1 Einleitung

Im April 2021 erklärte das Bundesverfassungsgericht das Ende 2019 beschlossene Klimaschutzgesetz für teilweise verfassungswidrig. Das Grundgesetz verpflichte „unter bestimmten Voraussetzungen zur Sicherung grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit und zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen“, was im Klimaschutzgesetz nicht erfüllt sei. Damit wiesen die Richter:innen nicht nur darauf hin, wie unzureichend die bislang getroffenen und angedachten Maßnahmen zur Eindämmung der Erderwärmung und ihrer Konsequenzen sind, sondern auch auf den impliziten Gegenwartsfokus repräsentativer Demokratien. Dieser erweist sich angesichts ökologischer Krisen als besonders fatal. Bereits in den 1970er-Jahren identifizierte der Philosoph Hans Jonas dieses Problem vor dem Hintergrund technologischer Entwicklungen und ökologischer Gefährdungen als entscheidend, als er fragte: „Welche Kraft soll die Zukunft in der Gegenwart vertreten?“ (Jonas 1979, S. 56; Hervorh. i. Orig.) Diese Kraft suchte Jonas bekanntlich in einem „Prinzip Verantwortung“ zu begründen. Intergenerationale Verantwortung müsse angesichts der drohenden ökologischen Katastrophe in der menschlichen Vernunft verankert werden: Dabei soll eine „Heuristik der Furcht“ die mögliche – ja, wahrscheinliche – Apokalypse vergegenwärtigen und auf ein Handeln verpflichten, das die Lebensgrundlagen schützt und die „Weiterwohnlichkeit der Welt“ (Wiese und Jacobson 2022) sicherstellt.

Eine der prominentesten Erzählungen, die darauf hinweisen, dass diese „Weiterwohnlichkeit“ gefährdet ist, ist gegenwärtig jene über das „Anthropozän“ (Crutzen und Stoermer 2000). Dieser zufolge sei „der Mensch“ zur maßgeblichen geologischen Kraft avanciert. Die Menschheit und ihre Kultur habe die natürlichen Lebensgrundlagen in einem solchen Ausmaß angeeignet, dass sich der anthropogene Einfluss bis in die geologischen Schichten hinein sedimentiere und nachweisen lasse. In einem solchen Zeitalter stellt sich die Frage danach neu, was eine Verantwortungsethik zu leisten hat. Nicht nur, weil sich der Einfluss menschlicher Handlungsmacht potenziert und dadurch gleichzeitig diffuser wird (etwa viel weniger konkret erscheint als im Fall der atomaren Bedrohung in den 1970er-Jahren); sondern auch, weil unklarer wird, was genau die Objekte der Verantwortung charakterisiert: Was bedeutet es im Anthropozän, Verantwortung für Gletscher, Wälder, Dörfer, Landstriche, Flüsse, Spezies, Käfer, Würmer, Nutztiere, Pflanzen zu tragen? Wie können Menschen zu solcher Verantwortung motiviert werden?

Im vorliegenden Beitrag möchte ich die veränderten Anforderungen an eine Verantwortungsethik im Anthropozän aus einer soziologischen Perspektive ausarbeiten. Ich plädiere für eine prozessuale und postapokalyptische Konzeption von Verantwortung, die politische Umstrittenheit zulässt und weder in Defätismus mündet noch Verantwortung individualisiert. Mein Vorschlag nimmt seinen Ausgang von einer philosophischen Traditionslinie, die sich von den Arbeiten Emmanuel Lévinas’ (1987) über Jacques Derrida (2000) hin zu Karen Barad (2007) und Donna Haraway (2008) zieht. Diese Positionen zielen auf eine Ethik, in der das Subjekt nicht die Bedingung für Verantwortungsbeziehungen darstellt, sondern in diesen erst entsteht. Lévinas und Derrida rückten in diesem Zusammenhang die Begegnung mit radikaler Alterität ins Zentrum der Ethik. Subjektivität, so die zentrale Folge dieser Verschiebung, erlangt Freiheit zur ethischen Gestaltung nur in der Heteronomie, in der ethischen Anrufung durch den Anderen, der zur Antwort ruft. Barad und Haraway haben diese Gedanken aufgegriffen und post-anthropozentrisch gewendet: Im Anschluss an diese Arbeiten lässt sich Subjektivität stärker in ihren sozio-materiellen Verstrickungen begreifen. Sie liefern wichtige Anregungen für eine soziologisch aufgeklärte Verantwortungsethik als Ethik des Antwortens: Besonders die Verschiebung von der (menschlichen) Verantwortung hin zum Verständnis einer Fähigkeit des Antwortens (response-ability), die auch Nicht-Menschliches in Betracht zieht, ist hier von Bedeutung. Eine Ethik des Antwortens ermöglicht eine post-anthropozentrische Öffnung ethischer Debatten und hilft, das Verständnis der Subjekte wie Objekte der Verantwortung vor dem Hintergrund des Anthropozäns zu reformulieren. Dem Fokus auf Prozesse des Antwortens wohnt außerdem eine postapokalyptische Stoßrichtung inne, die ihre motivierende Kraft weniger auf lähmender Angst gründet, denn auf der Einsicht, dass es noch etwas zu tun gibt.

Um das „Prinzip Verantwortung“ als „Prinzip Antworten“ zu reformulieren, werde ich im Folgenden zunächst die soziologische Debatte um ökologische Verantwortung kartieren. Vor allem geht es mir dabei um die jeweiligen Verantwortungszuschreibungen und deren Voraussetzungen und Folgen (2). Daraufhin frage ich in Auseinandersetzung mit Jonas’ Vorschlag danach, was die spezifischen Anforderungen an eine Konzeption von Verantwortung im Anthropozän sind. Jonas steckt trotz einiger Verkürzungen luzide und nach wie vor aktuell die ethische Problemstellung im Angesicht ökologischer Verwerfungen ab, die ich an drei Herausforderungen festmache: der angemessenen Anthropozentrismuskritik, dem Vorrang der „Sachen“ in Verantwortungsbeziehungen sowie der Frage der apokalyptischen Untermauerung ethischer Appelle (3). Die anschließenden drei Abschnitte greifen diese Herausforderungen sukzessive auf: Zunächst befrage ich alteritätstheoretische Ansätze, um eine Ethik des Antwortens vorzuschlagen, die einen normativen Anthropozentrismus umgeht, aber die Möglichkeit strategischer Anthropozentrismen offenhält (4). Aus dieser Perspektive akzentuiere ich im nächsten Schritt die Objekte der Verantwortung als mehr-als-menschliche Gefüge, deren Ruf zur Antwort an fundamentale menschliche Abhängigkeiten erinnert. Ich argumentiere, dass der ethischen und politischen Konfrontation mit Abhängigkeitsverhältnissen im Anthropozän ein besonderer Stellenwert zukommt und zukommen muss (5). Aus einer solchen Perspektive folgt, dass die Anerkennung und präzise Rekonstruktion komplexer globaler Verflechtungen nicht überfordernd und lähmend wirken muss; vielmehr können sie sukzessive verändert werden, weswegen Verantwortung im Anthropozän auch nicht erst vor dem Hintergrund bedrohlicher Erzählungen oder Ereignisse Wirkmacht entfalten, sondern sich aus partialen Prozessen des Antwortens speisen kann. Aus diesem Grund verorte ich die Fähigkeit des Antwortens in den Diskussionen um postapokalyptische Praktiken (6). Im Ausblick deute ich an, wie das postapokalyptische Prinzip Antworten, indem es vermeintliche Notwendigkeiten politisiert, zu einer veränderten Perspektive auf sozial-ökologische Transformation insgesamt beitragen kann (7).

2 Soziologische Positionen im „Bann der Verantwortung“?

In gegenwärtigen öffentlichen Diskursen rund um ökologische Krisen und ihre Folgen ist „Verantwortung“ ein Buzzword, das weit über rein akademische Debatten hinausweist. Die innerwissenschaftlichen Diskussionen um Klima- und Bioethik spielen sich indes immer noch vor allem in der Philosophie ab. Dabei firmieren Prinzipienethiken und utilitaristische Ethiken als zentrale Positionen, in denen abstrakte Maßstäbe eingesetzt, Akteure der Verantwortung als einzelne und kollektive, stets aber identifizierbare (menschliche) Akteure vorausgesetzt oder Programme für die verantwortliche Verteilung von Umweltrisiken diskutiert werden (siehe Singer 1994; Wallimann-Helmer 2021). Diese Ethiken drohen, insbesondere den expansiven Charakter von Situationen zu verkennen und die Komplexität ethischer Akteure zu übersehen. Zudem neigen gerade Prinzipienethiken dazu, ethische Programme abzuschließen und moralische Maßstäbe festzuschreiben. Die auch in der Klimaethik dominanten utilitaristischen Ansätze (etwa Gesang 2011) operieren darüber hinaus mit Quantifizierbarkeits- und Kalkulationsphantasien in Bezug auf die Verteilung von „Glück“, die sich gegenüber soziologischer Forschung zu Ungleichheiten und ungerechten Verteilungsmechanismen einigermaßen unbeeindruckt zeigen. Dass Glücksvorstellungen von der fossilen Denk‑, Produktions- und Lebensweise überformt sein könnten, berücksichtigt die utilitaristische Klimaethik ebenso unzureichend, wie dass Natur einen eigenen Wert und eigene Ansprüche haben könnte oder sich komplexe gesellschaftliche Verhältnisse eben nicht auf einen einheitlichen „Nutzen“ herunterbrechen lassen. Historisch und sozial spezifische Verortungen der ethischen Akteure sowie der jeweiligen Situationen bleiben so tendenziell unterbeleuchtet, und Machtverhältnissen wird oft nicht hinreichend Rechnung getragen (vgl. etwa Lettow 2011, S. 83 ff.). Ökologie als „kategorischer Imperativ“ (Blühdorn 2018, S. 175) scheint sich daher politisch als weitgehend folgenlos zu erweisen.

