Die Recherche vorhandener Literatur- und Forschungsergebnisse zeigte, dass dort häufig die erwünschte Schauseite des Konstrukts Doppelspitze abgebildet wird. Mein Interesse war, in einem zweiten Schritt den Blick hinter die Fassade zu werfen und zu erforschen, wie eine stabile Struktur in Doppelspitzen entsteht und wie Herausforderungen und Scheiternsfaktoren konkret aussehen. Ich führte im Februar 2020 sechs leitfadengestützte qualitative Experteninterviews, nicht mit den Doppelspitzen direkt, sondern mit sieben Coaches, die mehrjährige Erfahrung in der Beratung von Führungstandems haben. Zwei Coaches wurden gemeinsam befragt, da diese häufig im Tandem Doppelspitzen beraten. So entstand auf einer Meta-Ebene ein Einblick in die Arbeit von ca. 120 Doppelspitzen mit einer großen Bandbreite der Branchen – von DAX-Unternehmen über Start-Ups, Non-Profit-Organisationen bis hin zu Familien- und Handwerksunternehmen. Die Interviews wurden durch eine qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) ausgewertet.
Persönliche und fachliche Passung der Tandems
Die Ergebnisse der Interviews zeigen, dass der persönlichen und fachlichen Passung die höchste Bedeutung beigemessen wird. Dabei werden sowohl individuelle Faktoren, z. B. intrinsische Motivation, Offenheit, Reflexionsfähigkeit, Selbsterkenntnis, Stress- und Affektkontrolle, als auch interaktive Kompetenz, z. B. Kommunikations- und Problemlösungs- und Diversitätskompetenz, als wesentlich erachtet.
Die Befunde sind ebenso in der Forschung zu Teamarbeit zu verorten. Als Faktoren, die die persönliche Passung beeinflussen, wurden in den Interviews zum einen individuelle Merkmale wie Skills, Wissen, Fähigkeiten, Erfahrungen, Persönlichkeitsmerkmale genannt, die auch in der Forschung zu Teamarbeit als Gelingensfaktoren beschrieben sind (z. B. Guzzo und Dickson 1996). Zum anderen scheinen die Team-KSAs (knowledge, skills, abilities) wie Konfliktlösungsfähigkeit, kollaborativer Problemlösestil, Kommunikationskompetenz, Selbstmanagement, wie sie wissenschaftlich bei Stevens und Campion (1994, 1999) beschrieben sind, von hoher Bedeutung. Es ist davon auszugehen, dass empirische Erkenntnisse aus dem Bereich der Teamforschung auch auf die Zweierkonstellation übertragbar sind, die besagen, dass neben den hohen Fähigkeiten der Einzelnen die Team-KSAs einen zusätzlichen Vorhersagewert für die Gelingensfaktoren für Doppelspitzen darstellen.
Die Ergebnisse der Interviews können darüber hinaus dahin interpretiert werden, dass durch eine Verdichtung der Zusammenarbeit in der Zweierkonstellation die individuellen Fähigkeiten und interaktiven Kompetenzen eine noch wesentlich größere Rolle spielen als in Teams ab drei Personen. Dies lässt sich sehr eindrücklich aus folgendem Zitat einer Coach schließen: „Zentrale Herausforderungen an Doppelspitzen sind (…) die enge Zusammenarbeit, wo man mit seinen ganzen persönlichen Störungen oder positiv formuliert mit seinen persönlichen Entwicklungsthemen aufeinanderprallt.“ Umso erstaunlicher ist es, dass bei der Personalauswahl von Doppelspitzen kaum eine Beratung stattfand; es wurde meistens kein spezielles Personalauswahl-Verfahren eingesetzt. Auch dieser Aspekt wurde bereits in der kanadischen Studie von Reid und Karambayya (2009) bemängelt, dass Personalauswahl und Passung einer Doppelspitze von den Aufsichtsgremien kaum bedacht werden. Instrumente der Personaldiagnostik, wie z. B. die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik im Arbeitskontext (Kotte et al. 2019) und das Bochumer Inventar zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung (Hossiep und Paschen 2003) könnten für die Auswahl von Doppelspitzen weiterentwickelt werden.
