Konflikte spielen sich intrapsychisch in Einzelnen ab oder interpersonell zwischen zwei oder mehreren Personen. In Organisationen und Betrieben kommt eine institutionalisierte Konfliktebene hinzu. Besonders bei Veränderungsprozessen sind Konflikte in Organisationen strukturell vorprogrammiert. Sie werden häufig personalisiert, d. h. auf eine oder mehrere Personen projiziert, was nicht unbedingt hilfreich ist. Betriebliche Konflikte tangieren alle im Unternehmen Beschäftigte, auch die Betriebsärzt/innen. Wie sich Arbeits- und Betriebsmedizin alltäglich in Konflikte verwickeln lassen oder sich aktiv verwickeln, soll an zwei Fallbeispielen aus der Coaching-Praxis der Autorin geschildert werden. Doch zunächst einige theoretische Überlegungen zum Vorhanden-Sein betrieblicher Konflikte zwischen Primäraufgabe und Primärrisiko einer Organisation.

1 Konflikte zwischen Primäraufgabe und Primärrisiko einer Organisation

Das Konzept der Primäraufgabe bzw. des primären Risikos ist ein Basiskonzept des Tavistock-Ansatzes zur psychodynamischen Organisationsberatung. Die Primäraufgabe bezeichnet die zentralen Aufgabenstellungen einer Organisation. Sie macht ihren Sinn und Zweck aus und kann als Ensemble aller primären Praktiken definiert werden. Sie repräsentiert Realitäten, auf die die Organisation zwar Einfluss hat, die sie jedoch nur eingeschränkt steuern kann (vgl. „Realitätsprinzip“, Freud 1911). Organisationen sind ständig damit konfrontiert, ihre Konzeption der Aufgabe und die Gestaltung des Organisationsdesigns dem Markt anzupassen. Dies impliziert strategische Abwägungen und Entscheidungen, von denen u. U. die Zukunft der Unternehmung abhängt. Das primäre Risiko ist dann das empfundene Risiko, die primäre Aufgabe falsch zu bestimmen, d. h. sie so zu wählen, dass die Zukunft des Betriebes nicht gesichert ist (vgl. Hirschhorn 2000; Heltzel 2017).

Organisationen verfügen über geplante Strukturen, die sich z. B. in Diagrammen als Aufbau- und Ablauforganisation darstellen lassen. Sie haben die Funktion, die Beschäftigten in die Lage zu versetzen, möglichst effizient und unabhängig von individuellen Persönlichkeitsmerkmalen und Charakterstrukturen qualitativ hochwertige Leistungen im gesellschaftlichen Auftrag zu erbringen (Max Weber 1921, zit. bei Schreyögg 2004, S. 117 ff.; West-Leuer 2003). So können die Organisationen ihrer Primäraufgabe nachkommen und verlässlich Produkte oder Dienstleistungen bereitstellen. Dieser gesellschaftliche Auftrag verändert sich regelmäßig. Aktuelle Beispiele sind die Automobilindustrie oder die Energiewirtschaft. Dass die Organisation nicht angemessen auf diese veränderten Anforderungen reagiert, definiert ein Primärrisiko (Hirschhorn 2000; Seidler und Renger 2008) und kann eine existenzielle Krise auslösen oder das Ende eines Unternehmens einläuten (zur radikal reduzierten „Lebenserwartung“ von Unternehmen vgl. West-Leuer und Lewkowicz 2017).

Die planmäßigen Strukturen rufen system(at)isch nicht-planmäßige Phänomene hervor. Gedacht ist hier an Interessensgegensätze bei der Ressourcen- und Stellenverteilung, an innerbetriebliche Rituale, Legenden und Geschichten, Kleiderordnungen, aber auch an informelle Rollen und Stile sowie an die Normen und Leistungsstandards einer Abteilung und des gesamten Betriebs (West-Leuer 2003). Ungeplant sind auch die Konflikte, die ein Einzelner unerkannt mit sich herumträgt und die dennoch Einfluss auf seine Arbeitsleistung haben, oder Konflikte zwischen Arbeitsgruppen und Teams, die sich aus den Interessensgegensätzen quasi wie von selbst ergeben. Da Konflikte Unlust, Angst, und Stress erzeugen, werden sie häufig versteckt oder verdeckt. Ganz unterschiedliche Abwehr- und Bewältigungskonstellationen werden eingesetzt, um die Eigenbeteiligung des Einzelnen oder die Beteiligung des Teams aus dem Bewusstsein fernzuhalten (Mentzos 1988).

