1 Einleitung

Algorithmische Systeme werten Kommunikation anhand der Häufigkeitsverteilungen von Zeichen aus. Sie privilegieren dabei Zeichen desto mehr, je größer die Korrelation zwischen ihnen ist. Die analysierte Grammatikalität der Kommunikation, so die Ausgangsannahme der folgenden Abhandlung, ist mit Rancière gesprochen Resultat einer „Polizei“, die Zeichen in eine Ordnung bringt, indem sie psychische, aber auch soziale und technische Systeme auf einen spezifischen Zeichengebrauch diszipliniert. Dieser Disziplinierungsprozess produziert starke Korrelationen mittels Vereindeutigung und strukturiert damit Kommunikation hegemonial. Mit dieser Annahme lässt sich die algorithmische Produktion von Wissensobjekten als eine Replizierung eines hegemonialen Zeichengebrauchs identifizieren – und damit als Vollzug einer polizeilichen Ordnung markieren, die häufig gebrauchte Zeichenfolgen manifestiert. Auch Theorie muss sich dieser polizeilichen Technik bedienen um Anschlussfähigkeit zu generieren. Sie kann aber – und erst dann wird sie eine kritische Theorie – ihr konstitutives Außen in Form psychischer Systeme mobilisieren, um Kritik zu ermöglichen. Kritik ist dabei als eine Abweichung von starker Korrelation aufzufassen, die kontingente Sinnalternativen artikuliert und schon damit ein Moment der Politisierung innehat.

Der Artikel entwickelt davon ausgehend ein Plädoyer für eine kritische Theorie in diesem Sinne. Theorie wird dabei begriffen als eine Oszillationsbewegung zwischen Affirmation einer polizeilichen Ordnung einerseits und Intervention durch eine antihegemoniale Sinn-Politik andererseits, die Abweichungen artikulierbar macht. Um das zu leisten, werden Theorieressourcen der Systemtheorie, der Dekonstruktion sowie dem Postfundamentalismus angezapft. In Abgrenzung zu Chris Andersons (2013) These vom „Ende der Theorie“ infolge ihrer Ersetzung durch algorithmische Systeme entwickelt der Text den Begriff einer endlosen Theorie, deren Bedeutung hegemonial unfixierbar bleibt. Das Axiom lautet hier, dass eine algorithmische Auswertung von Big Data und die Artikulation von Theorie nicht im Kommunikationsereignis resp. im Text selbst zu unterscheiden sind. Die vorgetragene Analytik verweist deswegen auf die Äquivalenz der strukturellen Bedingungen des Anschließens an Kommunikationen, seien sie durch algorithmische Systeme, seien sie durch psychische Systeme konstituiert, seien sie in affirmativer Weise oder als Kritik artikuliert. Allesamt konvergieren sie in den Bedingungen, die sie jeweils erst ermöglichen: in der qua Sprechakt- und Textform gegebenen Notwendigkeit kommunikativer Anschlussfähigkeit. Der Unterschied muss daher in den dem Ereignis resp. dem Text vorgelagerten Konstitutionsbedingungen gesehen werden.

In einem ersten Schritt wird die epistemische Verschiebung durch Big Data rekonstruiert (Abschnitt 2). Daraufhin wird das Argument die Setzung von Indikation und Distinktion problematisieren und auf Kritik beziehen, um die Anschlussbedingungen von Kommunikation in Form ihrer Grammatikalität zu rekonstruieren. Dabei wird im Register der Systemtheorie argumentiert, weil so die jeweils spezifische operationale Eigenlogik abgebildet und in Vergleich gesetzt werden kann (3). Das ist insofern für das Argument wichtig, als dass gezeigt wird, dass die „Polizei des Sozialen“ in die Grammatikalität der Kommunikation eingeschrieben ist und weder Kritik noch Theorie, insofern auch sie auf argumentative Ordnungsbildung angewiesen sind, davon losgelöst sein können. Dabei wird auf eine begriffliche Unterscheidung zwischen „Polizei“ und „Politik“ zurückgegriffen, um zu zeigen, dass der Distinktionsgebrauch innerhalb sozialer Systeme einerseits Effekte der „Polizierung“, also der Vereindeutigung, und anderseits Effekte der „Politisierung“, also der Kontingentsetzung, evozieren kann – eine Politisierung, die nicht im System der Politik vollzogen wird, sondern als Widerspruchs- und Konfliktpotenzial in jeder Kommunikation aufgerufen werden kann (Stäheli 1998, S. 61 f.) (4). Im Rückgriff auf dieses Begriffspaar aus der Theorie des Politischen Jacques Rancières (2019; 2002), die sich in ein Programm der Differenz- und Unterscheidungstheorie einschreiben lässt, soll es gleichsam möglich werden, aus einer Distanzgewinnung zur Latenzannahme Luhmanns (1991) ein kritisches Theoriefragment zu gewinnen, welches distinktionslogisch konstituiert ist (5). Dieses gilt es daraufhin zu einem emphatischen Theoriebegriff fortzuentwickeln, der sich dadurch auszeichnet, reflexiv markierte Eigenkontingenz zur Destabilisierung jeglicher Setzungen von Distinktion – auch der eigenen – zu nutzen, hegemoniale Bedeutungen durch Invention zu unterlaufen und so einen Prozess endloser und radikaler Selbstirritation zu initiieren, der der algorithmischen Epitsteme diametral entgegenläuft (6).

2 Die epistemische Verschiebung durch Big Data

Chris Andersons (2013) Proklamation vom „Ende der Theorie“, publiziert 2008 im Magazin Wired, beinhaltete nicht nur eine Emphase des Datenempirismus, sondern auch die Ausrufung einer neuen Epistemologie. Mit der ubiquitären Verfügbarkeit von Daten und algorithmischen Systemen, so Andersons Argument, brauche man ab sofort keine Theorie mehr. Zukünfig reiche es aus, sich auf die schiere Datenmenge von Big Data zu beziehen und die Korrelationen einzelner Datenpunkte untereinander auszuwerten. Kurzum: Von nun an seien Algorithmen dafür zuständig, Wissen zu produzieren.

Auf den ersten Blick scheint sich dieser Datenempirismus in Dispositive der Statistik, der Wahrscheinlichkeitsrechnung und der Prognose einzuschreiben, wie sie sich seit dem 17. Jahrhundert etabliert haben. Diese zeichnen sich, so Roberto Esposito, dadurch aus, dass „[d]er Beobachter, z. B. der Statistiker oder der Planer“, dazu neigt „die eigene Beobachtung außerhalb der beobachteten Welt zu stellen und sich deshalb aller Vorteile der Abstraktion und der Generalisierung bedienen“ kann – was auch bedeute, „dass er sich davon distanziert und Angaben formuliert, die für viele ähnliche Situationen gelten und die sie miteinander verbindet“ (Esposito 2013, S. 336). Algorithmische Systeme scheinen genau dies zu tun, nämlich Distanz von der Bedeutung des einzelnen Datums zu produzieren, um sie in Verbindung mit anderen Daten zu bringen. Aus der Akkumulation von Unmengen unscharfer Daten entsteht eine Schärfe, ein Auflösevermögen, welches das Einzeldatum als Bestätigung dessen, was in der Gesamtheit korreliert wird, formatiert (Mayer-Schönberger und Cukier 2013, S. 50 ff.). Dabei kondensieren, wie Abbott (2020, S. 86) schon in den 1980er-Jahren für die quantitative Sozialforschung diagnostizierte, feste Entitäten, denen Attribute, also Datenpunkte, zugeordnet werden.

Im Gegensatz zur Neigung des Statistikers manifestiert sich im algorithmischen System – Anderson (2013, S. 128) spricht anschaulich von Serverfarmen – indes ein epistemischer Modus, der es nicht gestattet, die eigene Praxis auf ihre Sinnhaftigkeit zu beziehen. Das, was dem Statistiker nicht abhandenkommen darf, die modellgestützte Prüfung einer Korrelation hin auf ihre Plausibilität, wird in der Datenverarbeitung durch algorithmische Systeme ignoriert. Da die Zahlen, wie Anderson betont, für sich selbst sprechen, werden die Limitationen und Restriktionen des algorithmischen Systems in der Datenverarbeitung von vorn herein ausgeblendet: Big Data gilt ihm fall- und kontextunabhängig als intelligibel (ebd.; Boyd und Crawford 2012, S. 665 f.). So zentriert er die vermeintliche Irrelevanz von Plausibilitätsprüfung in seiner Epistemologie, die Theorie auf Deskription und Prognosefähigkeit reduziert (Anderson 2013, S. 126 f.). Nach Ekbia et al. (2015, S. 1530) setzt Anderson damit einen Trend fort, der im 20. Jahrhundert mit der epistemologischen Verschiebung von erklärender Theorie hin zu Modellierungen und Simulationen begann. Dieser Trend werde mit der allein an der „prediction of appearances, and the garnering of evidence needed to support them“ (ebd.) orientierten Epistemologie, nach der Big Data verfährt, zu einer Art „strukturalistischem Amoklauf“ radikalisiert, der nach Stäheli (2021, S. 78) die „Grenze zwischen realen und fiktiven Verbindungen zur Implosion [bringt]“. Indem die algorithmisch implementierten Analyseregeln Sinninhalte als formale Verteilungen bearbeiten, zerstören sie schrittweise den Zusammenhang mit der kontextuellen Bedeutung der Zeichen (Siegmund 2020, S. 199). Ein so vollzogener „Amoklauf“ verunmöglicht somit eine systeminterne Intervention gegenüber unerwünschten Effekten: „Buffering strategies“ werden im algorithmischen Vollzug technisch ausgeschlossen und können dann erst qua sozialer Aneignung und Ablehnung von Outputs als Bezugspunkt sozialer Praktiken reartikuliert werden (Christin 2017, S. 9 f.). Ohne also im Regelvollzug des algorithmischen Systems ein Korrektiv der Sinngenese aufrufen zu können, wird die Konnektivität der einzelnen Datenpunkte untereinander über Korrelationen hergestellt.

Auch wenn nicht alle Algorithmen einen Systemzusammenhang konstituieren, wird im Folgenden davon ausgegangen, dass es sich bei algorithmischen um autopoietische Systeme handelt, also um nicht-triviale Systeme, die im Gegensatz zu trivialen allopoietischen (wie bspw. mechanischen Maschinen) mittels selbstbezüglicher Operationen prozessieren. Dabei müssen sie zwei Kriterien erfüllen: Erstens muss eine Operationsart, über die die prozessuale Schließung erfolgt, und zweitens eine Historizität des Systems, die zur Einmaligkeit der jeweilig aktuellen Outputs führt und diachron identifizierbare Zustände produziert, gegeben sein (Luhmann 2008, S. 28). Die operationale Schließung stellt sich bei algorithmischen Systemen über die Schließung von elektronischen Schaltkreisen her, deren Zustandsänderungen weitere Zustandsänderungen permutieren. Das wird insbesondere dann plausibel, wenn davon ausgegangen wird, dass es sich bei selbstlernenden Systemen nicht um einen Algorithmus handelt, sondern um Algorithmen, die aufeinander bezogen sind (Zweig 2018, S. 12) und damit systeminterne Umwelten füreinander produzieren. Dadurch werden permanente operationale Aktivitäten der Zustandsänderung von Schaltungen provoziert.

