1 Einleitung

Das prädestinierte Objekt wirtschaftswissenschaftlicher, aber auch wirtschaftssoziologischer Forschung sind marktbasierte Allokationsprozesse. Demgegenüber werden staatliche Haushalte nach- und untergeordnet behandelt. Selbst die Neue Fiskalsoziologie (Martin et al. 2009), die an die kontinentaleuropäische Tradition der Finanzsoziologie (Goldscheid 1976 [1926]; Mann 1933; Schumpeter 1976 [1918]) anschließt, hat sich bisher auf die Einnahmeseite konzentriert und die Ausgabenseite vernachlässigt. Dabei steht die Relevanz des Gegenstandes außer Frage: Staatliche Ausgaben machen in vielen reichen Ökonomien ca. die Hälfte der Wirtschaftsleistung aus. Sie beeinflussen sozioökonomische Verteilungsmuster, Formen und Grade der „Dekommodifizierung“ (Esping-Andersen 1990) sowie die Stabilität und Entwicklung von Wirtschaftssystemen. Haushaltspolitische Entscheidungen haben darüber hinaus auch „symptomatische“ Bedeutung (Padgett 1981; Schumpeter 1976 [1918]), denn sie zeigen an, wie in einem spezifischen Kontext Ansprüche und Verpflichtungen zwischen Bürgern und Staat durch demokratische Politik artikuliert und ausgehandelt werden (Martin 2020) und wie staatliche Strukturen und Institutionen die Verfügbarkeit und Verteilung öffentlicher Gelder beeinflussen.

Die deutsche Ausgabenpolitik ist nicht nur aufgrund der wirtschaftlichen Bedeutung des Landes von besonderem Interesse für die Forschung. Deutschland gilt seit langem auch als paradigmatischer Fall für strukturkonservative Haushaltspolitik. Schon früh diskutierte die Literatur die Schwäche keynesianischer Nachfragepolitik (Allen 1989; James 1989) oder genereller politischer Planung in der Bundesrepublik im Vergleich zu Volkswirtschaften ähnlicher Dimension (Mayntz und Scharpf 1975; Zunker 1972). Nach einer Expansionsphase in den späten 1960ern und frühen 1970ern (Ullmann 2017) dominierte angesichts strukturell steigenden Drucks der Pflichtausgaben, insbesondere zur Stabilisierung der Sozialversicherungen, und abnehmender Wachstumsraten ab den 1980er-Jahren das Spardiktat. Die wirtschaftliche Prosperitätsphase der 2010er-Jahre war dann gekennzeichnet durch ausgeglichene Haushalte im Inland („Schwarze Null“) und die Staatsschuldenkrise insbesondere in Südeuropa. Das Eintreten der Bundesregierung unter Angela Merkel für strenge Fiskalregeln verschaffte Deutschland in diesen Jahren den Ruf als „Sparmeister Europas“ (Blyth 2013; Haffert 2016; Klein und Pettis 2020; Matthijs 2016). Zugleich kritisierten relevante Teile der deutschen Öffentlichkeit die geringen öffentlichen Investitionen in einer Phase sehr günstiger fiskalischer Bedingungen, unter anderem in Digitalisierung, Bildung und Forschung sowie nicht zuletzt in die Energieinfrastruktur (Rixen 2019). Dies gilt vielen heute als das negative haushaltspolitische Vermächtnis der Regierungen Merkel I bis IV.

Doch wie erklärt sich der Strukturkonservatismus deutscher Haushaltspolitik, wie er sich in dieser unzureichenden Nutzung von Investitionsspielräumen manifestiert, im Detail? Aktuelle Diskussionen dazu fokussieren unter anderem den tradierten Einfluss ordoliberaler Ideologie auf das deutsche Haushaltsregime. Diese Ideologie betont die Norm vom Haushaltsausgleich zum Zwecke makroökonomisch „neutraler“ Staatstätigkeit und schreibt regelorientierte Haushaltsplanung vor (Blyth 2013; Petzold 2018). Dieser Position steht ein Feld politikwissenschaftlicher Forschung gegenüber, das die spezifischen Interessenkoalitionen in Deutschland analysiert. So betonten einige Arbeiten die elektorale Bedeutung von Arbeitsmarkt-Insidern als gesellschaftliche Basis für einen konservativen Transferstaat (Beramendi et al. 2015). Andere AutorenFootnote 1 stellen die ökonomische Macht von Produzentenkoalitionen im Exportsektor heraus (Baccaro und Pontusson 2019; Haffert und Mertens 2021), dessen Wettbewerbsvorteil an unterdrückter Nachfrage im Inland hängt.

Mein Aufsatz offeriert stattdessen einen Erklärungsansatz, der Strukturkonservativismus als Eigenschaft haushaltspolitischer Entscheidungsmuster interpretiert und ihre institutionellen Fundamente ins Visier nimmt. Mit Rekurs auf fiskalsoziologische Literatur und historisch-institutionalistische Ansätze betrachte ich Haushaltsverfahren als Entscheidungsvorgänge, in denen die Beziehungsmuster zwischen Parlament, Regierung und Verwaltung zur Geltung kommen. Im Hintergrund steht die Beobachtung, dass moderne Haushaltsplanung und -führung mehr oder weniger gleichzeitig mit einer neuen Verknüpfung zwischen modernem Parlamentarismus und Leistungsbürokratien entstand (Waldhoff 2018; Wehner 2010). Bis heute bedeutet Haushaltspolitik, dass die polititischen Entscheidungsträger den staatlichen Verwaltungsapparat als Instrument zur Realisierung kollektiver Entscheidungen finanzieren, damit aber auch existierende staatliche Institutionen und Organisationen reproduzieren, die die Möglichkeiten politischen Handelns konditionieren. Wie eine lange Tradition fiskalsoziologischer und institutionell-historischer Arbeiten zeigt, variieren diese Relationen zwischen Politik, Regierung und Verwaltung in den jeweiligen nationalen Kontexten (für Besteuerung siehe Morgan und Prasad 2009; Steinmo 1993).

Die politikwissenschaftliche Literatur hat drei institutionelle Merkmale ausgemacht, die den bundesrepublikanischen Staat charakterisieren und seinen fiskalpolitischen Strukturkonservatismus strukturell befördern: den Föderalismus, die relative Entkopplung sozialer Ausgaben von der generellen Haushaltspolitik und das Verhältniswahlrecht sowie die daraus resultierenden Koalitionsregierungen. Alle drei Faktoren schränken die diskretionäre Macht einzelner politischer Akteure stark ein. Meine Analyse ergänzt diese Arbeiten und hebt einen in seiner haushaltspolitischen Bedeutung vernachlässigten Aspekt hervor: In der Bundespolitik sind Minister die focal actors, denn sie agieren als relativ eigenständige Verwaltungsspitzen (von Beyme 2010, S. 328) und sind als Kabinettsmitglieder in Koalitionsregierungen mit der Kompromissfindung betraut. Zudem stützen sie sich als Mandatsträger im parlamentarischen Regierungssystem (Meinel 2020, S. 17) auf eine eigene Machtbasis im Bundestag. Als primus inter pares fungiert seit jeher der deutsche Finanzminister, der bereits in der Weimarer Republik eine herausgehobene Stellung im Kabinett und gegenüber dem Parlament einnahm und sich bis heute auf einen ministeriellen Apparat mit besonders persistenten Arbeitsroutinen zur Sicherung von Haushaltsdisziplin stützen kann.

Wie ich in diesem Aufsatz zeigen werde, wirken diese strategische Stellung der Minister sowie die Sonderstellung der Finanzminister strukturierend auf die bundesdeutsche Haushaltspolitik. So nutzt der Finanzminister seine Machtposition bei gegebener Ressort- und Organisationsstruktur primär zur Profilierung als „Sparsamkeitsminister“. In dieser Rolle tritt er den Fachministern gegenüber, deren Verhandlungsmacht davon abhängt, ob und wie es ihnen gelingt, das Gewicht und die Interessen ihrer Häuser mit ihrem Einfluss im Kabinett zu verbinden. Der Bundestag ist nur in zweiter Instanz von Bedeutung für diese Kompromisssuche. Die Minister sind auf Rückhalt in ihren eigenen Fraktionen angewiesen, denn über Befragungen im Haushaltsausschuss und symbolische Kürzungen von Einzelplänen können Parlamentarier ihre Missbilligung für die Fachminister gegenüber relevanten Öffentlichkeiten kommunizieren – darunter nicht zuletzt die Binnenöffentlichkeiten des Regierungsviertels. Je nach fiskalischen Umständen bzw. den wahrgenommenen Ausgabenspielräumen ergibt sich aus dieser Konstellation ein expansiver oder restriktiver Inkrementalismus.

