al. 2014). Auch angrenzende Forschungsfelder, wie die Managementforschung, widmen sich dem Thema (Cragun et al. 2020; Young et al. 2016). Insbesondere die Einführung des Begriffs „Dunkle Triade“ (Paulhus and Williams 2002) hat dieses Interesse bestärkt. Die Dunkle Triade setzt sich laut den Autoren aus den Facetten Machiavellismus, subklinischer Narzissmus und subklinische Psychopathie zusammen; Facetten, denen ein mehr oder weniger böswilliger Charakter im Zwischenmenschlichen unterstellt wird (ebd.; vgl. Doering 2021).

3 Narzissmus, Ursache von Problemen im Wirtschaftskontext?

In einzelnen Studien wird u. a. argumentiert, man widme sich der Disposition Narzissmus, um die Schattenseiten der Arbeitswelt genauer zu verstehen. So wurden bereits zahlreiche Entscheidungsträger:innen, Top Management Teams und Führungskräfte mit der Annahme untersucht, hohe narzisstische Ausprägungen könnten unerwünschtes Arbeitsverhalten, öffentliche Skandale und organisationales Versagen begünstigen (u. a. Bollaert und Petit 2010; Schyns 2015; Spain et al. 2014). Relevant sei dies unter anderem deshalb, da man eine erhöhte Prävalenz von stärker ausgeprägtem Narzissmus in Führungs- und Management Positionen vermute (u. a. Kets de Vries 2004).

Bisherige Studien kamen zu heterogenen Ergebnissen und fanden heraus, dass narzisstische Verhaltensweisen sowohl mit wünschenswerten als auch mit weniger erwünschten Resultaten einhergingen. So wurden narzisstische Führungskräfte beispielsweise als charismatischer und visionärer wahrgenommen (Ong et al. 2016), während andere Studien zeigten, dass höhere Ausprägungen von subklinischem Narzissmus mit kontraproduktiven Arbeitsverhalten einhergingen (Grijalva und Newman 2015; O’Boyle et al. 2012). Die Frage, ob Narzissmus im Zusammenhang mit Führung nun gut oder schlecht sei, beantwortet Fatfouta (2019) auf Grundlage der bisherigen Forschung bewusst mit einer Korrektur der Fragestellung: Es sei zielführender, zu fragen, unter welchen Umständen es für Führungskräfte förderlich oder hinderlich sei, narzisstische Verhaltensweisen am Arbeitsplatz an den Tag zu legen. Ihre Frage gilt es, durch zukünftige Forschung zu beantworten und auch Kontextfaktoren stärker in den Blick zu nehmen.

Wir hätten uns an dieser Stelle auch in einer umfassenden Darstellung der vorliegenden, zahlreichen, in ihrer Gesamtheit diffus wirkenden Einzelbefunde verlieren können (zu Führung siehe Dammann 2021). Dies scheint uns aber wenig produktiv. Vielmehr möchten wir an dieser Stelle darauf hinweisen, dass bei der Interpretation einzelner Befunde Vorsicht geboten ist:

  • Narzissmus als Disposition ist als Konstrukt nicht umfassend geklärt, es herrschen unterschiedliche Auffassungen vor, die Vergleiche schwierig machen.

  • Im Wirtschaftskontext und im klinischen Bereich werden unterschiedliche Dinge betrachtet. Narzissmus als subklinische Disposition, wie sie untersucht wird, ist nicht einfach eine Abschwächung der narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Entsprechend sind Erkenntnisse nicht ohne weiteres auf den jeweils anderen Bereich übertragbar (Dammann 2021; Vater et al. 2013).

  • Narzissmus wird im Wirtschaftskontext auf unterschiedliche Weise gemessen. Eingesetzte Methoden und Instrumente weisen eine sehr unterschiedliche Güte auf und es ist an nicht wenigen Stellen fraglich, ob überhaupt zuverlässig erhoben wurde, was versprochen wird (u. a. Braun 2017; Fatfouta 2019; O’Boyle et al. 2012; Doering 2021).