Wie sich etwa anhand künstlicher neuronaler Netze illustrieren lässt, resultiert die Historizität des Systems aus der Gewichtung von Schaltzuständen in Abhängigkeit von vergangenen Inputs sowie dem Lesen und Schreiben von Daten. In ihrer schieren Menge werden die Daten dann als Big Data bezeichnet. Dirk Baecker (2013, S. 182 f.) fasst Big Data als Operation von Einzeldaten auf, deren selektive Operationen die Form von „Aktionen“ annehmen. Jede Aktion ist dabei einem Beobachtungsinteresse unterworfen. Fasst man dieses Interesse nicht als ein von außen eingegebenes Interesse auf, sondern als strukturellen Effekt der systeminternen Verarbeitung relevanter und auch systeminterner Umwelten durch algorithmische Systeme, dann stellt Big Data einen kondensierten Effekt der Autopoiesis algorithmischer Systeme dar, insofern diese ohne intendierte Impulse Daten schreiben, überschreiben, auslesen und ablegen. Algorithmische Systeme produzieren Datenkorrelate, aus denen sie dann weitere Datenkorrelate reproduzieren (Nassehi 2019, S. 249 f.). Sie sind daher als autopoietische Systeme auffassbar, die ihre Autopoiesis indes nicht wie psychische und soziale Systeme über eine Sinngenese bewerkstelligen: Ihre Dynamik gewinnen sie einerseits aus der Produktion von Zustandsänderungen in Reaktion auf ihre systemrelevante Umwelt – dem „Basisrumor“ des Systems –, andererseits durch die Potenzialisierung möglicher Zustandsänderungen, die sich durch die pfadabhängige Akkumulation der Datenkorrelate in Form von Big Data ergibt (ausführlicher Fuhrmann 2023a).

Durch Auswahl der stärksten Korrelation ist der Output des algorithmischen Systems dabei nicht als kontingente Möglichkeit markiert, sondern als gültiger, korrekter und eindeutiger Wert ausgegeben. Insbesondere Verfahren, die mit Fehlerabweichungen arbeiten, disprivilegieren Möglichkeiten, die unwahrscheinlich sind, und reproduzieren somit hegemoniale Bedeutungsgebungen bei Ignoranz von Alternativen (Mann und Matzner 2019, S. 5 f.). Algorithmische Systeme tilgen also nicht schlechthin Kontingenz aus dem Sozialen; sie reproduzieren jedoch den hegemonialen Sinn durch Tilgung des Unwahrscheinlichen aus ihrem Output. So replizieren und restabilisieren sie Diskriminierungslinien des Sexismus, des Klassismus und des Rassismus bei algorithmischen Entscheidungen als „pattern discrimination“ (Apprich 2018, S. 103). Ein 2017 durchgeführtes Experiment der KI-Forschungsabteilung von Facebook belegt diese Beobachtung. Vorgesehen war, dass zwei algorithmische Systeme verschiedene Waren in natürlicher Sprache miteinander tauschen. Zu Beginn waren menschliche Akteure involviert. So lange dies der Fall war, gaben die algorithmischen Systeme sinnhaft interpretierbare Zeichensequenzen aus. Nach und nach wurden die menschlichen Akteure daraufhin dem Setting entzogen, sodass die algorithmischen Systeme dyadisch interagierten. Dabei explizierten sie Kommunikationssequenzen, die durch eine hohe Redundanz ausgezeichnet waren, und replizierten zunehmend bereits produzierte Zeichen in länger werdenden Zeichenketten. Die Wahrscheinlichkeit der Reproduktion jeweils schon produzierter Zeichen wurde mit jedem Wiederholungsschritt gesteigert, weil ihre Korrelation mit jeder Wiederholung zunahm (Wilson 2017). Algorithmische Systeme, so ließe sich das Ergebnis des Experiments verallgemeinern, replizieren starke Korrelationen und neigen, werden sie sich selbst überlassen, zu Redundanzen, die psychische Systeme durch kommunikative Varietät unterbinden.

Eine algorithmische Replikation von hegemonialen Bedeutungsgebungen ergibt sich folglich schlichtweg aus der algorithmischen Axiomatik, häufig genutzte Zeichen zu reproduzieren. Die hegemonialen Bedeutungen schreiben sich, mit Rancière gesprochen, als Effekte von polizeilichen Praktiken der Restringierung eines Zeichengebrauchs in die Korrelationen ein, eben weil sich Big Data über einen retrograde Bezugnahme auf bewährte Muster reproduziert. Gerade dieser temporale Effekt führt dazu, dass algorithmische Systeme, die Big Data schreiben, selbst zu einer eigenen Qualität polizeilicher Praxis avancieren. Sie vollziehen eine Fixierung des Zukünftigen aus der Korrelation des vorhandenen Datenmaterials und verunmöglichen damit gerade das, wofür Anderson plädiert: Die Freilegung einer „mechanischen Objektivität“ (Daston und Galison 2007, S. 121; s. a. Rieder und Simon 2016, S. 4). Sie reduzieren das zukünftig Mögliche auf ein durch Korrelationen strukturiertes Datenmaterial ihrer vergangenen Systemzustände und schreiben diese linear fort (Mersch 2013, S. 58 f.). Dabei wird jedoch nicht nur Zukunft geschlossen, sondern werden auch die Bedeutungen von Zeichen zerstört (Siegmund 2020, S. 199). Denn insofern diese Operationsweise der diskreten Zustände die Differenz zwischen dem Aktuellen und dem Möglichen, wie sie für Sinnartikulationen typisch ist, verwischt, verunmöglicht sie generell die Genese neuer Bedeutung. Algorithmische Systeme verarbeiten Zeichen, ohne jenen Überschuss an Sinn produzieren zu können, der Luhmann (1993a) zufolge dem nichtalgorithmischen Zeichengebrauch inhärent ist. Algorithmische Systeme dagegen reduzieren das Zeichen auf ein „schlichtes Zeichen“ (Simon 1989, S. 50), das lediglich als Vorkommnis eines als Input dienenden Impuls verarbeitet werden kann. Kontingenz wird getilgt, indem nicht mehr ausgewählt wird, sondern das schiere Ereignis als vorkommender Impuls zu wirken beginnt. Das algorithmische System prozessiert insofern tatsächlich einen strukturalistischen Amoklauf, der unintendiert aus der Steigerungslogik iterierter Korrelierungen erfolgt.

Will man sich allerdings nicht der einfachen Affirmation hegemonialer Bedeutungsgebungen als instrumentell funktionierender „Wahrheit“ hingeben, dann sollte man sich nicht vorschnell der Rede vom „Ende der Theorie“ anschließen. Stattdessen bedarf es eines emphatischen Theoriebegriffs, der vorsieht, hegemoniale Bedeutungsgebungen nicht schon als gesetzt zu affirmieren, sondern in Form alternativer Bedeutungsgebungen zu brechen und damit auf eine offene und kontingente Zukunft hin zu orientieren. Das heißt, Theorie selbst konzeptuell zu öffnen und als „Erfindung neuer ‚Spielzüge‘ und selbst neuer Regeln von Sprachspielen“ ins Endlose fortzuschreiben, wie es Lyotard (1986, S. 157) für die Pragmatik des wissenschaftlichen Forschens konstatiert. Ein solches Vorhaben folgt der Setzung, dass erst ein die Prekarität, die Dynamik, die Absenz von Notwendigkeit des Sozialen in Rechnung stellendes Konzept von Theorie als soziologischem Denken und Schreiben gemäß gelten kann (ähnlich Bude 1988). Theorie in diesem Sinne muss dann gerade nicht erklären, wie die soziale Welt korreliert ist: Vielmehr ist sie gehalten, deren Kontingenz wie auch die eigene Kontingenz und Bedingtheit zu reflektieren. Damit stößt sie auf die instabile Konstitution der sozialen Welt wie auch ihrer eigenen Artikulationen und erfährt sich selbst als Effekt der jeweils wiederum kontingenten Bedingungen der Artikulation von Sinn und Unsinn. Ihr jeweiliger „Charakter“ lässt sich somit als eklektischer Effekt ihrer verschiedenen Sinnanschlüsse beschreiben, die auf Anschlussfähigkeit treffen, indifferent behandelt oder schließlich mit vehementer Drastik etwa als Unsinn abgelehnt werden.

Die Artikulation von Theorie kann sich dabei nie glaubhaft nur als Innovation ex nihilo präsentieren und markieren, sondern muss sich immer gleichsam in die Struktur bestehender Episteme und Pragmatiken der Kommunikation einschreiben. Sie muss in Rechnung stellen, dass ihre Artikulationen auf die gleichen kommunikativen Strukturbedingungen rekurriert wie algorithmische Systeme. Oder anders gesagt: Für beide gilt der Imperativ, konstituierte Kommunikationsereignisse an vorhandenen Sinn anzuschließen, um neuen Sinn qua Abweichung generieren zu können. Und für beide gilt damit ebenso, dass ihre Artikulation durch weitere Anschlüsse plausibilisiert werden muss, statt apriori delegitimiert oder gar als Unsinn unverstanden zu werden bzw. effektlos in der Indifferenz abzubrechen. Insofern ist nicht die Leistungsfähigkeit der Berechnung als konstitutive Differenz zwischen algorithmischen Systemen und Theorie aufzufassen, sondern die Reflexionsfähigkeit über die Abhängigkeit der Konstitutionsbedingungen der jeweiligen Artikulation bzw. des Outputs – kurz: die Sensibilität für Selbstkontingenz. Algorithmischen Systemen bleibt diese versperrt, wohingegen psychische Systeme Reflexionsleistungen auf ihre eigenen Bedingungen vollziehen können. Entsprechend kann hier weniger von einem das Sprachspiel Lyotards (1986, S. 40) konstituierenden impliziten Vertrag ausgegangen werden, sondern vielmehr von einem Effekt der gegenseitigen Einschränkung der Konstitutionsbedingungen des sozialen Systems in seinem Außen durch disziplinierte Erwartung, Subjektivation und abweichende Erfindung als Entunterwerfung einer Praxis der Kritik.

3 Das unterscheidungstheoretische Problem einer kritischen Systemtheorie

Wenn ein konstitutiver Unterschied zwischen psychisch und algorithmisch produzierter Kommunikation nicht im Kommunikationsereignis zu identifizieren ist, dann gerät folgerichtig die systemische Umwelt als konstituierende Bedingung kommunikativer Artikulation in den Blick. Auch die Kapazität zur Artikulation von Kritik muss dann im Außen der Kommunikation lokalisiert werden. Entsprechend gilt es im folgenden Abschnitt, einen Begriff von Kritik zu entwickeln, der nicht lediglich kommunikative Latenzen der jeweilig beobachteten Beobachtung (Luhmann 1991) aufdeckt, sondern das Außen der Kommunikation als Lokus der Produktion von Kritikartikulationen konzeptualisiert.

Die für eine solche Konzeptualisierung tragende Annahme einer postfundamentalen Systemtheorie (Fuhrmann 2019) lautet, dass die IndikationFootnote 1 allein noch nicht den „unmarked state“ (Spencer-Brown 1999, S. 3 ff.), also die in ihrer Latenz immer schon mitbestimmte andere Seite der aktuellen Indikation, fixieren kann. Die Indikation benutzt demzufolge keine Form, die als „Simultanpräsenz“ (Luhmann 1993a, S. 63) eine andere Seite mitlaufen lässt (ebd.; 1993b). Die andere Seite der Indikation bleibt unbestimmt – oder anders: Die Indikation selbst lässt unbestimmt, wovon sie unterschieden ist. Ihre Differenzialität schiebt sich als Distinktion eines Nachtrages auf, aber nicht, wie Luhmann (1998, S. 54) unterstellt, als „crossing“ zu einem vorher schon kopräsenten, nur noch zu selegierendem Wert. Dazu fehlen der kommunikativen Operation schlicht die Kapazitäten. Vielmehr wird die Indikation als „différance“ (Derrida 1999a) vollzogen: Die Unbestimmtheit schiebt sich in einen konstitutiven Entzug auf, der ermöglicht, dass ein anderes System – etwa: ein psychisches System – einen sinnkonstitutiven Nachtrag vollzieht.Footnote 2 Dieser Nachtrag, der durch ein konstitutives Außen geleistet wird, in dem Derrida (1999b, S. 347) die Absenz der Intention lokalisiert, wird systemtheoretisch der Umwelt der Kommunikation zurechenbar (ähnlich Stäheli 1998, S. 59). Als konstitutives Außen kann ein psychisches System somit das Kommunikationsereignis der Setzung einer Distinktion unterziehen und damit seine Überraschungsfähigkeit mobilisieren, um zu intervenieren oder aber den Vollzug der Kommunikation erwartungsgemäß zu affirmieren. Erwartungsenttäuschende Überraschung und erwartungsgemäße Affirmation prozedieren also vorerst unkommuniziert im Entzug dessen, was die Kommunikation konstituiert (Fuhrmann 2019, S. 86 f.; Fuhrmann 2023b). Erst der Nachtrag markiert den „unmarked state“ als andere Seite der Indikation und verleiht ihm seine kontingente Bedeutung.