Mit dieser Perspektive verneine ich nicht die Bedeutung ökonomischer und elektoraler Interessen oder der ordoliberalen Tradition, sondern werbe für ein fallbasiertes Verständnis der Machtbeziehungen und Entscheidungsroutinen innerhalb des politischen Systems, die den Einfluss der entsprechenden Kräfte vermitteln. Die Soziologie kann bisherige politikwissenschaftliche Ansätze zur Analyse von Institutionen in der Haushaltspolitik erweitern, indem sie organisationale Strukturen (Skocpol 1985), temporalsoziale Mechanismen von Verfahren (Luhmann 1983 [1969]) und kontextspezifische Strategien der beteiligten Akteure in den Blick nimmt (Wildavsky 1964; Wildavsky und Caiden 1992). Ein solcher Beitrag ist m. E. auch hilfreich in der Diskussion rund um die Veränderbarkeit von haushaltspolitischen Mustern in Deutschland, die bisher genauso wenig wie der Großteil der Fachliteratur ausreichend zur Kenntnis nimmt, wie stark diese Muster in den Routinen und informellen Institutionen des politischen Systems verankert sind.

Ich entwickle mein empirisches Argument auf Basis unterschiedlicher Quellen. Neben „grauer“ Literatur wie Regierungs- und OECD-Berichten sowie juristischen und historischen Arbeiten zur deutschen Finanzverfassung rekurriere ich auf 16 Interviews, die ich im Zeitraum 2019 bis 2023 geführt habe. Hiervon erfolgten elf mit amtierenden wie ehemaligen Beamten des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) und fünf mit amtierenden wie ehemaligen Mitgliedern des Haushaltsauschusses des Bundestags. Der folgende Abschnitt (2) beschreibt die groben Züge deutscher Haushaltspolitik und positioniert den hier verfolgten Ansatz in einer breiteren Literatur. Die daran anschließende empirische Analyse gliedert sich in zwei Abschnitte. Im ersten Teil (3) zeige ich, wie die Rolle des Finanzministers als herausgehobenes Kabinettsmitglied und Sparsamkeitsminister historisch entstanden ist. Im zweiten Teil (4) beschreibe ich das Haushaltsverfahren als Handlungssystem (Luhmann 1983 [1969]), in dem die zentrale Bedeutung von Ministern innerhalb von Koalitionsregierungen sowie eines parlamentarischen Regierungssystems zur Geltung kommt. Im darauffolgenden Diskussionskapitel (5) diskutiere ich die Persistenz strukturkonservativer Haushaltspolitik im Lichte existierender Forschung zur „new politics of budgeting“ in den USA und vermuteter Paradigmenwechsel nach der Corona-Pandemie (Seelkopf und Haffert 2023). Der knappe Schlussteil (6) rekapituliert die Ergebnisse hinsichtlich der Implikationen für die weitere Forschung.

2 Die Haushaltspolitik des Bundes: Erklärungsansätze und konzeptueller Beitrag

2.1 Muster bundesdeutscher Haushaltspolitik

Obwohl die Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg mit massiven sozialen Problemen und Investitionsbedarfen konfrontiert war, verfolgte der Bund schon unter dem ersten Finanzminister Fritz Schäffer eine Überschusspolitik. Schäffer lehnte Nachfragesteuerung über öffentliche Ausgaben ab und profilierte sich als Anwalt von Währungsstabilität (Mee 2019). Unter Schäffer hatte der „Haushaltsausgleich jährlich zu geschehen […], weil jeder defizitäre Haushalt der Inflation Vorschub leiste“ (Buggeln 2022, S. 621). Diese Fiskalpolitik galt als erfolgreich, da sie den Boom der Exportindustrie in den 1950ern bis in die frühen 1960er-Jahre unterstützte, der die volkswirtschaftliche Basis für das bundesdeutsche „Wirtschaftswunder“ bildete (Höpner 2019; Lindlar und Holtfrerich 1997). Zugleich schafften die hohen Wachstumsraten in dieser Phase Spielräume für die ersten Expansionen des Wohlfahrtsstaats unter den Regierungen Adenauer I bis IV sowie Erhard I und II.

Erst mit der ersten größeren Wirtschaftskrise 1967 wurde diese Politik infrage gestellt (Allen 1989; Buggeln 2022, S. 711 ff.). Der Bund setzte während dieser Krise erstmals kontrazyklische Ausgabenpolitik ein und verfolgte auch in den Folgejahren, insbesondere unter der sozialliberalen Koalition, eine expansive Haushaltspolitik (Ullmann 2017). Das neue Haushaltsregime, auf das sowohl das Stabilitätsgesetz der Großen Koalition von 1967 als auch die sozialliberale Haushaltsreform von 1970 abzielten, sollte „keynesianisch“ und vor allem wachstumsfördernd sein. Allerdings blieb das „keynesianische Experiment“ eine Episode. Interne Widerstände gegen stärkere Koordination (Ullmann 2017, S. 117 f.; von Beyme 2010, S. 325), die föderalen Strukturen (Scharpf 2009), vor allem aber die Konstellation von restriktiver Geldpolitik der Bundesbank angesichts der „großen Inflation“ (Eich und Tooze 2016) einerseits und steigenden Sozialkosten aufgrund steigender Arbeitslosigkeit und geringen Wachstums andererseits (Allen 1989), zeigten einer Politik der Staatsexpansion und kontrazyklischern Nachfragesteuerung bald die Grenzen auf. Die „Stagflation“ der 1970er-Jahre beendete die keynesianische Ära in der Bundesrepublik noch bevor sie wirklich beginnen konnte.

Spätestens mit dem Wahlsieg Helmut Kohls im März 1983 gewann dann eine „Konsolidierungskoalition“ die Oberhand, die mit expliziter Reminiszenz an die Nachkriegsjahre zu Sparsamkeit und Begrenzung der Staatstätigkeit zurückkehren wollte (Buggeln 2022, S. 809; Ullmann 2017, S. 275 ff.; Wagschal und Wenzelburger 2008, S. 201). So gab Kohls erster Finanzminister Gerhard Stoltenberg (1982–1989) als Ziel vor, der Ausgaberahmen müsse „mittelfristig für den Bundeshaushalt deutlich unter dem Anstieg des nominalen Bruttosozialprodukts liegen“ (Otremba 2008, S. 308). Nachdem die Wiedervereinigung mitsamt der Inklusion ostdeutscher Bürger in die Sozialversicherungen eine temporäre Expansionsphase verursacht hatte, schlug das restriktiv-prozyklische Muster angesichts der Rückkehr geringen Wachstums und hoher Arbeitslosigkeit ab Ende der 1990er-Jahre erneut durch (Bibow 2003). Bei steigenden Sozialausgaben bedeutete dies vor allem rückläufige Investitionstätigkeit und die generelle Verdrängung diskretionärer Ausgaben (Streeck und Mertens 2010, 2011). Die Haushaltspolitik der rot-grünen Regierung Schröder ab 1998 folgte im Groben dieser Linie (Bremer 2023). Nach der kurzen Amtszeit Oskar Lafontaines verfolgte Finanzminister Hans Eichel das Ziel des Haushaltsausgleichs, das er allein aufgrund schwieriger makroökonomischer und (zum Teil selbst verursachter) fiskalischer Bedingungen verfehlte. „Ausgabenprogramme zur Binnenstabilisierung“, so konstatieren Höpner und Baccaro (2022, S. 24) rückblickend, „gab es nicht, obwohl eine aktive Konjunkturpolitik dringend notwendig gewesen wäre“.

Die Bedingungen der Haushaltspolitik änderten sich dann infolge der Weltfinanzkrise von 2008. Das hohe Wachstum der deutschen Exportwirtschaft führte zu Mehreinnahmen in der Staatskasse, während die Sozialkosten aufgrund sinkender Arbeitslosigkeit, steigender Erwerbstätigenquoten und der Hartz-Reformen zurückgingen. Auch die sinkenden Zinskosten auf den Schuldendienst, ermöglicht durch die Niedrigzinspolitik von Fed und EZB, führten zu mehr Spielraum (Morris und Reiss 2020, S. 24). Der Bund sparte unter diesen Bedingungen nicht länger, erfüllte aber dennoch die 2009 beschlossene Verfassungsregel zur Begrenzung der Staatsverschuldung („Schuldenbremse“) und erreichte sogar mehrmals hintereinander einen Haushaltsausgleich ohne Ausschöpfung der erlaubten Neuverschuldung von 0,35 Prozent des BIP – die berüchtigte „schwarze Null“ (Haffert 2016). Auffallend an den 2010er-Jahren war denn auch, dass der Bund trotz erheblicher Spielräume innerhalb der Regeln des Maastricht-Vertrages und der Schuldenbremse nicht wesentlich mehr investierte, insbesondere zur Adressierung von Infrastrukturmängeln, Imperativen der Dekarbonisierung und Digitalisierung (Rixen 2019; Abb. 1). Mehr staatliche Ausgaben hätten zudem den enormen Anstieg der deutschen Exportüberschüsse während dieser Phase dämpfen können, die bis heute destabilisierend auf die europäische und internationale Wirtschaft wirken (Höpner und Baccaro 2022; Micossi et al. 2018). Auch Instrumente zur besseren Steuerung der Haushaltspolitik, die anderswo institutionalisiert wurden, stießen in Deutschland auf anhaltenden Widerstand.