Soziologisch kann aber auch gezeigt werden, dass Nachhaltigkeit und Ökologie äußerst wirksame soziale Operatoren sind, die neue gesellschaftliche Konflikte und Aushandlungsprozesse eben um Verantwortung – und damit einhergehend Schuld und Scham – anstoßen (Neckel 2018). Während dem Begriff der Verantwortung in diesen Kontexten immer wieder eine entscheidende Rolle zukommt, sucht die Soziologie ihn allerdings weniger als normatives Prinzip in Stellung zu bringen, denn ihn (kritisch) in seinen gesellschaftlichen Wirkweisen zu untersuchen (Buschmann et al. 2018; Vogelmann 2014). Diskutiert werden individualisierende und responsibilisierende Tendenzen (Sulmowski 2018), oder Verantwortung wird als notwendige – realfiktive –, wenn auch zunehmend problematische Operation der Komplexitätsreduktion in modernen Gesellschaften begriffen (Henkel 2014). Die soziologischen Problematisierungen von Verantwortung im Angesicht dezidiert ökologischer Verwerfungen lassen sich in drei dominante, mit Verantwortungszuschreibungen verbundene Modi der Kritik einteilen, die auf unterschiedliche Skalen zielen, verschiedene Akteure der Verantwortung aufrufen und sich mehr oder weniger kritisch mit „Verantwortung“ in ein Verhältnis setzen.

Eine erste soziologische Problematisierung fokussiert die Analyse und Kritik des Begriffs der Verantwortung auf der Ebene des Individuums. Hier spielen Anrufungen von und Aufforderungen zur „Eigenverantwortung“ sowie individuellen Verantwortungsübernahme die zentrale Rolle (vgl. Paech 2021), wobei sie soziologisch freilich häufig in den Kontext einer Kritik der Responsibilisierung im Neoliberalismus gestellt werden. Eine solche Ausrichtung würde die Bearbeitung der ökologischen Frage auf individuelle Entscheidungen und eine Änderung der Lebensstile reduzieren (siehe kritisch etwa Grunwald 2018; Dengler und Schmelzer 2021). Eine individualethische Bearbeitung ökologischer Probleme auf der Mikroebene befreit dieser Lesart zufolge indes nicht aus dem „‚iron cage‘ of consumerism“ (Jackson 2009, S. 87), sondern wirkt – insofern sie lediglich an Alltagspraktiken und dem Konsumverhalten Einzelner ansetzt – tendenziell entpolitisierend (Drews 2018). Indem die strukturellen Bedingungen weitgehend unangetastet blieben, würden ökologische Probleme individualisiert und ethisiert.

Der zweite soziologische Thematisierungsstrang fokussiert auf das Verhältnis der Staaten bzw. Weltregionen und hebt die global ungleich verteilte Verantwortung für CO2-Emissionen und die verheerende Ausbeutung von Böden, Rohstoffen und Arbeitskräften im fossilen Kapitalismus hervor. Sozialwissenschaftliche Theoretisierungen erfährt dieser Zusammenhang etwa in den Gegenwartsdiagnosen der „Imperialen Lebensweise“ (Brand und Wissen 2017) oder der „Externalisierungsgesellschaft“ (Lessenich 2016, 2020). In kritischer Absicht werden hier die Facetten des Lebens „auf Kosten anderer“ (I.L.A. Kollektiv 2017) aufgeschlüsselt. So soll sichtbar werden, welche ökonomischen, ökologischen und gesundheitlichen Konsequenzen und Voraussetzungen Lebensformen und Produktionsweisen haben, und zwar insbesondere jene im Globalen Norden verbreiteten. Diese Perspektiven machen deutlich, dass einem methodologischen Nationalismus verhaftete ebenso wie individualistische Ansätze nicht in der Lage sind, die Expansivität der Situationen zu erfassen, die das Anthropozän prägt. Es geht darum, zu verdeutlichen, dass auch weit entfernte Katastrophen und Praktiken etwas mit „uns“ zu tun haben: Rodungen immer größerer Flächen Regenwald in unterschiedlichen südamerikanischen Ländern etwa dienen auch zur Aufrechterhaltung „unserer“ Lebensform und Produktionsweise. Der als verantwortlich aufgerufene Akteur in diesen Ansätzen ist „der Globale Norden“, wobei freilich weiter differenziert werden kann und auch differenziert wird. Dennoch tendieren diese Interventionen zu übermäßigen Generalisierungen, was auch Moralisierungen (etwa des Verhaltens der Mittelklassen des Globalen Nordens) Vorschub leisten kann.

Neben der individuellen und der globalen Ebene birgt drittens auch die Ebene des Planetaren eine Verantwortungsimplikation. In der Großerzählung über das „Anthropozän“ wird als Träger von Verantwortung ein kollektiver Akteur auf äußerst hohem Abstraktionsniveau ausgemacht – „die Menschheit“. Sighard Neckel hat zurecht darauf hingewiesen, dass diesen großräumigen Zurechnungsphantasien ein „Akteursidealismus“ (Neckel 2020, S. 158) innewohnt, der unkritisch ein „globales politisches Subjekt“ (ebd., S. 159) als handlungsfähig und handlungspflichtig imaginiert. Damit machten sich die Advokat:innen solcher Zuschreibungen der „normative[n] Überdehnung eines Wunschbildes“ (ebd.) schuldig, das einen einheitlichen, unproblematischen, kollektiven Akteur im Sinne einer Weltbürger:innenschaft einsetze, sodass Differenzen kaum mehr in den Blick kommen. Ähnlich wurde aus feministischer und postkolonialer Perspektive darauf hingewiesen, dass die Rede vom anthropos Verantwortung eher verschleiert, denn sie zu benennen. Notwendige Differenzierungen, wer und was genau die Zerstörung der Lebensgrundlagen zu verantworten hat und auf wessen Kosten dies geschieht, geraten dann häufig entlang rassifizierter, vergeschlechtlichter und klassenspezifisch differenzierter Dimensionen aus dem Blick (vgl. Dörre 2012; Yusoff 2018; Haraway 2018). So wird etwa „Umweltverantwortung“ (Wichterich 1992) auf weiblich markierte Personen projiziert, oder es werden Bevölkerungszuwächse im Globalen Süden verantwortlich gemacht für die Überproduktion und die mit ihr einhergehenden ökologischen Schäden, die eigentlich auf die Lebensformen des Globalen Nordens zurückgehen (Gottschlich und Schultz 2020). Entsprechend häufen sich inzwischen auch Vorschläge zur Umbenennung des Anthropozäns, etwa in „Kapitalozän“ (Moore 2017) oder „Plantationocene“ (Haraway und Tsing 2019). Auch in diesen kritischen Einlassungen wird aber jeweils eine abstrakte Größe – „das Kapital“ oder „die Plantage“ – als Akteur und Träger von Verantwortung eingesetzt. So wirken sie tendenziell abstrahierend und entpolitisierend.

All diese Problematisierungen von Verantwortung mit den sie flankierenden Diskussionen sind interessant, weil sie wichtigen kritischen Impulsen folgen: Sie hinterfragen allerdings nicht die machtvoll-produktiven Voraussetzungen des Verantwortungsbegriffs. Verantwortung geht in all diesen Überlegungen in Zurechenbarkeit auf. In der Folge kann sie jeweils nur rückwirkend festgestellt werden, was eine enge Verquickung des Verantwortungsdiskurses mit der Frage der Zurechnung von Schuld befördert. Frieder Vogelmann hat in seiner genealogisch-philosophischen Studie Im Bann der Verantwortung (2014) argumentiert, dass diese individualisierenden und schuldevozierenden Effekte des diskursiven Operators „Verantwortung“ unvermeidbar seien. Der Bann der Verantwortung liegt darin, dass das verantwortliche Selbstverhältnis die Illusion souveräner Subjektivität erzeuge: „Stets handelt es sich um einen aktiven Umgang mit dem Faktum des eigenen Unterwerfens, dessen verborgene Objektivierung den Träger_innen von Verantwortung erlaubt, sich dennoch als souverän zu verstehen.“ (Vogelmann 2014, S. 432) Verantwortung, die maßgeblich mit Zurechenbarkeit gleichgesetzt wird, trägt also dazu bei, die konstitutive Verstricktheit von Akteuren mit Machtverhältnissen aufgrund der Einsetzung von Souveränitäts- oder Einheitsfiktionen zu ignorieren oder empfindlich zu generalisieren. Das Subjekt wird als klar eingrenzbarer (kollektiver) Akteur vorausgesetzt.Footnote 1 Dieses Problem spiegelt sich in den genannten soziologischen Diskussionssträngen, die aufgrund der unhinterfragten Setzung klar abgrenzbarer Subjekte und Objekte der Verantwortung Gefahr laufen, entweder individualisierend und ethisierend, generalisierend und moralisierend oder abstrahierend und entpolitisierend zu wirken.