Diese abgewehrten Konflikte – im Einzelnen, in Gruppen oder Teams, zwischen gesellschaftlichen Veränderungsanforderungen und kollektiven Beharrungsbestrebungen – bilden Teile der Tiefenstruktur der Organisationskultur. Sie sichern oder stören das systemische Gleichgewicht; sie dienen der Primäraufgabe oder sie vergrößern das Primärrisiko, wenn sie destruktiv sind und unerkannt bleiben, dafür aber umso heftiger ihre Wirksamkeit entfalten (Hirschhorn 2000, S. 113). Aus psychodynamischer Sicht muss daher dem Umgang mit der unbewussten Konfliktebene und der Abwehr ihrer Bewusstwerdung besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.

2 Erste Fallvignette – „Über-Kopf-Arbeiten“

Der Arbeitsmediziner Dr. von der Heide betreut in seiner Praxis unterschiedliche Unternehmen und Betriebe, so auch die Bundeswehr. In diese Praxis kommt ein Zivilbeschäftigter der Bundeswehr. Herr KosnickFootnote 1 ist 48 Jahre alt und klagt über Rückenschmerzen. Er ist Kraftfahrzeugmechatroniker und arbeitet an den Fahrzeugen „in der KFZ-Grube“. Das heißt, er arbeitet viel „über Kopf“. Diese Tätigkeit wird von der Bundeswehr mit einer Erschwerniszulage zusätzlich zu seinem tarifrechtlichen Gehalt honoriert. Herr Kosnick hat vor etwa zehn Jahren ein Eigenheim gekauft, das nach wie vor mit Hypotheken belastet ist. Er will mit seiner Frau gemeinsam in diesem Haus alt werden. Für die monatlichen Darlehenszahlungen ist die Gehaltszulage daher höchst willkommen.

Dr. von der Heide ist betriebsärztlich für die Bundeswehr tätig. Er weiß sehr wohl, dass „Über-Kopf-Arbeiten“ den Körper in eine unnatürliche, anspruchsvolle Position zwängt, was langfristig zu ernsthaften Beschwerden führen kann. Herr Kosnick gibt an, dass er schon seit längerem seinen Rücken „spürt“, dieser gelegentlich auch deutlich schmerzt, was ihn veranlasst hat, nun doch zum Betriebsarzt zu gehen. Er möchte nicht mehr „über Kopf“ arbeiten. Dr. von der Heide gibt zu bedenken, dass die Erschwerniszulage an die Über-Kopf-Arbeiten gebunden ist und daher wegfallen wird, wenn er ihm ein Rückenleiden attestiere, das auf diese Arbeiten zurückzuführen sei. Im Ergebnis wird man ihn an einen anderen Arbeitsplatz versetzen müssen. Herr Kosnick bestätigt vehement, dass er aufgrund seiner Schmerzen, die durch die Arbeitsbedingungen ausgelöst werden, keine Wahl habe.

Der Arzt stellt eine entsprechende Bescheinigung aus, die der Proband prompt bei seinen Vorgesetzten einreicht. Als ihm die Zulage daraufhin gestrichen wird, sucht er Dr. von der Heide erneut auf und macht ihm schwere Vorwürfe. Dieser kann nichts für Herrn Kosnick tun, gibt ihm jedoch den Rat, sich an den Betriebsrat zu wenden. Tatsächlich muss nach einigen Verhandlungen die Erschwerniszulage wieder gezahlt werden, da die vorgesetzte Ebene den Betriebsrat bei der Kürzung nicht eingeschaltet hatte. Die Atmosphäre zwischen allen Beteiligten ist im Anschluss merklich beschädigt. Die neuen Kollegen begegnen Herrn Kosnick mit Misstrauen und ein wenig Neid; die Vorgesetzten sind verärgert, weil sie sich hintergangen fühlen. Dem Arzt wird unterstellt, er habe mit Herrn Kosnick „kollaboriert“. Und dieser denkt: „Ich hab’s ja gleich gewusst“ und schwankt zwischen Verständnis für die Vorgesetzten und Mitgefühl für seinen „unbelehrbaren“ Probanden. Denn Gesundheit ist ein hohes Gut, ökonomische Sicherheit aber auch. Ins Coaching kommt Dr. von der Heide mit der Frage, wie er das Vertrauen seiner Auftraggeber zurückgewinnen kann.