Abbildung 1
figure 1

Ausgewählte Ausgaben im Gesamthaushalt des Bundes in Prozent (Quelle: bundeshaushalt.de, eigene Darstellung)

2.2 Erklärungsansätze

Die Entwicklung der Ausgaben des Bundes sind stark durch Wachstumsraten und die steigenden Lasten der Sozialversicherungen geprägt, so dass man nicht durchweg von „fiskalischer Orthodoxie“ (Seelkopf und Haffert 2023) sprechen kann. Allerdings haben anhaltende Sparbemühungen seit mindestens den 1980er-Jahren dazu geführt, dass Ausgaben für materielle und soziale Investitionen in Deutschland in erheblichem Maße zurückgedrängt wurden. Die Stärkung von Investitionen gelang ironischerweise auch dann nur geringfügig, als in den 2010er Jahren die fiskalischen Spielräume groß waren. Selbst die neu eingeführte Schuldenbremse kann die mangelnde Investitionstätigkeit in dieser Phase nur begrenzt plausibilisieren. Wie ist dies nun zu erklären?

Die jüngere, vor allem politikwissenschaftliche Literatur schlägt zwei Ansätze vor.Footnote 2 Eine erste wichtige Forschungslinie fokussiert auf die deutsche Tradition des Ordoliberalismus. Dieser entstand infolge der Weltwirtschaftskrise und erlangte in der Phase nach dem Zweiten Weltkrieg politische Bedeutung. Einflussreiche Ökonomen der frühen Bundesrepublik wie Wilhelm Röpke, Walter Eucken und Alfred Müller-Armack argumentierten, dass Keynesianismus und Nationalsozialismus in Deutschland eine unheilvolle Allianz gebildet hätten (James 1989, S. 260) und forderten auf dieser Basis, der Nachkriegsstaat solle sich zur Vorbeugung gegen totalitaristische Tendenzen darauf konzentrieren, wettbewerbliche Rahmenbedingungen zu schaffen, aber selbst keine proaktive Nachfragepolitik betreiben (wobei es wohlgemerkt weniger Berührungsängste mit faschistischer Sparpolitik gab, wie Mussolini sie betrieben hatte; siehe auch Manow 2020, S. 47). Der Sozialstaat berge Gefahren zur Erlahmung wettbewerblicher Kräfte (Hien 2023, S. 5). Mark Blyth leitet aus dieser ideologischen Tradition die deutsche Austeritätspolitik während der europäischen Staatsschuldenkrise ab (Blyth 2013, S. 141; Matthijs 2016).

Der tatsächliche Einfluss des Ordoliberalismus ist allerdings umstritten. Die deutsche Wirtschaftspolitik schloss eher an den Korporatismus der Kriegsjahre an als an die strenge Durchsetzung von Wettbewerb (Eichengreen und Ritschl 2009). Seit Adenauers Rentenreform von 1957 verfolgte der Bund entgegen ordoliberaler Positionen eine expansive Transferpolitik (Manow 2020; Ullmann 2017, S. 181 f.). Auch wenn einige Spitzenpolitiker und Finanzminister sich ordoliberal profilierten, bleiben strukturelle Einflusskanäle zwischen Ideologie und Entscheidungsträgern unklar, vor allem vor dem Hintergrund relativ stabiler Muster der Haushaltspolitik bei wechselndem Führungspersonal. Im deutschen akademischen Feld jedenfalls scheint die ideologische Strömung bereits seit den 2000er-Jahren marginalisiert gewesen zu sein (Hien 2023). Dementsprechend argumentiert Bremer (2023), dass ein angebotsorientierter Keynesianismus in den 2010er-Jahren größeren Einfluss auf das ökonomische Denken der Parteien hatte als die ordoliberale Tradition.

Ein zweiter Forschungsstrang betont denn auch weniger ideologische Motive, als vielmehr die Rolle von Interessenträgern sowie der regierenden Parteien als entscheidenden Intermediären. So argumentieren verschiedene politökonomische Arbeiten, dass die strukturkonservative Haushaltspolitik sich mit dem statusorientierten Wohlfahrtsstaat erklären lasse, wie er in der Bundesrepublik besteht. In einem solchen System können Arbeitsmarkt-Insider sowie Vertreter angebotsseitiger Wirtschaftsinteressen Transferausgaben zur Kompensation von Arbeitslosigkeitsrisiken bei hohem Spezialisierungsgrad der Arbeitnehmer durchsetzen, während es für universalistische und insbesondere sozialinvestive Ausgaben keine mächtigen Fürsprecher gibt (Beramendi et al. 2015, S. 10; Wagschal und Wenzelburger 2008, S. 206).Footnote 3 Vielmehr würden solche Ausgaben und generell eine expansivere Haushaltspolitik die Wettbewerbsfähigkeit der Exportindustrie durch Stärkung inländischer Nachfrage gefährden. Aufgrund der strukturellen und instrumentellen Macht des Exportsektors sei expansive Fiskalpolitik deshalb für alle traditionellen Volksparteien tabu (Baccaro und Pontusson 2019; Höpner und Baccaro 2022). Die öffentliche Meinung stützt diese Hegemonie demnach mit einer ausgeprägten „German Angst“ vor Defiziten und Schulden (Bremer 2023).

Generell spricht Vieles für diese Argumente. Doch lässt die Literatur bisher weitestgehend unbeantwortet, wie sich die Interessen und Positionen von Wählern, Wirtschaft, Parteien und Regierungen in konkrete Haushaltspolitik übersetzen. Die Frage nach diesen Übersetzungsprozessen ist jedoch schon deshalb von Bedeutung, weil fiskalpolitische Wählerpräferenzen zumeist inkonsistent sind. Und auch Wirtschaftsverbände wollen gleichzeitig niedrige Steuern und bessere Infrastruktur, während Parteiprogramme meist nur vage Entscheidungsgrundlagen für Haushaltspolitiken formulieren und die im politischen System üblichen Koalitionskonstellationen viele Kompromissformeln erfordern. Rechtliche und politische Anspruchssicherung ist sicherlich ein starker Mechanismus, der nicht zuletzt den laufenden Anstieg der Sozialausgaben erklärt (Pierson 1993). Doch hier geht es speziell darum zu erklären, warum dieser Anstieg in Deutschland so folgenreich die Investitionsausgaben beeinflussen konnte, und zwar auch in Phasen, in denen fiskalische Spielräume zweifelsohne bestanden.

2.3 Haushaltpolitik aus dem Zusammenspiel von Parlament, Regierung und Verwaltung

In meiner eigenen, nun folgenden Analyse argumentiere ich, dass die deutsche Haushaltspolitik aufgrund des Zusammenspiels von Parlament, Regierung und Bürokratie einen strukturkonservativen bias aufweist. Denn im Haushaltsverfahren kommen Machtinteressen und -beziehungen zwischen den Bundesministerien, Koalitionsregierungen, Fraktionen und Parteien zur Geltung, die einerseits das Prinzip der Fiskaldisziplin zur Geltung bringen, andererseits inkrementalistische Kompromissformeln befördern.Footnote 4 Je nach makroökonomischer bzw. fiskalischer Lage führt diese Konstellation zu graduellen Kürzungen oder Aufstockungen in diskretionären Bereichen. Von diesem Muster weicht die Haushaltspolitik lediglich in dramatischen Krisen ab.

Diese institutionssoziologische Perspektive baut auf zwei Literatursträngen auf. Der eine untersucht Haushaltsverfahren als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung und zeigt auf, dass die heutigen modernen Verfahrenslogiken und -institutionen aus einer Machtverschiebung von der Krone zugunsten der Parlamente entstanden. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts mussten die britischen Finanzminister dem Unterhaus vollständige jährliche Budgets zur Bewilligung vorlegen (Wehner 2010, S. 7) – eine Praxis, die sich mit der globalen Durchsetzung des Kabinettsystems im 20. Jahrhundert universalisierte. Solange die Parlamentarier sich ausschließlich aus der Oberschicht rekrutierten und deshalb die wesentlichen Steuerzahler waren, ging es ihnen darum, Staatsausgaben einzudämmen. Dies wandelte sich mit vollständiger Demokratisierung und der wachsenden Bedeutung von Verwaltungen zur Ausführung politischer Programme (Mann 1933, S. 67 f.). Dieser Tradition folgend stellt Haushaltspolitik bis heute ein stark institutionalisiertes und organisiertes Verfahren dar, das Staat und Politik, Verwaltung und Parlament über Ausgabenpläne miteinander verzahnt (Wildavsky 1964). Parlamente entscheiden beim Haushalt nicht über eine spezifische legislative Maßnahme, sondern über die monetäre Ausstattung der Verwaltung in einem gegebenen Budgetjahr und das darin eingebettete Regierungsprogramm (Waldhoff 2018, S. 118). Wie der Staat über die Budgetkontrolle zum Instrument demokratischer Politik wird, so affirmiert die Politik mittels des Budgets ihre Angewiesenheit auf den Staat als existierende, immer nur partiell änderbare Struktur von Gesetzen, Organen, Beamten, Infrastrukturen und Programmen (Padgett 1981).