Die individualisierenden und ethisierenden Effekte des ersten Diskursstrangs verkürzen die Verantwortung angesichts ökologischer Krisen auf individuelle Entscheidungen und die Lebensführung. Die generalisierenden und moralisierenden Effekte der zweiten Thematisierungen setzen identifizierbare Gruppen voraus, die stark homogenisiert werden und an die teilweise erstaunlich moralisch (und nicht so sehr politisch) appelliert wird. Im dritten Fall der wohl einflussreichsten Verantwortungserzählung über das Anthropozän wird „der Mensch“ zum Träger einer schier unendlichen Verantwortung und erdgeschichtlichen Schuld. Dies kann entpolitisierende Effekte zeitigen, weil der Abstraktionsgrad der Zurechenbarkeit denkbar hoch ist. Die undifferenzierte Einsetzung „des Menschen“ evoziert eine Anrufung menschlicher Herrschaft über die Natur, die – so die Ökofeministin Val Plumwood bereits in den 1990er-Jahren – ein „akultureller und ahistorischer Ausdruck von Selbsthass und kollektiver Schuld der menschlichen Spezies“ sei (Plumwood 1993, S. 12; Übers. K.H.). Diese mehr oder weniger pauschalen Responsibilisierungen unterliegen zweifelsohne dem Bann der Verantwortung, und sie bleiben weitgehend folgenlos. Die der Anthropozänerzählung inhärente Verantwortungsethik wird der spezifischen Situation demnach ebenso wenig gerecht wie individuelle Verantwortungszuschreibungen oder allein pauschale Zurechnungen auf etwas wie „den“ Globalen Norden oder „die“ Mittelklasse. Die Probleme eines Verständnisses von Verantwortung, das allein in Zurechenbarkeit aufgeht, werden hier deutlich, denn aus der alleinigen Responsibilisierung kollektiver Akteure, die ihre Verantwortung für „den Planeten“ oft ja sogar einsehen, folgt erst einmal gar nichts. Verantwortung kann in großen Gesten der Folgenlosigkeit übernommen werden, wie etwa Greenwashing-Kampagnen demonstrieren.

Philosophische Ansätze, die die Nähe von Verantwortung zum Antworten stärker betonen, können einige dieser Fallstricke umgehen, weil Verantwortung stärker als Beziehung und Prozess gedacht wird und nicht allein als Zurechenbarkeit und Responsibilisierung. Diese Nähe zum Antworten haben etwa diskursphilosophische Beiträge – allen voran jene von Karl-Otto Apel – aufgegriffen und für eine primordiale sprachgemeinschaftliche Begründung von Verantwortung fruchtbar gemacht (Apel 1990).Footnote 2 Mit Blick auf ökologische Fragen hat Dietrich Böhler unter Bezugnahme auf Apel und Jonas für eine Ethik geworben, die auf „Dialogizität“ (Böhler 1994, S. 260) aufbaut, also dem „dialogisch auf mögliche Geltung bezogene[n] Verhältnis des sich vor anderen Verantwortens“ (ebd.). Ins Zentrum des Interesses rücken so die diskursiven Voraussetzungen ethischer Verbindlichkeit und besonders deren Kraft als nachmetaphysisches „Begründungsprogramm“ (Habermas 1983, S. 53). Wie kein anderer hat schließlich Bernhard Waldenfels den Begriff der Antwort phänomenologisch ausgearbeitet und dabei ebenfalls einen engen Zusammenhang mit dem Begriff der Verantwortung gesehen (vgl. Waldenfels 2010; Flatscher 2011). Waldenfels bestimmt Responsivität als wichtigste basale Eigenschaft des Menschen überhaupt. Prominent heißt es bei ihm: „Am Anfang war die Antwort.“ (Waldenfels 1994, S. 270) Seine Auffassung von Antworten ist stark leibphänomenologisch geprägt und arbeitet die vielen Spielarten der Appelle zur Antwort und ihre subjektkonstitutiven Qualitäten heraus.Footnote 3 Diese Betonung des Leiblichen und Unhintergehbaren der Verantwortung als Antwort, die auch bei Jonas eine Rolle spielt, ist für meine Überlegungen von herausgehobener Bedeutung, ich löse sie im Anschluss an eben den Vorschag von Jonas und die Alteritätsethiken jedoch aus einem vorwiegend intersubjektiven, interkorporalen und diskursiven Fokus.

Damit möchte ich eine Dezentrierung des Menschlichen andenken, die eine Verantwortungsethik als Ethik des Antwortens informieren kann, ohne die spezifisch menschliche Verantwortung dabei zu negieren. Um diese auszuarbeiten, befrage ich nun zunächst Jonas – denn dessen Verantwortungsethik bearbeitet nicht nur explizit ökologische Fragen, sondern lässt bei genauer Lektüre auch deutlich werden, dass der Mensch als ethischer Akteur darin durchaus dezentriert wird. Jonas nimmt nämlich eine folgenschwere Verschiebung vor, die seine ethische Antwort auf die veränderte technologisch-zivilisatorische Situation seiner Gegenwart informiert: Für ihn sind es nicht länger einzelne Handlungen, die das Zentrum der Verantwortungsethik bilden und die retrospektiv gemäß einem Kriterium bewertet werden, sondern als Ausgangspunkt fungieren jene Dinge, über die Einzelne Macht haben und die „uns“ als verantwortungsvoll ins Geschehen rufen. Es handelt sich um eine „Zukunftsverantwortung“ (Jonas 1979, S. 175), die sich auf die „Determinierung des Zu-Tuenden“ (ebd., S. 174) verlagert und von den Dingen ausgeht. Ich werde die groben Züge dieser ethischen Positionierung im nächsten Abschnitt rekapitulieren, um herauszuarbeiten, welche Fragen Jonas für die gegenwärtige Auseinandersetzung mit Verantwortung aufwirft, wo sich soziologische Anschlusslinien auftun und welche Probleme seine Position mit sich führt.

3 Hans Jonas: Impulse für eine Verantwortungsethik im Anthropozän

Hans Jonas hatte beim Abfassen seines „Versuchs einer Ethik für die technologische Zivilisation“ bereits eine ähnliche Gemengelage vor Augen, wie sie heute mit dem Schlagwort des Anthropozäns assoziiert wird. Die Lektüre des Prinzips Verantwortung nach über 40 Jahren ist allein schon deswegen interessant, weil es ein Ringen damit dokumentiert, wie Verantwortung angesichts der ökologischen Selbstgefährdung moderner Gesellschaften begründet und begriffen werden kann – eine Aufgabe, die offensichtlich nicht abgeschlossen ist. Außerdem wirft Jonas nicht wenige der auch heute noch drängenden Problemstellungen auf und stellt Weichen für deren Bearbeitung. Die bereits eingangs zitierte Leitfrage nach der „Kraft“, die die Zukunft in der Gegenwart vertreten soll, führt Jonas dazu, die Verantwortungsethik von einer akteurszentrierten Zurechenbarkeitsperspektive auf das umzustellen, was man eine objektzentrierte Anrufungsperspektive nennen könnte. Bevor „meine“ Taten retrospektiv als verantwortungsvoll oder verantwortungslos beurteilt werden, ruft etwas in der Welt zur Verantwortung und zwingt zur Bestimmung dessen, was – verantwortlicherweise – zu tun sei: Ein ethisches Programm „gemäß dem ich mich also verantwortlich fühle nicht primär für mein Verhalten und seine Folgen, sondern für die Sache, die auf mein Handeln Anspruch erhebt“ (Jonas 1979, S. 174; Hervorh. i. Orig.). Damit eine „Sache“ Ansprüche stellen kann, muss ihr Anliegen in den Wirkbereich des Angerufenen fallen, was stets eine Asymmetrie voraussetzt und damit auch die machttheoretische Fundierung von Jonas’ Entwurf unterstreicht: „Die Sache wird meine, weil die Macht meine ist und einen ursächlichen Bezug zu eben dieser Sache hat. Das Abhängige in seinem Eigenrecht wird zum Gebietenden, das Mächtige in seiner Ursächlichkeit zum Verpflichteten.“ (Ebd., S. 175) Die ethische Verpflichtung gegenüber der Welt und zukünftigen Generationen begründet Jonas also über die „erkannte selbsteigene Güte der Sache, wie sie das Empfinden affiziert und die bloße Selbstsucht der Macht beschämt“ (ebd.).

