Konflikte sind bekanntlich beinahe überall. Nicht nur ist der Streit, wie wir seit Georg Simmel wissen, mikrosoziologisch betrachtet eine grundlegende soziale Interaktionsform. Auch makrosoziologisch sind Modernisierungsprozesse gewinnbringend mit dem Ausgangspunkt des sozialen Konflikts beschrieben worden. Von der lebensnotwendigen Grundversorgung bis zum Zugang zu tertiärer Bildung haben die modernen Wohlfahrtsgesellschaften des 20. Jahrhunderts demnach ihre prägenden Konflikte, wie insbesondere Ralph Dahrendorf einst festhielt, durch eine Expansion von Anrechten bearbeitet. Der Wohlfahrtsstaat entpolitisierte auf diese Weise große Teile des industriellen Klassenkonflikts. Der soziale Aufstieg in der Generationenfolge wurde durch den Ausbau schulischer und universitärer Bildung befördert. Konflikte dieser Art waren Triebfedern des Fortschritts.

Vieles spricht dafür, dass sich diese Geschichte nicht ohne Weiteres auf die Gegenwart übertragen lässt. Dass etwa der ökologische Konflikt die Lebenswelten der Bürger:innen, vom Mobilitätsverhalten bis zum Heizungskeller, heute direkt und unmittelbar betrifft und dabei nicht selten massiven Widerstand provoziert, scheint den Fortschritt der ökologischen Modernisierung eher zu bremsen als zu beschleunigen. Wie die Kriege in Ost und Nahost dem Fortschritt zuträglich sein sollten, kann man sich ebenfalls kaum vorstellen. Die erste globale Pandemie des 21. Jahrhunderts hat ihrerseits soziale und politische Spaltungen vertieft. Auf einen progressiven Lernprozess, etwa im Sinne einer ereignissensiblen und resilienzstärkenden Erweiterung sozialer Sicherungssysteme, wartet man bisher vergebens.

Man könnte sich Krisentheorien der 1970er-Jahre zuwenden, um eine Erklärung für das neue Gesicht sozialer Konflikte zu suchen. Strukturprobleme des kapitalistischen Staates (Offe 1972) oder Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus (Habermas 1973) wurden nach dieser Perspektive letztlich vor allem auf der Basis satter wirtschaftlicher Wachstumsraten, jedoch immer nur temporär befriedet. Soziale Sicherung, neue Chancenstrukturen im Bildungssystem oder neue Rechtsansprüche musste man sich leisten können. Seit der in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf Hochtouren laufende Motor wirtschaftlichen Wachstums, ungefähr zeitgleich mit dem Aufkommen der Struktur- und Legitimationsprobleme, ins Stottern geriet, ist es bekanntlich schwieriger geworden, die Geschichte des anrechtsbasierten Fortschritts ungebrochen weiterzuschreiben. Soziale Konflikte kann man heute wieder als Auseinandersetzungen mit offenem Ausgang betrachten. Dabei kommt, in der Linie der Krisentheorien der 70er-Jahre, insbesondere den Konflikten um Wachstumsanteile erhebliche Bedeutung zu – sind sie es doch, in denen sich entscheidet, welches politische System noch über die Kapazitäten verfügen dürfte, soziale Stabilität mit Wertschöpfungsgewinnen zu finanzieren.

Nicht zuletzt die allenthalben beobachtete Digitalisierung der Gesellschaft ist ein solches Konfliktfeld um Wachstum, muss sie doch zuvorderst als ein Prozess beschrieben werden, dessen Ziel die Steigerung wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit, organisationaler Effizienz und zivilen Konsums darstellt. In diesem Zusammenhang ist es mittlerweile 13 Jahre her, dass sich die deutsche Industrie mit einem ambitionierten Projekt an den umkämpften Weltmärkten zu positionieren suchte. Industrie 4.0, wie es damals hieß, war nicht weniger als der Versuch, dem digitalen Kapitalismus der großen Internetkonzerne ein adäquates Gegenmodell im Bereich des Industriellen entgegenzusetzen, um Wertschöpfungsgewinne der Digitalisierung im Rahmen eines von der deutschen Industrie dominierten Produktionsmodells zu erzeugen.