Der zweite Literaturstrang spezifiziert nun für Deutschland diejenigen Institutionen, die dieses Zusammenspiel von Parlament, Regierung und Verwaltung im Haushaltsverfahren strukturieren. Die bisherige Literatur hat hier vor allem auf drei wichtige institutionelle Merkmale hingewiesen. Erstens führt der deutsche Föderalismus dazu, dass fiskalpolitische Kompetenzen auf mehrere Ebenen zergliedert und Umverteilungsquoten festgeschrieben sind. Die föderalistische Ordnung multipliziert auch die Vetopunkte, was allerdings eher beim Steuerrecht ins Gewicht fällt (Lehmbruch 2004).Footnote 5 Weil ich mich auf den Bundeshaushalt konzentriere, sind die beiden anderen institutionellen Merkmale entscheidender. So wurde, zweitens, der deutsche Wohlfahrtsstaat unter Bismarck unabhängig von pro-aktiver Fiskalpolitik institutionalisiert, während in anderen Ländern die keynesianische Entdeckung des Problems unzureichender Nachfrage seit ca. den 1930er-Jahren eine größere Rolle bei der Entwicklung von Sozialpolitiken spielte (Weir und Skocpol 1985). Diese für Deutschland spezifische Entkopplung hat der Haushaltspolitik ein wesentlich engeres Aufgabenprofil beschert (Manow 2020). Wichtiger noch für mein Argument ist, drittens, dass in Deutschland aufgrund des Verhältniswahlrechts seit 1949 fast ausschließlich Koalitionen regieren. Diese neigen zu trägeren Veränderungsmustern, weil es mehr Kompromisszwänge und Vetopunkte gibt. Allerdings wird auch argumentiert, dass die Durchsetzung von Ausgabendisziplin in Regierungsbündnissen schwieriger ist, weil Parteien mit Austritt aus der Regierung drohen können, sofern ihre eigenen Pläne von Kürzungen betroffen sind (Hallerberg et al. 2009). Deutschland hat aber, wie oben diskutiert, verschiedene Austeritätsphasen durchlaufen.

Meine Analyse rückt deshalb ein bisher unzureichend beachtetes Merkmal deutscher Haushaltspolitik in den Vordergrund, nämlich die Scharniere zwischen parlamentarischem Regierungssystem einerseits und der Struktur der Föderalbürokratie andererseits. Letzteres meint im Wesentlichen die Bundesminister. Der institutionellen Tradition des Ressortprinzips (Koch 2005) und dem Grundgesetz entsprechend führen sie ihre Ministerien „selbständig und in eigener Verantwortung“ (Art. 65 GG).Footnote 6 Diese Stellung hat zwei wichtige Implikationen. Erstens bindet sie die Spitzenpolitiker an bestimmte Ressorts mit spezifischen Aufgabenprofilen. Die Ministerien gleichen eigenständigen Organisationen, die auch ihr eigenes Personal rekrutieren (Goetz 1999), und spielen in der Politikgestaltung und -koordination eine maßgebliche Rolle (Mayntz und Scharpf 1975). Minister können nur erfolgreich sein, wenn sie ihre eigenen politischen Chancen an die Ministerien binden. Wie Claus von Beyme schreibt, wird „Politik über Ressort-mäßige Verselbständigung […] personalisiert, indem ein politischer Akteur als Zurechnungssubjekt für Handlungen oder Unterlassungen spezifiziert wird, auf den sich dann positive oder negative – vor allem politische – Sanktionen beziehen“ (von Beyme 2010, S. 577, Hervorh. im Orig.). Damit hängt eine zweite Implikation zusammen: Die Bundesminister benötigen eine eigene Machtbasis im Bundestag, und zwar sowohl in ihrer eigenen Fraktion als auch in derjenigen der Koalitionspartner. Nicht der Kanzler, sondern die einzelnen Ressortchefs repräsentieren Aspekte der Regierungsarbeit im Parlament und erfahren dementsprechend die Unterstützung oder den Widerstand der Abgeordneten.

Die folgenden Abschnitte zeigen nun auf, wie diese institutionellen Eigenheiten der Bundespolitik im Zuge des Haushaltsverfahrens zur Geltung kommen. Dabei analysiere ich zunächst die spezifische und herausgehobene Rolle des Finanzministers und des Finanzministeriums (BMF). Der Abschnitt soll aufzeigen, welche Machtressourcen dieser Minister und seine Behörde im Haushaltsverfahren gegenüber der Regierung und anderen Ministerien einsetzen können, und warum diese Machtressourcen zur Kontrolle und Beschränkung von Ausgaben genutzt werden. Der daran anschließende Abschnitt weitet den Blick auf die Interaktionen des BMF mit den anderen Fachressorts, dem restlichen Kabinett sowie dem Haushaltsausschuss des Bundestages.

3 Der Bundesminister der Finanzen als mächtiger Sparsamkeitsminister

Verhandlungen zur Aufstellung des Haushalts finden im Bund bilateral zwischen dem Bundesministerium der Finanzen und den Fachressorts statt. Der Kanzler beziehungsweise das Kabinett oder die Koalitionsausschüsse haben lediglich eine bestätigende, und nur in extremen Fällen eine konfliktmoderierende Rolle. Trotz seiner „Budgethoheit“ (Waldhoff 2018) beschränkt sich der Bundestag darauf, Regierungsentwürfe punktuell anzupassen. Die bilateralen Verhandlungen zwischen Finanz- und Ausgabenministerien sind demnach der entscheidende Kontext, in dem über diskretionäre Ausgaben, und hier unter anderem auch Investitionen, entschieden wird. Während ich im kommenden Abschnitt die Verhandlungen selbst in den Blick nehme, gehe ich nun zunächst auf die Identität und Machtstellung des zentralen Akteurs im Geschehen ein: dem Bundesminister der Finanzen und seinem Ministerium.

Zentralistische Finanz- und Haushaltspolitik erlangte erst mit und nach dem Ersten Weltkrieg ihre heutige Bedeutung. Mit dem Gesetz über die Reichsfinanzverwaltung von 1919 wurde ein Reichsfinanzministerium gegründet, das als oberste Behörde für die wachsenden Einnahmen nach den Erzbergerschen Reformen (Buggeln 2022, S. 292 ff.) und die rasant ansteigenden Reichsausgaben verantwortlich war. Der Finanzminister erlangte in der Weimarer Republik eine Sonderstellung, da er nicht nur sein Ressort selbstständig gegenüber dem Parlament vertrat, sondern auch im Kabinett bei Etatfragen nur durch eine qualifizierte Mehrheit überstimmt werden konnte (Klein 1970, S. 26). Reichsfinanzminister Joseph Wirth gelang es, einen entsprechenden Kabinettsbeschluss zur Eindämmung der Finanzprobleme 1922 in eine gesetzlich verankerte Vetomacht umzuwandeln. In der Reichshaushaltsordnung erhielt er ein Widerspruchsrecht über alle Kabinettsbeschlüsse mit haushaltspolitischen Implikationen. Auch auf Verwaltungsebene etablierten sich Vetoroutinen für die Ausgabenwünsche der Fachministerien, worin sich ein tiefes Misstrauen „gegenüber der ‚Geschenk‘-Wirtschaft des parlamentarischen Regierungssystems“ in der jungen Republik niederschlug (Witt 1975, S. 40). Manche Beamte forderten gar eine „diktatorische Sonderstellung“ (ebd., S. 36) für den Reichsfinanzminister zur Stärkung seiner „Ablehnungsmaschinerie“ (ebd., S. 38) gegenüber Ausgabenwünschen. Dieses diktatorische Element realisierte sich allerdings nur in krisenhafter Form. Sich vertiefende Konflikte in der Weimarer Republik und im Kontext der Großen Depression führten dazu, dass das Reichsfinanzministerium auf Basis vorläufiger Haushaltsführung und Notverordnungen zum Teil drastische Sparmaßnahmen durchsetzte. So summierten sich die realen Ausgabenkürzungen unter Reichskanzler Brüning zwischen 1930 und 1932 auf etwa 11 Prozent des Gesamthaushalts (Buggeln 2022, S. 358; Middendorf 2015, S. 150).