Die „Selbstsucht der Macht“ ist bei Jonas stark mit menschlicher Subjektivität identifiziert und damit einhergehend auch mit seiner aus heutiger Sicht wohl verkürzt zu nennenden Technikkritik. Bekanntlich ist die zunehmende Naturbeherrschung durch Technik für Jonas Anlass, die menschliche und instrumentelle Hybris anzukreiden. Dafür kritisiert er auch durchaus die „anthropozentrische Beschränkung aller früheren Ethik“ (ebd., S. 29), setzt Technik, Kultur und damit menschliche Innovationskraft allerdings seinerseits als geradezu übermächtig – etwa wenn er konstatiert, dass „die Biosphäre als Ganzes und in ihren Teilen jetzt unserer Macht unterworfen“ sei (ebd.). Trotz Jonas‘ Beharren auf der Kraft der Dinge wird in Formulierungen wie dieser der Mensch wiederum ins Zentrum gerückt. Auch die Eigensinnigkeit und Wirkmacht der Natur erfährt keine explizite Theoretisierung – und eine klare Unterscheidung von Natur und Kultur bleibt intakt. Als „Posthumanist“ avant la lettre – wie es Christian Dries vorgeschlagen hat (2020) – lässt sich Jonas vor diesem Hintergrund also nur eingeschränkt verstehen. Denn auch sein kategorischer Imperativ für die technologische Zivilisation sieht allein die Persistenz menschlichen Lebens vor: „‚Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden‘.“ (Jonas 1979, S. 36)

Es bleibt hier unklar, was mit „echtem“ menschlichen Leben gemeint ist, Jonas verschiebt die ethische Aufmerksamkeit jedoch durchaus auf die Bedingungen menschlichen Lebens und nimmt damit eine schwache Dezentrierung des Menschen vor – insofern der Mensch in seinen Einbettungen und Verwobenheiten mit Nicht-Menschlichem in Betracht kommt und nicht die gleichsam reine Instanz jeglicher Ethik ist. Die Pflicht, sich der Bewahrung der Bedingungen menschlichen Lebens verantwortlich zuzuwenden, verankert Jonas allerdings nicht allein in der Kraft, die von der „Sache“ ausgeht, sondern bemüht auch eine vitalistisch angehauchte „Sollenskraft des ontologischen Ja für den Menschen“ (ebd., S. 157; Hervorh. i. Orig.) als zentrale Voraussetzung seiner Verantwortungsethik. Diese Sollenskraft könne sich im Angesicht der „apokalyptischen Situation“ aktualisieren, in der wir leben, „das heißt im Bevorstand einer universalen Katastrophe, wenn wir den Dingen jetzt ihren Lauf lassen“ (ebd., S. 251).

Nach Jonas ist es also die Furcht, die es der Menschheit erlauben kann, die Verhaftung in der Gegenwart zu überwinden, sich affektiv angesprochen zu fühlen und schließlich transgenerationale Verantwortung zu übernehmen – so könne das ontologische Ja zum Überleben gleichsam aktiviert werden. Für das Prinzip Verantwortung ist die Furcht daher die erste Pflicht und zwar die „Furcht um den Gegenstand der Verantwortung“ (ebd., S. 391):

Verantwortung ist die als Pflicht anerkannte Sorge um ein anderes Sein, die bei Bedrohung seiner Verletzlichkeit zur ‚Besorgnis‘ wird. Als Potential aber steckt die Furcht schon in der ursprünglichen Frage, mit der man sich jede aktive Verantwortung beginnend vorstellen kann: was wird ihm zustoßen, wenn ich mich seiner nicht annehme? Je dunkler die Antwort, desto heller gezeichnet die Verantwortung. (ebd.; Hervorh. i. Orig.)

Jonas sucht hier deutlich zu machen, dass die Gefährdung des Anderen uns angeht, zu unserer Sache wird, aufgrund von Besorgnis und Furcht um ihn. Dieses andere Sein lässt sich durchaus auch als nicht-menschliches Sein vorstellen, doch bleibt Jonas’ Vorschlag von einem latenten anthropozentrischen Paternalismus durchzogen. Das Ich der Verantwortung scheint vorausgesetzt und geradezu allwissend: In seiner Technologiekritik und Kritik der Naturbeherrschung überschätzt Jonas die menschlichen Kapazitäten, die Konsequenzen des eigenen Handelns abzusehen. Dies wird etwa in seiner Abgrenzung zu Kant sichtbar: „[E]xtrapoliert der [kantische Imperativ; K.H.] in eine immer-gegenwärtige Ordnung abstrakter Kompatibilität, so extrapoliert unser Imperativ in eine berechenbare wirkliche Zukunft als die unabgeschlossene Dimension unserer Verantwortlichkeit.“ (ebd., S. 37 f.; Hervorh. K.H.) Selbst das Prinzip Verantwortung, das sich der Furcht und der Demut verschreibt, droht so in menschliche Hybris zu kippen, weil es, indem die Zukunft als berechenbar imaginiert wird, die Unverfügbarkeit verkennt, von der „Natur“ und ihre Krisenhaftigkeit geprägt sind. Darüber hinaus gilt es ernsthaft zu fragen, was es heißen sollte, sich „der Menschheit“ anzunehmen, also die Verantwortung zu tragen für das Weiterbestehen der Menschheit. Eine derart übersteigerte Verantwortung ist nicht nur überfordernd, sondern weist auch eine vereinnahmende Schlagseite auf: Menschliche und nicht-menschliche Andersheit kommt nicht je spezifisch als eigensinnig oder als Partnerin innerhalb von Verantwortungsbeziehungen in Betracht, sondern wird zuletzt doch wieder passiviert (und infantilisiert). Auch hier droht eine generalisierend-abstrahierende Geste die Heterogenität der Herausforderungen einzuhegen.

Drei Einladungen zum Weiterdenken, die ich im Folgenden soziologisch und alteritätsethisch aufnehmen möchte, gewinne ich trotz der genannten Verkürzungen und Probleme aus Jonas’ „Prinzip Verantwortung“. Erstens die Forderung einer post-anthropozentrischen Ethik, die gleichwohl die spezifische Verantwortlichkeit menschlicher Akteure anerkennt und dabei hilft, der Komplexität von Verantwortungsbeziehungen gerecht zu werden und diese nicht allein in Responsibilisierungen qua Verantwortungszuschreibung aufgehen zu lassen. Zweitens wirft Jonas in interessanter Weise die Frage nach einer Verantwortungsethik auf, die sich der offenen Zukunft zuwendet, indem nicht so sehr der moralische Akteur und die Bewertung seines Handelns im Zentrum steht, sondern die Sache: Die Objekte der Verantwortung werden zum Ansatzpunkt einer Ethik, weil sie „uns“ affizieren, bewegen und in die Verantwortung rufen. Dabei muss „Natur“ als mit eigenen Ansprüchen bzw. Kapazitäten ausgestattet begriffen werden – was aber wiederum nicht bedeuten sollte, sie allein menschlich zu vereinnahmen, etwa indem sie als vollständig berechenbar gedacht wird.Footnote 4 Jonas lädt also dazu ein, die relative Unverfügbarkeit der Sachen explizit einzubeziehen. Drittens ist Jonas’ Emphase auf einer „‚Heuristik der Furcht‘“ (ebd., S. 8) von Belang, die er im Übrigen explizit dem Bloch’schen „Prinzip Hoffnung“ (1954) gegenüberstellt (vgl. Jonas 1979, S. 348 ff.).Footnote 5 Furcht wird nicht zum Prinzip erhoben, sondern ist Anstoß für Verantwortung. Das Schlechte und Böse vermöge es, Sorge als Pflicht zu aktivieren. Dies wendet Jonas auch pragmatisch, denn das „malum“ lasse sich leichter bestimmen als das Gute oder das Anzustrebende, „und dies nicht nur, weil jenes aus der Erfahrung so wohlbekannt ist, sondern auch, weil es die Kraft erkennbaren kausalen Zwangs hat (wie Elend und Sklaverei), während seine Beseitigung eben die Rätsel der Freiheit ins Spiel bringt“ (ebd., S. 386). Das Katastrophische und die damit evozierbare Angst seien im Gegensatz zu Praktiken der Freiheit und Gestaltung mit Zwang ausgestattet. Daher würden sie es vermögen, die „vorausgedachte Gefahr“ (ebd., S. 7) zum Kompass zu erheben, der eine Verantwortungsethik als „Notstandsethik der bedrohten Zukunft“ (ebd., S. 250) informieren und Verpflichtungen herstellen könne. Jonas behauptet also, Angst würde dazu motivieren, im Hinblick auf ökologische Fragen verantwortlich zu handeln.

In den folgenden drei Abschnitten diskutiere ich die drei bei Jonas aufgeworfenen Herausforderungen der angemessenen Anthropozentrismuskritik, der anrufenden Sachen und des strategischen Gebrauchs des Apokalyptischen aus alteritätstheoretischer Perspektive. Im ersten Schritt schlage ich eine Verschiebung vom „Prinzip Verantwortung“ zum „Prinzip Antworten“ vor.

4 Vom „Prinzip Verantwortung“ zum „Prinzip Antworten“

Die erste mit Jonas aufgeworfene Herausforderung für eine Verantwortungsethik berührt die Frage der angemessenen Anthropozentrismuskritik angesichts der mit dem Anthropozän assoziierten Krisenerscheinungen. Unterschiedliche Debattenstränge in den Kultur- und Sozialwissenschaften haben sich in den vergangenen Jahrzehnten diesem Themenkomplex zugewandt: Zu nennen sind hier etwa Arbeiten von und im Anschluss an Bruno Latour (2017; Flower und Hamington 2022), aber auch Positionen aus dem heterogenen Feld der Neuen Materialismen (Coole und Frost 2010; Hoppe und Lemke 2021) sowie der Environmental Humanities (Neimanis et al. 2015) und Posthumanities (Åsberg und Braidotti 2018). Allen diesen Ansätzen geht es um eine Dezentrierung menschlicher Handlungsmacht und Hybris nicht zuletzt angesichts ökologischer Krisen. Diese Dezentrierungsbewegungen werden in der Rezeption der Ansätze manchmal gleichgesetzt mit der Idee einer Symmetrierung menschlicher und nicht-menschlicher Handlungsmacht, was in der Folge menschliche Verantwortung nivellieren und Differenzierungen verunmöglichen würde (vgl. etwa Lettow 2017; Neyrat 2018, S. 19 f.). Diese Kritik mag auf manche Ansätze aus den genannten Feldern zutreffen; gleichzeitig laden eben diese Arbeiten auch dazu ein, zwischen einem – problematischen – normativen Anthropozentrismus und einem – wichtigen – strategischen Anthropozentrismus zu unterscheiden, was mir für eine Konzeption von Verantwortung im Anthropozän zentral erscheint.