3 Theoretische Überlegungen

Für die tiefenpsychologisch orientierte Beraterin gilt als Vorannahme, dass jedem bewussten Beratungsanliegen auch Konflikte zugrunde liegen, die weder dem Klienten noch dem Coach unmittelbar zugänglich sind. Als Zugang werden die wahrnehmbaren, aber häufig irrational erscheinenden Phänomene (in anderen Worten: die Symptome) genutzt, um auf interpersonale, innerpsychische und institutionalisierte Konflikte zu schließen. Eine Analyse der Kompromissfähigkeit des Klienten lässt Rückschlüsse zu auf das Strukturniveau von Person und Organisation. Bei der Konfliktdiagnostik werden sich Coach und Klient bei einer Vielzahl möglicher Konflikte darauf einigen, welche vordringlich zu bearbeiten sind: interpersonale, intrapsychische oder organisationsspezifische. An dieser Stelle sei auf eine weitgehend bekannte Grobeinteilung der interpersonalen Konflikteskalation verwiesen:

  • Win-Win“: Konflikt, bei dem im Verständnis der Konfliktparteien die eigene Partei den Konflikt gewinnen soll, die andere aber keinen Schaden erleiden muss.

  • Win-Lose“: Konflikt, bei dem es wichtig ist, dass die eigene Partei als Gewinner und der Gegner als Verlierer aus dem Konflikt hervorgeht.

  • Lose-Lose“: Konflikt, bei dem eigener Schaden in Kauf genommen wird, wenn nur der Gegner zum Verlierer wird (vgl. Glasl 1994).

Diese Konflikteskalationsstufen stammen aus der humanistischen Psychologie und können mit objektbeziehungstheoretischen Konzepten untermauert werden. Im „Win-Win“-Bereich herrschen ganzheitliche Objektbeziehungen vor; die Beteiligten verfügen über Konfliktfähigkeit und Kompromissbereitschaft und haben das Wohl des Unternehmens im Blick. Im „Win-Lose“-Bereich tauchen verstärkt Spaltungsphänomene und Teilobjekt-Beziehungen auf, die dafür sorgen, dass die eigene Partei als „nur gut“, die gegnerische Partei aber als „nur böse“ erlebt wird. Die internen Konflikte gewinnen an Gewicht; das Wohl des Unternehmens verliert an Bedeutung. Der „Lose-Lose“-Bereich wird von fraktalen und destruktiven, auf negativen Projektionen beruhenden apersonalen Objektbeziehungen dominiert, in der Konflikt- und Kompromissfähigkeit bereits verlorengegangen ist. Eine Atmosphäre von „gemeinsam in den Untergang“ ist nicht länger auszuschließen (West-Leuer 2003).

Während interpersonale oder zwischenmenschliche Konflikte auch für Dritte, z. B. den Coach, relativ leicht erkennbar sind, handelt es sich bei den intrapsychischen Konflikten häufig um „verdeckte“ unbewusste Phänomene. Die Komplexität ergibt sich insbesondere dadurch, dass beide Ebenen ineinandergreifen.

Für eine Analyse der Konfliktlage kann auf die Konfliktsystematik der Tiefenpsychologie rekurriert werden. Zu nennen wären hier vorrangig die folgenden Konfliktbereiche (Hohage 2011; vgl. Benecke und Möller 2013):

  • Abhängigkeit versus Autonomie

  • Kontrolle versus Unterwerfung

  • Versorgung versus Autarkie

  • Ödipale und Selbstwert-Konflikte

  • Überich- und Schuldkonflikte

  • Rollen- und Identitätskonflikte

  • Fehlende Konflikt- und Gefühlswahrnehmung

Diese intrapsychischen Konflikte haben einen Einfluss darauf, wie Menschen im Privatleben, aber auch in ihren beruflichen Rollen Beziehungen gestalten, und überdauern aktuelle zwischenmenschliche und auch organisationsspezifische Konflikte. Benecke und Möller (2013) weisen zurecht darauf hin, dass für eine belastbare Diagnose des zentralen, die Beziehungsmuster charakterisierenden Konflikts eine klinische Aus- oder Weiterbildung Voraussetzung ist. Im Coaching werden Beratende daher im Wesentlichen auf die wahrnehmbaren Konflikte im zwischenmenschlichen und organisationsspezifischen Bereich fokussieren, ohne jedoch die intrapsychische Dynamik außer Acht zu lassen. Eine situative Interpretation, ob bei einem Klienten im Rahmen des aktuellen Konflikts mit einem Kollegen eher eine Schuld- oder eine Selbstwertproblematik „getriggert“ wird, ob er nach Kontrolle strebt oder sich lieber unterwirft, kann dem Coach oder der Beraterin durchaus helfen, die Konfliktdynamik tiefer zu verstehen. Dabei gilt es, immer offen zu bleiben für eine Anpassung des probeweise Diagnostizierten.