Bis zur Machtergreifung Hitlers war der Reichsfinanzminister somit zwar kein Schattendiktator, jedoch ein mächtiger Vetospieler im Sinne seines kabinettsinternen Rollenverständnisses und der haushaltspolitischen Auffassungen, die in seinem Ministerium vorherrschten. Der Haushalt sollte die Einheitlichkeit, Transparenz und Ausgeglichenheit staatlicher Finanzen als „Symbol des Für-sich-stehens des Staates“ (Mann zit. n. Middendorf 2015, S. 163) zur Geltung bringen – eines Staates, der in der deutschen Tradition ohnehin als wesentlich abgeschlosseneres Gebilde gedacht wurde als in der angelsächsischen oder selbst französischen Tradition (Buggeln 2022, S. 40). Entsprechend „wurde der Finanzminister zwar mit Vetorechten eines kameralistischen ‚Sparsamkeitsministers‘ ausgestattet, den Erfordernissen einer zentralen politischen Finanz- und Wirtschaftsplanung […] wurde aber […] institutionell kaum Rechnung getragen“ (Hirsch zit. n. Zunker 1972, S. 57). Bereits 1927 schrieb ein ehemaliger Beamter von der „rein juristischen Einstellung des Reichsfinanzministeriums“ (Ball 1927, S. 35) und vermisste sowohl ein volkswirtschaftliches als auch ein statistisches Referat. Auch nach der „Keynesianischen Revolution“ seit den 1930er-Jahren (Hall 1989) gewann das Ministerium keine Zuständigkeiten für makroökonomische Politik.Footnote 7

Die Stellung des BMF nach 1945 steht in erstaunlicher Kontinuität mit diesen Gründungsakten reichsdeutscher Finanzverfassung. Die Reichshaushaltsordnung von 1922 galt bis 1969 und wurde anschließend durch Regelungen ersetzt, die die Verfahrens- und Sanktionsmächte des Finanzministers erhielten. Auch die Geschäftsordnung der Bundesregierung von 1951 bestätigt, dass der Finanzminister ein Widerspruchsrecht gegenüber allen Kabinettsentscheidungen mit finanzieller Tragweite hat (§ 16 Abs 1). Ferner sind zentrale Aufgaben des Ministers bei der Aufstellung des Haushalts und Rechnungslegung im Grundgesetz festgeschrieben, sodass der Bundeskanzler die Rolle des BMF nicht durch Organisationserlasse oder -gesetze umdefinieren kann.

In der Nachkriegszeit bestätigte sich auch die noch aus kameralistischen Traditionen hervorgegangene Arbeitsteilung zwischen Finanz‑, Industrie- und Arbeitsmarktpolitik, die keine Stelle mit Zuständigkeit für fiskalpolitische Nachfragesteuerung vorsah. Im Wirtschaftsministerium, nicht im BMF, wurden ökonomische Grundsatzfragen behandelt und makroökonomische Prognosen erstellt. Allerdings nutzte das Wirtschaftsministerium diese Expertise nicht für Konjunktursteuerung oder Investitionsplanung, sondern primär zur Artikulation angebotsseitiger Interessen. Der Finanzminister hingegen blieb primär auf die Durchsetzung ordnungsgemäßer Haushaltsführung fokussiert. „[D]as Denken in ökonomischen Kategorien mit längerfristigen Bedürfnis- und Dringlichkeitsvorstellungen“ stieß damit, so Ullmann (2017, S. 39), „auf fast unüberwindliche Schwierigkeiten“. Erst 1966 führte das BMF eine Abteilung für Grundsatzfragen ein (Klein 1970, S. 55), die stärker an makroökonomischer Expertise orientiert war, wie sie auch der wissenschaftliche Beirat vertrat (Ullmann 2017, S. 58 f.).Footnote 8 Schließlich führte die Einführung der Schuldenbremse 2011, die in der Grundsatzabteilung des Bundesfinanzministeriums entwickelt worden war, dazu, dass sich deren operative Bedeutung erhöhte. Seit 2010 prognostiziert die Grundsatzabteilung die zentralen Variablen zur Definition des fiskalischen Spielraums, wie etwa das Potenzialwachstum oder die Steuerelastizität (OECD 2015, S. 10). Diese Voraussagen sind jedoch nicht Teil makroökonomischer Planung von ausgabenseitiger Fiskalpolitik. Ebenso wie jene des wissenschaftlichen Beirats bleibt die Bedeutung der Grundsatzabteilung im BMF im Prinzip prekär und variiert stark in verschiedenen Regierungskonstellationen (Ullmann 2017, S. 59).

In der Kontinuität der Gründungsphase des Reichsministeriums in der Weimarer Republik findet sich die Kerneinheit des BMF, und damit sein eigentliches hauspolitisches Machtzentrum, vielmehr dort, wo die Aufstellung des jährlichen Haushalts erfolgt. Bis heute gelten intern und extern die „Haushälter“ in BMF-Abteilung II als die mächtigsten Karrierebeamten im eigenen Haus, wenn nicht gar in der Bundesverwaltung insgesamt. Diese Machtstellung spiegelt sich in der Tatsache relativer organisationaler Geschlossenheit und Beständigkeit wider. Die in die Abteilung rekrutierten Beamten verbleiben dort über viele Jahre und werden seltener nach Regierungswechseln ausgetauscht als in anderen Bereichen. Zunker (1972, S. 70 f.) stellte fest, dass im Zeitraum 1959–1969 14 von 43 Einzelplänen über fünf und zum Teil zehn Jahre von denselben Referatsleitern betreut wurden. Eine Analyse der Fluktuationsraten des Abteilungspersonals seit der ersten Regierung Merkel bestätigt dieses Bild. Nur im Kabinett Merkel I lag die Rate des Personalwechsels vom Ende der letzten Legislaturperiode bis zum darauffolgenden Wahljahr in der Haushaltabteilung leicht über derjenigen der Grundsatzabteilung. Für alle anderen Perioden lag die Rate in der Haushaltsabteilung deutlich unter derjenigen der Abteilung I (siehe Tabelle 1). Der zuständige Staatssekretär für den Haushalt Werner Gatzer hielt von 2005 bis Ende 2023 unter wechselnden SPD-, CDU- und FDP-Ministern für 18 Jahre seinen Posten.

Tabelle 1 Personalfluktuationen im Bundesministerium der Finanzen; Fluktuationsrate = 1 − von Personen aus Vorperiode / alle Personen aus Vorperiode (Quelle: Eigene Darstellung)

Die Erklärung für dieses auffällig geringe Fluktuationsmuster liegt darin, dass die Haushaltsabteilung essentielles Wissen in der Aufstellung und Verhandlung des Haushalts monopolisiert hat. Dieses Wissen gründet nicht auf Makroökonomik oder etwaige Methoden der Kosten-Nutzen-Analyse, sondern auf Erfahrungswissen bezüglich der betreuten Fachressorts, des Haushaltsrechts und seiner Spielräume. Zudem kennen die in Spiegelreferate gegliederten Beamten ein Repertoire taktischer Optionen im Umgang mit den Fachressorts (Int. AH, RS [siehe Interviewverzeichnis]). Der Konservatismus dieser „Fiskaljuristen“ besteht demnach weniger in der Verfolgung ideologischer Positionen als in einer stark tradierten, umgrenzten Perspektive auf Spielräume, Handlungsoptionen und Ziele der Haushaltspolitik (Int. JW, LS).

Weil das BMF kaum über übergeordnete, direkt in die Haushaltsaufstellung eingreifende Planungskomponenten verfügt, ist der Konservativismus der Haushälter die Ausgangsbasis, von der aus der Finanzminister sich politisch zu profilieren versucht (Mayntz und Scharpf 1975, S. 66, 86). In diesem Sinne zeigte Wolfgang Schäubles Eintreten für die „Schwarze Null“ – sprich: für den Haushaltsausgleich ohne Neuverschuldung – weniger eine Wende hin zu strikter Haushaltsdisziplin an, als seine Fähigkeiten zur Vermarktung von Ergebnismustern, die sich aus dem Zusammenspiel günstiger makroökonomischer Umstände und strukturkonservativer Entscheidungsroutinen ergaben. Wie ausgehend von diesen Eigenschaften des BMF das Haushaltsverfahren funktioniert und warum es ausgeprägte inkrementalistische Züge aufweist, diskutiere ich im folgenden Abschnitt.

4 Inkrementalistische Haushaltsverhandlungen

Das Haushaltsverfahren gliedert sich in zwei wesentliche Abschnitte: Der erste Abschnitt umfasst die Verhandlungen der Regierung über die Eckwerte und den Regierungsentwurf; der zweite umfasst die Verhandlungen im Haushaltsauschuss des Bundestags nach der ersten bis zur dritten Lesung im Herbst, die üblicherweise über den Haushalt des Folgejahres entscheidet. Das Ziel meiner Analyse dieses wiederkehrenden Verfahrens ist, zu zeigen, dass die einzelnen Bundesminister in ihrer dreifachen Rolle als Spitzen der Ministerien, Mitglieder von Koalitionsregierungen und Führungspersonal ihrer Parteien im Zentrum der Verhandlungen stehen. In der Exekutive bringen sie die Machtbalancen zwischen Fachministerien und BMF sowie zwischen Koalitionspartnern zur Geltung. Dem Bundestag stehen sie hingegen als relativ eigenständige Regierungs- und Ressortrepräsentanten gegenüber, weshalb dortige Änderungs- und Kürzungswünsche an ihren Budgets vor allem als Zeichen mangelnder politischer Unterstützung gewertet werden. Die ineinandergreifenden Koordinationslogiken in der Exekutive und Legislative befördern mithin einen besonders hartnäckigen Inkrementalismus, der unter strukturell steigenden Sozialausgaben zur Verdrängung von Investitionsausgaben führt.