Es ist mithin nicht so, dass eine Beobachtung höherer Ordnung unter Produktion eigener Latenz lediglich aufdecken würde, was schon unterschieden war. Mit dem kanonisierten Begriff der Beobachtung zweiter Ordnung wird zwar unterstellt, die Kommunikation habe eine Zwei-Seiten-Form, eine fixierte Distinktion, qua Selektion bereits etabliert. Kritik muss jedoch weniger als Aufklärung einer Superstruktur bereits benutzter Formen mitsam ihrer Latenzen begriffen werden (Opitz 2013, S. 45; Fuchs 2013, S. 109 f.), denn vielmehr als Überschreitung dieser Fixierung, indem sie selbst kontingenziert wird (Gebhard et al. 2006, S. 273). Die Fixierung von Sinn dient dann einer Unterscheidung zwecks Kontingentsetzung einer Indikation als auch-anders-möglich. Kritik legt also nicht einen blinden Fleck der Latenz von Beobachtung frei, sie zeichnet sich vielmehr dadurch aus, Fixierungen zu nutzen, um die Kontingenz tradierter Fixierungen anzuzeigen.

Erst wenn die Praxis der Beobachtung zweiter Ordnung in diesem Sinne als eine Setzung begriffen wird, kann es gelingen, einen Kritikbegriff zu entwickeln, der seine eigene Setzungspraxis durch Theorie reflektiert. Denn genauso wie algorithmisch produzierte Kommunikation gewinnt auch Kritik, wie bereits ausgeführt, ihre kommunikative Anschlussfähigkeit als Sinn durch die Reproduktion einer spezifischen Grammatikalität, begriffen als Effekt der zur Struktur geronnenen Historizität all jener Kommunikationen, die anschlussfähig bewährt sind. In dieser Hinsicht ist kein Unterschied zwischen algorithmisch produzierten und Theoriekommunikationen auszumachen: Sie unterscheiden sich nicht auf ontischer Ebene, denn beide bedienen sich grammatikalisch verfasster Sprache. Vielmehr unterscheiden sie sich dadurch, dass im Fall psychischer Systeme die Kapazitäten der Reflexivität gegenüber bereits vergangener Kommunikation gegeben sind, während algorithmische Systeme in dieser Hinsicht keine Kapazitäten aufweisen. Qualitativ divergieren die jeweiligen Kommunikationsereignisse in ihrem jeweils konstitutiven Außen, das sich dem Kommunikationsereignis selbst entzieht.

Dieser qualitative Unterschied zwischen psychischen Systemen einerseits, die sinngenetisch arbeiten können, und algorithmischen Systemen andererseits, die dies nicht vermögen, verweist entsprechend auf einen Unterschied in der Konstitutionsbedingung des jeweiligen Kommunikationsereignisses – und nicht auf einen Unterschied zwischen den jeweiligen Kommunikationsereignissen selbst. Die Kontingenz einer Indikation entzieht sich darum zunächst der Kommunikation und kann erst als nachgetragene Kritikkommunikation in sie „zurückfallen“. Genau dieser „Entzug“ der Bedingung von Kritik in die Operationsweise des Psychischen ermöglicht es, das Sequenzielle und Serielle der Kommunikation zu verlassen und Simultaneitäten multipler Distinktionsgebrauche zu vollziehen. Dieser Entzug impliziert, dass Kommunikation, sobald sie artikuliert wird, mit Inventionen versorgt und damit in Unruhe versetzt wird. Durch die Praxis des Schreibens kann das Explizieren der Invention wiederum für das psychische System kommunikativ externalisiert und in eine Form gebracht werden, mittels derer Kritik verstetigt und als Externales zum Gegenstand einer Selbstbeobachtung avancieren kann.

Zum Verständnis hilft ein Blick auf die Folgen des Buchdrucks. Wie Dirk Baecker (2007, S. 103) anmerkt, entstand mit der Erfindung des Buchdrucks zusätzlich die „Möglichkeit des kritischen Vergleichs“ – sowohl, so ließe sich ergänzen, zwischen erstens dem jeweils Gedruckten selbst, zweitens dem Geschriebenen und dem Gedruckten als auch drittens zwischen der eigenen externalisierten Invention und dem Gedruckten. Die Steigerung der Kritikabilität kann mithin selbst als Effekt der medialen Konstitution der modernen Gesellschaft aufgefasst werden. Doch diese Steigerung wird, wie Baecker (ebd.) argumentiert, wiederum durch die Ausdifferenzierung in autonom operierende Funktionssysteme der Gesellschaft aufgefangen und mitunter als Irritation in der jeweiligen systemspezifischen Operation bearbeitet, was die Wirksamkeit des medialen Effekts mindert und die Gesellschaft latent unempfindlich gegenüber Kritik werden lässt (Fuchs 2013). An dieser Stelle entscheidend ist indes, dass der Entzug aus der Kommunikation, die darauf folgende Invention und anschließende Artikulation von Kritik per se keiner beschreibenden Absicht folgt, die Gesellschaft kommunikativ „fortschreibt“, sondern auf die kontingenten Bedingungen von Artikulation überhaupt verweist und damit das psychische System als solches perturbiert. Die Bedingung der Artikulation von Kritik ist damit als ein Entzug aus der Gesellschaft, verstanden hier als Ort hegemonialer Sinnordnung, konzipiert.

Kritik kann somit die Fixierung dieser Ordnung aufbrechen, indem sie alternative Unterscheidungen artikuliert, die vorherigen Fixierungen kontingent setzt, dazu aber wiederum eine eigene Fixierung prozediert, die dann in einem weiteren Schritt der Kritik selbst kontingenziert werden kann. Kritik kann also als ein Moment der Produktion von Entropie gegenüber einer hegemonialen Bedeutungsgebung aufgefasst werden. In einem rigidisierten Korrelationsgefüge, wie es in Big Data existiert, evoziert sie ein Moment der Schwächung der starken Korrelation hegemonialer Bedeutungsgebung. Kritik ist damit als Modus der Politisierung gegenüber „polizierten“ Kommunikationsereignissen zu begreifen, als eine Entunterwerfung des Zeichen- und Distinktionsgebrauchs – der sich dabei jedoch, wie gezeigt, immer auch in die Anschlussfähigkeit der Kommunikation einschreiben, sich also auf ihre tradierte Bedeutungsgebungen beziehen und damit deren „Polizei“ partiell affirmieren muss. Polizei meint in diesem Zusammenhang den Modus der Herstellung einer kategorialen Ordnung, mittels dessen Vereindeutigungen in der Zuordnung von Entitäten zu sich gegenseitig ausschließenden Kategorien erfolgt. Abweichungen werden dabei invisibilisiert und in der kategorialen Ordnung durch Vereindeutigung subsumiert. „Politik“ hingegen erschüttert die durch Polizei restabilisierten und rigidisierten Unterscheidungen und Grenzen, indem sie die kategoriale Ordnung unterläuft, subvertiert und ins Leere laufen lässt und damit der Ausnahme und der Abweichung einen Namen und eine Stimme gibt (Rancière 2019, S. 171 ff.).

Die zentralen Beobachtungen bis hier hin: Zwar diszipliniert Theorie, wie gezeigt, notwendig, was psychische Systeme als ihr konstitutives Außen in ihrem Rahmen artikulieren können, insofern Anschluss an artikulierten Sinn gewährleistet sein muss. Durch das Moment der Invention ermöglicht sie aber zugleich den Distinktionsgebrauch auf eine Öffnung hin zu dirigieren. Denn Theorie lässt sich durch Einspeisung von Reflexivität dynamisieren und kann dann als riskante Kommunikation artikuliert werden. Im Gegensatz dazu treten algorithmische Systeme in ihrem konstitutiven Entzug für Kommunikation nicht als Dynamisierungs-, sondern als Kontinuierungsmoment der Historizität von durch Anschlussfähigkeit bewährten Kommunikationen auf. Das heißt: Sie operieren strukturkonservativ (Fuhrmann 2021a), indem sie aufgrund ihrer operationalen Kapazitätsgrenze jegliche Reflexionsleistung, die in der Kommunikation artikuliert werden könnte, versperren (Fuchs 1991, S. 20). Diskriminierungseffekte durch algorithmische Systeme sind daher nicht lediglich als Effekt einer Programmierung allopoietischer Maschinen (Zeleny 1976, S. 13) aufzufassen, die als Verlängerung einer humanoiden Gouvernementalität aufgefasst werden könnten (Prietl 2019). Sie müssen stattdessen selbst als Effekt der KorrelierungFootnote 3 von Daten durch algorithmische Systeme im Moment ihrer kommunikativen Anschlussgenese begriffen werden. Dabei produzierte Korrelationen affirmieren das, was wahrscheinlich anschließen wird und dekontingenzieren durch Vereindeutigung das produzierte Kommunikationsereignis gegenüber dem Unwahrscheinlichen. Das führt zu dem bereits skizzierten Verständnis von Kritik als Reflexionsleistung eines psychischen Systems, das der Kommunikation selbst äußerlich ist.

Insofern sollten weder Theorie eindeutig als „Emanzipationsversprechen“, noch Algorithmen eindeutig als „Herrschaftstechnologie“ ausgeflaggt werden (Kluge und Adelson 2020): Beide sind in polizeiliche Praktiken eingesponnen und müssen ihre produzierten Kommunikationsereignisse in die Struktur möglicher kommunikativer Anschlüsse einschreiben können. Sie unterscheiden sich jedoch eminent durch die in sie eingeschrieben Modalisierungen und Demodalisierungen der Artikulation von Kritik als Modus der Entunterwerfung, die erst im sinngenetischen Modus der Kritik möglich werden. Theorie, so lässt sich dann schlussfolgern, kann nicht durch algorithmische Systeme und die Produktion von Big Data substituiert werden: Denn Theorie stellt sich als Inventionspraxis von Interventionen her. Big Data verlängert stattdessen die Affirmation einer vereindeutigten Historizität von Datenkorrelaten in die Zukunft.

Dementsprechend sollen im Folgenden Kritik im Sinne Foucaults (1992) als „Überschreitung“ aufgefasst und die Latenzannahme Luhmanns (Gebhard et al. 2006) mithilfe der Unterscheidung von Politik und Polizei neu konzeptualisiert werden. Der vorliegende Aufsatz schreibt sich also nicht in eine „kritische Systemtheorie“ als funktionalistische Gesellschaftskritik ein. Auch versucht er sich nicht als „kritische Theorie sozialer Systeme“ (Alvear und Haker 2019, S. 500 f.) zu inszenieren. Stattdessen intendiert er, Kritik als autologische Praxis in den Begriff der Theorie zu integrieren. Das Argument operiert dementsprechend auf einem sozialtheoretischen Level, welches die Operationsweise von Kritik fokussiert und dabei an die Überschreitungsmetapher anschließt. So kann es, so die Hoffnung, gelingen, in Abgrenzung zur algorithmischen Produktion von Kommunikation zu artikulieren, was es heißt, eine „kritische Aktivität“ (Alvear und Haker 2019, S. 505) operational zu realisieren. Dadurch wird das kritische Moment von Theorie explizit nicht in einer Beobachtung dritter Ordnung (Baecker 2016, S. 234) situiert, sondern als operationales Verhältnis zwischen Kommunikationsereignis und psychischem System explizierbar.