Organisationsspezifische Konflikte entstehen häufig als Reaktionen auf die formalen Strukturen einer Organisation und werden sichtbar in komplementären informellen Strukturen. So überrascht es nicht, wenn in ausgewiesenen Hierarchien Autoritätskonflikte besonders häufig anzutreffen sind, in Unternehmen mit nicht eindeutigen Führungsstrukturen dagegen subtile Machtkämpfe um Einflussnahmen unterschwellig Raum greifen. Immer und überall anzutreffen sind Veränderungswiderstände im Rahmen einer operativen Umsetzung strategischer Überlegungen zur Minimierung des primären Risikos – „for better or for worse“. Diese organisationsspezifischen Konflikte entwickeln sich interdependent mit den personalen und intrapsychischen Konflikten, was die Komplexität des Geschehens weiter erhöht. Die Art und Weise, wie die Organisationen mit diesen Konflikten umgeht, hat einen maßgeblichen Einfluss auf die Organisationskultur. Je nach Eskalationsgrad, der sich in den interpersonalen Konflikten wahrnehmbar zeigt, bedarf es externer Prozessbegleitung oder Vermittlungsstrategien.

Der Coach wird nun – je nach Auftrag und in Absprache – die interpersonalen und die organisationsspezifischen Konflikte bearbeiten und parallel die intrapsychischen Dilemmata und Affektlagen des Klienten in sich aufnehmen bzw. „containen“. Der Klient wird angehalten, sich zu erinnern, wie der Konflikt entstanden ist. Dabei kann sich die Affektlage wiederholen, die den Konflikt begleitet. Die Wiederholung fördert ein Abreagieren und enthält Hinweise auf die Ursachen des Konflikts, die über den aktuellen Anlass hinausweisen. Durch das Abreagieren kann Widerstand gegen die Einsicht in die eigene Beteiligung aufgegeben werden. So kann ein Verständnis für die gegnerische Seite entstehen als Voraussetzung für einen Kompromiss (vgl. Freud 1914), der sich in der Regel auf alle drei Konfliktebenen beziehen lässt.

4 Erste psychodynamische Konfliktanalyse

Zurück zu Dr. von der Heide. Auf Nachfragen der Beraterin, warum er darauf hinweist, dass sein Proband als „Zivilbeschäftigter“ bei der Bundeswehr arbeitet, erzählt er, dass er selbst nie „gedient“ habe und auch kein großer Freund dieser Institution sei. Als Kunde sei die Bundeswehr jedoch sehr verlässlich. Diese Aussage lässt einen unbearbeiteten Identitätskonflikt vermuten, den er aus ökonomischen Gründen eingeht. Dass die Bundeswehr „nicht gut tut“, darin sind sich Arzt und Proband unausgesprochen einig. Diese Übereinkunft führt dazu, dass Herr Kosnick die „Warnung“ des Arztes verdrängen kann, – vielleicht weil letzterer nicht „energisch“ genug auf das Problem hinweist. Darüber hinaus verleugnet Herr Kosnick die Realität; er will einfach nicht wahrhaben, dass er auf einen Konflikt mit dem Arbeitgeber zusteuert, wenn er nicht mehr „über-Kopf-arbeitet“. Im finanziellen Schadensfall – die Erschwerniszulage wurde gestrichen – kehrt er dann empört über den Arbeitgeber und über den Mediziner in die arbeitsmedizinische Praxis zurück. Der Affekt der Empörung zeigt, dass Herr Kosnick keinerlei Zweifel am eigenen Vorgehen hat. Der Arbeitgeber und im Zweifelsfall auch der Arzt haben sich etwas zuschulden kommen lassen, er selbst auf keinen Fall. Die stille Übereinkunft, dass die Bundeswehr nicht gut tut, ist weder dem Arzt noch Herrn Kosnick bewusst, hat jedoch ihre „neurotische“ Konfliktabwehr unterstützt. Dr. von der Heide ist nicht mit seiner Ambivalenz der Bundewehr gegenüber konfrontiert, Herr Kosnick nicht mit seiner Tendenz, keine Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen (intrapsychischer Konfliktmodus: „Autarkie versus Versorgung“).