4.1 Eckwertebeschluss und Haushaltsentwurf der Regierung

Ein historisch äußerst stabiles Merkmal des deutschen Haushaltsverfahrens ist, dass es mit der Aufforderung des Finanzministers an die Fachressorts beginnt, ihre Finanzbedarfe für das zu verhandelnde Haushaltsjahr anzumelden. Seit Einführung der Schuldenbremse weist der Finanzminister in seinem Schreiben auf die prognostizierten Ausgabenspielräume unter Berücksichtigung der Neuverschuldungsgrenze von 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung hin, seit 1970 die „goldene Regel“ nach GG Art. 115. Allerdings war es auch schon vor 2011 üblich, dass Finanzminister diese grundgesetzliche Regelung anführten, um Ausgabenrestriktionen zu kommunizieren. Wesentlicher für den ersten Schritt im Haushaltsverfahren sind deshalb zwei Merkmale: Erstens setzt man die verfügbaren Haushaltsmittel als gegeben voraus. Verfügbare Einnahmen werden demnach als ein Datum und nicht als Gegenstand politischer Entscheidungen, etwa in Form von Steuerreformen, behandelt (Wehner 2001, S. 60). Und zweitens melden die Fachressorts ohne formale Bindung an Ausgabenlimits ihre Bedarfe an. Im Fachjargon beginnt die Aufstellung des Haushalts in Deutschland also „bottom up“, nicht „top down“ (OECD 2015).

Der nächste Schritt im Haushaltsverfahren besteht in der Prüfung der Anmeldungen durch die jeweiligen Spiegelreferate des BMF. Diese Prüfung sowie die anschließenden Verhandlungen konzentrieren sich auf wiederum zwei Aspekte der Einzelpläne: Erstens orientieren sich sowohl die Fachministerien bei der Formulierung ihrer Ansprüche als auch die Spiegelreferate bei ihrer Prüfung an den Vorjahresplafonds (Int. UR). Im strikten Wortsinn von Inkrementalismus werden also immer relative Veränderungen zum Status quo verhandelt – bei günstigen fiskalischen Lagen in Richtung relativer Steigerungen, bei schwierigen Lagen in Richtung Kürzungen mit den folgerichtigen Kämpfen der Ministerien um das eigene Budget. Die Fachressorts können zwar mit hohen Ansprüchen ihre Machtstellung und Ambitionen signalisieren, liefern sich dann aber der Gefahr deutlicherer Eingriffe durch das BMF aus. Die Haushälter im BMF hingegen antizipieren zwar erhebliche politische und organisationale Widerstände bei der Reduktion bisheriger Anspruchsniveaus, finden sich je nach Haushaltslage aber in einer starken Position bei der Abwehr von Zusatzansprüchen. Diese Abwehrversuche werden gestärkt durch die Vetomacht des Finanzministers.

Die Kompromisssuche konzentriert sich dann auf Einzeltitel in den Ressortplänen. Existierende Titel werden zumeist als gegeben hingenommen, weil ihre systematische Durchsicht schon aufgrund mangelnder Ressourcen unmöglich wäre und zudem Bestandsinteressen berühren würde. Zur Identifikation von Einsparpotenzialen fokussieren sich die BMF-Haushälter deshalb auf neue, nicht gesetzlich verpflichtende Anmeldungen. Fehlt zum Beispiel eine unabweisbare Begründung mit Bezug auf das Regierungsprogramm, die „Etatreife“ (d. h. die unmittelbare wirtschaftliche Einsatzbarkeit der Gelder) oder die Konformität mit anderen Aspekten des Haushaltsrechts, sehen die Spiegelreferate relativ schnell Streichungspotenziale. Fatal für (soziale) Investitionstätigkeit wirkt in diesem Zusammenhang, dass Investitionen zumeist diskretionäre Ausgaben sind, besondere Umsetzungsschwierigkeiten mit sich bringen und aufgrund ihrer geringen Salienz und Langfristigkeit (Breunig und Busemeyer 2012) seltener durch spezifizierte politische Übereinkommen der Koalitionen gedeckt sind. Ihre Einschränkung bei günstigen fiskalischen Bedingungen oder Streichung im Fall knapper Einnahmen ergibt sich also strukturell aus der Steigerung der konsumptiven Pflichtausgaben.

Die Verhandlungen folgen dem Prinzip verschiedener Eskalationsstufen (Int. RS). Um die Plafonds zu deckeln, versuchen die Leiter der Spiegelreferate zunächst, bei den Fachressorts Einsparungen bei sämtlichen Titeln durchzusetzen, die zur Disposition stehen. Auf höheren Hierarchiestufen, vom Unterabteilungs- und Abteilungsleiter über die Staatssekretäre bis zum Minister, lassen sich dann noch andere Einfluss- und Machtressourcen für die Verhandlungen mobilisieren. Der Finanzminister kann einerseits seine Vetomacht im Kabinett androhen, um die Kollegen der Fachministerien zu disziplinieren. Andererseits sind diese Kollegen nicht selten die Führungspersonen anderer Parteien. Damit wird die Einigung über die Einzelpläne zu einer Frage von Machtbalancen innerhalb der Regierungskoalitionen. Einwilligungen auf Seiten der Finanz- oder Fachminister können mit Zugeständnissen in anderen Politikbereichen erkauft werden. Es herrscht insofern Kompromisszwang, weil an der bilateralen Einigungsfähigkeit unter den Akteuren die Regierungsstabilität hängt.

4.2 Die Verhandlungen im Haushaltsausschuss

Mit dem Beschluss zu den Eckwerten, der meist im März für das darauffolgende Budgetjahr getroffen wird, und dem Regierungsentwurf, der dann meist im Juni folgt, sind Verteilungsformeln unter dem BMF und den Fachministerien gefunden, die die Ansprüche auf Haushaltsdisziplin des Finanzministers erfüllen und zugleich Kompromisse innerhalb der Koalition zum Ausdruck bringen. Dies bedeutet, dass die formale „Budgethoheit“ (Waldhoff 2018) des Bundestages – sprich: die parlamentarische Souveränität zur Anpassung des Regierungsentwurfs und zur Verabschiedung des Haushaltsgesetzes – in zwei Hinsichten eingeschränkt ist. Einerseits müssen sämtliche Änderungen am Etat so ausfallen, dass sie für das BMF zustimmungsfähig bleiben. Der Finanzminister kann diese Zustimmung auch verweigern.Footnote 9 Zweitens könnten drastische Änderungen des Budgetplans die Stabilität von Koalitionen gefährden, weil bereits geschnürte Kompromisspakete wieder geöffnet würden. Die Koalitionsfraktionen im Bundestag sind deshalb angehalten, ihre Mehrheiten zur Stützung der Kompromisse zu mobilisieren.

In seiner Identität und Arbeitsweise hat der Haushaltsausschuss sich auf diese Imperative des parlamentarischen Regierungssystems eingestellt. Der Fokus liegt auf der Prüfung ministerieller Ausgabenpläne, nicht auf einer übergeordneten Politisierung von Haushaltspolitik oder der Formulierung von ambitionierten Ausgabenprogrammen (Wehner 2001). Die Haushälter des Bundestags sehen sich deshalb als relativ abgekoppelt von sonstigen parlamentarischen Debatten und Verhandlungen. Vielmehr begreifen sie sich als Aufseher, die kontrollieren, ob angemeldete Ausgaben tatsächlich notwendig und wirtschaftlich darstellbar sind. Ein ehemaliger Vorsitzender beschreibt das Selbstverständnis dementsprechend wie folgt: „Haushälter sind eine parteiübergreifend verschworene Gemeinschaft, die auf die Finanzierbarkeit des politischen Wollens achtet.“ (Int. KD, siehe auch Wehner 2001)

Deutlich zeigt sich der Fokus auf die Prüfung ministerieller Ausgabenpläne in der Arbeitsweise des Ausschusses. Diese besteht primär darin, dass Berichterstatter der verschiedenen Fraktionen spezifische Einzelpläne durchsehen und etwaige Änderungsanträge vortragen (OECD 2015, S. 66). Hierfür besucht man die entsprechenden Ministerien, lädt die Minister vor und sucht vor allem nach Einzeltiteln, die man besonders unterstützt oder zur Disposition stellt (Int. GS). Bei ihrer einzeltitelbezogenen Ausgabenkritik stützen sich die Parlamentarier zumeist auf den Bundesrechnungshof, den eine Abgeordnete als „engsten Verbündeten“ des Haushaltsauschusses bezeichnet (ebd.). Jenseits dessen bleibt den Berichterstattern oftmals nichts anderes üblich, als sich auf wiederkehrende Posten ohne substanzielle politische Bedeutung, wie geplante Ausgaben für Öffentlichkeitsarbeit oder Reisen, zu konzentrieren.Footnote 10 Für eigene, aufwendigere Analysen und Recherchen fehlen schon die Mittel.Footnote 11 Streichungsvorschläge der Berichterstatter sind denn auch oft weniger sachorientiert begründet, sondern vielmehr Teil politisch-symbolischer Kommunikation: Man zeigt der Kollegin Ministerin mit materiell geringfügigen Streichungen an, dass man unzufrieden mit ihrer Arbeit ist. Eine Abgeordnete erklärt: „Wenn man […] der Auffassung ist, der Minister oder die Ministerin hat das nicht gut vorbereitet, dann wird eben ein Titel [als] gesperrt qualifiziert.“ (Int. GS)