4 Zur Restabilisation der Grammatikalität von Kommunikation

Im Gegensatz zu Kritik heben algorithmische Systeme Kontingenz im Sinne einer „Cancellation“ nach Spencer-Brown (1999, S. 10) auf, indem sie über elektronische Verschaltungen Anschlüsse ausschließen und damit die ungleichen Verteilungen dessen, was angeschlossen werden kann, replizieren. Sie können dabei nicht im Medium Sinn, welches Simultaneität zulassen müsste (Luhmann 1998, S. 50 ff.), operieren, sondern produzieren eindeutige, serielle Zustände (Steiglitz 2019; Fuhrmann 2021a). Damit verweisen sie auf ein anderes Prinzip der Konstitution kommunikativer Ereignisse, das auf eine negentropische VerteilungFootnote 4 kommunikativer Zeichen setzt (Fissore et al. 1990, S. 21 f.). Diese negentropische Verteilung ist Effekt der polizeilichen Restringierung anschlussfähiger Zeichen, die im Folgenden als „Grammatikalität der Kommunikation“ bezeichnet werden soll. Algorithmisch produzierte kommunikative Anschlüsse gelingen demnach nur, weil sie sich in der Verkettung der einzelnen Kommunikationsereignisse als Iterationen vollziehen – also als Wiederholungen von Bezeichnungen, die nicht markieren, wovon sie unterschieden sind, weil auch sie diskret vollzogen werden. Diese Operationsweise wird im folgenden anhand ihrer drei Kernmomente nachvollzogen: der Grammatikalität der Kommunikation (4.1), der Polizierung kommunikativen „Unvernehmens“ (4.2) sowie der Tilgung kommunikativer „différance“ (4.3).

4.1 Grammatikalität der Kommunikation

Mittels ihrer Grammatikalität machen Indikationen Distinktionsgenesen und damit Sinngenesen kommunizierbar, produzieren jeweils verschiedene Anschlusswahrscheinlichkeiten und können gleichsam lediglich auf das schlichte Zeichen limitiert bleiben. Kommunikationsereignisse evozieren dadurch eine rekursiv-modale Artikulation, die darin besteht, dass einige Indikationen ein „token“ produzieren, welches als Supplement (im Sinne von Derrida 1974, S. 250) für eine Distinktion steht (Fuhrmann 2020, S. 31 f.). Das ermöglicht eine Kommunikationssequenz, die zum einen ihre Diskretheit aufrechterhalten kann und zum anderen dennoch ein Auslesen der sinngenetischen Simultaneität dessen, was unterschieden wird, erlaubt. Insofern wird im Satz „a unterscheidet sich von b“ kommunikativ keine Unterscheidung vollzogen, weil a schon nicht mehr verlautbart und gelesen wird, wenn die Sequenz zur Position von b vorangeschritten ist. Das Verb „unterscheiden“ jedoch bildet jenes token, mittels dessen Distinktion kommunikabel wird, da ein psychisches System nun versteht, dass die Diskretheit der jeweils aufeinanderfolgenden Laute und Zeichen des Satzes auf eine distinktionslogische Einheit zusammenzuziehen ist. Das psychische System mobilisiert mithin sein Kurzzeitgedächtnis. Diese Leistung entzieht sich jedoch der Kommunikationssequenz selbst und konstituiert damit ihren Mangel, den sie nicht kompensieren kann. Sie bildet jenes diskursive Außen, welches selbst nicht signifizierbar ist (Stäheli 1998, S. 54).

Die token erlauben folglich, dass die Kommunikation rekursiv operiert werden kann: Psychische Systeme lesen die Kommunikation sinngenetisch aus und fixieren damit die Unbestimmtheit der kommunikativen Indikation. Statt qua Simultanpräsenz des mitlaufend Unterschiedenen konstituiert sich Kommunikation dieser Perspektive zufolge im Moment dieses Entzuges resp. der Kontingenzierung „von außen“. Insofern vollzieht sich im Kommunikationsereignis eine „Cancellation“, die algorithmisches Auslesen in dem Sinne ermöglicht, dass das jeweilige Kommunikationsereignis als aktualer Impuls im algorithmischen System zur Permutation von Schaltzuständen führen kann. Unter „Cancellation“ ist hier eine Operation der Aufhebung von Distinktion zu verstehen (Spencer-Brown 1999, S. 10), sodass die vollzogene Zeichendistinktion auf ein schlichtes Zeichen reduziert wird. Dieses Zeichen wird kommunikativ gebraucht, ohne dass seine Bedeutung aufgeklärt werden müsste. Vielmehr wird das Verstehen dem Außen überlassen, also psychischen Systemen mit ihrer Fähigkeit ein Kurzzeitgedächtnis zu mobilisieren. Das token, das für ein algorithmisches System als schlichtes Zeichen in der Kommunikation vorkommt, wird demnach nicht mehr kommunikativ unterschieden, sodass „Cancellation“ nicht die Möglichkeit der Indikation aufhebt, sondern lediglich die Bezeichnung einer Distinktion. Das jeweilige Kommunikationsereignis muss nicht sinngenetisch in der Kommunikation fixiert werden (auch Fuhrmann 2023b, S. 180). Im Modus der kommunizierten Sinngenese findet durch Setzung einer erneuten Distinktion eine Kompensation (Spencer-Brown 1999, S. 10) statt.

Somit produziert sprachliche Kommunikation nicht-skalierbare Netzwerke (Solé et al. 2010). Die Abfolge von Zeichen erzeugt differente Häufigkeiten der anschließenden Zeichen. Hier nun verstetigt sich eine Grammatikalität der Kommunikationssequenz, die sich nicht im Sinne eines Regelwerks zum Ausdruck bringt (wie bspw. Searle 1980 unterstellt), sondern vielmehr darin, dass sich eine Sinntopologie ergibt. Ihr entzieht sich jedoch im akuten Vollzug das sinnkonstitutive Außen (Quadflieg 2007, S. 44 ff.). Mit Sinntopologie ist hierbei die Abfolge von Verkettungen gemeint, die nicht im gegenwärtigen Ereignen aufgehen, sondern als kommunikativ unartikuliert bleibende Verweise auf vorherige und zukünftige Sinnkonstitutionen abwesend bleiben, damit jeweilige Modalitäten von Distinktionen als impliziert herstellen und dadurch Erfahrung und Erwartung in ein Außen des Kommunikationsereignisses verschieben. Die Verschiebung in ein Außen, durch das eine Zeitlichkeit des Sinnmediums möglich wird, ist konstitutiv für weitere kommunikative Artikulationen (ähnlich Nancy 2012, S. 301 f.). Mit der Disparatheit und Inkongruenz der jeweiligen konstitutiven Außen durch jeweilig eigene operationale Schließung wird das Ereignis der Kommunikation folglich nicht auf eindeutige Weise fixiert. Vielmehr impliziert es eine Heterogenität an Möglichkeiten der Sinngebung. Trotz der Heterogenität restabilisiert sich, gleich einem „Unvernehmen“ (Rancière 2002, S. 9 f.), eine relativ replizierbare Struktur in die Historie der produzierten Kommunikationssequenzen. In der Aktualität der Kommunikation wird diese Heterogenität jedoch nicht artikuliert, sondern ist lediglich als dessen strukturale Voraussetzung impliziert. Dabei kann die jeweils gleiche Bezeichnung verwendet werden, ohne dass im Verständnis darüber, was die Bezeichnung meint, eine Kongruenz bestehen müsste.

4.2 Unvernehmen und Polizei

Im „Unvernehmen“ waltet indes nicht – darauf weist Rancière (2002, S. 11) hin – der „Widerstreit“ differenter Diskursordnungen, wie ihn Lyotard (1989) benennt. Vielmehr ist das Unvernehmen die Bedingung des Sprechens selbst, indem es eine so unmarkiert wie unartikuliert bleibende Teilmenge, im Extremfall eine absolute Inkongruenz des Verständnisses darüber, was eine Bezeichnung bedeutet, produziert. Das Unvernehmen schafft Bedingungen dafür, dass die Bezeichnung situativ für Anschlüsse affirmierbar, intervenierbar oder indifferent wird. Es ist in dieser Hinsicht vergleichbar mit der doppelten Kontingenz, die ebenso darauf verweist, dass beteiligte psychische Systeme jeweils differente Operationen vollziehen (können). Im Gegensatz zu diesem Konzept verweist das Unvernehmen jedoch nicht auf die kognitive Angleichung von Erwartungen und Erwartungserwartungen (Luhmann 1987, S. 414 ff.), sondern auf eine konstitutive Unbestimmtheit der Kommunikation. Diese Unbestimmtheit darüber, wie sich im Außen der Kommunikation ein Verständnis kongruent oder inkongruent entwickelt, kann nicht durch Erwartung kompensiert werden.

Im Gegenteil führt sie zu Verschiebungen der Bedeutungs- und Sinngebung in den beteiligten und beobachtenden psychischen Systemen, deren Kongruenz in der Kommunikation gerade nicht abgeglichen wird. Stattdessen regulieren kommunikative Interventionen im Modus von Polizei – in Richtung Vereindeutigung – und/oder Politik – in Richtung Kontingenzierung – diese Verschiebungen und emulieren sie damit im psychischen System – etwa als „Polizei im Kopf“, von der Hocquenghem (2019, S. 43) in Bezug auf das homosexuelle Begehren spricht. Polizei ist hier nicht ausschließlich auf die Schlagstock bewehrte niedere Polizei und auch nicht die „anrufende“ Autorität des Polizisten (Althusser 1977, S. 142) beschränkt, sondern bezeichnet in besonderer Weise die in die Grammatikalität der Kommunikation inskribierten Selektivitäten von Anschlüssen, und zwar im Modus der Herstellung von eindeutigen Anschlussereignissen. Mit Rancière (2002, S. 33 f.) gesprochen geht es hier um jene Ereignisse, denen ein „logos“ zugeschrieben wird, die daher als Stimme vernommen werden und damit ordnungskonstituierend wirken. Jene Ereignisse, denen kein logos zugesprochen wird, evozieren dagegen als „Lärm“ lediglich die Indifferenz der jeweiligen Ordnung. Das markiert jene Ereignisse, die für eine Ordnung nicht schematisierbar sind, und damit in eine von ihr nicht bearbeitbare analoge und dadurch ausgeschlossene Welt fallen.