Diversität und Komplementarität nutzen
Unterschiede und damit verbundene Komplementarität wurden von den meisten befragten Expert/innen als wesentliche Vorteile für die Potentialentfaltung einer Doppelspitze beschrieben. Die Komplementarität erstreckt sich sowohl auf Charaktereigenschaften als auch auf Professionen, Kompetenzen und Geschlechter. Es gibt jedoch auch Unterschiede, die sich nachteilig auswirken und eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe stark erschweren, wie z. B. zu große Altersunterschiede. Auch asynchrone Entwicklungen des Duos, z. B. im Gesundheitszustand und bei Leistungsunterschieden, führen gehäuft zu schwer lösbaren Konflikten. Die befragten Coaches halten es daher für wesentlich, das Konstrukt „Doppelspitze“ mit seinen Komplementaritäten immer wieder für die Doppelspitzen-Mitglieder selbst, aber auch in die Mitarbeitendenschaft hinein zu kommunizieren. Dies beschreiben ebenso Hartmann et al. (2013), die die Kommunikation der Vorteile von Heterogenität in die Belegschaft als notwendig betonen. Einen wesentlichen Einfluss auf den Nutzen von Diversität in der Doppelspitzenarbeit hat dabei auch deren Wertschätzung durch das unternehmerische Umfeld und die Organisationskultur (vgl. Hockling 2019).
Fröse und Bauer (2019) sowie Endres und Weibler (2019) sehen in den Unterschieden von Habitus, Kapitalien, Professionen, Identitäten und Sichtweisen eher Spannungsfelder, die bei (unbewusst verborgenen) Dynamiken zu Entwertungen und Reibungsverlusten führen. Endres und Weibler schreiben dann aber weiter, dass Diversitäten des Duos als strategisch gewollt implementiert werden müssen, dann seien sie hilfreich. Hartmann et al. (2013) gehen noch einen Schritt weiter, indem sie postulieren, dass die Vorteile der Heterogenität in der Belegschaft kommuniziert sein müssen. Die Ergebnisse aus den bisherigen kleinen außereuropäischen Studien werden auch an diesem Punkt bestätigt. Die inkonsistenten Forschungsergebnisse aus zahlreichen Einzelstudien und Überblicksarbeiten zwischen Teamdiversität und Teamerfolg zeigen sowohl positive wie negative, aber auch keine Zusammenhänge (Bell et al. 2011; Joshi und Roh 2009; Kearney und Voelpel 2012; Thatcher und Patel 2012; van Knippenberg und Schippers 2007; van Knippenberg et al. 2004).
In dieser qualitativen Untersuchung wurden jedoch Zusammenhänge und gegenseitige Einflussfaktoren deutlich, die insbesondere von einer entsprechenden Unternehmenskultur geprägt sind: Agile, wissensbasierte Unternehmen fördern und wertschätzen die Unterschiede für den unternehmerischen Erfolg. Dies ist in der Regel verbunden mit einer jüngeren Generation an Fach- und Führungskräften, die ihre Individualität und besonderen Kompetenzen bereits differenziert in den Blick nehmen und im beruflichen Kontext auch einsetzen wollen (vgl. Abdul-Hussain 2012).
Wenn Hartmann et al. (2013) schreiben, dass bei einem ausgeglichenen Geschlechterverhältnis in der Branche weniger Stereotypisierungen erfolgen, ist nach den vorliegenden Interviews davon auszugehen, dass dieser Umstand auch auf das Verhältnis von unterschiedlichen Berufsgruppen anzuwenden ist. Vor allem in den Bereichen, in denen ein ausgeglichenes Zusammenwirken von unterschiedlichen Berufsgruppen stattfindet (z. B. zwischen Betriebswirt/innen und Techniker/innen), können die Potenziale beruflicher Diversität besonders gut genutzt werden. Ebenso ließen die Interviews darauf schließen, dass in traditionellen und hierarchischen Organisationen an diesen Stellen gehäuft eine Störanfälligkeit auftritt.
Mehrwert für Beteiligte und Unternehmen – ein zentraler Schlüsselaspekt
In allen Interviews wurde deutlich, dass ein entscheidender Gelingensfaktor darin liegt, dass sowohl für die Menschen, die sich auf das Führungsmodell „Doppelspitze“ einlassen, als auch für das Unternehmen, seien es die Aufsichtsgremien und/oder Mitarbeitende, ein deutlich spürbarer Mehrwert durch dieses Führungskonstrukt entstehen muss. Folgende Aspekte wurden genannt:
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Mehrwert für Unternehmen: Höhere Leistungsfähigkeit für die Organisation, bessere Entscheidungen bei komplexen Sachlagen, Steigerung der Arbeitgeberattraktivität, Gleichstellung von Frauen und Männern auf Führungsebene, Ermöglichung von mehr Wachstum und Einflussnahme, Verhinderung von Machtmissbrauch und Möglichkeit der Nachfolgeregelung.
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Mehrwert auf der individuellen Ebene: Work-Life-Balance, Ermöglichung von Familienarbeit und Führungsposition, Freiräume für berufliche Leidenschaften und „Lieblingsprojekte“, gegenseitige Unterstützung und Entlastung in komplexen und schwierigen Situationen.