  • Die Studien haben häufig einen deskriptiven Charakter (Dammann 2021), Kausalitäten zu unterstellen, ist gewagt.

4 Narzissmus im Coachingkontext – das narzisstische Gegenüber

Nachdem wir detailliert das heute vorherrschende Narzissmus-Verständnis und seine Entstehung in den Blick genommen haben, widmen wir uns an dieser Stelle der Forschung zu (vermeintlichem) Narzissmus im Coaching aufseiten der Klient:innen. Wie sehen nun die Annahmen und Ergebnisse der ersten empirischen Arbeiten (u. a. Diller et al. 2021; Kauffman und Coutu 2009; Mansi 2009Footnote 3) aus?

Mansi (2009) und Diller et al. (2020) vermuten, dass es durch Klient:innen mit hoch ausgeprägten narzisstischen Persönlichkeitszügen oder mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung zu einem negativen Einfluss auf das Coaching kommen könnte. Die Autorinnen vermuten Widerstände und mögliche Einschränkungen bei der inhaltlichen Arbeit (insb. bei der Leistungssteigerung und dem Persönlichkeitswachstum). Sie sehen diese verursacht durch reduzierte Freiwilligkeit, weniger Bereitschaft zur Mitarbeit und weniger Offenheit (Diller et al. 2020, S. 516). Zudem sei denkbar, dass Angst- und Stress bei Coaches ausgelöst werden, was den Zugriff auf ihren Erfahrungsschatz hemmen könnte (ebd.).

Auf den ersten Blick stützen einzelne Arbeiten den vermuteten Zusammenhang und zeigen, dass Coaches bei herausfordernden Klient:innen häufig hohe Ausprägungen an narzisstischen Zügen vermuten (ebd.; Graßmann et al. 2020). Bisher sind die Kausalzusammenhänge jedoch noch nicht untersucht worden. Es lässt sich lediglich festhalten, dass die Coaches diese Zusammenhänge für plausibel hielten. Ob die narzisstischen Züge hier auch tatsächlich ausschlaggebend waren oder andere Ursachen zugrunde lagen, bleibt noch ungeklärt. Auch ist unklar, ob überhaupt hohe Ausprägungen an narzisstischen Zügen vorlagen. Diller et al. (2021) ließen die befragten Coaches einen Kurzfragebogen zur Dunklen Triade ausfüllen, dessen diagnostische Güte bisher ungeklärt ist (Doering 2021). Graßmann et al. (2020) baten Coaches, auf einer 10-stufigen Skala einzuschätzen, inwieweit narzisstische Tendenzen des/der Klient:in die Ursache für ein herausforderndes Coaching waren. Die zumindest implizit unterstellte Fertigkeit, narzisstische Züge trennscharf zu erkennen, mag erstaunen, handelt es sich bei Coaches doch in der Regel eben nicht um ausgebildete Diagnostiker:innen oder Klinische Psycholog:innen.

Entsprechend lässt sich die Frage, ob die narzisstischen Züge störend für den Coachingprozess sind, auf dieser Grundlage nicht abschließend beantworten. Zwar können vielseitige DynamikenFootnote 4 in der Interaktion mit einer Person mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung entstehen (Gabbard 2021; Schmidt-Lellek 2009), die Relevanz für das Coaching bleibt aber vorerst ungewiss; Gleiches gilt für die Frage, ob und inwiefern ähnliche Dynamiken bei Klient:innen mit hohen Ausprägungen an narzisstischen Zügen den Coachingprozess beeinflussen. Fraglich ist auch, wie häufig Personen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung überhaupt ins Coaching kommenFootnote 5; es wurde bereits deutlich, dass die Prävalenz eher gering ist (Levy et al. 2021). Darüber hinaus hat sich bereits weiter oben gezeigt, dass hohe Ausprägungen an narzisstischen Zügen nicht zwangsläufig mit unerwünschten Resultaten einhergehen müssen.