Unter normativem Anthropozentrismus sind Positionen zu verstehen, die „den Menschen“ unkritisch als Dreh- und Angelpunkt des Denkens voraussetzen und die Figur weder historisieren noch kontextualisieren. Als unmarkierte Kategorie, die keine Geschichte und keinen Körper hat, ist „der Mensch“ dann stark assoziiert mit weißer bürgerlicher Männlichkeit und provoziert rassifizierte und vergeschlechtlichte Ausschlüsse aus dem Bereich des Humanen (Jackson 2020). Diesen normativen Anthropozentrismus gilt es zu vermeiden. Anthropozentrismen sind jedoch immer dann strategisch aufzurufen, wenn dezidiert menschliche Verantwortung sichtbar gemacht werden muss. Strategische Anthropozentrismen zielen auch darauf, Zurechenbarkeit für Praktiken von (kollektiven) Akteuren herzustellen. In Praktiken des Zurechnens alleine sollte Verantwortung im Anthropozän aber allein deshalb schon nicht aufgehen, weil es sich hierbei wiederum um eine Praxis handelt, die nur rückwirkend feststellt und die Ethik so von der Vergangenheit und der Frage des Zukünftigen abschneidet.

Um das Konzept der Verantwortung zu erweitern und zu revidieren, haben sich in den Diskussionen um eine post-anthropozentrische Ethik einige Positionen auf interessante Weise in die Traditionslinie der Alteritätsethik im Anschluss an Lévinas und Derrida eingeschrieben. Ziel dieser Ansätze ist es, Verantwortung als „Zukunftsethik“ verstehen zu können, die über identifizierende Zuschreibungspraktiken und nur im Nachhinein feststellbare Handlungsbewertungen hinausgeht (vgl. etwa Barad 2007, S. 391 ff., 2012a; Haraway 2008; Shotwell 2016, S. 48 ff.). In einem Interview hat Donna Haraway die spezifische Zeitlichkeit des Anthropozäns mit einer solchen ethischen Praxis in Verbindung gebracht. Dort konstatiert sie: „[T]he suffix ‚‑cene‘, means kainos, means now, a thick now, the recent times, the times of now. This now is not an instantaneous point. It’s rather an expansive temporality of response-ability – the capability to respond.“ (Haraway und Franklin 2017, S. 55; Hervorh. i. Orig.) Ein Verständnis der dichten Gegenwart, die in Vergangenheiten zurückreicht und in Zukünfte ausgreift, verknüpft sich auch Haraway zufolge mit einer Umstellung von Verantwortung als Zurechenbarkeit auf Verantwortung als Fähigkeit des Antwortens. Prozesse des Antwortens als ethische Praktiken betonen Involviertheit und Unabgeschlossenheit und gehen von der Begegnung mit Andersheit aus. Die ethischen Subjekte der Prozesse des Antwortens sind dabei dezidiert Menschen, denn sie sind diejenigen, „who have the emotional, ethical, political and cognitive responsibility inside these worlds. But nonhumans are active, not passive resources or products.“ (Haraway & Goodeve 2000, S. 134) Die Kultivierung von Responsabilität bzw. einer Fähigkeit des Antwortens ist eine Aufgabe und nicht etwas, das menschlicher Subjektivität als Eigenschaft immer schon zukommt (wie die Responsivität).

Während Jonas eine unendliche – d. h. unaufhörliche, dabei aber auch relativ unwandelbare – Pflicht zum Erhalt der Menschheit qua Furcht evozieren möchte, verschieben Ethiken des Anderen den Fokus auf eine unendliche Pflicht dazu anzuerkennen, dass Prozesse des Antwortens auf das Andere unabgeschlossen bleiben und daher ein beständiges Neu-Ansetzen und Fragen vonnöten ist – ein permanenter Prozess auch des Lernens und Einübens einer antwortenden Haltung. Dies ist auch einer der Kerngedanken bei Lévinas und Derrida, die gleichermaßen davon ausgehen, dass ethische Weltbezüge sich nur in Begegnungen mit dem Anderen realisieren (können). Wesentlich ist in diesem Zusammenhang auch die Einsicht, dass Subjektivität sich in und durch antwortende Begegnungen konstituiert (vgl. Moebius 2003, S. 127 ff.; Critchley 2008, S. 69 ff.; Waldenfels 2002, S. 206 f.). Vor diesem Hintergrund arbeiten sich diese Positionen an der Frage ab, wie eine objektivierende Verantwortungsbeziehung des Bewertens durch eine wechselseitige Beziehung des Antwortens auf den Anderen ersetzt werden kann. In Politik der Freundschaft legt Derrida eine „kurze Grammatik der Antwort“ (Derrida 2000, S. 337) vor, um die systematische Verbindung der Frage nach der Antwort und der Frage nach der Verantwortung auszuweisen. Diese Grammatik bezieht sich auf „répondre“, auf den Bedeutungsschatz „des Antwortens und des Verantwortens“ (ebd.; Hervorh. i. Orig). DreiFootnote 6 ineinander verschränkte Modalitäten machten das Antworten oder Verantworten aus: répondre de-, für etwas Verantwortung tragen; répondre à‑, antworten auf; répondre devant, sich vor etwas oder jemandem verantworten. Das Tragen von Verantwortung geht mit einem Verständnis des Subjekts einher, das sich durch Handlungsfähigkeit und Zurechenbarkeit auszeichnet – in klassischen Bestimmungen von Verantwortung ist dies die notwendige Voraussetzung, die ich auch in den soziologischen Thematisierungen ausgemacht habe (vgl. ebd., S. 338; Flatscher 2016, S. 131). Derrida dekonstruiert diese Annahme, indem er darauf hinweist, dass es alles andere als gesetzt ist, was als „Ich“ Verantwortung trägt:

„Ich“ gelte als verantwortlich für „mich selbst“, das heißt für alles, was auf den, der (oder das, was) diesen Namen trägt, sich zurechnen läßt. Die Zurechenbarkeit setzt Freiheit, gewiß, und zwar eine nicht gegenwärtige Freiheit voraus. Aber sie setzt zugleich voraus, daß das, was meinen Namen trägt, das „selbe“ bleibt – nicht bloß vom einen Augenblick zum anderen, vom einen zum anderen Zustand dessen, was diesen trägt, sondern noch über das Leben oder die Anwesenheit im Allgemeinen, über jede Präsenz hinaus, zum Beispiel jenseits der Selbstpräsenz dessen, was ihn trägt. (Derrida 2000, S. 338)

Es ist nicht die Dimension ethischer Subjektivität, sondern die zweite Dimension der Verantwortung – das Antworten auf, répondre à‑, die Derrida als vorgängig bezeichnet. Am Anfang steht nicht das Subjekt, sondern die Antwort, in der das Subjekt allererst zu einem solchen wird: „Das (Ver‑)Antworten setzt stets den Anderen im Selbstbezug voraus; und diese asymmetrische ‚Vorgängigkeit‘ haftet ihm noch in der allem Anschein nach innersten und einsamsten Autonomie dessen an, ‚was mich betrifft‘“ (ebd., S. 340; Hervorh. i. Orig.). Mit der Annahme einer Subjektivität, die ihre Freiheit nur in der Heteronomie – in der Anrufung durch den Anderen – erlangt, ist die klassische Bestimmung eines verantwortenden Subjekts unterwandert, das frei und zurechenbar sein muss, um verantwortlich zu sein. Damit steht – ganz ähnlich wie bei Jonas – auch nicht die rückwirkende Bewertung von Handlungen anhand von Regeln oder Normen im Zentrum der Ethik, sondern die Infragestellung (vgl. Moebius 2003, S. 57): „Die ethische Beziehung stellt das Ich in Frage. Diese Infragestellung geht vom Anderen aus.“ (Lévinas 1987, S. 280)

Daraus leitet sich auch eine Unendlichkeit der Verpflichtung ab, denn den Anrufungen durch Andersheit kann man sich nicht entziehen. Diese Unendlichkeit hat Derrida in einem Interview einmal wie folgt beschrieben und anti-utilitaristisch gewendet: „[Verantwortung] trägt eine wesentliche Maßlosigkeit in sich, und dies muß so sein. Sie richtet sich weder nach dem Vernunftprinzip noch nach irgendeiner Buchführung.“ (Derrida 1998, S. 284) Berechenbarkeit gibt es Derrida zufolge im Recht und in der Moral, nicht aber in der Ethik, weil diese immer neu ansetzen muss und nicht mit abgeschlossenen Kodizes oder Maßstäben operiert. Ausgangspunkt dieser Verantwortungsethik ist die Begegnung mit Andersheit, in der es – soll sich die Begegnung antwortend gestalten – nicht um die paternalistische Aneignung des Anderen für eigene Zwecke gehen darf, sondern „[e]twas im Ruf des Anderen […] nicht anzueignen, nicht-subjektivierbar und gewissermaßen nicht-identifizierbar bleiben [muss]; Annahme ohne Gehilfe, um Anderer zu bleiben, als singulärer Ruf zur Antwort oder Verantwortung“ (ebd., S. 287). Eine solche Ethik zielt darauf, die Eigensinnigkeit und Andersheit des Anderen zu bewahren, dieses also nicht für etwas Eigenes zu vereinnahmen. Es sind aber besonders Vereinnahmungsgesten, die den gegenwärtigen Umgang mit „Natur“ und mit nicht-menschlicher Andersheit prägen. Anthropomorphisierungen sind hierfür ein Beispiel, aber auch die Zuschreibung menschlicher Kategorien und Maßstäbe operiert mit einer Ethik des Gleichen statt einer Ethik des Anderen: Hier wäre etwa an die Einsetzung des Nützlichkeitsdenkens in der utilitaristischen Tierethik (Singer 1996) und Klimaethik (Gesang 2011) zu denken, oder an die verbreitete Vorstellung einer anzustrebenden „Effizienz“ im „Management“ von Umweltrisiken (Wallimann-Helmer 2021).