Die Abstimmungen über die Änderungsvorschläge der Berichterstatter enden mit der Bereinigungssitzung, die in makaberer Anspielung auf den sog. Röhm-Putsch auch als „Nacht der langen Messer“ bezeichnet wird. Die Bereinigungssitzung nimmt deshalb eine Sonderstellung ein, weil bei dieser in camera stattfindenden Sitzung gegen Ende der Beratungen das BMF keine Eingriffsmöglichkeiten mehr hat. Abgeordnete nutzen die Sitzung deshalb, um noch einige Zusatzausgaben einzubringen, für die sie sich als Anwälte positionieren und/oder die in ihrem eigenen Wahlkreis getätigt werden sollen.Footnote 12 Diese Änderungen sind aber genau deshalb möglich, weil sie so marginal bleiben, dass sie die Verteilungs- und Kompromissformeln der Exekutive nicht gefährden. Das BMF antizipiert diese kleinen Verschiebungen daher sogar und plant ein gewisses „Spielgeld“ für Ausgabenwünsche der Abgeordneten ein (Int. JW).

5 Das institutionelle Profil des bundesdeutschen Haushaltsregimes

Im Jahr 2023 beliefen sich die im Haushalt veranschlagten Ausgaben des Bundes auf 476,3 Milliarden Euro. Damit gibt der Bund allein – sprich: ohne Länder und Gemeinden – 13 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) der Bundesrepublik aus. Wohl kaum eine Soziologin würde bestreiten, dass wir zur Erklärung dieser Ausgabenvolumina und ihrer Verteilung Begriffe und Forschungsansätze brauchen, die von der dominanten Perspektive auf die Ökonomie als rein marktbasiertem Allokationsvorgang abweichen. Schon die frühe, vor allem deutschsprachige Finanzsoziologie entwickelte dieses Argument (Ritschl 1931). Trotzdem finden wir in der Neuen Finanzsoziologie kaum Arbeiten, die Haushalte mit einer entsprechenden Perspektive erforschen.

Die gegenwärtige politikwissenschaftliche Forschung zeigt größeres Interesse an Fiskalpolitik, hat sich aber auf relativ eng umgrenzte Forschungslinien eingeschossen: Die Rolle wirtschaftlicher und elektoraler Interessen steht im Fokus (Beramendi et al. 2015). Die Hauptkritik an diesem Ansatz kommt von Forschern, die die Bedeutung von Ideen und Ideologien betonen (Blyth 2003; für einen Syntheseversuch siehe Bremer 2023). Trotz starker institutionalistischer Traditionen des Fachs werden entsprechende Aspekte eher stiefmütterlich behandelt. Die Einordnung von Fällen erschöpft sich meist in Unterscheidungen von korporatistischen gegenüber marktbasierten Modellen, Mehrheits- gegenüber Verhältniswahlrecht, und föderalen gegenüber zentralisierten staatlichen Strukturen.

Aus diesem Grund argumentiere ich für eine Soziologie der Haushaltspolitik, die nicht die üblichen Forschungsgegenstände, wie etwa die Einstellungsmuster der Bevölkerung ins Zentrum rückt, sondern zu einer tiefergehenden Analyse institutioneller Verfahren und der dadurch geformten Strategien von Leistungsträgern innerhalb des politischen Systems beiträgt (Padgett 1981; Wildavsky 1964). Die stark institutionalisierten, über das Haushaltsverfahren in spezifischer Weise zur Geltung kommenden Beziehungen zwischen Parlament, Regierung und Verwaltung können maßgeblich zur Erklärung von haushaltspolitischen Entscheidungsmustern beitragen. Meine inhaltliche Begründung für diesen Fokus liegt in der Natur des Gegenstandes: Über den Haushalt bestätigt das Parlament im jährlichen Zyklus die Ausgabenpläne von Regierung und Verwaltung. So können Staatsaktivitäten politisch beaufsichtigt und zu einem gewissen Grad gesteuert werden. Gleichzeitig affirmiert sich in den haushaltspolitischen Beschlüssen die Angewiesenheit der Politik auf Verwaltung. Wie dieser Nexus zwischen politischen Akteuren und Verwaltungsapparat in bestimmten Kontexten zustande kommt, erfordert sowohl ein vertieftes Verständnis politischer Institutionen als auch der spezifischen Verfahrenslogiken beim Aufstellen des Haushalts, die kontextuell angepasste Akteursstrategien auf den Plan rufen.

Daran anknüpfend liegt meiner obigen Untersuchung das Bestreben zugrunde, den weithin beobachteten, oft kritisierten Strukturkonservatismus deutscher Haushaltspolitik institutionssoziologisch zu erklären. Den Ausgangspunkt dafür bildet die wichtige Einsicht, dass die Institutionalisierung des deutschen Wohlfahrtsstaats über Sozialversicherungen im 19. Jahrhundert bedeutete, dass, anders als in anderen Ländern, die Politik der Sozialausgaben hierzulande von der Nachfragesteuerung strukturell entkoppelt blieb (Weir und Skocpol 1985). Bereits im Kaiserreich (Klein 1970, S. 23), vor allem aber nach 1918 konzentrierte sich die Aufgabenstellung des Finanzministers auf die Herstellung eines ordnungsgemäßen, vollständigen, nach Möglichkeit ausgeglichenen Haushalts als Ausweis staatlicher Selbständigkeit. Hierfür wurde der Finanzminister von vornherein mit Sondermächten ausgestattet, die es ihm erlauben, seinen Kabinettskollegen und den Parlamentariern gegenüber als disziplinarische Autorität aufzutreten. Die institutionelle Identität und regierungsinterne Position des heutigen Bundesministers der Finanzen stehen in erstaunlicher Kontinuität mit diesen Gründungsprinzipien der deutschen Finanzverfassung. Auch die Arbeitsweise des BMF erweist sich als beständig und relativ abgekoppelt von Umweltveränderungen, Machtwechseln und programmatischen Konjunkturen, wie sich an der ungewöhnlichen Kontinuität des Personals und seinen stabilen Routinen ablesen lässt.

Die formalen Machtmittel des Finanzministers sowie die Strukturen und Kulturen seines Apparats erlangen ihre spezifische Bedeutung aber erst über ihre Beteiligung an dem dargestellten Verfahren zur Haushaltsaufstellung, bei dem es immer auch um das parlamentarische Regierungssystem als Ganzes geht. Ich habe argumentiert, dass die Fachminister die focal actors in diesem Verfahren sind, weil sie drei Funktionen zusammenbringen: Sie repräsentieren ihre Ressorts, sie sind Mitglieder eines Regierungskollegiums namens Kabinett, und sie sind Spitzenpolitiker von Parteien, die als Fraktionen in Kooperation mit den Koalitionspartnern Mehrheiten organisieren. Auch wenn sie nicht notwendigerweise selbst handelnd eingreifen, lassen sich an den Bundesministern deshalb zwei kritische Momente des Haushaltsverfahrens festmachen: erstens die bilaterale Kompromissfindung zwischen BMF und Fachressort mit Orientierung an Variablen wie Vorjahres-Plafonds und neuen diskretionären Ausgaben, die einen starken Inkrementalismus erzeugen; zweitens die Verhandlung des Haushaltsentwurfs der Regierung im Bundestag, die sich im Wesentlichen auf die Prüfung einzelministerieller Arbeit fokussiert, und in der symbolische Kürzungen genutzt werden, um Bewertungen der Minister zu kommunizieren. Dabei sind die Spielräume des Parlaments eingeschränkt durch die vom BMF beaufsichtigte Fiskaldisziplin und die Notwendigkeit, die in der Exekutive geschlossenen Kompromisse zu bestätigen.

Mit der Betonung der Bedeutung interner Beziehungen im politischen System soll nicht die Relevanz von spezifischen elektoralen Koalitionen oder von machtvollen wirtschaftlichen Akteuren mit ihren jeweiligen parteipolitischen Fürsprechern negiert werden. Betrachtet man die Entwicklung des Bundeshaushalts, kann man unschwer erkennen, dass die Sicherung von Bestandsinteressen an Wohlfahrt, insbesondere Alterspensionen und Gesundheitsschutz, einen immer größeren Anteil ausmachen, zu größeren Gesamtausgaben führen und/oder andere Ausgaben verdrängen (Streeck und Mertens 2010, 2011). Warum aber in Deutschland die Sozialausgaben Aufwendungen für Investitionen insbesondere in den 2010er-Jahren trotz fiskalischer Spielräume in so starkem Maße verdrängt haben, erfordert ein Verständnis davon, wie das parlamentarische Regierungssystem und die Bürokratie verzahnt sind. Wie gezeigt, stehen mächtige Finanzminister, wie in den 2010er-Jahren insbesondere Wolfgang Schäuble, Fachministern gegenüber, die bei dem Kampf um Mittel vor allem „ihre“ Häuser und ihr Gewicht in der Koalition im Blick haben. Über Ressorts hinausgehende, pro-aktive Investitionspolitik gerät bei diesen inkrementalistischen Verhandlungslogiken ganz von selbst ins Hintertreffen.