Im ersten Beitrag des vorliegenden Hefts befasst sich Ulrich Dolata mit den in der Folge des digital-industriellen Aufbruchs entstandenen sozio-technischen Strukturen. In seinem Beitrag zu „Industrieplattformen als Markt‑, Produktions- und Innovationsflächen“ beschäftigt er sich mit den organisationalen Effekten dieses Konflikts um die Wertschöpfung der Zukunft. Während die großen Plattformunternehmen des kommerziellen Internets ein mittlerweile gut erforschtes Feld und womöglich ein theoretisch erschöpfend erfasstes Phänomen darstellen, bilden die Plattformen der Industrie nach wie vor eine klaffende Lücke in der soziologischen Beforschung des digitalen Strukturwandels. Dolata verbindet in seinem Beitrag Feldvermessungen mit theoretisch-konzeptionellen Überlegungen. Er zeigt, dass die Plattformwirtschaft in der Industrie weder erfolgreich das Modell der Internetgiganten nachahmt, noch einfach im Kontext organisationaler Pfadabhängigkeit richtig verstanden ist. Stattdessen zielt er mit dem Begriff der „regelbasierten Kuratierung“ auf eine eigenständige Organisations- und Koordinationsform von Markt‑, Produktions- und Innovationsprozessen, die sich auch von industriellen Kooperationsnetzwerken substanziell abhebt. Weitere Forschung und die Zeit werden zeigen müssen, wie weit die transformativen Effekte dieser Neusortierung organisatorischer Prozesse reichen und welche Spannungen ihr entwachsen.

Eher der Betroffenenseite von Gesellschaftsveränderung wendet sich der anschließende Beitrag zu. Stefan Holubek-Schaum, Natalie Grimm und Patrick Sachweh nehmen die in der Sozialstrukturanalyse virulenten Diskussionen um die Gesellschaft spaltende ökonomische, kulturelle und politische Konflikte zum Anlass, um nach einem spezifischen Gefühl zu fragen, das auf biographisch erfahrene Abwertungen zurückgeht: dem des „Zurückgelassenwerdens“. Neben Angst und Wut dürfte diese Befindlichkeit tatsächlich zu den kulturell und politisch wirkmächtigsten Verarbeitungsformen sozialen Wandels in der Gegenwart gehören. Die Autor:innen weisen dementsprechend auf die häufig hergestellte Verbindung zwischen dem Gefühl, zurückgelassen worden zu sein, und dem Aufstieg rechtsextremer Einstellungen bzw. rechten Wahlverhaltens hin. Auf der Basis einer qualitativen Panelstudie zeigen sie, dass die subjektiven Verarbeitungsweisen des Zurückgelassenwerdens je nach Statustrajektorie und Ressourcen sehr unterschiedlich ausfallen können, mit verschiedenen politischen Affinitäten einhergehen und so die Positionierung gesellschaftlicher Konfliktparteien strukturieren.

Grundsätzlicher und expliziter blickt Karlson Preuß auf (theoretische) Fragen der Konzeptualisierung sozialer Konflikte, indem er unter anderem Georg Simmels bereits erwähnten Aufsatz zum Streit in seiner „großen“ Soziologie (2018 [1908]) aufnimmt. In seinem theoriegeschichtlichen Beitrag vermisst er das Erbe der Simmel’schen Soziologie von Konflikt und Konkurrenz. Ausgehend von einer historischen Situierung von Simmels Sozialformenlehre geht er der relativen Einflusslosigkeit von dessen Konfliktbegriff auf systemtheoretische Ansätze nach: Danach führt Simmels sinndimensionale Bestimmung des „reinen Konflikts“– anders als seine formenrelationale Bestimmung „reiner Konkurrenz“ – in die Irre. Die Rückabwicklung dieses Irrtums eröffnet indes neue Perspektiven: Preuß plädiert entschieden dafür, verschiedene soziologische Universaltheorien mit Ansätzen der Sozialformenlehre zu verbinden, und zeigt, wie die Soziologie hiervon profitieren könnte.