Das derart vollzogene „soziale Vergessen des Analogen im operativen Vollzug“ des digitalen Datenverkehrs (Dickel 2022 in diesem Heft) stellt einen Hinweis auf das Wirken einer solchen Polizei dar, die eine Ordnung restabilisiert, indem sie den jeweiligen Ereignissen einen Platz in ihr zuweist (Rancière 2002, S. 41). Ob diese mit der Kapazität einer „arche“ versehen werden, also damit, begabt zu sein und gehört zu werden (Rancière 2019, S. 166), ob sie stattdessen Lärm bleiben, auf Indifferenz stoßen oder zurück in die Ordnung gebracht werden müssen, wenn sie durch den Lärm zu stören beginnen, wird durch das Prinzip der Polizei reguliert. Das vereindeutigende Prinzip der Polizei stellt demzufolge ein konstitutives Moment von grammatikalischer Gewalt her, die mit Lindemann (2018, S. 23 f.) als zentrales Element der kommunikativen Vermittlung von Ordnung aufzufassen und von korporal einwirkender Gewalt zu unterscheiden ist. Eine solche Form der Gewalt leistet zugunsten der Homogenisierung einer Ordnung den Ausschluss von Abweichungen, die marginalisiert, bisweilen auch getilgt werden. Die polizeilich regulierte Kommunikation produziert dabei eine Sinntopologie, die als Artefakt der im psychischen Außen der Kommunikation vollzogenen Sinngenese aufgefasst werden kann – als Effekt der Affirmation im Sinne einer Akzeption, als Effekt der Polizei im Kopf oder einer Indifferenz, die jeweils dazu führen, dass keine Intervention erfolgt, und so das Zeichen als schlichtes Zeichen kommunikativ vollzogen wird. Polizei im hier gemeinten Sinne schreibt somit in die Kommunikation eine sinngenetische Bestimmtheit ein, ohne dabei gleichsam das Moment der jeweiligen Diskretheit der einzelnen Sequenzpositionen aufzuheben, ohne über die Bedeutungsgebungsabsichten ihres Außens zu informieren und ohne also das jeder Kommunikation inhärente „Unvernehmen“ kommunikativ zu thematisieren. Daraus entstehen nun spezifische Gebrauche der Regulation von kommunizierten Distinktionen und der modalen Einschränkung von Anschlüssen – also dem, was in Form der Öffnung für Kontingenz der Politisierung zugänglich gemacht werden kann, ohne poliziert zu werden. Das einzelne kommunikative Ereignis, als Bezeichnung, kann nun als „Cancellation“ von Distinktion vollzogen werden, indem die Markierung einer Unterscheidung, durch die die Bezeichnung erst sinnhaft fixiert wird, nicht vollzogen wird. Die Markierung entzieht sich trotz Unvernehmen in das konstitutive Außen und bringt eine relativ verlässliche Ordnung dessen, was situativ an ein spezifisches Ereignis angeschlossen werden kann ohne als Lärm disqualifiziert zu werden, hervor.

Die Wirkung der Polizei kann ergänzend auch als Herstellung und Erhalt einer sinnlichen Ordnung aufgefasst werden, die Rancière zufolge insbesondere die Körper betrifft und diesen in der Ordnung des Sichtbaren und Sagbaren einen jeweiligen Platz zuordnet. Politik fungiert demgegenüber als Negation der Polizei in der Hinsicht, dass sie die eindeutige polizeiliche Platzzuordnung auflöst (Ranciere 2002, S. 40 f.). Wird in systemtheoretischer Manier das Medium Sinn an die Unterscheidung von Aktualität und Potenzialität (Luhmann 1998, S. 50) geknüpft, dann kann die Praxis der Polizei als eine Zuordnung von Attributen auf das, was im Kontext von Potenzialitäten als rigide Unterscheidung ausgewählt werden kann, begriffen werden. In der heterosexuellen Matrix wäre es die Polizei, die die Rigidität der Unterscheidung Mann/Frau bei Abweichung wiederherstellt, damit gleichsam das „‚heimliche Gebot‘, heimlich zu bleiben“ (Hark 2002, S. 51) für abweichende und andere Unterscheidungen verwendende Formen von Gender, Sex und Desirer produziert und als eine Artikulation, die keine Legitimität beanspruchen darf, markiert. Politik hingegen unterläuft diese Rigidität, löst die Eindeutigkeit des binären Schemas auf, und produziert Kontingenz durch weitere mögliche Bezeichnungen, Unterscheidungen und „Glitches“ – also Momente, die sich keiner Kategorie subsumieren lassen (Russell 2021, S. 15 f.). Politik wäre dann gleichbedeutend damit, alternative Formen dessen, was als Potenzialität formulierbar ist, als legitim erklingen zu lassen.

4.3 Tilgung von différance in der Zwei-Seiten-Form

In der Begrifflichkeit Derridas kann die Operation der Polizei noch einmal schärfer gefasst werden. So wird im Modus der Polizei qua Unterscheidungsartikulation gegebene Kontingenz nicht nur verdeckt, um die Unbestimmtheit der différance durch Fixierung im Sinne einer „differantiellen Kontamination“ (Derrida 1991, S. 83) zu tilgen, sondern diese spezifische Tilgung durch eine verstetigte Wiederholung legitimiert. Denn durch Wiederholung wird der im psychischen System vollzogene Distinktionsgebrauch dauerhaft diszipliniert, sich auf spezifische Formen zu limitieren. Wenn es Luhmann (1997, S. 100) so erscheint, als könne man immer nur zugleich Bezeichnen und Unterscheiden, dann resultiert das daraus, dass die Bestimmung der unterschiedenen Seite durch eine differantielle Kontamination hergestellt wird. Mit ihr wird somit eine doppelte Gewalt mobilisiert: erstens die Tilgung von Unbestimmtheit durch Fixierung der différance als Distinktion und zweitens deren Verstetigung durch Wiederholung. Die rigide Zwei-Seiten-Form ist dann nicht Effekt einer logischen Notwendigkeit eines Formenkalküls, sondern einer Gewalt, die sich in der tilgenden Setzung von ungründbarer Differenz äußert (Menke 2004, S. 90). Diese Gewalt kann als solche durchaus psychisch erlebt werden, sobald ein Hiatus zwischen kommunikativer Affirmation und psychischer Akzeption eintritt (Fuhrmann 2022): Statt Latenz einer schon präjudizierten anderen, akut lediglich inaktuell bleibenden Seite dominiert zunächst eine Unbestimmtheit darüber, wovon die Indikation unterschieden worden sein wird. Erst durch Polizierung, die dies nachträglich fixiert, wird die Unbestimmtheit als Unterschiedenes proklamiert. Damit, so könnte anschließend an Roberto Esposito (2018) fortgesetzt werden, wird die „Zwei“, durch die Diskurse zumeist konstituiert sind und dabei eine zu präferierende und eine auszuschließende Seite erzeugen, zur Zwei der Zwei-Seiten-Form (Luhmann 1993b, 198 ff.), zur Zwei der binären Schematismen (Luhmann 1981, S. 228), zur Zwei der heterosexuellen Matrix (Butler 1991, S. 219 f.), zur Zwei der Totalität einer klassischen Logik (Bühl 1969, S. 171 ff.), zur Zwei asymmetrischer Gegenbegriffe (Koselleck 2013, S. 211 f.), wie auch zur Zweiwertigkeit des algorithmischen Operierens, die alles, was nicht binarisiert ist und sich als Analoges in seiner Intelligibilität dem digitalen System entzieht (Dickel 2022), ignoriert. Die Herstellung der Zwei-Seiten-Form erweist sich als ein Prozess, dessen Ausschluss als Polizei funktioniert, weil er zur Normalisierung sein konstitutives Außen diszipliniert. Die polizierten Distinktionen normalisieren sich dann, indem sie als implizit vorausgesetzt werden, sodass die Indikation schließlich als Supplement für die rigidisierte Distinktion steht, letztere also repräsentiert.

Die in der jeweils vollzogenen Indikation implizit bleibenden Distinktionsgebrauche sind in die Topologie der Kommunikation als Wahrscheinlichkeiten dessen, was in der nächsten Sequenzposition einer Kommunikationssequenz aufgerufen werden wird, eingeschrieben – Stichwort „Grammatikalität“. Daraus folgt eine Verteilung von Zeichen, die es algorithmischen Systemen ermöglicht, aus der Wiederholung der Zeichen Korrelationen in ihr Datenmaterial einzuschreiben. Kommunikationssequenzen können darum durch algorithmische Systeme repliziert, in eigenen Topologien künstlicher neuronaler Netze (Burrell 2016, S. 6 f.) und dem Abspeichern von Dialogmustern (Sieber 2019, S. 47) repräsentiert werden. Die damit einhergehende algorithmische Fixierung von Kontingenz – Elena Esposito (2017a, 257 ff.; 2014, S. 247) spricht von „virtual contingency“ und „verwalteter Kontingenz“ fällt in den Modus der Polizei und schließt Politik aus. Denn indem die algorithmische Replikation von Kommunikation das historische Korrelat des Datenmaterials ausliest, reproduziert sie lediglich das, was für die Zukunft aus dem Korrelat heraus als anschlussfähig prognostizierbar ist, weil es sich in der starken Korrelation als historisches Artefakt vergangener Anschlussereignisse bewährt hat (Favaretto et al. 2019, S. 12 f.). Weil diese Struktur aus der Historizität polizierter Kommunikationsereignisse resultiert, rufen algorithmische Systeme die genannte „arche“ auf: Eine Ordnung, nach der jedes Ereignis seinen Platz zugewiesen bekommt. Sie, die algorithmischen Systeme, verdoppeln mithin die arche in der korrelativen Repräsentation in Daten, und können daher in jedem Kommunikationsereignis die Ordnung der Zuweisung nur bestätigen, statt sie selbst kontingent zu setzen. Die Festlegung durch eine differantielle Kontamination entzieht sich durch Disziplinierung des konstitutiven Außens der Kommunikation selbst und schreibt sich als Spur eines So-und-nicht-anders in die Grammatikalität der Kommunikation ein.

Dieser in Big Data als starke Korrelation modellierte Effekt stellt qua Wiederholung eine algorithmische Historizität her, bestätigt sie und dispriveligiert das generative Moment von (der) Abweichung (Bogumila Hoffmann 2019) als schwache Korrelationen. In diesem Steigerungsmoment vollzieht sich die doppelte Gewalt der differantiellen Kontamination durch eine die Korrelation stärkende Wiederholung. Entsprechend finden sich im Datenkorrelat jene binären Matrizen der Diskriminierung des Sexismus bei YouTube (Bishop 2018) und in Bewerbungsverfahren für Arbeitsplätze (Verhoeven 2020, S. 237), des Rassismus im Predictive Policing (Egbert 2018, S. 258 f.) oder der algorithmischen Unterstützung von Urteilsfindungen im Rechtssystem (Galhotra et al. 2017, S. 498), des Klassismus durch Scoring in der Kreditvergabe (Hagendorff 2019, S. 60) usw. wieder, ohne jeweils als Unterscheidung expliziert zu sein. Die algorithmischen Systeme vereindeutigen die Zuordnung in einer Totalität des Binären unter Ausschluss ihrer Kontingenz (Maschewski und Nosthoff 2018, S. 10 f.). Diese Fixierungen von Relationen im Modus einer Vereindeutigung durch Korrelierung verdichten das statistische Kondensat algorithmischer Operationen zu einer eigenen Polizei, die sich in Anschluss an Rouvroy und Berns (2013) nicht darin erschöpft, Subjekte durch Anrufung zu forcieren, sondern darin, sie in Relationen zu fixieren. Eine solche Fixierung, die aus der statistischen Duplizierung der Welt resultiert, gewinnt in der Zuordnung und Replizierung hegemonialer Kategorien eine eigene Benennungsmacht (Mau 2018, S. 203 ff.). Über seine statistische Verdopplung schreibt diese Polizei ein Subjekt in eine kategoriale Ordnung ein, formiert es als Korrelation von Datenpunkten vergangener Verhaltensweisen und selegiert dadurch, wie es angesprochen werden kann.

Die polizierte Gewalt konstituiert indes keine Totalität, denn ihre Kontingenzierung kann gelingen, wenn ihre Wiederholungen hegemonialer Binarität dauerhaft unterbrochen werden. Dann nämlich wird der binäre Schematismus der Polizei verlassen und die Kontingenz einer Politisierung zugänglich. In diesem Modus wird Distinktion nun nicht mehr zur Sanktionierung produziert, sondern dient vielmehr dazu, die inhärente Potenzialität einer Indikation, die zugleich ihre Kontingenz markiert, kenntlich zu machen (Rancière 2002, S. 40 ff.; 2019, S. 87 f.). Die doppelte Gewalt der differantiellen Kontamination wird im Modus der Politik in die einfache Gewalt der Fixierung von Unbestimmtheit der différance transferiert. Das heißt, dass Politik ebenfalls, wie in der polizeilichen Grammatikalität, Sinn zunächst fixieren muss. Allerdings dient diese Fixierung nicht dazu, die Distinktion durch Wiederholung zu legitimieren und sogleich in einem Modus der Iteration kreuzen zu lassen, sondern dazu, die Kontingenz der Indikation anzuzeigen. Mit Derrida (1976, S. 178) kann dann von „Gewalt gegen Gewalt“ gesprochen und dieses Sprechen spezifiziert werden: Die einfache Gewalt des Politisierens gegen die doppelte Gewalt des Polizierens.