Diese Befunde waren zunächst überraschend. Der Indikator „Mehrwert“ ist in der aktuellen Forschung und Literatur nicht explizit dargestellt, bietet jedoch in den Interviews einen deutlichen Dreh- und Angelpunkt. Hier steckte bei den Gelingensfaktoren am meisten Emotionalität und eigene Beteiligung der befragten Expert/innen. Es scheint durchaus einleuchtend, dass Herausforderungen, z. B. das Teilen von Macht und ein daraus resultierender erhöhter Abstimmungs- und Kommunikationsbedarf, durch positive Effekte ausgeglichen oder besser noch deutlich übertroffen werden sollten. Dabei ist aus meiner Sicht zu beachten, dass durch die enge Zusammenarbeit und das gemeinsame Führen eines Unternehmens(-teils) eine dritte Größe entsteht. Wo das dyadische Denken um eine Balance zwischen Nähe und Distanz, um ein Oszillieren zwischen Verschmelzung und Autonomie ringt, entsteht durch das Dritte ein triadischer Raum. Das zweiwertige Denken wird erheblich differenziert und führt eben zu diesem (Busse und Tietel 2018, S. 16). Das Dritte ist hier z. B. die primäre Aufgabe der gemeinsamen Führung. Dadurch kann für komplexe Aufgabenstellungen ein Mehrwert durch Führungstandems (bei größeren Organisationen durch Führungsteams) entstehen.
Die Forschungssynopse zu geteilter Leitung von Endres und Weibler (2019) stellt in ihren Befunden eine Vielzahl von positiven Wirkungen für Individuen, Organisation und Gesellschaft dar. Die Auseinandersetzung mit den Vorteilen und Zielen von Doppelspitzen sowie das Herausarbeiten positiver Bilder scheinen an der Schnittstelle von Führungsforschung und Coachingkonzepten zielführend.
Gemeinsames Führungsbild und klare Aufgabenteilung
Als weiteren Gelingensfaktor werden die Entwicklung eines gemeinsamen Führungsbildes, die Abstimmung von Vision, Mission und Strategien, die Rollen- und Aufgabenklärungen einschließlich der Verhandlung persönlicher Interessen gesehen. Dabei wurden ein abgestimmtes Führungsverständnis und ein gemeinsames Auftreten als Basis bzw. bei deren Fehlen als Scheiternsfaktor beschrieben. Diese Faktoren bilden somit ein Fundament für Führungshandeln zu zweit. Häufig sind formale Regelungen wie Geschäftsverteilungspläne vorhanden oder werden in einer Startphase entwickelt oder überprüft, ergeben jedoch allein noch kein gemeinsames Führungshandeln. Häufig wird Führung noch zu sehr als Einzelleistung eines Managers gesehen und weniger als orchestrales Werk eines Führungsteams. Das Potenzial der Doppelspitzenarbeit entsteht nicht durch die Multiplizierung von Leitungsstellen, sondern durch ein anderes Führungsverständnis (vgl. Endres und Weibler 2019; Hinz 2014). Um dieses zu erreichen, ist ein differenzierter und stets reflektierender Aushandlungsprozess des Führungstandems notwendig. Bei einem positiven Verlauf werden dadurch eine erhöhte Motivation und damit eine erhöhte Leistung des Führungsduals wahrgenommen. Dies wird in der Regel durch eine hohe Identifikation mit dem gemeinsamen Konstrukt „Doppelspitze“ in Verbindung mit der Primäraufgabe der Organisation erreicht. Dieser Umstand wird in der Organisationspsychologie unter dem Begriff „Social Laboring“ beschrieben (Worchel et al. 1998).
Einfluss von Dritten und Auswirkungen der Felddynamik
Zu einer der größten Herausforderungen von Doppelspitzen zählten der Einfluss von Dritten, z. B. von Mitarbeitenden oder Aufsichtsräten, sowie die Auswirkungen der Felddynamik. In den Interviews wurden im wesentlichen direkte Störungen durch Mitarbeitende, Vorgesetzte, Kunden oder Familienmitglieder beschrieben, so z. B. Kunden, die nur den älteren Steuerberater aufsuchten, oder Mitarbeitende, „die wie die Kinder ihre Eltern“ das Führungsduo gegeneinander ausspielten. Interessanterweise waren selbst diese offensichtlichen Dynamiken den Doppelspitzenpartner/innen nicht bewusst. Sie suchten auch in diesen Fällen Coaching auf, um die Beziehungs- und Arbeitsebene zu klären, sahen also nur einen dyadischen und keinen triadischen Konflikt.
In der Literatur wird dies ebenso als neuralgischer Punkt beschrieben. So sehen Fröse und Bauer (2019), dass die Felddynamik der Organisation und deren Umfeld die Zusammenarbeit der Führungsduos erschweren, indem Konkurrenz und (unbewusste) Spannungsfelder auf das Führungsduo übertragen werden. Reid und Karambayya (2009) konnten in ihrer Studie in der kanadischen Kreativbranche feststellen, dass in den Konfliktszenarien der Doppelspitze häufig Paradoxien deutlich werden, die in der Gesamtorganisation vorzufinden sind.