An dieser Kritik setzen die post-anthropozentrischen Ausarbeitungen alteritätstheoretischer Ethiken an. Die objektzentrierte Anrufungsperspektive, die bereits Jonas für eine Zukunftsethik als zentral erachtet und die mit dem Begriff der Begegnung ins Zentrum der ethischen Erwägungen rückt, wird hier radikalisiert und das Spektrum möglicher zur Antwort rufender Alteritätsinstanzen um Nicht-Menschliches erweitert. Besonders wichtig für eine verantwortliche als antwortende Begegnung ist die Anerkennung der Involviertheit mit dem Anderen – dessen, was ich oben als konstitutive Heteronomie des Subjekts angeführt hatte. Viele neomaterialistische Positionen stellen aufgrund der Relevanz dieses Motivs – der Durchdrungenheit ethischer Akteure mit Andersheit – relationale Ontologien an den Beginn ihrer Überlegungen: Damit beschreiben sie eine ontologische Orientierung, die davon ausgeht, dass Subjekte und Objekte, Entitäten und Körper erst in Beziehungen entstehen und diesen nicht vorausgehen. Bei Barad etwa beschreibt dies der Neologismus der „Intraaktion“, mit dem sie darauf hinweisen will, dass nicht zwei vorgängige Instanzen miteinander inter-agieren, sondern sich im Aufeinandertreffen, in der Begegnung erst formen und konstituieren (vgl. Barad 2012b, S. 19 f.). Bei Haraway erfüllt diese theoriestrategische Funktion das Konzept der Gefährt:innenspezies („Companion Species“ i. Orig.):

Companion Species is a permanently undecidable category, a category-in-question that insists on the relation as the smallest unit of analysis. By species I mean, with thanks to Karen Barad’s theory of agential realism and intra-action, a kind of intra-ontics/intra-antics that does not predetermine the status of a species as artifact, machine, landscape, organism, or human being. (Haraway 2008, S. 165)

Bestimmtheit erlangen Entitäten und Körper situativ in Beziehungen, und auch die Grenzziehungen zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem sind jeweils historisch und situativ spezifisch zu bestimmen. In einer solchen Ontologie findet eine Ethik Verankerung, die ethische Andere nicht allein als äußerliche Instanz begreift, auf die zu antworten wäre, sondern die im Sinne einer „Ethik der Verschränkung“ (Barad 2015, S. 162) betont, dass es auch mit den Anderen zu antworten gilt, das heißt diese als aktive Partner wahrzunehmen sind. Damit wird die Einsicht hervorgehoben, dass das jeweils Andere mit „uns“ zu tun hat – „‚die anderen‘ sind nie sehr weit von ‚uns‘ entfernt; ‚sie‘ und ‚wir‘ sind gemeinsam konstituiert“ (Barad 2012b, S. 89).

Die Betonung des Miteinanders, das Ausdruck findet in der doppelten Bewegung des auf-die und mit-der-Welt-Antwortens, ist entscheidend für die post-anthropozentrische Wendung der Alteritätsethiken, weil sie die aktive Rolle nicht-menschlicher Akteure besonders ernst nimmt. Die Instanz, welche als Anderes zur Antwort ruft – und dies kann eben nicht nur ein anderer Mensch sein –, entzieht sich in Prozessen des Antwortens einer gänzlichen und raschen Einhegung. Das Andere ist nie komplett zu vereinnahmen; vielmehr weist es einen irreduziblen Eigensinn auf, den es zu bewahren und in ethische Erwägungen einzubeziehen gilt. Dies konterkariert Phantasien der Naturbeherrschung genauso wie technologische, manageriale Lösungen oder Renaturierungsfiktionen und wendet sich durchaus im Sinne von Jonas gegen utilitaristische Ethiken oder andere Anthropozentrismen. Der Ausgangspunkt ist die „Sache“ (Jonas 1979, S. 175), die das Subjekt zur Verantwortung ruft, wobei die Beziehungen zwischen „Sache“ und Subjekt durchaus asymmetrisch sind. Während bei Jonas jedoch „Natur“ als das Bedürftige erscheint, als das „Abhängige“, das „in seinem Eigenrecht zum Gebietenden“ (ebd.) wird und „uns“ aufgrund dessen in die Pflicht nehmen kann, betonen alteritätsethische Ansätze, dass dieses Andere – auch etwas wie die „Natur“ – gar nicht das alleinig Abhängige, gleichsam Schutzbedürftige ist, sondern als mit „uns“ verwoben begriffen werden muss. Die Verletzlichkeit des Anderen ist „unsere“ Verletzlichkeit. Verantwortung wird so als gemeinsame Arbeit in Stellung gebracht und als gemeinsame Sache konstituiert: In Prozessen des Antwortens kann dann durchaus auch Verantwortung als Zurechenbarkeit hergestellt werden – sie ist jedoch ein mögliches Ergebnis gemeinsamen Antwortens und sicher nicht das einzige.

Um die post-anthropozentrische Ethik des Antwortens näher zu bestimmen, gehe ich in einem nächsten Schritt auf die Charakteristika der zur Antwort rufenden „Sachen“ oder Alteritätsinstanzen ein. Was begegnet „uns“ als Teil von „uns“ im Anthropozän?

5 Die Objekte der Verantwortung im Anthropozän

Die „Sachen“, die im Anthropozän zur Antwort rufen – die zweite mit Jonas aufgeworfene Herausforderung –, sind alles andere als klar abgrenzbare individuelle oder kollektive Akteure. Vielmehr zeichnen sie sich durch ein so hohes Maß an Unverfügbarkeit aus, das dieses „uns“ schmerzhaft an „unsere“ Abhängigkeit von eben diesen Instanzen erinnert. Dabei handelt es sich nicht um Begegnungen mit einer mehr oder weniger rohen „Natur“, die mit eigenen moralischen Ansprüchen ausgestattet ist, wie Jonas suggeriert, sondern um Begegnungen mit mehr-als-menschlichen Gefügen, deren Teil „wir“ sind und die „uns“ mit ausmachen. Sie überschreiten das Subjekt und dessen Verfügungsgewalt und entfalten gerade aufgrund dieser offensichtlichen Überschreitung des Eigenen Kapazitäten der Infragestellung, was wiederum Prozesse des Antwortens anstoßen kann. Solche Gefüge zeichnen sich durch einen doppelten Bezug auf Abhängigkeitsverhältnisse aus: Einerseits sind sie komplexe Bündel von Abhängigkeitsverhältnissen, die räumlich und zeitlich expansiv und heterogen sein können. Andererseits erinnern sie moderne Subjekte an ihre Abhängigkeit von Anderen und eben gerade auch von nicht-menschlichen Anderen. Mit Abhängigkeits- oder Dependenzgefügen beschreibe ich Beziehungskonglomerate, die nicht einfach nur „relational“ konstituierte Kollektive meinen, sondern sich durch ein höheres Maß an Notwendigkeit für die Reproduktion von Subjekten und Gesellschaften auszeichnen: Wenn etwa die Gesundheitsversorgung in die Krise gerät, wird nicht nur deren Einbettung in globale Märkte und Lieferketten sichtbar, sondern auch menschlich-körperliche Verwundbarkeit gegenwärtig, was Abhängigkeit auf geradezu existenzielle Weise erfahrbar macht. „Unsere“ Abhängigkeitsgefüge erstrecken sich nicht selten in weit entfernte überraschende Orte und Zeiten: Ihre Analyse muss nicht lähmend wirken, sie kann auch Handlungsspielräume aufdecken.

Abhängigkeit kann demnach als eine in modernen Gesellschaften wichtige Spielart sozialer Beziehungen verstanden werden, die sich dadurch auszeichnet, dass ihre Auflösung oder ihr Prekärwerden krisenhafte Effekte zeitigt. Abhängigkeitsbeziehungen sind zwar kontingent, aber nicht ohne weiteres zu lösen. Ihr Wegfallen und ihre Gefährdung verweisen auf Notwendigkeiten (die weder natürlich noch gänzlich unveränderbar sein müssen, aber so elementar für die Reproduktion von Gesellschaften sind, dass sie nicht unmittelbar substituierbar sind). So haben rezente Krisenerfahrungen die Abhängigkeit von Sorgearbeit, Lieferketten, Infrastrukturen, anderen Körpern und natürlichen Ressourcen vergegenwärtigt. Viele der zur Antwort rufenden Objekte im Anthropozän lassen sich vor diesem Hintergrund charakterisieren als weitgehend unsichtbare und in ihrer Notwendigkeit für die Reproduktion von Gesellschaften verleugnete konstitutive Beziehungsgeflechte, die manche Lebensstile und Daseinsformen ermöglichen und andere ausschließen. Abhängigkeitsbeziehungen sind dabei jene Relationen, die dem Weiterbestehen von Gesellschaften dienen und deren Wegfall (existenziell) spürbar ist, weil ihr Schwinden Selbstverständlichkeiten infrage stellt oder sogar Zusammenbrüche evoziert.