5 Zur Radikalisierung der Kritik als Eigenkontingenzierungspraktik

Wenn es die Aufgabe von Theorie und insbesondere von soziologischer Theorie sein soll, Vereindeutigungen zu irritieren, dann bedarf dies der Politisierung der Polizei durch eine kritische Theorie. Kritik kann im Anschluss an das Gesagte nun konzipiert werden als eine autologische Praxis einer scheiternden Polizei, die ihr Gesetz nicht wird durchsetzen können, sich nicht dauerhaft zur Wiederholung bringen und durch eine politische Kontingenzierungspraxis unterbunden werden wird. Kritik ist dann nicht lediglich eine Praxis des Schreibens: Sie ist eine über das Schreiben vermittelte Subjektivierungspraxis, die die Entunterwerfung gegenüber der Polizei anstrebt – und diese doch voraussetzt, um artikulierbar zu bleiben. Denn Kritik ist selbst, wie beschrieben, ebenso notwendig eine setzende, und damit differantiell kontaminierende Praxis, die Latenzen nicht lediglich aufdeckt, sondern selbst Fixierungen von Unbestimmtheiten produziert, um indes wiederum die Kontingenz, nicht die Notwendigkeit, auch ihrer eigenen Distinktionen anzuzeigen. Kritik mobilisiert damit selbst eine Polizei, die im Sinne Rancières (2002, S. 42), nicht eine sanktionierende und mit dem Schlagstock bewehrte, sondern eine liebenswürdige Polizei ist. Sie greift also selbst auf historische Effekte der differantiellen Kontamination zurück – mithin auf Begriffe, die kondensierte Formen von Distinktionen darstellen – und evoziert im wiederholten Zugriff darauf eine Legitimation, die nicht begründet ist, sondern in ihrem Aufruf bestätigt wird, um Kontingenz durch begriffliche Kombinatorik zu dirigieren. Kritik, so könnte gesagt werden, mobilisiert die Grammatikalität ihrer eigenen Artikulation, um sie partiell zu politisieren.

Mit der Radikalisierung des Begriffs der Kritik in Richtung selbstbezüglicher Kritik sollen dessen Konstitutionsbedingungen als Effekt des Sozialen beschreibbar werden. Denn in der Fixierungspraxis liegt ein Moment der Präformierung von Kritik, insofern Kritik ja nur an das, was als anschlussfähig gesetzt ist, anschließen kann. Auf diese bereits oben genannte Präformierung von Kritik sowie die damit möglichen Einschreibung von Theorie in herrschaftsartige Formen (Demirovic 2003) hatte schon Adorno hingewiesen (Menke 2004, S. 83 f.). Kritik konstituiert sich demzufolge als eine Selbstbezogenheit eines Denkens, das sich durch eine künstlich herbeigeführte Krise im eigenen Selbstverständnis selbstreferenziell erschüttert und daraus seine subversive Kraft gewinnt (Saar 2009, S. 252 f.; 261). Sie greift damit auf das Externalisierungsmoment des Schreibens – und mitunter auch auf die rhetorischen Mittel der Zuspitzung und Übertreibung – zurück, um Kontraste der Differenz, denen es sich zu entunterwerfen gilt, anzeigen zu können. Sie geht einher mit einer „Invention als begrifflicher Aktion“ (Fuhrmann 2021b, 288 f.), die indes hier nicht eine Erschütterung des Selbst, sondern eine künstliche Krise von Begrifflichkeiten provoziert, die durch Kontingenzierung ihres fundamentalen Status beraubt werden. Das der Kommunikation entzogene Moment der Selbsterschütterung wird somit zum konstitutiven Außen einer Theorie, die ihre eigene Polizei zu irritieren und zu destituieren sucht – dafür aber instituierend, also erfinderisch und setzend verfahren muss, um artikulierbar zu bleiben (Nowotny 2008, S. 64).

Kritik kann folglich durch erfinderische Setzungen tradierte Begriffe überschreiten und ist damit nicht mehr auf eine „zentrale und unverrückbare Sicherheit hin orientiert“ (Foucault 1974, S. 60). Im Gegenteil: Sie ruft einen „noise“ auf, indem sie die „unmittelbare Verneinung dessen, was sie sagt“ (ebd.) – und was überhaupt gesagt wird – als Kommunikationsmodus instituiert. Damit treibt sie die Differenz zwischen Polizei und Politik nach Rancière schon deshalb zum Kollaps, weil nun nicht mehr diskret zwischen „noise“ und „Stimme“ unterschieden werden kann. Die polizierte Distinktion löst sich qua Kontigenzierung ins Leere auf und kann nun durch eine innovatorische Neusetzung wiederbeginnend in den DiskursFootnote 5 „zurückfallen“ (ebd., S. 60 f.), um die Neubestimmung einer différance in Abweichung zur polizierten Grammatikalität anzustoßen. Das Moment der Überschreitung der vormals gesetzten Distinktion kann somit als eine Verschiebung der Distinktion durch kommunikative Intervention gegenüber der Polizei aufgefasst werden. Die von der Polizei bewirkte „Cancellation“ wird qua Expansion alternativer Distinktionsgebrauche durch die Kritik kompensiert. Ihr reflexiver Modus der Rekursion setzt anstellte des bloß iterativen Vollzugs der polizeilichen Grammatikalität variable und veränderbare Setzungen, die sonst als schwach korrelierte Abweichung übergangen würden.

Es geht bei diesem Begriff von Kritik daher nicht lediglich darum Superstrukturen, denen sich Beobachter in der Produktion ihres eigenen blinden Flecks unterwerfen, qua Fremd- oder Selbstbeobachtung aufzudecken und damit einen Re-Entry zu vollziehen, um die vorläufige Benutzung einer Unterscheidung zu reflektieren (Esposito 2017b, S. 23). Vielmehr soll Kritik die vereindeutigende Praxis der Polizei in eine Praxis der Politik transformieren, die Kontingenzen erzeugt. Um diesen Prozess artikulieren zu können, hat Lorey (2010, S. 54 f., 57) vorgeschlagen, metaphorisch von einem „Exodus“ aus dem Diskurs auszugehen, an den sich eine Intervention anschließt: Der gewohnte Distinktionsgebrauch wird demzufolge im Modus der Kritik durch abduktive, assoziative und konstellative Kombinatoriken verworfen – Exodus – und dann durch eine Intervention herausgefordert, die in den Diskurs zurückdringt. Durch eine Distinktion der Distinktion, also durch die diskursive Rekursion, die durch die Intervention erfolgt, werden die kommunikativen Kontingenzen des Distinktionsgebrauchen anstelle seiner Polizierung markiert. Der Exodus aus der polizeilichen Ordnung mobilisiert dabei zunächst die „Chaosmose“ (Guattari 2017, S. 11) eines psychischen Systems zur Destabilisierung fixierter Distinktionen. Daraufhin nutzt die Intervention die kreativen Kapazitäten chaosmotischer Kombinatoriken des psychischen Systemes zur Inklusion (gemäß Luhmann 1989, S. 162)Footnote 6 in die Kommunikation und führt damit eine Kontingenz ein. Der ungeschriebene Re-Entry (Spencer-Brown 1999, S. 52; Kauffman 1987, S. 285) der polizierten Distinktion wird nun geschrieben – und Letztere damit erkennbar als eine haltlose und durch Wiederholung restabilisierte Fixierung der différance.

Dieses Schreiben des ehedem ungeschriebenen Re-Entry unterscheidet radikale von einfacher Kritik. Denn es führt nicht nur eine kontingenzproduzierende Distinktion ein, sondern markiert zugleich ihre Konstitutionsbedingungen im Prozess des Re-Entry, der ein „unwritten cross“ (Spencer-Brown 1999, S. 7) voraussetzt, als kontingent. Das unwritten cross fungiert hier als différance der Kritik: Es leistet den Aufschub ihrer eigenen Unbestimmtheit, verweist auf das konstitutive Außen als Moment der Einführung weiterer noch nicht artikulierter Unterscheidungen und markiert das überschreitende Potenzial der Kritik. Gleichsam ermöglicht es eine Artikulation der Kritik durch Indikation der im Re-Entry fixierten Distinktion, die nicht als Aufklärung einer benutzten vorgelaufenen Unterscheidung fungiert: Vielmehr konstituiert die Kritik den Re-Entry im Schreiben, um das generative Prinzip einer hegemonialen Binarität zu markieren und mit dem eigenen unwritten cross kontingent zu setzen. Kritik deckt also keine vorhandene Superstruktur auf, bei der der Re-Entry lediglich den blinden Fleck eines anderen zu kritisierenden Beobachters markierte, sondern realisiert sich als eine setzende, nicht erhaltende Gewalt, die der oben genannten doppelten Gewalt ihre Legitimität durch neue Unterscheidungen zu entziehen versucht (Benjamin 1977, S. 185 ff.; Salonia 2011, S. 192; Düttmann 1992, S. 60). Als Distinktion setzende Praxis fixiert Kritik die Unbestimmtheit der différance als einfache Gewalt und schließt damit Unbestimmtheit in ihrer Bestimmung ab. Kritik ist also nicht als futurische Freiheit (Saar 2009, S. 265) instituiert, die das konstitutive Moment der grammatikalischen Gewalt aufzuheben verspricht: Vielmehr bedient sie sich dieser Gewalt, sodass es in der Fixierung von Kontingenz durch Unterscheidung zu einem vorläufigen Schließungsmoment kommt. Sie öffnet Kontingenz qua Exodus und schließt sie sogleich mit Abschluss ihrer intervenierenden Artikulation, die eine neue Distinktion bestimmt. Die Kritik kann sich somit im Futur II artikulieren: Sie wird kontingenzöffnend aufgetreten sein.

Kritik ist mithin erfinderisch tätig, indem sie Distinktionen setzt und damit die Unbestimmtheit einer Indikation in die Relation zu einer anderen Indikation zwingt, um sie so als auch anders möglich zu markieren. Ebensowenig wie eine futurische Freiheit artikuliert radikale Kritik folglich eine „infinite Gegenwart“ (Lorey 2020, S. 112) im Sinne unbedingter, reiner Unbestimmtheit, denn eine solche widerspricht ihrer Anforderung, selbst als Artikulation anschlussfähig zu sein. Wie bereits oben ausgeführt, ist auch Kritik auf Kongruenz mit Grammatikalität als in der Kommunikationsstruktur kondensierter Polizei angewiesen, um anschlussfähig bleiben zu können. Sie muss folglich, um mit Lyotard (1989) zu sprechen, den „Widerstreit“ zu sich selbst vermeiden, um als Diskurs der Kritik erkennbar zu bleiben. In diesem Moment der Praxis der Kritikartikulation verschränken sich sowohl Politik als auch Polizei in einem „Netz anderer Praktiken“ (Schäfer 2019, S. 172 f.), das die Grundlage kritischer Artikulation ist.

