Um den Anwendungsbezug der dargelegten Erkenntnisse plastischer zu machen, wird im Folgenden ein konkreter Bereich des Coachings beleuchtet, in dem Trauer und anderweitige emotionale Verarbeitungsprozesse eine zentrale Rolle spielen: der Umgang mit (beruflichen) Krisen. Kollektive oder individuelle Krisen sind zentrale Anlässe, ein Coaching aufzusuchen (Schreyögg 2012). In den sozialwissenschaftlichen Krisentheorien wird die Krise als ein Prozess verstanden. Die Krise ist eine „durch eine Noxe ausgelöste Labilisierung eines Systems, die mit den üblichen Bewältigungsstrategien nicht mehr reguliert werden kann und zu einer Bedrohung des Systembestandes führt“ (Petzold 1993). Krisen sind außerdem häufig Auslöser für starke emotionale Regungen, seien es Gefühle von Hilflosigkeit, Überforderung oder Verzweiflung, die nicht selten Tränen mit sich bringen.
Die berufliche Identität eines Menschen unterliegt im Verlauf seiner Lebensspanne inneren und äußeren Veränderungen, die das Selbstverständnis wandeln. Diese werden entweder als natürlich erlebt und können integriert werden, oder es kommt zu einer krisenhaften Entwicklung. Durch kritische Lebensereignisse (Filipp und Aymanns 2018), sich zuspitzende intrapsychische Konfliktkonstellationen oder die allmähliche Akkumulation von Konfliktmaterial in der Außenwelt droht das Identitätsgefühl verloren zu gehen: „Ich erkenne mich selbst nicht wieder“. Die Person wird labilisiert und versucht sich durch habituelle Bewältigungsmuster zu restabilisieren. Wenn dies nicht gelingt oder noch weitere Belastungsmomente hinzukommen, tritt die Person in eine Phase der Turbulenz ein, in der sie durch Notreaktionen und unter Aufbietung aller Kräfte versucht, Stabilität zu gewinnen. Die Dynamik nimmt zu, und es entscheidet sich, ob neue Lösungsmöglichkeiten gefunden werden oder ob es zur Dekompensation kommt. Überschießende Dekompensation (Manie, aggressive Impulsdurchbrüche) oder regressive Dekompensation (Somatisierung, Drogenkonsum, Depression) sind auf dem Höhepunkt der Krise zu befürchten. Diese zu vermeiden, geht nur über den Weg des Trauerns.
Change-Prozesse, Fusionen oder die Entwicklung neuer Formen des Organisierens in der Arbeitswelt können als krisenhaft erlebt werden und Trauerprozesse auslösen. Teil dieser Trauerprozesse im Coaching ist es, das Vergangene zu würdigen (Möller und Giernalczyk 2021). Eine Entscheidung der Unternehmensleitung, vieles ändern zu wollen, verursacht indirekt eine Kränkung: „War denn alles schlecht, was ich bislang gemacht habe?“ Das Alte trägt nicht mehr, und das Neue ist noch nicht da. Dieser Schwebezustand erfordert eine Menge Spannungstoleranz. Wie in jedem Veränderungsprozess ist die Zukunft ungewiss. Noch ist der Zielzustand nur zu erahnen. Klar aber ist, dass es nicht wie gewohnt weitergeht. Führungskräfte erleben wie ihre Mitarbeitenden den emotionalen Raum zwischen „Nicht-mehr“ und „Noch-nicht“. Der Schwebezustand wirft vor allem eine Frage auf: „Was wird meine neue Rolle sein?“ Um den Übergang zu gestalten, sind folgende Reflexionsfragen für alle Beteiligten sinnvoll:
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Was verliere ich?
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Welchen Zweck verbindet meine Organisation mit der Veränderung?
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Welches „Problem“ soll damit gelöst werden?
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Was würde passieren, wenn wir den Übergang nicht vollziehen?
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Welchen Sinn ziehe ich persönlich aus der Situation?
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Somatische Marker, Signale des emotionalen Erfahrungsgedächtnisses (Körperempfindungen),
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Ressourcenjagd: Was brauche ich für den Übergang?
Werden vorhandene Ressourcen problemlösend genutzt oder neue Unterstützung durch Außenhilfen zugeführt, kann die Dekompensation verhindert werden. Die erfolgreich gemeisterte Krise geht zumeist mit persönlichem Wachstum, einem Zuwachs an personaler Kompetenz, neuen Möglichkeiten und Lösungswegen einher. Die Krise kann also auch als Chance für Innovation angesehen werden. Wird die Dekompensation zwar mit aller Kraft vermieden, die Krise jedoch nicht bewältigt, ist eine Beschädigung der Person zu befürchten.
Ziel einer Krisenintervention ist die Stabilisierung gefährdeter Bereiche durch Entlastung, Relativierung, Beruhigung, Einführung des Realitätsprinzips, um die Regulierungsmöglichkeiten zu restituieren. In der Krisenintervention greift die Coach ein, zeigt ein höheres Aktivitätsniveau, unterstützt die Selbstheilungskräfte, auch indem sie kathartische Reaktionen ermöglicht. Sie ermuntert es, Trauer, Wut, Schmerz, Schuld auszudrücken. Bei drohender affektiver Überschwemmung jedoch werden Möglichkeiten der Eindämmung und Steuerung vermittelt. Zur Orientierung hilft die Frage, ob das Weinen zur Krisenbewältigung eine Regression im Dienste des Ich darstellt, also hilft, die Kränkungen und Verluste zu verarbeiten, oder ob es eine maligne Regression ist, die sich in der Verweigerung, die Realität anzuerkennen und ihr zu trotzen, zeigt. Einen hilfreichen Anhaltspunkt bietet hier der oben beschriebene Modus des Weinens: Ist der Emotionsausdruck gehemmt, unterdrückt und blockiert damit eine möglicherweise nötige Lösung und Integration? Oder ist das Weinen im Gegenteil überflutend, die Emotionen überbordend und verstärkt damit einen Zustand der ohnmächtigen Hilflosigkeit?