Im Beitrag von Katharina Hoppe geht es schließlich um das verantwortungsethische Konfliktfeld des Anthropozäns. Hoppe schließt an Hans Jonas’ berühmtes Prinzip Verantwortung (1979) an, um soziologische Thematisierungsstränge von Verantwortung als Modi der Kritik in den Debatten um ökologische Krisen zu analysieren. In Konfrontation der dominierenden soziologischen Deutungsmuster – die sie wahlweise als ethisierend und individualisierend, moralisierend und generalisierend oder abstrahierend und entpolitisierend kennzeichnet – mit Jonas’ klassischem Ansatz entwickelt die Autorin drei Schlüsselelemente für eine Theorie der Verantwortung im Anthropozän. „Prinzip Antworten“ nennt Hoppe ihren Vorschlag, womit eine alteritätssensible Konfliktposition im Anthropozän gemeint ist, die dem Ruf der „Sachen“ folgt und auf die Beschwörung einer apokalyptischen Zukunft besser verzichtet.

Im weiteren Sinne um den Umgang mit Alterität geht es auch Stefan Hirschauer und Matthias Krings, die sich in ihrem Debattenbeitrag mit Loïc Wacquants in Heft 1–2 veröffentlichtem und diskutiertem Vorschlag zum Umgang mit der Konfliktkategorie „Race“ (Wacquant 5,6,a, b) auseinandersetzen.Footnote 1 Die Autoren stimmen Wacquant in zweierlei Hinsicht zu: zum einen in der Ablehnung jeglicher Substanzialisierung von „Races“, zum anderen in der Kritik an der Ausrichtung der Debatte am „hochspezifischen US-Diskurs“. Letztere birgt für sie überdies die Gefahr, mit der epistemischen Privilegierung einer Unterscheidungsdimension eine „Engführung der multiplen Zugehörigkeiten von Menschen auf je eine, von ihnen selbst dominant gesetzte kulturelle Differenz“ zu provozieren. Als zu undifferenziert erscheint ihnen derweil die von Wacquant vorgeschlagene Subsumtion von Race unter einen vagen Begriff von Ethnizität – in der sie eine ethnozentrische Überdehnung sehen, die es unmöglich mache, „zu bestimmen, was allgemein und was spezifisch ist an Race“.

Aus den Höhen der Theorie auf den Boden des städtischen Lebens holen schließlich Anthony Miro Born und Lars Meier die Frage nach den gesellschaftlichen Konflikten der Gegenwart. „Auf der Suche nach Grünwald und Grunewald“ erschließen die beiden Autoren in ihrem Review-Essay eine „Soziologie der Räume des Reichtums“. Auf Basis einer kritischen Analyse internationaler Neuerscheinungen zu urbanen Reichtumslagen skizziert der Beitrag eine räumlich aufgeklärte Elitensoziologie des Wohnens, die neben „Problemvierteln“ auch „Nobelviertel“, neben „Rotlicht-“ auch „Rotary-Clubs“ in den Blick nimmt. Für eine doch immer noch mögliche progressive Wendung des sozialen Konflikts könnte sich die soziologische Aufklärung über konträre Lebenslagen noch als überaus hilfreich erweisen.

Die Beobachtung sozialer Konfliktfelder, wie sie die Beiträge des vorliegenden Heftes vornehmen, sind freilich keine unmittelbaren Interventionen ins Konfliktgeschehen selbst. Sie können keine neuen Quellen des Wachstums schaffen, keine Kompensationen für die Zurückgelassenen ausschütten oder die Bewohner:innen des Berliner Villenviertels Grunewald für den sozialen Lastenausgleich mobilisieren – und vermutlich auch kaum jemanden zu Antwort-ethischem Verhalten motivieren. Als kühle Konfrontationen von Theorien und Empirien belegen sie allerdings, dass Konflikte zumindest innersoziologisch weiterhin als Quellen des epistemischen Voranschreitens dienen.