Die Krisenkaskaden überlagern sich gegenwärtig in einem Maße, dass das gestern Dringliche schon heute fast vergessen wird. Selbst der größte europäische Krieg seit 1945 und die erste globale Pandemie des Jahrhunderts produzieren mittlerweile großenteils Nachrichten für die zweite Reihe. Seit dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober muss befürchtet werden, dass die politische Weltlage ganz außer Kontrolle gerät. Von einer verzwickten Situation zu sprechen, wäre eine maßlose Untertreibung. Mit Adam Tooze (2022) scheint der mittlerweile vieldiskutierte Begriff der „Polykrise“ treffender: Wir befinden uns in einer „Situation, in der das Ganze gefährlicher ist als die Summe seiner Teile“. Die jetzige Problemkonstellation hat demzufolge „Gestaltqualität“, insofern sie sich nur durch die Wechselwirkung der einzelnen Krisen erklären lässt. Wir haben es also nicht mit einem Nebeneinander zu tun, sondern mit einer Ganzheit: Alles hängt mit allem zusammen, schon weil sich (fast) alle in Echtzeit über (fast) alles informieren und darauf reagieren können. Das erzeugt ein Übermaß an Komplexität, und darin liegt Tooze zufolge eben die Gefahr begründet.Footnote 1

Wo es noch mehr Komplexität als ehedem gibt, werden soziologische Syntheseleistungen schwieriger als ohnehin schon. Das gilt vor allem für das sozialwissenschaftliche Schreiben: Argumentationsführungen sind nicht unendlich verkomplizierbar, sondern immer gebunden an die lineare Form der Sprache und die fachtypischen Erwartungen an Begründung und Beleg. Zwar kann ein „big picture“, wie aktuell zu sehen (Mau et al. 2023), im binnengesellschaftlichen Rahmen noch gelingen, zumal auf der Basis eigener Erhebungen. In vielen Zusammenhängen ist diese Selbstbegrenzung jedoch kaum operabel, vor allem wenn es an die qualitative Forschung geht. So sind bei einem Waldbrand oder einer Inflation hochkomplexe Kausalketten am Werke, die sich nur indirekt auf einzelne Handlungen attribuieren lassen – was bekanntlich nicht heißt, dass es nicht dauernd versucht wird. Soziologisch beschreiben lassen sich daher meist weniger die Kausalketten selbst in ihrer latenten Anonymität (Keller 2021), als vielmehr die Urteile und Reaktionen, die sie mittelbar hervorrufen. Und weil diese zum Großteil auf stark selektiven Informationslagen und überhaupt auf „situated knowledge“ (Haraway 1988) beruhen, erreicht die Polykrise die Soziologie häufig nur im Spiegel hochgradig inkohärenter und vorurteilsbehafteter Meinungsbilder und Präferenzkonstellationen.Footnote 2 Das schmälert indes nicht ihren Wert, im Gegenteil: Synthesen sind überschätzt, das Gesamtbild ergibt sich indirekt durch die Versammlung des Verschiedenen. Dies beweist, wie wir meinen, auch das vorliegende Heft.