Sorgfältige Implementierung
Der Anteil der befragten Coaches ist äußerst gering, die Organisationen oder Doppelspitzen im Vorfeld und zu Beginn ihrer Tätigkeiten beraten. Dennoch sehen die Coaches einen sehr hohen Faktor für das Gelingen in diesem Bereich: Ein deutliches Abwägen von Vor- und Nachteilen eines Doppelspitzenkonstrukts, ein Herausarbeiten, welche Ziele und Visionen mit der Doppelspitze verbunden sind, eine entsprechende Kommunikation in die Organisation und nach außen, eine Begleitung zum Start sowie die bereits beschriebenen Faktoren – von der Personalauswahl bis zum gemeinsamen Führungsbild – sind vor der Implementierung zu bedenken.
Endres und Weibler (2019, S. 27) betonen als Fazit ihrer Forschungssynopse: „Eine nachhaltige Entfaltung des positiven Potenzials von Plural Leadership hängt von der Art und Weise seiner Einführung ab.“ Auch andere Autoren verweisen auf die Notwendigkeit einer guten Einführung und Begleitung in der Startphase (Fröse und Bauer 2019; Himmen 2019; Ellwart et al. 2016; Reid und Karambayya 2009; Wimmer 2004). Allerdings ist dieser Aspekt weder in der Forschung näher betrachtet noch in der Führungs- und Coachingpraxis konzeptionell beschrieben worden.
Raum für Reflexion und Beratung
Zeitliche Ressourcen und persönliche Bereitschaft zu einer intensiven Zusammenarbeit, Reflexion und Auseinandersetzung bilden die Basis für Führungstandems, so die zentrale Aussage der Expert/innen. Der hohe Abstimmungsbedarf von Führungstandems wird immer wieder als negativer Faktor beschrieben, zuletzt auch beim Scheitern der Doppelspitze bei SAP: Die Krise brauche schnelle Entscheidungen durch einen starken Mann. Endres und Weibler (2019) verstehen jedoch das Ringen um Verständigung nicht als negativen Kostenfaktor, sondern als förderlichen Entstehungsfaktor, der einen Lern-Dialog kultiviert. Ähnlich sehen dies Reid und Karambayya (2009) und v. Ameln (2015). Offene Aushandlungsprozesse wirken gleichzeitig klärend und kulturbildend für die Organisation, indem Polaritäten, Zielkonflikte und Ambiguitäten nicht auf Nebenschauplätze verschoben werden. Bei der Gestaltung von Form und Maß der Zusammenarbeit sind aber ebenso die paradoxen Effekte zur Teamreflexivität nach Schippers (2012) zu berücksichtigen, die besagen, je weniger Zeit und/oder Ressourcen Teams haben, um zu reflektieren, desto deutlicher sind die Effekte der Reflexivität (Schippers et al. 2015).
Angst vor einem Scheitern und deren Konsequenzen
Als besonders sensibler Aspekt zeigte sich die Angst vor dem Scheitern der Doppelspitze. Sie wirkt sich sowohl auf die Doppelspitzen selbst als auch auf die Organisation aus. Zum einen hat ein Scheitern der Zusammenarbeit in vielen Bereichen, z. B. bei Freiberuflern oder Familienunternehmen, auch weitreichende persönliche und wirtschaftliche Konsequenzen. Zum anderen wurde gerade in den Interviews deutlich, dass mit dem Scheitern eines Führungsduos Konflikte in der Organisation offensichtlich werden und damit oft die ganze Organisation in Frage gestellt ist.
Der Effekt, dass das Scheitern der Führungsduos die Organisation oft in eine existenzielle Krise stürzt, wurde ebenfalls in der Studie von Reid und Karambayya (2009) und bei Himmen (2019) festgestellt. Ellwart et al. (2016) empfehlen daher bei der Einführung einer Doppelspitze, insbesondere im Topsharing, eine zeitliche Befristung. Reid und Karambayya sehen es dagegen als kritisch, insbesondere wenn unterschiedliche Vertragslaufzeiten, z. B. bei Vorstandsverträgen, die Regel sind. Meines Erachtens ist mit einer zeitlichen Befristung sehr vorsichtig umzugehen, wenn wir uns vor Augen führen, welche Auswirkungen „Dritte“, z. B. Aufsichtsgremien und Mitarbeitende, auf das Führungsduo haben. Zeitlich befristete Konstrukte können hier eine schwierige Dynamik schneller befeuern, als dass sich daraus positive Effekte entwickeln.