Für ein Institut für Psychologie ist es ungewöhnlich, über ein Lehrgebiet „Theorie und Methodik der (arbeitsweltbezogenen) Beratung“ zu verfügen. Damit setzt die Universität Kassel eine über 40-jährige Tradition fort, denn 1974 entstand hier der erste Studiengang „Supervision“. Der Fachbereich und das Präsidium reagierten mit der Schaffung des anwendungsorientierten Fachgebiets auf einen gesellschaftlichen Bedarf, denn die Nachfrage von Beratung in Organisationen steigt. Als Hintergrund dessen gelten die „üblichen Verdächtigen“, wie Kühl (2008) die Determinanten nennt:

  • Die Komplexität der Organisationen steigt immens an,

  • die Entscheidungsanforderungen erscheinen schier unbewältigbar,

  • die Trennung zwischen Eigentum und Führung von Unternehmen stellt die Führungstheorie und -forschung vor Herausforderungen,

  • die Tempoverschärfung,

  • der technologische Fortschritt,

  • der demographische Wandel,

  • die Entgrenzung der Arbeitswelt und schließlich

  • die Globalisierung mit den mit ihr einhergehenden Anforderungen und Krisen begründen die Nachfrage.

Unternehmen, die öffentliche Verwaltung, das Gesundheitswesen und der psychosoziale Sektor suchen Unterstützung im Bereich der Teamentwicklung, der Supervision, der Organisationsberatung und dem Coaching als einem spezifizierten Beratungsangebot für Fach- und Führungskräfte, um die Effizienz ihrer Arbeit zu steigern, aber auch Antworten auf Fragen der Work-Life-Balance, den Umgang mit vielerlei Widersprüchen, Dilemmata und Diversity in der postmodernen Arbeitswelt zu finden. Selbstreflexion und Handlungsorientierung durch Beratung zu bekommen, gilt als Basis zur Aufrechterhaltung organisationalen Funktionierens, zur Wiederherstellung von geschädigten Organisationen oder als Wachstumsstimulus. Die professionellen Standards und die methodische Absicherung von vielen Beratungsleistungen lassen noch deutlich zu wünschen übrig, bis hin zu der Frage, ob Beratung in Organisationen überhaupt als angewandte Wissenschaft zu verstehen ist. So ist es als innovativer Schritt der Universität Kassel anzusehen, ein Lehrgebiet „Theorie und Methodik der Beratung“ zu implementieren. In diesem Heft bekommen wir Gelegenheit, unsere Arbeit einem breiten Leser/innenkreis vorzustellen.

Von Seiten unterschiedlicher Berufsverbände, aber auch von der Berater/innenseite selbst wurde der Ruf nach systematischer Beratungsforschung laut, um im Beratungsdiskurs über das Niveau von praktischen Ratgebern, Texten von der Praxis für die Praxis sowie Fallbeschreibungen hinauszukommen. Die Beratungswissenschaft hat eine projektförmige Struktur, da sie disziplinäres Wissen aus der Soziologie, Psychologie, Betriebswirtschaft, Pädagogik, Arbeitswissenschaft und Philosophie zusammenführen muss, um theoriegeleitete Beratungsforschung in Zusammenarbeit mit Expert/innen aus der Praxis zu verwirklichen. Beratung ist eine diskrete Dienstleistung, in der viel Vertrauensarbeit geleistet wird, und da stört Forschung oft genug. Dennoch wollen wir Beratung als Wissenschaft wissenschaftstheoretisch einordnen und fassen. Wir fühlen uns aufgerufen, einen Beitrag zur Qualitätssicherung in organisationalen und personenbezogenen Dienstleistungen zu leisten und nach adäquaten Antworten auf Anliegen postmoderner Arbeitswelten zu suchen.

Das Fachgebiet Theorie und Methodik der Beratung möchte dazu beitragen, Kund/innen und Berater/innen Orientierungshilfe zu bieten und eine Forschung zu etablieren, die den Impact von Verfahren und Formaten zeigen kann. Hier bieten sich unterschiedlich stark vernetzte Forschungsfragen und -ebenen an. Wir untersuchen in diesem Kontext Wirkungen, Wirkfaktoren und Wirkweisen verschiedener Beratungsformate und gehen damit etwa den Fragen nach: Welche Effekte entstehen? Wie und wodurch entstehen diese? Die Prozess- und Outcomemaße werden aus verschiedenen Perspektiven untersucht. Hier ist zunächst der Blickwinkel der Kund/innen, also Klient/innen, Patient/innen oder Teilnehmer/innen, zu nennen. Des Weiteren wird die Sicht der Dienstleister, sprich der Berater/innen, Psychotherapeut/innen, Supervisor/innen und Coaches, beleuchtet. Als eine dritte Blickachse wird darüber hinaus stets die Perspektive der Organisation berücksichtigt.

In diesem Kontext werden und wurden in den letzten Jahren Forschungsprojekte zu den Beratungsformaten Supervision, Training, Organisationsentwicklung und Coaching, aber auch zur Psychotherapie durchgeführt. Die unterschiedlichen Expertisen der Forscher/innen des Lehrgebiets machen es möglich, Theorien, Konzepte und Forschungsmethoden aus der Klinischen Psychologie, der Arbeits- und Organisationspsychologie und der Betriebswirtschaftslehre in ein Ergänzungsverhältnis zu setzen und für die Beratungsforschung fruchtbar zu machen. Die disziplinäre Grenzüberschreitung kann dabei als innovativer Zugang für die Fortentwicklung der Beratungsforschung gelten.