Um eine Distinktion als Kontingenzmarker und nicht als polizeiliche Intervention zu markieren, heißt es dann, die Legitimation der Wiederholung zu unterbrechen. Die Gewalt der Ordnung muss einer Gegen-Gewalt ausgesetzt werden, durch die Kritik überhaupt erst „Strukturrelevanz“ (Lindemann 2018, S. 354, 362 f.) erlangen kann. So lässt sich beispielsweise ein genealogisches Moment bemühen, um vermittels der Anzeige der Kontingenz des Vergangenen auch die Kontingenz des Zukünftigen markieren zu können (Saar 2009, S. 265). Dazu schreibt Kritik sich um ihrer Anschlussfähigkeit willen in die Artikulationsmodalitäten der Grammatikalität ein, sodass nun selbst im Moment der Politisierung durch Kritik eine polizeiliche Präformation präsent ist. An ihr kaprizieren sich nun die Inklusionsbedingungen des Hereinfallens der zunächst exilierten Kritik in die kommunikative Artikulation: Wie kann das Präformierte, das vorausgesetzt werden muss, um Kritik überhaupt anschlussfähig artikulieren zu können, aktuell reartikuliert werden? Wie kann Gedachtes in Kommunikation gebracht, mithin artikulierbar, damit anschlussfähig gemacht und in den Diskurs eingeführt werden? Denn Kritik ist als Praxis eo ipso nicht völlig emanzipiert von dem, was sie kritisiert, und kann ihr Anliegen nicht handstreichartig in einem utopischen Moment zur Aufhebung bringen (Gebhard et al. 2006, S. 270). Sie muss die Ressourcen der Grammatikalität parasitär nutzen, um sich im Verschieben von Distinktionen und damit von Sinngebungen kreativ und kontingenzierend stilisieren zu können. Die grammatikalische Gewalt lässt sich nicht durch einen ultimativen Gewaltakt einer durchschlagenden Kritik einfach auflösen, sondern muss vorläufig affirmiert werden, um dann durch die kritische Gegengewalt als ordnungsstiftende Instanz entmachtet zu werden. Insofern wäre die Invention der Kritik als Befreiungsübung ein unmöglicher Akt: Sie erfände neue Regeln, denen es sich zu unterwerfen gilt, ohne schon einen widerstreitenden Diskurs konstituieren zu müssen, der das alte Gesetz dekonstruiert (ähnlich in Bezug auf Dekonstruktion, die hier als Kontingenzierungspraxis par excellence aufgefasst wird: Derrida 2011, S. 45).

Mit ihrer Intervention fällt radikale Kritik in die distinguierende Invention ein, indem sie sowohl den Prozess des Wiedereintritts der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene als auch ihre eigene prozessuale différance – das heißt: deren Unbestimmtheit im Moment der Benennung von Kontingenz – zu markieren versucht. Sie setzt das Kritisierte in Bezug zu dem, was sie ausschließt, setzt also eine „Eigenform“ (Kauffman 2003, S. 76 ff.) ein, um das fixierende Moment des Kritisierten anzuzeigen. Indem sie ein durch sie selbst Ausgeschlossenes nachträglich markiert, durchdringt diese Eigenform den Distinktionsraum und expandiert gleichsam in dessen „seichtester Tiefe“ (Spencer-Brown 1999, S. 6 f.), was übertragen auf den Begriff der Kritik bedeutet, dass alternative Distinktionsgebrauche als gleichwertige Optionen und nicht als untergeordnete Ableitungen aufzufassen sind. Im Gegensatz zu Baeckers (2021) Katjekten verbreitet sie dabei keine hierarchisch ausdifferenzierten Formen, sondern solche, die es erlauben, die Kontingenz polizierter Distinktion, das heißt tradierter Zwei-Seiten-Formen, zu markieren und damit von fixierten Sinngebrauchen zu emanzipieren (Fuhrmann 2023b).

Das Latenzproblem Luhmanns wird damit invertiert und in eine Praxis der Setzung, nicht der Aufdeckung, transferiert. Die damit verbundene Erkenntnis liegt darin, dass auch die artikulatorische Sinngenese der Kritik eine übergriffige gewaltvolle Praxis in der Weise darstellt, dass sie weder die reine Unbestimmtheit der différance vollzieht noch ein die eigene differenzielle Setzung aufhebendes Delirium, als Unterbrechung eines Urteils, dauerhaft aufrechterhält (Quent 2019), sondern im Moment ihrer Intervention die Kontingenz des Kritisierten auf eine spezifische Weise artikuliert und sich dadurch erst kommunikativ konstituiert. Kritik operiert mithin weniger im „Medium der Gründe“ (Wesche 2009, S. 193) als vielmehr im Modus einer selbstverstörenden Praxis. Sie verschiebt die Modalitäten dessen, was im Verhältnis aus Polizei und Politik restabilisiert wurde.

In Bezug auf das Diktum Andersons zeigt das zwei differente Temporalitäten an. Der Datenempirismus, der aus dem, was sich in vergangenen Ereignissen in das Datenmaterial eingeschrieben hat, Benennungen extrahiert und algorithmische Korrelationen produziert, ist auf die Vergangenheit bezogen. Zukunft wird dabei prinzipiell nicht als offen und gestaltbar behandelt, sondern dient als prognostische Projektionsfläche dessen, was sich aus der aktuellen Korrelierung als anschlussfähig erwiesen haben wird. Dementsprechend gelten Prognosen als erfolgreich, wenn sich Verhaltensweisen wiederholen, wie Melchiorre et al. (2020) exemplarisch an Musikempfehlungsalgorithmen gezeigt haben. Damit wird die prognostizierte Zukunft im Erfolgsfall sogleich als Bestätigung behandelt und im Falle des Misserfolgs als Schwächung der Korrelation absorbiert, mithin in eine Vergangenheit verwandelt, an der sich die zukünftige Produktion von weiteren Korrelationen wiederum zu bewähren hat. Zukunft ist in der Temporalität algorithmischer Systeme mithin konstitutiv geschlossen, insofern sie vollständig aus der Vergangenheit abgeleitet wird. Qua Vereindeutigung in Korrelationen wird Historizität gleichsam dekontingenziert. Die Abweichung, also jenes Moment, aus dem Kritik ein Erkenntnismoment ziehen kann, wird aus der algorithmischen Episteme in die schwache Korrelation abgedrängt und aus der Reproduktion von Anschlussereignissen suspendiert.

6 Zur Relevanz eines emphatischen Theoriebegriffs

Kritik, so lässt sich nun anmerken, kann als Inventionsmodus einer Theorie aufgefasst werden, die sich selbst als Effekt jener Gesellschaft, durch die sie bedingt ist, aufzufassen versucht. Denn wie beschrieben mobilisiert die Invention einer durch Kritik gesetzten Unterscheidung zwar einerseits ein konstitutives Außen, muss sich aber zunächst der hegemonialen Grammatikalität bedienen, um artikulationsfähig zu sein und Schriftform annehmen zu können. In Gestalt von Programmen und spezifischen kommunikativen Sonderformen des Wissenschaftssystems (Luhmann 1992b, S. 193, 197) nutzt Theorie den permanenten Aufschub einer abschließenden Fixierung, um ihre eigenen Artikulationsbedingungen zu kontingenzieren, muss dafür aber wiederum eine eigene Grammatikalität explizieren. Ihren jeweiligen Unterscheidungsgebrauch muss sie daraufhin „postfundamental“ organisieren, indem sie ihre Ungründbarkeit anschließend zu reflektieren sucht (Haker 2020, S. 34 f.). Das heißt: Die gesetzten begrifflichen Fundamente der Theorie werden im weiteren Verlauf des Theoretisierens ihrer vereindeutigenden Legitimität entzogen, mit Unbestimmtheit versorgt und so zu „kontingenten Fundamenten“ (Butler 1992) avanciert. Das muss hergestellt werden, indem Theorie die ungerichtete Kontingenzierung der Kritik in eine gerichtete Praxis der Begriffsbildung und Eigenkontingenzierung überführt.

Anders als Gabriel Abend (2008, S. 195 f.) empfiehlt, wird Epistemologie damit nicht möglichst schlank gehalten, sondern das epistemologische Moment der Theorie selbst wird radikalisiert: Es geht um die Dynamisierung von Theorie als Prozess, nicht um ein festgeschriebenes Aussagesetting semantischer Apparate. Das heißt, Theorie als Prozess aufzufassen, der soziale Wirklichkeit sowohl analysiert als auch mitvollzieht. Theorie beobachtet Gesellschaft nicht nur, sondern muss sich selbst als Teil von ihr integrieren können (Luhmann 2017, S. 12). Da sie auf gesellschaftlichen Bedingungen fußt, müssen auch die von Theorie gebrauchten Begriffe als Teil des kontingenten sozialen Geschehens begriffen und soziologisch in ihrer autologischen Wirksamkeit reflektiert werden (Luhmann 1992a, 140 f.; Esposito 1996). Theorie markiert die Kontingenz ihrer Intervention, um eine begriffliche Unbestimmtheit im Immer-so-weiter gesellschaftlicher Reproduktion zu realisieren. Indem sie die Selbstkontingenz ihrer Sinnsetzungen benennt und nutzt, entwickelt sie die Eigenkontingenz ihrer selbst wie auch ihres kommunikativen Zusammenhangs „Gesellschaft“.Footnote 7 Kritische Theorie ist dann nicht in erster Linie als statisches Arrangement von Begriffen zu begreifen – das wäre ihre Ordnung, die mittels Polizei verstetigt wird – sondern als ein sich immer wieder an seinen eigenen Begrifflichkeiten zu bewährender und gleichsam dauerhaft notwendig scheiternder Sinnzusammenhang.

Verschriftlichte Theorie ermöglicht es mit Lorey gesprochen, aus dem Exodus der Kommunikation zurückzukehren in eine kommunikable Form, die nicht nur bei Publikation Verbreitung und Vergleichbarkeit garantiert, sondern im besonderen Maße auch der Selbstverfremdung des Denkens dienen kann: Schreiben, Lesen, Redigieren, Streichen, Verschieben sind dann Modi der Kontingenzsteigerung, mittels derer der Exodus wiederholbar und rekursiv in das Artefakt des geschriebenen Textes eingeschrieben werden kann. Bisweilen kann die Eigenkontingenzierung der Theorie im Modus eines essayistischen oder lyrischen Theoretisierens erfolgen, welche durch Mobilisierung einer ästhetischen Erfahrung Eigenkontingenz ausprobierend einführt. Eine solche Einführung essayistischer und/oder lyrischer Momente muss nicht notwendigerweise die Abstraktion von Begriffen aufgeben. Sie muss lediglich durch Aufruf von Kritik, die sich im Außen der Theorie präformierte, einem nun unpersönlich werdenden Ich gestatten artikuliert zu werden (ähnlich Lim 2021, S. 264).

Kritische Theorie übernimmt den Zeitmodus der Kritik, indem sie sich im Futur II als Eigenkontingenzierung in Szene gesetzt haben wird. Insofern produziert ein emphatischer Theoriebegriff, wie er hier präsentiert wird, einen Aufschub, der das Aktuelle prekarisiert, sein Fundament im nächsten Schritt zu zertrümmern sucht, postfundamental artikuliert und damit auf ein Begehren nach Zukunft ausgerichtet wird. Diese Zukunft ist im Sinne von Drucilla Cornell (1992, S. 129) eine „future of the not yet“, die sich in ihrer Offenheit als unbestimmt radikalisiert und dementsprechend nicht aus dem Gegenwärtigen heraus auf ein sich schließendes und fixierendes Moment limitiert werden kann. Umgekehrt wird auch das Gegenwärtige damit im Kommenden zumindest partiell prekarisiert. Es handelt sich dann um ein „avenir“ im Sinne Derridas (zit. n. White 2007, S. 407), das Zukunft nicht als Ableitung aus dem Gegenwärtigen behandelt, sondern einen Bruch bezeichnet, der die Fixiertheit der differantiellen Kontamination zu unterlaufen und ihre Kontingenz in einer Invention zu artikulieren versucht. In gewisser Weise besteht ihre Praxis darin, weitere Anschlüsse unwahrscheinlich werden zu lassen, um stattdessen die Invention einer Neuheit artikulieren zu können.