Trotz der hier genannten Einschränkungen lässt sich auf Grundlage der Coachingforschung festhalten: Coaches machen häufig narzisstische Züge für Störgefühle im Coaching verantwortlich. Doch wie sinnvoll ist das Etikett „narzisstische/r Klient:in“? Es erscheint uns zu kurz gefasst, diese Frage bereits an dieser Stelle auf Grundlage der bisherigen Ausführungen zu beantworten. Für eine fundierte Beantwortung und für das Aufzeigen von zielführenden Alternativen zum Etikett werden wir im Folgenden einen zusätzlichen Blickwinkel einnehmen: Wir unterstellen, dass Coaches das Etikett „narzisstische/r Klient:in“ nicht als Beleidigung einsetzen, sondern im Rahmen der Prozessdiagnostik verwenden, um Begründungen für eigene Störgefühle zu finden und Implikationen für das weitere Vorgehen abzuleiten.

5 Narzissmus, eine unvorteilhafte Engführung?

Jegliche Störgefühle in der Interaktion sollten von Coaches ernst genommen und reflektiert werden. Auf diese Weise ist es möglich, sie als wertvolle Informationsquelle z. B. als Gegenübertragungsphänomene produktiv zu nutzen. Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass Störgefühle eine ganze Bandbreite an Ursachen haben können (Kotte et al. 2022; Möller und Zimmermann 2020), die wiederum potenziell miteinander verwoben sind.

Wie wir aus der psychologischen Kognitionsforschung wissen und es Kahneman et al. (2021) treffend beschreiben, stößt ein unerwartetes Ereignis (hier: die das Störgefühl auslösende Interaktion) im Gedächtnis die Suche nach einer plausiblen Ursache an. Ist ein gutes Narrativ gefunden (hier: Narzissmus), endet die Suche. Anders formuliert schließt man aus dem auslösenden Sachverhalt auf eine plausible Ursache; ob es sich hierbei um die tatsächliche Ursache handelt, ist nicht gesagt. Daher ist Vorsicht geboten: Endet die Suche und wird Klient:innen vorschnell das Narzissmus-Etikett aufgedrückt, kommt es zu einer Engführung. Zwar entsteht das Gefühl, die Szenen seien vollständig erklärbar (z. B. bestimmte Verhaltensweisen), doch kann eine solche starre Zuschreibung in mehrfacher Hinsicht nachteilig für den weiterführenden Coachingprozess sein. Um nur einige Gründe zu nennen:

  • Das Risiko ist hoch, dass die tatsächlichen Ursachen nicht entdeckt wurden und falsche Schlüsse für das weitere Vorgehen im Coaching gezogen werden.

  • Durch die schnelle Verortung der Ursachen auf Seiten der Klient:innen wird die Chance reduziert, über die eigenen Anteile an der Störung zu reflektieren und ggf. eigene Thematiken zu bearbeiten. So kann die Zuschreibung davor schützen, sich mit potenziell kränkenden Themen auseinanderzusetzen.

  • Durch die verfrühte Engführung wird die notwendige Offenheit im Coaching reduziert, weiterführende Hypothesen zu prüfen oder gar zu entdecken. So wird das „Problem“ auf Seiten des/der Klient:in identifiziert, mögliche Kontexteinflüsse bleiben unberücksichtigt.

  • Durch die Zuschreibung „Narzissmus“ wird der „Teufelshörner-Effekt“ (Thorndike 1920) begünstigt: Möglicherweise werden dem/der Klient:in auch andere Facetten von Narzissmus unterstellt, obwohl dies nie exploriert wurde.

  • Hiermit einhergehen kann die starre Zuschreibung „Narzissmus“ die Haltung festigen, dass es sich bei den Klient:innen um hoffnungslose Fälle handelt, denen sowieso nicht mehr zu helfen ist.