Vorurteilsbehaftete Urteile gibt es bekanntlich auch in der soziologischen Theorie – etwa, wenn sie mit historischen Zerrbildern arbeitet. Der Beitrag von Daniela Russ, der sich einer Analyse der ideen- und wissenshistorischen Hintergründe der Energiewirtschaft widmet, entdeckt dieses Manko in jener ökologischen Denkbewegung, die die moderne Basisunterscheidung zwischen Mensch und nicht-menschlicher Natur mit Bruno Latour als Ursprung der ökologischen Malaise ausmacht. Ihre Rekonstruktion des Energiediskurses seit der Romantik sowie des energiewirtschaftlichen Diskurses im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert belegt, dass die Unterscheidung von menschlicher und natürlicher Arbeit im Paradigma einer produktiven Nutzung von Energie gründete, die beide überhaupt erst vergleich- und kombinierbar machte. Die daraus folgende „produktivistische Ökologie“, so die empirisch untermauerte These, nahm die gegenwärtige Forderung nach Auflösung der Mensch-Natur-Unterscheidung bereits vorweg – jedoch nicht im Horizont von „Degrowth“, sondern von ökonomischer Effizienz und energetischer Potenz. Eine Scheinauflösung des cartesianischen Paradigmas, so das Fazit, steht daher nicht auf der Agenda: Vielmehr ist eine umfassende Reflexion der historischen Verwicklung der ökologischen Epistemologie in den kapitalistischen Verwertungsprozess gefordert. Der Text bezeugt zugleich, dass die Historische Soziologie (Schützeichel 2015), die hierzulande lange eine (gelinde gesagt) periphere Rolle spielte, nun langsam wieder das Interesse erfährt, das sie verdient.Footnote 3

Die Geschichte der Energiewirtschaft ist nicht zuletzt eine des laufenden Umgangs mit Nichtwissen, sowohl was unentdeckte Reservoire und Technologien als auch was die mittel- und langfristigen Folgen des Ressourcenhungers betrifft. „Im Nebel“ des Nichtwissens tappte ab Januar 2020 auch die globale politische Klasse angesichts eines unbekannten COVID-19-Erregers, der binnen kürzester Zeit den Alltag in allen Weltregionen auf den Kopf stellen sollte. In seiner minutiösen Rekonstruktion der wissenschaftlichen Politikberatung während der ersten zwei Wellen der Pandemie fragt Jörn Knobloch in kritischer Absicht nach den Entstehungsbedingungen eines „Nichtwissensregimes“, das vor allem auf den Empfehlungen und Einschätzungen einer „epistemic community“ von einigen wenigen Experten beruhte. Wie Knobloch herausstellt, waren vor allem Virologen in der Beratung der Bundes- und Landesexekutiven wortführend, und das, obgleich die politischen Maßnahmen großenteils auf eine Einschränkung und Polizierung des gesellschaftlichen Alltags zielten. Was daher nahegelegen hätte, nämlich der Einbezug der Sozialwissenschaften, kam dem Autor zufolge vor allem deshalb nicht zustande, weil deren kontextualisierender und auf Komplexität fokussierter Nichtwissensansatz dem Paradigma eines durchgreifenden Krisenmanagements widersprach. Kurz: Eine in generalisierbare Lockdowns & Co. umsetzbare Exekutivberatung war gefragt, die abwägend-differenzierende Soziologie blieb in der Politik großenteils außen vor.

Mit dem Abflauen der Pandemie haben sich auch die „Querdenker“ scheinbar in Luft aufgelöst. Doch das gilt selbstredend nicht für jene sozialen Netzwerke, in denen sich der „libertäre Autoritarismus“ (Amlinger und Nachtwey 2022) fest etabliert hat. Aus ihnen rekrutiert sich ein erheblicher Teil der AfD-Sympathisanten. Florian Buchmayrs Studie zur Milieukoalition der potenziellen AfD-Wählerschaft greift auf ALLBUS-Daten von 2018 zurück, die damit aus der Vor-Corona-Zeit stammen. Dennoch ist die Studie gegenwartsrelevant, liefert sie doch eine empirisch gestützte Erklärung für die sozialpolitische Schizophrenie des Rechtspopulismus in Deutschland. Denn wie Buchmayr zeigt, lassen sich große Teile der AfD-Sympathisanten klassensoziologisch relativ problemlos einem bestimmten Mittelklassemilieu sowie einem Arbeitermilieu zuordnen. Beide teilen zwar eine kulturpolitisch konservative Weltsicht, widersprechen sich jedoch in ihren Aussagen zu Umverteilung und sozialstaatlicher Sicherung diametral. Während sich im AfD-affinen Sub-Milieu der Mittelklasse die Sorge um Besitzstandswahrung mit trotziger Opposition gegen die progressiven „Klassennachbarn“ mischt, erkennt Buchmayr im AfD-affinen Sub-Milieu der Arbeiterklasse durchaus potenzielle Sympathien für linke Agenden, zumindest mit Blick auf die Erhaltung des Wohlfahrtsstaats. Die partiell klassenübergreifende Milieukoalition, auf die sich die AfD stützt, ist also womöglich fragiler, als man denken könnte. Bleibt die Frage, ob es der politischen Konkurrenz gelingt, sie zu ihren Gunsten aufzubrechen und so dem scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg dieser seit 2018 noch stärker radikalisierten Rechtspartei die Grundlage zu entziehen.