Behandelt man die Volumina und Verteilungen von öffentlichen Geldern nicht nur als explananda, sondern auch im Sinne des finanzsoziologischen Begriffs des „Symptoms“, dann ergibt sich noch eine weitere wichtige Erkenntnis über den deutschen Strukturkonservatismus. Zur Verdeutlichung dieses Punktes hilft ein Vergleich mit Aaron Wildavskys’ Arbeiten zur „alten“ (Wildavsky 1964) und „neuen“ Budgetpolitik (Wildavsky und Caiden 1992) der Vereinigten Staaten, in deren Rahmen der oben gebrauchte Begriff des Inkrementalismus entwickelt wurde. Diesen prägte Wildavsky für das Zusammenspiel der „agencies“ des Präsidenten, bzw. seines Bureau of the Budget, und des Kongresses, wobei einige Parallelen zu Deutschland bestehen. Die Kompromissfindung, so die Beobachtung, spielt sich in den USA allerdings nicht in der Exekutive, sondern zwischen Kongress und Präsident ab, und zwar auf bruchstückhaft-tentative Art und Weise. In der „neuen“ US-Budgetpolitik, die Wildavsky ab Ende der 1960er-Jahre beobachtete (siehe auch Quinn 2017), hatten sich die Akteure hingegen bereits vom Inkrementalismus, also vom Prinzip der Kompromissfindung hinter verschlossenen Türen, abgewendet: Die Vorjahresplafonds waren nicht länger fiskalischer Ausdruck eines Konsens über den Status quo. Stattdessen neigten die Parlamentarier sowohl auf Ebene der einzelnen „agencies“ wie auch des Gesamtbudgets zu öffentlich sichtbaren Politisierungen. Diese Logik der Konfliktausweitung (Schick 1995, S. 135) setzt sich bis heute fort (Crowley 2021) und findet ihren dramatischen Höhepunkt im jährlich drohenden „Shutdown“ infolge scheiternder Haushaltsverhandlungen zwischen Weißem Haus und Kongress.

Im Kontrast dazu ist der deutsche Strukturkonservatismus symptomatisch für ein politisches System, dessen konstitutive Akteure bis auf wenige Krisenphasen ihre institutionell aufeinander abgestimmten, historisch etablierten Rollenprofile und eng umgrenzten Handlungsspielräume selten verlassen oder öffentlich politisieren. Insbesondere die Regierungsparteien nehmen ihre politischen Chancen bisher primär über die ressortpolitischen Spielräume ihrer Minister innerhalb von Koalitionen wahr, in denen Ausgabenspielräume nur über Kompromisse mit mächtigen „Sparsamkeitsministern“ und ihrem effektiven Verwaltungsapparat zu erschließen sind. Die Macht des Parlaments und insbesondere der Opposition erschöpft sich in der Kritik an ebendiesen Ministern und der Beeinflussung von Einzeltiteln, die nicht mehr als „fragments“ (Wildavsky 1964, S. 59) des Gesamtbudgets ausmachen. Sofern überhaupt grundsätzlich andere Ausrichtungen in der Haushaltspolitik öffentlich gefordert werden, bleiben diese Positionen in der gegebenen Struktur ohne durchschlagende Konsequenzen. So kritisiert die Linkspartei in in ihrer bundespolitisch daueroppositionellen Rolle zwar öffentlich die Schuldenbremse, spielt aber im Haushaltsausschuss genau dasselbe Spiel wie alle anderen Parteien, weil ihr ja auch bei stabilen Regierungsmehrheiten nicht viel anderes übrigbleibt.

Vor diesem Hintergrund bin ich skeptisch, dass die Corona-Pandemie eine Abkehr von der deutschen Haushaltspolitik der vergangenen Jahrzehnte verursacht hat, wie Haffert und Seelkopf (2023) vermuten. Zwar hat die Pandemie zeitweise Spielräume für Mehrausgaben in fast allen Bereichen, und nicht zuletzt für soziale und materielle Investitionen freigesetzt. Doch damit haben sich vor allem die Anspruchsniveaus verschoben, mit denen der wiedereinsetzende Inkrementalismus unter den Vorgaben der Schuldenbremse zurechtkommen muss. Auch die Beobachtung, mit einer stärker an der internationalen Makroökonomik orientierten Grundsatzabteilung im BMF habe ein neues Verständnis von Fiskalpolitik in Deutschland Einzug erhalten (ebd., S. 6 f.), hat weniger Bedeutung für den Haushalt als Haffert und Seelkopf unterstellen. Denn wie dargestellt ist die BMF-Haushaltsabteilung der relevante organisationale Akteur auf Bundesebene, der die Haushaltsdisziplin durchzusetzen versucht – und zwar weitgehend unabhängig von den jeweiligen Überzeugungen und Einstellungsprofilen seiner Protagonisten. Die Grundsatzabteilung mag je nach Legislaturperioden ihre ideologische Orientierung nach links oder rechts verschieben. Für das auf fiskalische Strenge ausgerichtete Rollenprofil der BMF-Beamten und den Ablauf der Haushaltsverfahren bleibt dies, wie gesehen, quasi ohne Konsequenz.

Viel eher ist deshalb zu vermuten, dass haushaltspolitische Veränderungen nicht aufgrund eines Paradigmenwechsels in der Fiskalpolitik, sondern aufgrund von Destabilisierungen des Verhältnisses von Parlament, Regierung und Verwaltung eintreten, wie wir sie zurzeit schon in der „Ampelkoalition“ beobachten. Stärkere ideologische Polarisierung und härtere Konkurrenz bei Abwesenheit mächtiger Volksparteien könnten dazu führen, dass die bisherigen Modi der Kompromissfindung im Kabinett nicht mehr greifen und/oder Fraktionen bzw. Parteiführungen Kompromisse der Exekutive nicht länger im Bundestag tragen. Dies könnte die Verfahrenslogiken der Haushaltspolitik und damit auch ihre Ergebnisse maßgeblich verändern.

6 Schluss

Die Untersuchung von Haushaltspolitik bildete eine der Kerngebiete soziologischer Forschung in der Gründungsphase der Disziplin. In der Arbeitsteilung von marktfokussierter Wirtschaftssoziologie und einer eher an Einstellungsmustern und sozialen Bewegungen interessierten politischen Soziologie ist diese Tradition in Vergessenheit geraten. Dies erweist sich als Defizit und verpasste Chance. Denn einerseits erlaubt die soziologische Untersuchung von haushaltspolititischen Verhandlungen als komplexer, kontextsensibler und sich über mehrere Ebenen erstreckender sozialer Prozess, genuine Stärken der Soziologie zur Geltung zu bringen. Andererseits befinden wir uns in einem gesellschaftlichen Kontext, in dem die Rolle des Staates im Wirtschaftsgeschehen signifikant bleibt und eher noch an Bedeutung gewinnt, während die Konflikte rund um öffentliche Ausgabenpolitik zunehmen. Man denke nur an die Herausforderungen der Dekarbonisierung.

In meinem Beitrag habe ich dafür geworben, mit soziologischen Methoden die aus meiner Sicht fruchtbarste politikwissenschaftliche Tradition zur Untersuchung von Fiskalpolitik weiterzuentwickeln. Diese Tradition fokussiert auf die Rolle von politischen Institutionen, die tief in den jeweiligen Staatstraditionen und gesellschaftlichen sowie politikinternen Machtstrukturen verankert sind. Der entscheidende Beitrag der Soziologie in Bezug auf diese Tradition besteht darin aufzuzeigen, wie die entsprechenden Institutionen Koordinations- und Strategieoptionen relevanter Akteure unter sich historisch wandelnden Umständen strukturieren.

Wandel, unter dieser Perspektive, entsteht vor allem durch Koordinationsversagen und infolge der Erschöpfung strategischer Optionen für die politisch Handelnden. Solcher Wandel erzeugt nicht notwendigerweise neue Institutionen, sondern kann auch – wie in den USA – in einem anhaltenden Zustand von Anomie münden. Auch in Deutschland stellt sich die Frage, was auf eine Situation folgen mag, in der die existierenden, zumeist in der Nachkriegszeit entstandenen Institutionen sichtlich an ihre Leistungsgrenzen gekommen sind. In der Bearbeitung solch drängender Fragen, die sich für die Haushaltspolitik, aber auch für andere Politikbereiche stellen wie z. B. die Industriepolitik, bietet sich für die Soziologie eine neue Chance, ihr Theorierepertoire und ihre methodischen Stärken mit genuinen Problemlösungskompetenzen zusammenzubringen.