Ein Fokus auf Abhängigkeitsverhältnisse ist im Anthropozän besonders angezeigt, weil er dazu beitragen kann, die modernen Abhängigkeitsverleugnungsleistungen – besonders im Globalen Norden – zu verstehen und zu transformieren. Aus dependenzsoziologischer Perspektive wird deutlich, dass eine zentrale ethische und politische Herausforderung darin liegt, Wege zu finden, der Expansivität von Situationen, Materialisierungen und Ereignissen Rechnung zu tragen: Dies ganz im Sinne von Jonas auf der Ebene von Temporalitäten, aber auch in Bezug auf die räumliche Dimension und damit verknüpft auf die soziale Dimension, also die Frage, wer eigentlich ethisch in Betracht kommt. Die Begegnung mit menschlichen und nichtmenschlichen Anderen zum Ausgangspunkt einer Verantwortungsethik im Anthropozän zu machen, bedeutet, weltlichen Verwobenheiten und insbesondere Abhängigkeitsverhältnissen Rechnung zu tragen. Weil es auf die Erfassung von spezifischen Verhältnissen ankommt, gilt dabei unbedingt der Grundsatz: „Nichts ist mit allem verbunden; alles ist mit etwas verbunden.“ (Haraway 2018, S. 48) Und es ist noch hinzuzufügen: Es ist auch nicht alles in der gleichen Weise verbunden. Die Weisen der Verbundenheit zu erkunden, ist bereits ein wichtiger Bestandteil des Antwortens.

Die Gefüge (die auch vermeintlich isolierte Körper oder Entitäten sein können) sind – das betonen Theoretiker:innen wie Haraway, Barad und Tsing – nie allein „Natur“, sondern „naturkulturell“ (Haraway 2016, S. 9), das heißt mit kulturellen, technologischen, symbolischen und materiellen Aspekten verknüpft. Und es sind ihre Verhältnisse mit „uns“, die ins Zentrum der Betrachtungen und von ethischen Erwägungen rücken müssen: In dieser Weise können Dependenzen politisiert werden, und es kann offensiv darüber nachgedacht werden, welche Abhängigkeitsverhältnisse Gesellschaften sich in welcher Weise leisten wollen. Eine Voraussetzung dafür liegt darin zu verstehen, dass und wie „wir“ mit Anderen und Anderem verknüpft sind: Eine solche Verantwortungsethik erschöpft sich nicht in Responsibilisierung qua Zurechnung, sondern fordert darüber hinaus eine ethische Praxis, der es nicht nur um ein Antworten auf Dependenzgefüge, sondern auch um ein Antworten mit diesen geht. In die Krise geratene Dependenzgeflechte evozieren Effekte, die uns angehen und die zur Antwort rufen – eine gute antwortende Haltung würde sich von ihnen so irritieren lassen, dass Hinterfragungen des Eigenen möglich werden und sich ethische (kollektive) Akteure zu Prozessen des Antwortens versammeln. In solchen Prozessen ginge es darum, das Andere nicht für die nächstbeste bekannte, z. B. eine technokratische Lösung zu vereinnahmen, sondern darum, neue Praktiken einzuüben und dabei die Andersheit des Anderen ernst zu nehmen. Es ginge etwa darum, sich von gleißender Hitze tatsächlich anrufen und irritieren zu lassen und sich auf ein Antworten einzulassen: Dies reicht von der Frage, wie sich Großstädte so einrichten ließen, dass sie „unsere“ Abhängigkeiten ernster nehmen, bis hin zur Frage, wie körperliche Arbeit in den zu erwartenden Hitzesommern überhaupt noch verrichtet werden kann. Fragen der Anpassung und der Transformation werden so zu „unserer“ Sache und darin auch zu einer ethischen Frage, die nicht durch einen abstrakten Maßstab oder durch Responsibilisierungen allein beantwortet werden kann.

Das „Prinzip Antworten“ fordert demnach nicht mehr und nicht weniger, als eine Offenheit für Begegnungen auf ganz unterschiedlichen Ebenen herzustellen. Solche Offenheit kann vor dem Hintergrund der Kultivierung einer Sensibilität für die eigene Position in der Welt entstehen: Eine Verantwortungsethik des Antwortens durchkreuzt unproduktive Polarisierungen zwischen individueller, kollektiver und globaler Verantwortung, indem sie für eine offene Haltung gegenüber heterogenen Materialisierungen wirbt, die diese in ihrer jeweils spezifischen Expansivität erkennt und zur Geltung bringt. Antworten bedeutet dabei auch, einen allein reaktiven Modus zurückzuweisen, der erst im Falle von (drohenden) katastrophischen Einschnitten marktlogische oder anthropozentrische Protokolle abspult. Demgegenüber gilt es, auch (vermeintlich) Alltägliches und Lokales als über sich hinausweisend zu begreifen und demokratischer Gestaltung zuzuführen. Abhängigkeitsverhältnisse – verstanden als unsere konstitutiven Verwobenheiten mit heterogenen (gerade auch nicht-menschlichen) Anderen – sollten nicht erst in die Krise geraten müssen, um als ethisch und politisch relevant zur Kenntnis genommen zu werden. Vielmehr sollten Gegenwartsgesellschaften offensiv die Frage verhandeln, mit welchen Abhängigkeitsverhältnissen sie leben wollen und welche Notwendigkeiten sie sich leisten wollen.

Setzt Verantwortung im Anthropozän auf diese Weise auf allen Ebenen an, hat diese Haltung zur Welt auch politische Konsequenzen. Ethisch geht es dem Antworten jedoch zunächst um Verortungsleistungen, durch die Handlungsspielräume aufgetan werden: Solche Praktiken reichen von individuellen Entscheidungen, die eine solche Haltung ausdrücken – wie etwa die Entscheidung gegen Flugreisen (deren Effekt auf den CO2-Ausstoß zwar gering sein mag, die aber weitreichend für das eigene Erleben der Welt sein kann) – über kollektive Aktionen, die in die Krise geratene Abhängigkeitsverhältnisse aufdecken – wie etwa Streikaktionen in der Fleischindustrie oder in Pflegeeinrichtungen, die auch die Verstrickungen unterschiedlicher Krisenmomente aufdecken – bis hin zur Artikulation globaler Verwobenheiten – etwa durch Kunstprojekte. Antworten spüren Momente der Lebbarkeit in den „Ruinen des Kapitalismus“ (Tsing 2018, S. 19) auf, suchen sie zu bewahren oder sie allererst herzustellen. Dies führt mich zum letzten Punkt, den ich im Anschluss an Jonas diskutieren möchte: Die Frage nach der motivationalen Bedeutung von apokalyptischen und katastrophischen Imaginationen für verantwortliches Handeln im Anthropozän.

6 Postapokalyptisches Antworten

Die Jonas’sche Strategie, eine „Heuristik der Furcht“ zu bemühen, um den Ernst der Lage zu verdeutlichen und so Akteure in die Verantwortung zu nehmen, war Ausgangspunkt der dritten mit Jonas aufgeworfenen Herausforderung. Als Strategie erfreut sich ein Hang zu apokalyptischen Narrativen auch aktuell in Protesten und politischen Aktionen einiger Beliebtheit. Alarmistische Erzählungen über die drohende Apokalypse in Form des Klimakollapses liegen durchaus im Trend. Solche Narrative und daran angelehnte Bildsprachen werden nicht nur im Endzeit-Aktivismus von Gruppen wie „Letzte Generation“ und „Extinction Rebellion“ in Szene gesetzt, sondern auch philosophisch und publizistisch wird für eine „aufgeklärte“ Apokalyptik geworben. Nur der „bestimmte Pessimismus“ einer Apokalyptik vermöge es, die zukünftige Bedrohung als „real“ begreifbar zu machen (vgl. etwa Dupuy 2015, S. 101 f.; Franzen 2020). Ein Horizont der Furcht und der drohenden Katastrophe wird aufgegriffen, um die Gefährdung durch ökologische Krisen zumindest narrativ erfahrbar zu machen und sie möglichst handlungsleitend (etwa zum Verzicht oder zur Politisierung) einzusetzen. So sehr das Engagement der Apokalyptiker:innen die Aufmerksamkeit auf entscheidende gegenwärtige Probleme lenkt, so wenig können apokalyptische Erzählungen und heroische Inszenierungen jedoch als verantwortungsvolle – im Sinne von antwortenden – Involvierungen mit den Konsequenzen ökologischer Krisen gesehen werden. Denn große Erzählungen mit apokalyptischem Unterton können Zynismus und Lähmung provozieren, die ethisch in eine Haltung des „Das Spiel ist aus, es ist zu spät“ (Haraway 2018, S. 81) und in Defätismus münden (zu den ordnungsstabilisierenden Effekten von Fatalismus s. auch Pettenkofer 2017). Apokalyptische Erzählungen neigen dazu, die Katastrophe in die Zukunft zu verschieben, einen allumfassenden Untergang zu beschwören, dem auch nur mit einer radikalen Lösung begegnet werden kann, und damit Handlungsfähigkeit weitreichend zu kassieren. Das Prinzip Antworten richtet sich gegen diese Implikationen und versteht sich als postapokalyptisch.

