Ein Themenheft zur Organisationsdynamik zu gestalten bedeutet, den Fokus von Interaktionen und Entwicklungen in Organisationen auf ihre dynamischen Prozesse und deren multifaktoriellen Einflussfaktoren zu richten. Diese Perspektive erfasst Handlungsdynamiken, die über den einzelnen und seine Interaktionsprozesse sowie deren Wirkung auf Gruppen hinausgehen und vielfältige Wechselwirkungen der Prozessgestaltung von und in Organisationen in den Blick nehmen, um die Komplexität des Geschehens zu erfassen.

Dabei können Einflussbereiche entlang von Thematiken neuer gesellschaftlicher Entwicklungen wie Globalisierung und Digitalisierung von Kommunikationsprozessen und deren Folgen relevant sein, die einerseits positiv konnotiert werden, zugleich aber auch Herausforderungen mit sich bringen. So wird die zunehmende Transparenz und Geschwindigkeit von Kommunikation in bestimmten Prozessen als hilfreich, in anderen aber auch als anspruchsvoll und kaum nachvollziehbar erlebt. Gleiches gilt für die zunehmende Heterogenität von Prozessen und Beteiligten und für die Auflösung bekannter Faktoren gelingender Arbeitsbeziehungen.

Ebenso können Einflussbereiche entlang von Thematiken jüngster historischer Spannungslagen bedeutsam sein, deren gegenwärtige Einflüsse auf die verschiedenen Dynamiken untersucht werden müssen.

Jedwede aktuellen Handlungen entstehen einerseits im historischen Kontext und gestalten diesen andererseits post actu mit. Damit werden sie auch zu einem Teil der geschichtlichen Entwicklung. Diese reziproke Beziehung von organisationalen Kontexten und den in ihnen präsenten, sie zugleich gestaltenden Akteuren wurde in der Strukturationstheorie von Anthony Giddens (1988) treffend beschrieben. Er bezeichnet diese Wechselwirkung als Dualität von Struktur und Handlung. Das menschliche Handeln findet in gegebenen Strukturen statt und wirkt zugleich selbst strukturierend. Strukturen, in denen Organisationen wirken und denen sie ausgesetzt sind, können also als Produkte vorhergehenden Handelns bezeichnet werden. „Aktuelles Handeln beeinflusst wiederum rekursiv die in den Strukturen eingebundenen Regeln und Ressourcen sozialer Systeme. Im gegenwärtigen Handeln werden die bestehenden Regeln und Ressourcen also aktiviert und modifiziert. Mit diesen Überlegungen wird nicht nur die rückbezügliche Prozesshaftigkeit der Entwicklung von Organisationen deutlich, sondern auch die Frage des Möglichen“ (Iwers-Stelljes et al. 2016).

Die Bedeutung all dieser Einflussfaktoren und Wirkzusammenhänge für Beratung und Führung in Organisationen steht im Mittelpunkt des vorliegenden Heftes zur Organisationsdynamik.

Wir gehen mit den vorliegenden Beiträgen des Themenheftes der Frage nach, was das Spezifische einer Organisation ist und wie sich diese Spezifika auf die Dynamik der Organisation und das Zusammenspiel ihrer internen und externen Akteure auswirken, und zwar unter den aktuellen Bedingungen schnellen Wandels, größer werdender Einflussbereiche und vielfältigerer Möglichkeiten. Diese Entwicklungen betreffen Profitorganisationen ebenso wie Non-Profitorganisationen und Bildungsorganisationen. Dem entsprechend widmen sich die Beiträge dieses Heftes diesen verschiedenen Organisationsformen. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Frage, welchen Support die Organisationen im aktuellen Wandlungsprozess benötigen und welche Begleitung, Beratung und Unterstützung sinnvoll bzw. evident sein kann.

Das Autor/-innenteam Babette Brinkmann, Michael Faßnacht, Irmengard Hegnauer-Schattenhofer, Margarete Gerber-Velmerig und Wolfgang Weigand beschäftigt sich in dem Beitrag „Ähnlich, aber anders. Zum Verhältnis von Gruppendynamik und Organisationsdynamik“ mit der Nähe und Distanz zwischen Gruppendynamik und Organisationsdynamik. Es stellt in diesem ersten Beitrag den aktuellen Diskussionsstand zum Thema Organisationsdynamik innerhalb eines Fachverbandes vor und fokussiert auf Spannungszustände, die zu organisationsdynamischen Prozessen führen. In seinem zweiten Beitrag „Was ist hier los? Organisationsdynamik in der Beratung von und in Organisationen“ blickt dieses Autor/-innenteam daran anschließend auf notwendige beraterische Kompetenzen für die Begleitung und Unterstützung organisationsdynamischer Prozesse.