Ähnliches gilt auch für die betriebliche Konfliktebene. Die Erschwerniszulage wird nach Einschaltung des Betriebsrats weiterhin gezahlt. Doch der Konflikt zwischen den beteiligten Personen ist nicht gelöst. Im Gegenteil – Herr Kosnick wähnt seine Empörung gerechtfertigt: Er muss doch vom Unternehmen versorgt werden. Institutionen und Organisationen erfüllen gesellschaftlich wichtige Aufgaben. Um ihrer Primäraufgabe nachzukommen, entwickeln sie Vorgaben, die im Streitfall strukturelle „Lösungen“ vorgeben. Bei den Beteiligten führt dies gelegentlich zu einer Bestätigung der intrapsychischen Abwehr, die eine Auseinandersetzung mit der eigenen Beteiligung am Konfliktgeschehen geradezu verhindert. Weil aufgrund der Versäumnisse seines Vorgesetzten die Erschwerniszulage nun doch wieder gezahlt wird, kann Herr Kosnick es vermeiden, sich mit seinem „Versorgung vs. Autarkie“-Konflikt auseinanderzusetzen. Und Herr Kosnicks Vorgesetzter fühlt sich vorgeführt und vom Betriebsarzt bloßgestellt. Er hat die Vorschriften übersehen und den Betriebsrat nicht eingeschaltet, bevor er die Erschwerniszulage abgesetzt hat. Diese „Nachlässigkeit“ entspricht nicht seinem Selbstbild.

Dr. von der Heide ist als Betriebsarzt in eigener Praxis kein Werksmitglied und kann daher nicht unmittelbar von dieser institutionalisierten Konfliktabwehr „profitieren“. Er kommt ins Coaching, weil er um seinen Auftrag fürchtet. Im Coaching kann er seine Ambivalenz der Bundeswehr gegenüber zugeben und ein klärendes Gespräch mit dem Vorgesetzten seines Probanden initiieren. Er weiß, er hätte Herrn Kosnick nicht den Rat geben müssen, den Betriebsrat einzuschalten. Doch obwohl er mit Herrn Kosnicks Agieren nicht sympathisiert, würde er sich bei einem ähnlichen Fall wieder für seinen Probanden und gegen die Institution entscheiden. Als ein Ergebnis des Coaching-Prozesses kann Dr. von der Heide dem Vorgesetzten von Herrn Kosnick seine Haltung vermitteln. Dieser versteht dadurch auch, dass es sich bei seinem Ärger auf den Arzt um eine Verschiebung handelte. Er selbst hat den Fehler gemacht und versäumt, den Betriebsrat einzuschalten, um evtl. einen Kompromiss auszuhandeln. Ein zweites Mal wird ihm dies nicht passieren.

Dieses einfache Beispiel zeigt, in welch komplexe Konfliktgemenge ein niedergelassener Arbeitsmediziner verstrickt wird und sich verstricken kann.

5 Zweite Fallvignette – „ehrenamtliche Nebentätigkeit“

Herr Leuchten (55) arbeitet als Ingenieur im Büro eines großen Kraftwerks. Nebenberuflich ist er ehrenamtlicher Bürgermeister einer kleinen Gemeinde im Umfeld. Die Nebentätigkeit hat er sich von seinem Arbeitgeber, ein internationaler Energiekonzern, genehmigen lassen. In seiner Gemeinde ist er eine Institution, was sein Chef weiß und schätzt. Es erhöht die Akzeptanz des Unternehmens in der Region.

Als dieser Chef in Altersrente geht, ändert sich die Situation. Das Kraftwerk soll „abgewickelt“ werden, und der neue Vorgesetzte geht seine Aufgabe „dynamisch“ an. Dr. Hansmann ist nicht nur nicht aus der Region, er ist auch mit dem Arbeitseinsatz von Herrn Leuchten nicht zufrieden. Als Herr Leuchten nach einer Hirnblutung an seinen Arbeitsplatz zurückkehrt, nimmt der neue Vorgesetzte mit dem werkszugehörigen Betriebsarzt Kontakt auf. Dr. Schwalm ist als leitender Angestellter auch Gesundheitsmanager und seit vielen Jahren im Konzern. Dr. Hansmann schildert dem Arzt, dass Herr Leuchten, der immer noch das Ehrenamt eines Bürgermeisters bekleidet, irgendwie durcheinander sei und verzögert spreche, manchmal unkonzentriert wirke. Diese Symptome hingen wohl mit der Hirnblutung zusammen. Deswegen bittet er den Betriebsarzt um ein Gutachten, das besagt, Herr Leuchten sei nicht länger in der Lage, seine Tätigkeit auszuüben.