Ein weiterer Schwerpunkt ist Forschung im Ausbildungsmarkt von Berater/innen und Psychotherapeut/innen, wo wir „harte“ Daten zur fachlichen und persönlichen Kompetenzentwicklung der Aus- und Weiterbildungsteilnehmer/innen erheben und damit helfen, Aus- und Weiterbildungskonzeptionen wissenschaftlich zu fundieren, zu begleiten und prozessual zu verändern. Anregungen zur Didaktik und Methodik der Berater/innenausbildung geben Antworten auf die Frage, wie Beratung lehr- und lernbar ist.

In unserem Fachgebiet wird aktuell zu folgenden Themen geforscht: Unternehmerisches Denken und Handeln, Diagnostik der Unternehmer/innenpersönlichkeit, internationale Leadershipdevelopment-Programme, Geschlechtergerechtigkeit in Organisationen, OPD-gestützte Managementdiagnostik und OPD-gestützte Coachingangebote, Mentalisierung im Coaching, in der Führungspraxis und in Organisationen, Supervisions- und Coachingkompetenzen, Selbstregulationskompetenz von Fußballfangruppen, Psychologische Erste Hilfe für Flüchtlinge, Kompetenzentwicklung von Psychotherapeut/innen in Ausbildung, Wirksamkeit der Katathym Imaginativen Psychotherapie, Hypnosepsychotherapie und Autogenen Psychotherapie, Psychoanalytische Fallsupervision in der stationären und ambulanten Jugendhilfe und Wirksamkeit der Humanistischen Psychotherapien.

In diesem Heft geben wir einen Einblick in den aktuellen Stand der Coachingforschung und zeigen Ausschnitte aus unseren aktuellen Beratungsforschungsprojekten.

Silja Kotte, Denise Hinn, Katrin Oellerich und Heidi Möller geben einen Einblick in den aktuellen Stand der Coachingforschung. Dazu fassen sie die zentralen Ergebnisse der vier Metaanalysen zusammen, die inzwischen im Bereich Coaching vorliegen. Sie gehen sowohl auf Ergebnisse zur Wirksamkeit als auch zu Wirkfaktoren – konkret der Gestaltung des Coachingprozesses und -settings, der Coach-Coachee-Beziehung sowie Merkmalen von Coach und Coachees – im Coaching ein.

Die explorative Auseinandersetzung von Alina Goebel und Denise Hinn mit dem Konzept eines Mentalisierungsbasierten Coachings zeigt, dass die Mentalisierungstheorie auch für den Coaching-Kontext eine Bereicherung darstellt und sich einige Elemente der Mentalisierungsbasierten Therapie (MBT) auf Coaching übertragen lassen. Neu an einem Mentalisierungsbasierten Coaching wäre, dass die Mentalisierungsfähigkeit ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt und somit ganz gezielt an der definitorisch geforderten intensiven und systematischen Förderung von Selbstreflexionen gearbeitet werden könnte.

Katrin Oellerich stellt in ihrem Beitrag die Ergebnisse ihrer qualitativen Studie zu möglichen negativen Effekten von Coaching und ihren Ursachen aus der Perspektive der Organisation vor. Die Ergebnisse zeigen, dass vielseitige negative Effekte auftreten können, denen diverse Ursachen zugeschrieben werden. Als zentrale Schlüssel zur Wirksamkeit konnten die gründliche Auftragsklärung und die Einbettung von Coaching in einem Unternehmen herausgearbeitet werden.

Johanna Quendt und Katrin Oellerich befassen sich in ihrem Beitrag mit der in Organisationen bestehenden Coaching-Kultur und der daraus resultierenden Wirkfähigkeit des Formats Coaching. Dabei wird zum einen erläutert, aus welchen Komponenten sich die Coaching-Kultur zusammensetzt und wie der Status quo in sechs befragten Unternehmen ist. Die Ergebnisse zeigen, dass sowohl positiv als auch negativ geprägte Kulturen bestehen.

Silja Kotte und Svenja Taubner fokussieren in einem Praxisbericht auf Mentalisierung im Rahmen von Teamsupervision. Sie erläutern die verschiedenen „prämentalisierenden Denk-Modi“ anhand des Beispiels einer Teamsupervision in einem Berufsbildungswerk. Über das generelle Modell der stressabhängigen Mentalisierung hinaus wird insbesondere auf Einflussfaktoren eingegangen, die im organisationalen Kontext mentalisierungsförderlich und -hinderlich wirken können. Anschließend wird verdeutlicht, wie sich Haltungen und Interventionen aus der mentalisierungsbasierten Therapie (MBT) in der Teamsupervision übersetzen lassen.

Heidi Möller und Marion Hellebrandt haben in ihrem Diskursbeitrag die wissenschaftliche Fundierung von Coaching-Weiterbildungen hinterfragt. Auf der Grundlage der inhaltsanalytischen Untersuchung der Curricula zertifizierter Weiterbildungen wurde überprüft, ob wissenschaftlich fundierte Theorien und Konzepte in die Weiterbildung integriert sind und ob der aktuelle Stand der Coachingforschung eine Rolle spielt. Die Ergebnisse zeigen, dass die betrachteten Curricula nur wenige von Wissenschaftlern als relevant erachtete Konzepte berücksichtigen.