Zunächst ist die Apokalypse – zumindest wenn man sie als Entzug der Lebensgrundlagen begreift – für die Bewohner:innen vieler Regionen dieses Planeten bereits bittere Realität, woran etwa der nigerianische Philosoph Bayo Akomolafe (2019) erinnert. Auch eine „aufspürende Heuristik der Furcht“ (Jonas 1979, S. 392) muss man sich demnach leisten können. Es scheint insofern geboten, die Verantwortungsethik nicht auf etwas wie die universale Katastrophe oder die Apokalypse auszurichten, sondern auf jene postapokalyptischen Verhältnisse, die bereits bestehen. Die Imagination eines präapokalyptischen Lebens – sich in einer Zeit der bevorstehenden Apokalypse zu verorten – führt dagegen in eine ethische Sackgasse. Es ist diese lähmende Zeit, die die katalanische Philosophin Marina Garcés als „postume Kondition“ bezeichnet hat: Damit beschreibt sie eine Situation, in der die zentrale politische Frage zu sein scheint: „Wie lange noch?“ (vgl. Garcés 2019, S. 19) Eine solch permanente Konfrontation mit der „Frist“ (Anders 1959, S. 93) erzeugt eine Situation, in der Handlungsspielräume aufgrund der überwältigenden Größe der Zumutungen verloren gehen, oder wie Garcés es ausdrückt: „Wenn wir keine Zukunft mehr haben, dann weil die Verbindung mit dem, was passieren kann, vollständig abgetrennt wurde von dem, was wir tun können.“ (Garcés 2019, S. 91)

Mit dem Terminus des Postapokalyptischen lässt sich hervorheben, dass das Katastrophische zwar bereits da ist, aber dass es eben kein Ende mit Schrecken gibt, sondern – im schlimmsten Fall – tatsächlich nur noch Schrecken ohne Ende. Die wahre Zumutung ist nicht die „apokalyptische Finalisierung“ (Bröckling 2023, S. 69), sondern dieses Weiterbestehen der Welt, das sich durch äußerst ungleich verteilte Chancen auf gutes Leben und Sterben auszeichnet. Es ist aber diese Zumutung, die die postapokalyptische Verantwortungsethik uns abverlangt. Eine apokalyptische Angst, die davon ausgeht, dass die „universale Katastrophe“ naht, wie es Jonas beschreibt, erzeugt demgegenüber lähmende Effekte, wie auch Haraway argumentiert hat: „Nur ein schmaler Grat trennt die Anerkennung des Ausmaßes und des Ernstes dieser Probleme von der Kapitulation vor einem abstrakten Futurismus mit seinen Gefühlen erhabener Verzweiflung und seiner Politik ebenso erhabener Indifferenz.“ (Haraway 2018, S. 13) Als abstrakten Futurismus beschreibt Haraway hier eine funktionalistische oder technokratische Haltung, die davon ausgeht, dass nur „das, was ich und meine Expertenkolleg:innen machen, das Problem lösen kann“ (ebd., S. 12). Dabei würden sich Wissenschaftler:innen und andere Expert:innen auf bestimmte Werkzeuge der Bearbeitung versteifen. Was in dieser Weise verloren geht, ist die Infragestellung des Eigenen, die aber im Zentrum einer Ethik im Anthropozän stehen sollte.

Demgegenüber wäre es im Prinzip Antworten angelegt, dass man sich in den eigenen Selbstverständlichkeiten erschüttern lässt und versucht, in Abhängigkeitsgefügen Unterschiede zu machen – dafür bedarf es Neugier und Kreativität, „affektive Workouts“ (Hentschel 2022), auch in der Aneignung von Wissen; und nicht der immergleichen modernen, vereinnahmenden, anthropozentrischen Antworten. Es könnte die Einsicht zur Geltung kommen, dass „wir“ stets „zu viel und zu wenig“ (Haraway 2018, S. 13) wissen. Anstatt dies in Richtung Hoffnung oder Angst, Erlösung oder Lähmung aufzulösen, wäre es verantwortlich, Praktiken einzuüben, die sich antwortend auf die je spezifischen Krisen der Abhängigkeitsverhältnisse einlassen, die das Anthropozän mit sich bringt. Verantwortung heißt dann nicht nur den Nachweis zu erbringen, wer oder was „Schuld“ hat, oder diese auf sich zu nehmen, sondern auch in ethischen Begegnungen Stellschrauben für wie auch immer partiale Transformationen zu erschließen.

Im postapokalyptischen Umweltaktivismus lassen sich solche Praktiken finden. Wie Carl Cassegård und Håkan Thörn (2018) argumentiert haben, kann eine Anerkennung des Postapokalyptischen – des bereits eingetretenen irreversiblen Verlustes einiger Lebensgrundlagen und -formen – durchaus Antrieb und Bezugspunkt von Aktionen werden. Verzweifelte Hoffnung einerseits und defätistischer Katastrophismus andererseits sind keineswegs die einzigen, vermutlich sogar gar keine wirksamen Ausgangspunkte für eine antwortende Ethik im Anthropozän.

7 Ausblick

Die Auseinandersetzung mit den im Anschluss an Jonas aufgeworfenen Herausforderungen macht deutlich, dass Verantwortung im Anthropozän besser als Prozess des Antwortens denn allein als Responsibilisierung von (kollektiven) Akteuren verstanden werden sollte. In dieser Weise kann der tendenziell juridische Streit um die Zurechnung ersetzt werden durch eine kooperativ-soziale Logik, die Prozesse des Antwortens informiert. Sicher sind nicht alle unmittelbar für ein solches Projekt zu gewinnen, und es kann mit Indifferenz reagiert werden (wobei es sich dann allerdings nicht um Antworten und auch um keine ethische Begegnung mit Andersheit handelt). Die Sichtbarkeit von Prozessen des Antwortens zu erhöhen, kann aber Sogkraft entfalten und Transformationsprozesse anstoßen.

Auf theoretischer Ebene hat sich die Umstellung von einer akteurszentrierten Zuschreibungsethik auf eine Perspektive der objektzentrierten Anrufung für so ein Projekt als entscheidend erwiesen. Dieser Fokus erlaubt nicht nur, den Menschen zu dezentrieren und in seinen komplexen mehr-als-menschlichen Voraussetzungen zu begreifen, sondern auch über die Spezifika der Objekte der Verantwortung im Anthropozän nachzudenken. Ich habe argumentiert, dass angesichts der ökologischen Verwerfungen der Gegenwart Abhängigkeitsverhältnisse von besonderer Bedeutung sind. Auf diese Weise lässt sich analytisch wie normativ zu einer Politisierung von Notwendigkeiten beitragen, die von postapokalyptischen Umweltaktivist:innen bereits häufig ins Zentrum gerückt wird. Ihren Niederschlag finden deren Strategien gerade nicht in heroischen Inszenierungen, sondern etwa in Blockaden kritischer Infrastrukturen oder auch der Einbettung von reproduktiven Tätigkeiten wie Essen und Schlafen in Protestformen (wie zum Beispiel bei Waldbesetzungen oder im Rahmen von Protest-Camps, vgl. Hoppe 2022). Solche Politisierungen des Notwendigen und Reproduktiven sowie die daran anschließenden Hinweise auf Ansatzpunkte einer sozial-ökologischen Transformation sind nicht individualistisch oder „sowieso zu klein“, sondern anti-zynisch. Sie betonen, dass es noch etwas zu tun gibt und wir uns nicht der Apokalypse hingeben müssen, sondern vielmehr die „arts of living on a damaged planet“ (Tsing et al. 2017) aufspüren und kultivieren können – sie antworten der Welt und sie antworten mit der Welt. Darin machen sie auch einen Vorschlag, Verantwortung zu praktizieren, ohne dabei individualistisch und ethisierend, moralisierend und generalisierend oder abstrahierend und entpolitisierend zu verfahren.

Die Konfrontation mit Notwendigkeit und Abhängigkeit ist im Kern realistisch. Ein ethischer Realismus, der Freiheit von der Notwendigkeit her begreift, ist im Anthropozän von besonderer Bedeutung, wie schon Jonas erkannt hat: „Die Abscheidung vom Reich der Notwendigkeit entzieht der Freiheit ihren Gegenstand, sie wird ohne ihn ebenso nichtig wie Kraft ohne Widerstand. Leere Freiheit, wie leere Macht, hebt sich selber auf – und das echte Interesse am dennoch unternommenen Tun.“ (Jonas 1979, S. 364; Hervorh. i. Orig.) Die Fülle der Freiheit zu leben und zu ertragen, hieße, sich auf die Abhängigkeitsverhältnisse einzulassen, die „uns“ ausmachen, und sie als solche zu gestalten. Ohne eine solche Konfrontation bleiben Freiheitsversprechen im Anthropozän ebenso leer wie Verantwortungsübernahmen, die einer Logik der Berechenbarkeit verhaftet bleiben.