Dr. Schwalm vermutet, dass der Vorgesetzte den Ingenieur loswerden möchte. Denn dieser hat sich bereits vor dessen Erkrankung über ihn geärgert. Herr Leuchten verbringe zu viel Zeit mit dem „Bürgermeistern“, ist ein Satz, an den sich der Arzt zu erinnern glaubt. Vielleicht – so vermutet der Betriebsarzt – soll hier ein Exempel statuiert werden: Die Kollegen von Herrn Leuchten scheinen dem neuen Vorgesetzten auch nicht besonders engagiert. Obwohl der Arzt sich instrumentalisiert fühlt, will und kann er die Begutachtung nicht einfach ablehnen. Er macht Dr. Hansmann darauf aufmerksam, dass ein Gutachten auf psychometrischen Angaben beruht, die nachvollziehbar belegen, wie neurologische Defizite oder Ausfälle die Ausübung der Tätigkeit beeinträchtigen. Dieser will solche belastbaren Angaben in Kürze bereitstellen. Nach mehreren Treffen stellt Dr. Schwalm fest, dass der Vorgesetzte – entgegen seiner Ankündigung – nicht konkret formulieren kann, wie sich die Defizite im Alltag messbar zeigen. Der Arzt wird kein Gutachten erstellen (können); er konfrontiert den Vorgesetzten mit seiner Vermutung, dass das Gutachten der Konfliktvermeidung dienen solle. Er empfiehlt diesem, Herrn Leuchten mit seiner Minderleistung zu konfrontieren. „Eine solche Konfrontation ist Führungsaufgabe, nicht Sache des Betriebsarztes“, stellt er fest. In der Rolle des Gesundheitsmanagers schlägt er Dr. Hansmann vor, ein Coaching für sich in Anspruch zu nehmen, um seine Konfliktfähigkeit zu trainieren. Dieser reagiert sehr verärgert.

6 Zweite psychodynamische Konfliktanalyse

6.1 Konfliktebene 1: Konflikt zwischen Führungskraft und Mitarbeiter

Als Dr. Hansmann dann doch ins Coaching kommt, soll es zunächst um die Minderleistung von Herrn Leuchten gehen. In der Beratung wird dem jungen Vorgesetzten schnell klar, dass zwischen ihm und seinem deutlich älteren Mitarbeiter eine Art Machtkampf besteht, der vom ganzen Team mit Interesse beobachtet wird. Dr. Hansmann erfährt von der Beraterin Verständnis für seinen Ärger darüber, dass Herr Leuchten mit seiner Nebentätigkeit als Bürgermeister mehr identifiziert ist als mit seiner Tätigkeit als Ingenieur. Im Perspektivwechsel gelingt ihm aber auch ein wenig Verständnis für den älteren Mitarbeiter, Ingenieur in einem Kraftwerk, das in den nächsten Jahren abgeschaltet werden soll. Falls Herr Leuchten einen Identitäts- und Rollenkonflikt hatte, wurde dieser spätestens nach seiner Erkrankung zugunsten seiner Nebentätigkeit entschieden. Im Unternehmen macht er nun „Dienst nach Vorschrift“.