Arnd Albrecht beschäftigt sich vor dem Hintergrund des beschleunigten gesellschaftlichen Wandels in seinem Beitrag „Disruptive Organisation“ mit Organisationsbildern der Zukunft. Er entfaltet auf Basis aktueller Befragungsergebnisse von Manager/-innen, welche die Notwendigkeit einer Abkehr von tradierten Organisationsentwicklungsmodellen erkennen lassen, ein Modell disruptiver Organisationsentwicklung und leitet fünf Handlungsempfehlungen ab.

In dem Beitrag „Endangering One’s Health to Improve Performance? How Indirect Control Triggers Social Momentum in Organizations“ von Michaela Knecht, Andreas Krause und Gregory Meier untersuchen die Autor/-innen den Einfluss zunehmender Eigenverantwortung in Organisationen auf die Mitarbeitenden. Dem Ansatz des „self-endangering work behaviors“ (Dettmers et al. 2016) folgend nehmen die Autor/-innen an, dass dieser Führungsstil zu höheren Anforderungen an sich selbst und zu mehr Belastungswahrnemungen führt und somit nicht nur positive Auswirkungen hat. In einer Untersuchung (n = 607) können sie diesen Zusammenhang bestätigen und leiten Interventionsmaßnahmen ab.

Ronny-Markus Jahn untersucht in seinem Beitrag „(verleugnete) Einflussnahme – allgemeine und besondere Organisationsdynamiken am Beispiel Schule“ organisationsdynamische Wirkungszusammenhänge in dem Kernbereich von Bildungsinstitutionen. Die besonderen Organisationsdynamiken der Schule werden aus psychoanalytischer Sicht gedeutet und es werden Ableitungen für die Beratungspraxis aufgezeigt.

Ebenfalls mit Bildungsinstitutionen befassen sich Kerstin Mayrberger und Markus Slobodeaniuk in dem Beitrag „Adaption agiler Prinzipien auf den Hochschulkontext am Beispiel des Universitätskollegs der Universität Hamburg“. Sie untersuchen und diskutieren anhand dieser zentralen Organisationseinheit zur Verbesserung von Studium und Lehre an der Universität Hamburg die Möglichkeit, agile Prinzipien der Organisationsentwicklung in der Hochschule einzusetzen und fokussieren dabei auf das Rahmenwerk Scrum und die Methode Lean Kanban.

Mit diesen Beiträgen möchten wir einen Überblick über aktuelle Positionen, Fragestellungen, Ansätze und Ergebnisse der Forschung zum Thema Organisationsdynamik in verschiedenen Handlungsfeldern geben und den Nutzen dieser Forschung für die Praxis aufzeigen.

Unser Anliegen wird durch zwei Beiträge im offenen Teil gestützt. Diese gehen ebenfalls Fragen im organisationalen Kontext nach, spezifizieren allerdings eher auf einzelne differenzierte Perspektiven gesellschaftlicher Veränderungsprozesse.

In dem Beitrag von Johanna Kreft, Carla Kühling-Thees und Christine Gockel „With a little help from my trainers: Ausbildung von Studierenden zu Bewerbungstrainern für Geflüchtete“ wird darüber berichtet, dass Studierenden zu Bewerbungstrainern für Geflüchtete in einem Train-the-Trainer-Programm ausgebildet werden. Das Projekt erzielt durch seinen kaskadischen Multiplikatoreneffekt eine relativ hohe Erreichbarkeit. Untersucht wurde u. a. die Motivation von Teilnehmenden des Angebotes und dessen Wirkung auf die Entwicklung von Kernkompetenzen.

Melanie Misamer und Barbara Thies wenden sich in ihrem Beitrag „Etablierung einer Vertrauenskultur zwischen Führungskräften und ihren Mitarbeiter/-innen: Ansatzpunkte zur Förderung von Commitment (unter spezieller Berücksichtigung der Generation Y)“ dem Vertrauen in Organisationen als Basis sozialer Beziehungen zu. Sie analysieren Faktoren vertrauensfördernden Vorgesetztenverhaltens und leiten Maßnahmen zur Förderung von Commitment und Beteiligung ab, welche insbesondere für die Generation Y relevant sein könnten.

Insgesamt stellen die Beiträge dieses Heftes einen weit aufgespannten Bogen organisationsdynamischer Perspektiven auf den Umgang mit gesellschaftlichem Wandel und aktuellen Herausforderungen sowie deren Relevanz für organisationsdynamische Beratungs- und Unterstützungsprozesse dar, die um subjektorientierte Perspektiven ergänzt werden und damit die oben aufgezeigte Reziprozität aufgreifen und bestätigen.

Telse Iwers, Babette Brinkmann, Michael Faßnacht