Schon der Titel lässt Großartiges erwarten, sind doch die begrifflichen Konnotationen modern und ist die semantische Spannweite – nicht zuletzt durch die Doppelpunkte im Titel – erheblich. Dieses Herausgeberwerk von Ruth E. Lerchster und Maria Spindler vermeldet einen hohen Anspruch und offenbart inhaltliche Vielfalt, wobei es zu bemerken gilt, dass knapp 40 % der 285 Textseiten von den Autorinnen selbst oder in Ko-Autorenschaft geschrieben wurden. Die im Titel proklamierte Umfänglichkeit prägt das Werk und lässt den traditionell in der Gruppendynamik verankerten Anspruch auf gesellschaftliche Relevanz und als Methode zur Veränderung von Mustern psychischer und sozialer Systeme in jedem der 15 Beiträge mitschwingen.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert: 1. Wozu? 2. Wie, auf Wen und Warum? Und 3. Wohin? Die behandelten Themen gehen von selbstorganisierter Erneuerung, Psychologischer Sicherheit, Erfahrung und Reflexion in Gruppen über die Unterscheidung zwischen Teams und Gruppen, Gruppendynamik als angewandte Improvisation, die Idee der Aufklärung und Gruppendynamik, gruppendynamische Zugänge zu Führung, Organisation und Change, Non-Stranger-Gruppen, Gruppen im virtuellen Raum und deren Limitationen und Potenziale, Prozessmodell des Gruppendynamischen Trainingsprozesses, vom Schulwesen bis ins Organisationswesen bis hin zu KI-gestützten rollierenden Organisationen, wissenschaftstheoretischen Dimensionen und affektiven Wirkungen von Veränderungen.

Alle Beiträge sind interessant, von unterschiedlicher Qualität und Tiefe, einmal mehr philosophisch-theoretisch, einmal mehr praktisch-erfahrungsbasiert. Für alle, die sich für Gruppendynamik interessieren, damit einmal in Kontakt gekommen sind, an einem Gruppendynamik-Training teilgenommen haben oder dies noch vorhaben bzw. selbst gruppendynamische Trainings anleiten, bietet dieses Buch eine wahre Schatzkiste aus Einsichten, Reflexionen, Verortungen und geteilten Erfahrungen etlicher namhafter Vertreter der deutschsprachigen Gruppendynamik-Szene. Daher ist dieses Buch sicher vor allem für „Eingeweihte“ von großem Interesse, nicht zuletzt, weil hier Peers Einblicke in ihre Arbeitsweise und Theoriehintergründe geben, was in der Branche von Trainerinnen und Coaches immer von höchstem Interesse für die eigene fachliche und persönliche Orientierung ist. Entsprechend fällt es schwer, sich jemanden der noch keinen Kontakt mit gruppendynamischen Trainings hatte, beim Lesen dieses Buches, ohne ein ratloses Gesicht vorzustellen. Die Community der Gruppendynamik und ihre Theorie und Praxiswelt kommt letztlich eben doch als selbstreferentielles System daher und ohne entsprechende persönliche und fachliche Anknüpfungspunkte bleibt vieles in diesem Werk für Außenstehende wahrscheinlich unverdaulich und nicht anschlussfähig. So erhebt sich die Fragen nach der Zielgruppe für das Buch, die ja im Titel sehr breit adressiert wird, aber meiner Meinung nach doch auf die „gruppendynamische“ Trainerinnen und Beratercommunity beschränkt bleibt.

Ein anderer Punkt, der sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht, ist der Anspruch der Gruppendynamik nach gesellschaftlicher Relevanz. Dieser ist seit Lewin Teil der Gründungsidee. Die Idee, durch gruppendynamische Trainings auf Organisationen und Gesellschaften einzuwirken und zum „Positiven“ hin zu verändern, blieb immer mehr Wunsch, als dass sie Wirklichkeit werden konnte. Gruppendynamische Trainings sind seit jeher und bis heute Orte, an denen Menschen wichtige persönliche Erfahrungen machen können, inwieweit sich diese jedoch auch in deren Heimatsystemen, in denen sie als Führungskräfte usw. agieren, entfalten können, bleibt anzuzweifeln. Einige Beiträge thematisieren die Anwendung gruppendynamischer Settings oder Methoden im Organisationskontext z. B. in Non Stranger-Gruppen, in Arbeitsteams oder bei Beratungsprozessen. Insgesamt wird jedoch stark auf den Analogieschluss gesetzt, den teilnehmende Führungspersonen hoffentlich ziehen, um persönliche gruppendynamische Erfahrungen auf ihr tägliches Führungshandeln in Organisationen anzuwenden.

Herausstechend ist der Beitrag von Olaf Geramanis, der auf den Unterschied zwischen Gruppen und Teams bzw. Organisationen abzielt und aus meiner Sicht damit den Kern des gruppendynamischen Dilemmas berührt. Gruppen funktionieren nach anderen Logiken als Teams und Organisationen. Daher sind gruppendynamische Erfahrungen, Phänomene und Konzepte auch nur begrenzt auf andere, mehr formalisierte und aufgabenbezogene Systemtypen zu übertragen. Zugleich jedoch unterliegen auch Organisationen und Teams informellen gruppendynamischen Prozessen, was den Transfer naheliegend erscheinen lässt. Insgesamt wäre es aus meiner Sicht interessant gewesen, die Gruppendynamik hier auf ein neues Level zu heben und intensiver nach Verbindungen zwischen gruppendynamischen Prozessen und Team- und Organisationsdynamiken zu suchen.

Was aus meiner Sicht in diesem Buch weiterhin fehlt, sind neuere theoretische Ansätze zur Gruppen- bzw. Teamdynamiken sowie die Einbindung der extrem umfangreichen Forschung zur Gruppen- und Teamleistungen sowie moderne Führungskonzepte wie sie sich derzeit gerade im Kontext der agilen Transformation entwickeln. Insgesamt gibt das Buch einen guten Einblick in die gruppendynamische Szene, enthält viele interessante Anregungen und Gedanken und ist wie jedes andere Buch zu diesem und allen anderen Themen eben auch nicht perfekt.