Dr. Hansmann erläutert, dass er seinen Job „führungsstärker“ ausüben will als sein Vorgänger. Im Unternehmen habe er an diversen Führungstrainings teilgenommen. Doch sei das Team an den alten „Schlendrian“ gewöhnt und widerständig. Und so habe er auf „Hilfe“ durch den Betriebsarzt gehofft. Hier zeigt sich, wie so oft in Nachfolgesituationen, dass nicht nur das Team – bewusst oder unbewusst – an dem Vorgänger innerlich festhält, sondern dass auch der junge Nachfolger sich dieser „omnipotenten Vaterimago“ gegenüber im Nachteil fühlt. Dass er sich an die Institution „Betriebsarzt“ wendet, soll als strukturelle Konfliktabwehr die intrapsychische Auseinandersetzung mit diesem imaginären Vorgänger vermeiden, stabilisiert aber nur seine ödipale Problematik. Doch der Betriebsarzt lässt ihn mit seiner Vermeidungsstrategie nicht „durchkommen“. Wenn Dr. Hansmann seinen nachgiebigen Vorgänger, der den Mitarbeitern Nebentätigkeiten genehmigt, auch in den Köpfen seiner Mitarbeiter aufs Altenteil schicken will, muss er mit den Mitarbeitern in einen konstruktiven Konflikt gehen. Er muss Verständnis dafür entwickeln, dass sie ein Unternehmen abbauen sollen, das sie aufgebaut haben; er muss ihre Motivation wecken, diese Abwicklung technisch „perfekt“ durchzuführen, um sich als Techniker zu bestätigen und so den Selbstwertkonflikt abzufedern. Für den erkrankten Ingenieur gilt es, eine alters- und gesundheitsadäquate Lösung zu finden, die auch vom Team als angemessen empfunden wird.

Das anstehende und notwendige Gespräch mit den anderen Teammitgliedern kann Dr. Hansmann im Coaching im Rollenspiel üben. In einer vertrauensvollen Beratungsbeziehung bietet es sich an – als eine Art Transferleistung –, auch die eventuell bestehende Problematik mit der Vaterfigur zum Thema zu machen.

6.2 Konfliktebene 2: Konflikt zwischen Führungskraft und Betriebsarzt

Häufig wird als Reaktion auf die Empfehlung eines Coachings bei den „Betroffenen“ ein Gefühl des Beschämt-Werdens ausgelöst, was diese aber vor sich selbst geheim halten möchten (vgl. West-Leuer 2016). Welche aufstrebende Führungskraft lässt sich schon gerne sagen, dass sie „Nachhilfe“ im Thema Führen benötigt? Stattdessen wird Ärger auf denjenigen wahrgenommen, der das Coaching empfiehlt. Ist letzterer sensibilisiert für diesen Sachverhalt, d. h. hat sie oder er selbst Erfahrungen gemacht mit Gefühlen des Nicht-Genügens oder auch Ungenügens, dann wird sie oder er diese Empfehlung nicht „von-oben-herab“ formulieren und wird sich auch nicht über den Widerstand gegen eine solche Empfehlung wundern.

Im Fallbeispiel versucht der Gesundheitsmanager zunächst, sich selbst den Konflikt und dem jungen Vorgesetzten die narzisstische Kränkung zu ersparen. Obwohl er ahnt, dass dieser keine psychometrischen Angaben zu den Minderleistungen von Herrn Leuchten wird machen können, lässt er sich vordergründig auf das Anliegen ein, vielleicht in der Hoffnung, der junge Vorgesetzte würde sich mit der Minderleistung „arrangieren“. Es fehlt ein Bewusstsein dafür, dass sich beide bei ihren wiederholten Treffen in einem betrieblich-strukturellen Konfliktabwehrmanöver befinden. Anderenfalls hätte Dr. Schwalm einen Perspektivwechsel herbeiführen können.

Aus seiner jahrelangen Betriebszugehörigkeit und seiner Identifikation mit dem Unternehmen wusste er um die „Kränkung“ der Ingenieure, die am Aufbau von Kraftwerken beteiligt waren und diese nun zurückbauen sollten. Die Schwierigkeiten des neuen Vorgesetzten, seine Mitarbeiter zu motivieren, würden durch diese Informationen ein wenig entpersonalisiert, seine Kompetenzscham verringert. Er erkennt dann, dass es nicht (nur) an seiner Kompetenz als Führungskraft liegt, wenn die Mitglieder seines Teams, hier symptomatisch der ehrenamtliche Bürgermeister, sich nicht mit Eifer an den Rückbau des Kraftwerks machen, sondern auch an deren Identifikation mit dem eigenen Werk. Der Betriebsarzt konnte solche Überlegungen nicht beisteuern, denn aufgrund seiner eigenen jahrelangen Betriebszugehörigkeit hatte er mit demselben narzisstischen und Selbstwert-Dilemma zu kämpfen wie die Ingenieure (West-Leuer 2019, S. 234 f.). Dass er in dieser Situation des radikalen Umbaus des Unternehmens eine externe Beratung empfiehlt, zeugt von einer angemessenen Einschätzung der eigenen Verwicklung in die institutionellen Konfliktebenen.