  • Der Begriff „Narzissmus“ kann im Austausch mit Kolleg:innen und Supervisor:innen zu Interpretationsproblemen führen, sollte kein einheitliches Begriffsverständnis vorliegen.

6 Ein vielversprechender Weg aus der Engführung

Daraus folgt, dass Störgefühlen mit einer offenen und hinterfragenden Grundhaltung nachgegangen werden sollte. Schnelle, pauschale Ursachenzuschreibungen sind zu hinterfragen. Es gilt vielmehr, unterschiedliche Hypothesen zu generieren und diesen generierten Perspektiven nachzugehen. Nicht zuletzt ist es aufgrund der dargestellten Unschärfe des Begriffs Narzissmus ratsam, bei der Hypothesenbildung auf diesen Begriff zu verzichten und das konkret gezeigte oder geschilderte Verhalten in den Fokus zu nehmen. Verhaltensbeschreibungen bieten die Möglichkeit, in der Interaktion mit anderen Interpretationsprobleme zu reduzieren, eine zielführendere Auseinandersetzung zu fördern und eine Engführung zu vermeiden. Wenn doch von „Narzissmus“ oder „narzisstischen Persönlichkeitszügen“ gesprochen wird, sollte eine verhaltensnahe Konkretisierung erfolgen, um ein eindeutiges Verständnis herzustellen. Hier kann man sich die Erkenntnisse aus der Assessmentcenter-Forschung zu Nutze machen: Die Verhaltensbeobachtung und verhaltensbasierte Arbeit ermöglicht eine objektivere Situationserfassung (Höft und Melchers 2010).

Wir sprechen uns gegen eine vorschnelle Verwendung des Etiketts Narzissmus aus. Gleichzeitig gibt es gute Gründe dafür, dass Coaches extremere Persönlichkeitsakzentuierungen kennen, diesen Aufmerksamkeit schenken und sie im Coachingprozess berücksichtigen (Hafner und Ritz-Schulte 2020). Hierfür ist es jedoch wichtig, über entsprechendes klinisches Wissen zu verfügen, die Akzentuierungen treffsicher erkennen zu können und nicht mit Alltagskategorien zu arbeiten. Eine Vorstellung davon, wie man als Coach vom pathologischen Narzissmus auf Seiten der Klient:innen betroffen sein kann, gibt beispielsweise Schmidt-Lellek (2009). An Arbeiten wie seiner wird deutlich, dass im Coaching eine differenzierte Auseinandersetzung mit Narzissmus das Repertoire an Interpretationsfolien sinnvoll erweitern kann (vgl. Lohmer et al. 2012; Schmidbauer 1999; Schneck 2018).

7 Fazit

Wie wir gezeigt haben, tritt Narzissmus als Sammelbegriff in Erscheinung und wird von Coaches als plausible Ursache gesehen, warum Klient:innen als herausfordernd erlebt werden. Gleichzeitig fehlt es an Belegen für einen kausalen Zusammenhang und einer hohen Relevanz von narzisstischen Persönlichkeitszügen für Interaktionen im Coaching. Werden Klient:innen hohe Ausprägungen an narzisstischen Zügen zugeschrieben, besteht darüber hinaus das Risiko einer Engführung, einhergehend mit potenziell negativen Folgen für den weiteren Coachingprozess – vor allem der Arbeitsbeziehung. Daher raten wir dazu, Störgefühlen mit einer offenen Haltung nachzugehen, schnelle Ursachenzuschreibungen zu hinterfragen und unterschiedliche Hypothesen zu generieren. Bei der Reflexion von und dem Austausch über Störgefühle empfehlen wir, konkrete Verhaltensweisen in den Fokus zu nehmen und im Coaching zu bearbeiten. Bildlich gesprochen regen wir dazu an, im Coaching Abstand vom Narzissmus-Begriff zu nehmen, der als vielfältiger Blumenstrauß verschiedenste Aspekte beinhalten kann und sich stattdessen der einzelnen Blume zu widmen.