Kritische Theorie in diesem Sinne eröffnet eine Zukunft, innerhalb derer sie selbst als retrograder Effekt ihrer eigenen Affirmation grammatikalischer Polizei operiert. Denn auch sie wird sich als ein Prozess entlarven müssen, der in Vergangenheit wie Gegenwart fixierend aufgetreten ist und dabei eine eigene Topologie ihres jeweiligen Unvernehmens produziert hat, also einen eigenen, durch Fixierung von différance zu Sinn erst produzierten Standpunkt restabilisiert (Gebhard et al. 2006, S. 271). Dieser Standpunkt entsteht aus der spezifischen Kombinatorik von Distinktionen zugunsten der Sinngebung, aus denen sich eigene semantische Apparate perpetuieren. Begriffe werden rigidisiert, indem Distinktionsgebrauche strikt kontrolliert und damit als polizeiliche Ordnung hergestellt werden.

Die Reproduktion kommunikativer Fixierung von Unbestimmtheit unter Ausklammerung der Reflexion ihrer Produktionsbedingungen, die in der Operabilität algorithmischer Systeme als hinnehmbare Affirmation erscheint, kann jedoch mit Theorie in eine Emphase der Verstörung übertragen werden, die zumindest ermöglicht, „nicht dermaßen regiert zu werden“ (Foucault 1992, S. 12). Theoriepolitik gebraucht die Mittel der liebenswürdigen und verführerischen Theoriepolizei, um sich von ihr zu emanzipieren (Fuhrmann 2021b, 291 ff.), und kann Eigenkontingenz über den Umweg der Kritik artikulieren. Damit überschreitet diese Theoriepolitik die Theoriebegriffe des „main business of the philosophy of science“ (Mahner 2007, S. 532). Im Kontext von Big Data als Entunterwerfungspraxis ist sie von besonderer Relevanz: Als eine Episteme, die sich permanent selbst zu dynamisieren sucht und damit der Vereindeutigung des „Endes der Theorie“ die radikale Kontingenz einer sich begrifflich selbst zu überschreiten suchenden Theorie entgegenzusetzen versucht. Eine solche Theorie arbeitet gegen die Vereindeutigung qua Korrelation an, indem sie laufend Abweichungen produziert.

Das ermöglicht eine Reflexion, die nicht lediglich die sich in der Polizei stabilisierende doppelte Gewalt ihrer differantiellen Kontamination aufruft, sondern immer wieder neu eine einfache Gewalt gegen die doppelte Gewalt ihres eigenen Polizierens initiiert. Eine Praxis, die einem emphatischen Theoriebegriff folgt, stellt sich darum als eine politische Interventionspraxis gegen die Fixierung von différancen heraus, indem sie Inventionen von kontingenzerzeugenden Distinktionen entwickelt. Damit ist sie als Gegensatz zur Affirmationspraxis des „Endes der Theorie“ positioniert, denn ihr ist es nicht nur möglich, ihr Außen qua Kritik zu reflektieren, sondern sich von sich selbst zu emanzipieren, indem sie diese Reflexion in einer weiteren sinngenetischen Rekursionstiefe wendet und damit das Vorherige selbst als Effekt der eigenen theoretischen Konstruktion der Bestimmungsversuche von différance markiert. Der Machteffekt einer so prozedierten kritischen Theorie stellt sich produktiv dar, indem er zu einer Haltung einzuladen versucht, ihn selbst zu kontingenzieren. Theorie geht dann nicht in der Prognose auf, sie verweigert sich geradezu der Prognose: Im Moment der Offenlegung ihrer eigenen Theoriegenese zeigt sie sich als Produkt einer Problemgenese, die durch begriffliche Suchbewegungen bedingt ist (Göbel 2000).

Die Affirmationspraxis des „Endes der Theorie“ hingegen negiert diese Möglichkeit durch eine algorithmische Arkanpraxis, die nicht aufdeckt, wie Korrelierungen Folgekorrelierungen produzieren und potenzieren. Stattdessen liefert sie lediglich Ausgaben: Immer „on the screen“, nie dahinter. Sie zeigt immer nur das, was auf der einen Seite des Interface perzeptiv verfügbar gemacht wird. Die andere Seite, die Umwandlung der analogen Welt in ein digitales „Data Double“ (Haggerty & Ericson 2000, S. 606), die Exklusion des Analogen (Dickel 2022), die Produktion von Daten (Häußling 2020) als selegierender Übersetzungsprozess (Karafillidis 2018, S. 134 f.), markiert sie nicht. Denn Algorithmen schreiben nicht, wie es die kritische Genealogie vorsieht (Saar 2009, S. 247; 262), eine Geschichte der kontingenten Stabilisation von Herrschaft und Macht, sondern konstruieren eine Historizität, die in ihrer Aktualität affirmiert ist als die unhintergehbare Anzeige des aktuellen Zustandes von elektronischen Verschaltungen. Während diese Anzeige vereindeutigt, pluralisiert Kritik das jeweils Aktuelle im proaktiven Moment des Schreibens im Horizont der Möglichkeiten anderer Realisierungen.

Korrelative Bestimmungsversuche aus Big Data durch algorithmische Systeme fallen darum nicht nur auf einen sammelwütigen „kruden Empirismus“ (Feyerabend 2002, S. 26 f.) zurück. Sie unterbieten ihn sogar noch, weil dieser Empirismus zumindest verpflichtet ist, die Konstruktionsbedingungen seiner Problemgenese zu markieren, um eine Korrelation als kausalen Zusammenhang proklamieren zu können, der mit dem zugrundeligenden Erklärungsmuster vereinbar ist. Der Verzicht auf jene Muster – die Anderson (2013, S. 127) ablehnt, weil sie immer fehlerhaft, „bestenfalls eine Karikatur einer wesentlich komplexeren Realität“ seien – und der Versuch, sie durch Datenkorrelationen zu kompensieren, führt dazu, dass die die eigene Polizei replizierenden Effekte nicht reflektiert und immer schon als starke Korrelation gegenüber Alternativen privilegiert werden. Die algorithmische Generierung theoretischer Texte kann dementsprechend nur als Replizierung starker korrelativer Zusammenhänge gelesen werden. Neuere Tendenzen, künstliche neuronale Netze zu nutzen, um wissenschaftliche Texte anzufertigen (Hutson 2022), replizieren lediglich die Grammatikalität der jeweiligen Textgrundlagen. Sie prozedieren keine Invention, sondern die Iteration einer begrifflichen Polizei.

Der Sinn kritischer Theorie im Kontext von Big Data besteht also darin, die Kontingenz der Korrelationen polizeilicher Distinktion anzuzeigen und gleichsam ihre eigene schwache Korrelierung zu nutzen, um sich gegenüber der in Big Data kondensierten polizeilichen Ordnung Geltung zu verschaffen sowie die in sie eingeschriebenen Repräsentationslogiken hegemonialer Formationen zu unterlaufen bzw. zu irritieren. Das für die Kommunikation als konstitutives Außen fungierende psychische System kann dann als empathisches Moment einer Inventions- und Interventionspraxis aufgefasst werden: Theorie schreibt sich eben nicht von selbst (Luhmann 1987, S. 12), das psychische System wird durch Kommunikation nicht gänzlich dirigiert, sondern Letztere motiviert seine „Unordnung einführende Potenz“ (Luhmann 1992b, 565 ff.). Das gilt insbesondere bei der Produktion der Theorieform, insofern hier die temporale Distanzierung vom aktuellen Geschehen durch Verschriftlichung Inventionen in die Kommunikation einführen kann. Theorie mobilisiert so gesehen die Möglichkeiten ihres konstitutiven Außen, um sich weiterzuschreiben. Sie kondensiert und trajektoriert die Artikulationsbedingungen für Intervention und Invention und kann dann als kritisch markiert werden, wenn diese genutzt werden, um mit Theorie gegen Theorie anzuschreiben. Theorie ist dann nicht an ihr Ende gekommen, sondern Objekt ihrer eigenen Endlosigkeit. Insofern handelt es sich bei der Episteme des „Endes der Theorie“ und der emphatisch artikulierten „Endlosigkeit der Theorie“ um zwei entgegengesetzte Radikalisierungen: Einer radikalen Affirmation und Replizierung eines polizeilichen Ordnungsprinzips algorithmischer Systeme steht eine radikale Selbstverwerfung einer immer wieder neu zu schreibenden kritischen Theorie gegenüber.

7 Fazit

Wird dem hier gemachten Vorschlag gefolgt, dem Ende der Theorie die prinzipielle Endlosigkeit einer jeglichen Theorie entgegenzusetzen, so sind diese zwei Modi sowohl in ihrer Zeitstruktur als auch in der jeweiligen Mobilisierung von Polizei und Politik zu unterscheiden. Das „Ende der Theorie“ wird, wie gesehen, durch eine Episteme bestimmt, die es algorithmischen Systemen überlässt, Wissen zu generieren, und damit auf einen Effekt geschlossener Zukunft setzt. Eine derart geschlossene Zukunft resultiert daraus, dass die in Big Data eingeschriebenen historischen Zustände nur bestätigt werden können, weil sie als starke Korrelationen hegemoniale Bedeutungen replizieren. Indem sich diese Bedeutungen durch algorithmische Systeme hin zur Polizei vereindeutigen, kommt dieser Episteme die Fähigkeit, sich durch Invention von ihnen zu emanzipieren, abhanden – also genau jene kritischer Theorie eigene Fähigkeit, Kontingenz durch Produktion von Abweichung zu produzieren und damit polizeiliche Praktiken zu politisieren.

Auch der aktuelle Hype um das KI-Programm ChatGPT, das Texte produzieren kann, die der Präsentation von Forschungsständen und studentischen Hausarbeiten sehr nahe kommen, dreht sich um ein algorithmisches System, das die Grammatikalität spezifischer Texte analysiert und deren hegemoniale Beudeutungsgebungen zu einem neuen Text arrangiert (zur Diskussion darum siehe etwa Heikkilä 2023). Eine dabei aufgerufene hegemoniale Unterscheidung, der sich auch der vorliegende Text unterworfen hatte, ist jene zwischen Mensch und Maschine, bzw. zwischen psychischen und algorithmischen Systemen. Weil diese hegemoniale Unterscheidung im von ChatGPT korrelierten Datenmaterial gefunden werden kann, antwortet ChatGPT auf die Frage, ob es die Kapazitäten habe, soziologische Theorie zu subsumieren, wie folgt: „Soziologische Theoriebildung erfordert jedoch die Fähigkeit zu komplexem Denken, kritischem Verstehen und kreativem Schaffen, die bei ChatGPT nicht vorhanden sind.“ Das Programm betont also selbst die grundsätzliche Unterscheidung zwischen algorithmischen und psychischen Epistemen. Nur letztere leisten, wie gezeigt, die Endlosigkeit von Theorie als fortdauernde Intervention, die statt durch Replizierung von Polizei durch Mobilisierung einer eigenen Polizei die Möglichkeit zur Politisierung artikuliert.

Endlose Theorie dient zur Einführung kontingenter Abweichung von hegemonialen Bedeutungen und produziert damit schwach korrelierte Artikulationen, die von algorithmischen Systemen erst repliziert werden können, wenn diese selbst zu einer hegemonialen Bedeutungsgebung avanciert sind. Sie verweist damit auf eine Praktik der Öffnung von Zukunft, in der die gegenwärtige Begriffsbildung prekär gesetzt sein wird. Soziologische Theorie beschreibt, will sie kritisch sein und nicht algorithmisch absorbiert werden, nicht lediglich hegemoniale Bedeutungen, sie überschreitet sie gleichsam endlos in einer erfinderischen Praxis und kann dann als Widerstandspraxis gegen die Verwaltung und Verschließung von Kontingenz in hegemonialen Korrelationen aufgefasst werden.