7 Diagnostische Einschätzung und allgemeine Interventionsempfehlung

Nach der Konflikteskalationsskala von Glasl (1994) sind Konflikte auf den Eskalationsstufen vier bis sechs („Win-Lose“) an festgefahrenen Rollen und Fixierungen zu erkennen. Konfliktparteien schrecken nach Gesichtsverlust vor Ausstoßung nicht zurück. Teilobjektbeziehungen herrschen vor. Bei den Gruppenmitgliedern finden sich intrapsychische „Bilder“ und Fantasien vom „nur guten Selbst“ und von der „nur guten eigenen Gruppe“ oder von den „nur bösen anderen Einzelnen oder Gruppen“. Destruktive Handlungen werden zu Optionen. Eine langfristige externe Konflikt- und Prozessbegleitung wird nötig. Die Eskalationsstufen sieben bis neun („Lose-Lose“) bedürfen eines übergeordneten Machteingriffs, der gegen den Willen der Beteiligten durchgesetzt wird. Beziehungsorientierte Einlassungen werden als Selbstschutz vermieden (vgl. West-Leuer 2003).

Die Konflikte in den Fallvignetten spielen sich im Wesentlichen auf der „Win-Win-Ebene“ ab, jedoch auf der dritten von neun Stufen der Konflikteskalationsskala (Glasl 1994). Die Standpunkte sind zum Teil verhärtet. Im Umgang mit der Gegenseite entstehen Spannungen und Polarisierungen. Die Kontrahenten – jeweils eine Führungskraft und ein Mitarbeiter – suchen Verbündete. Dem vermittelnden Dritten gegenüber, hier die Arbeitsmediziner, dominieren negative Einstellungen und Gefühle. Es besteht der Wunsch, die Gegenseite vor vollendete Tatsachen zu stellen: Im ersten Fallbeispiel wird eine Erschwerniszulage gestrichen, im zweiten soll ein Ingenieur das Unternehmen verlassen. Bei den Objektbeziehungen überwiegen Ganzobjektbeziehungen. Selbst- und Fremdbilder enthalten „gute und böse“ Merkmale und Eigenschaften. Doch Einteilungen in „ich habe recht – du hast unrecht“ sind spürbar; diese Spaltungsimpulse können aber wieder eingefangen werden.

Konflikte auf den unteren Eskalationsstufen können in der Regel von den Konfliktparteien selbst bearbeitet und befriedet werden. Arbeits- und Betriebsmediziner können, falls sie eingeschaltet werden, vermitteln. Damit dies gut gelingt, hilft den Beteiligten ein Bewusstsein für die eigenen favorisierten, intrapsychischen Konflikte und Selbst-Erfahrung mit den Verhaltensmustern in interpersonellen Konflikten: Nutze ich den Anderen, um mich nicht mit meiner eigenen „neurotischen“ Konfliktabwehr zu konfrontieren? Ist der Widerstand nicht zu hoch und die Bereitschaft vorhanden, auch von einer Eigenbeteiligung auszugehen, gelingt der Perspektivwechsel und der Kompromiss. Strukturelle Lösungsmöglichkeiten, wie das Einschalten des Betriebsrats, finanzielle Abfindungen und vieles anderes mehr, können vom Unternehmen materiellen und ideellen Schaden abwenden; interpersonelle und intrapsychische Konflikte lösen sie nur bedingt.

Bei den Konflikten in den Fallbeispielen kommt erschwerend hinzu, dass die Primäraufgaben beider Organisationen, Bundeswehr und Energiekonzern, immer wieder und aktuell besonders von der Öffentlichkeit kritisch hinterfragt werden. Den Konfliktparteien ist dies nicht immer bewusst, jedoch sorgt die unterschwellige „Bedrohung“ durch das Anwachsen des Primärrisikos für anwachsende Eskalationen. Insbesondere im zweiten Fallbeispiel zeigt sich, wie die gesellschaftliche Neuausrichtung im Umgang mit Energie, die sich als Ergebnis makro-sozialer Konflikte von gesamtgesellschaftlichem Status ergeben hat, erhebliche Primärrisiken für die Konzerne beinhaltet. Diese von der Führung einzuschätzenden Risiken führen zu meso-sozialen Konflikten innerhalb der Sub-Einheiten der Organisation, werden dort personifiziert und interpersonell und intrapsychisch ausgetragen.