Bei allen Gegenwartskrisen, von denen die AfD auf ihre Weise lebt, vergisst man zuweilen, dass in ganz anderen sozialen Bereichen zuweilen irritierend überschießende Erwartungen vorherrschen. Wer etwa in der Forschung und Entwicklung zu Künstlicher Intelligenz arbeitet, konnte in den vergangenen Jahren eine Prozessdynamik bezeugen, deren Rasanz auch mit Superlativen kaum zu charakterisieren ist. Hartmut Hirsch-Kreinsen und Thorben Krokowski zeigen in ihrem Rückblick auf ein halbes Jahrhundert KI-Forschung in der Bundesrepublik, dass Zuversicht und Enttäuschung sich indes immer wieder abgewechselt haben. Ihre Kernbeobachtung lautet, dass es meist weniger die wirklichen technischen Durchbrüche waren, die die Gezeitendynamik von wachsender und abnehmender KI-Begeisterung zu erklären vermögen: Vielmehr war und ist es die kategoriale Behandlung von Künstlicher Intelligenz als „promising technology“, die zunächst in Hype-Phasen zu weit überschießenden Erwartungen führt, welche dann nach ihrer Enttäuschung ins Gegenteil umschlagen. Insofern ist auch mit Blick auf die gegenwärtigen Entwicklungen, in deren Folge Künstliche Intelligenz sukzessive zu einem Alltagsphänomen wird, noch nicht entschieden, ob etwa ChatGPT tatsächlich jene Disruptionsdynamiken entfachen wird, die erwartet respektive perhorresziert werden.

In seiner Forschungsnotiz widmet sich Thomas Laux einer ersten Analyse der sogenannten „Klimaschutzbewegungsindustrien“, d. h. der organisationalen Basis der Proteste gegen den Klimawandel. In dieser Basis, so zeigt der Text, treffen etablierte Umwelt‑, Natur- und Tierschutzorganisationen mit neu gegründeten „... For Future“-Organisationen zusammen, wobei Letztere eine immer wichtigere Rolle spielen. Es findet demnach zurzeit ein Konzentrationsprozess der organisatorischen Infrastruktur der Klimaproteste statt: Die professionalisierten Akteure sind zunehmend ausschließlich fokussiert auf das Klimathema, womit indes die Integrationskraft der Bewegung – Laux zufolge eine wesentliche Ursache ihres Erfolgs – potenziell abnimmt.


Nach Redaktionsschluss zu diesem Heft erreichte uns die traurige Nachricht vom Tode Friedhelm Neidhardts. Als Gründungsbeauftragter des Instituts für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin hatte Friedhelm Neidhardt entscheidenden Anteil daran, dass das 1990 geründete Berliner Journal für Soziologie die politische Wendezeit in Berlin überlebte und danach zu einem Bestandteil der sozialwissenschaftlichen Zeitschriftenlandschaft werden konnte. Auch nach seiner Tätigkeit als Gründungsbeauftragter hat Neidhardt mehr als 20 Jahre die Jahrgänge des BJS als aufmerksamer Beobachter und Kommentator begleitet. Das BJS wird Friedhelm Neidhardt als einen seiner „Gründungsväter“ in ehrendem Gedenken behalten.