1 Einleitung

Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts nimmt ein Vergesellschaftungsprozess an Fahrt auf, der als Digitalisierung bezeichnet wird und im öffentlichen wie wissenschaftlichen Diskurs mit Schlagworten wie dem Internet der Dinge, Big Data, Algorithmen, Machine Learning, Automatisierung und künstliche Intelligenz verbunden ist. Schaut man sich die verschiedenen Phasen des sozialwissenschaftlichen Diskurses zur Digitalisierung seit ihrer beginnenden Durchsetzung an, wird deutlich, dass ein zentraler Bezugspunkt in der Frage nach der Steuerung technischen und menschlichen Verhaltens besteht. Galt die Digitalisierung zunächst als Rationalisierungsmotor und Beförderer technokratischer Prozesse insbesondere im Bereich der Steuerung von Arbeit (Steinmüller 1979, 1981), wurde sie um die Jahrtausendwende eher mit generalisierten Emanzipationsversprechen in Verbindung gebracht (Dickel und Schrape 2015). Der jüngere Diskurs hingegen scheint die transformative Kraft der Digitalisierung insbesondere darin zu sehen, dass sie sozio-technische Konstellationen hervorbringt, in denen soziales Verhalten praktisch in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen durch digitale Technologien beobachtbar, kontrollierbar und steuerbar wird (Block und Dickel 2020). So ist in vielen Beiträgen von der kulturformenden Macht der Algorithmen zu lesen (Seyfert und Roberge 2017), die unsere Alltags‑, Arbeits- und Körperpraktiken bestimmen. Es ist auch von neuen Ungleichheitsverhältnissen die Rede, die aus digitalen Praktiken des Sich-vergleichen-Könnens hervorgehen und aufgrund ihrer Zahlenbasiertheit eine wirkmächtige Faktizität besitzen (Mau 2017). Zudem geraten algorithmische Verfahren des Kanalisierens und Konditionierens von Informationen und Kommunikationen in den Fokus (Esposito 2017).

Unbestritten ist, dass der Digitalisierungsprozess alle gesellschaftlichen Bereiche durchzieht und mit ihm insofern ein umfassender gesellschaftlicher Wandel verbunden ist. Einige Beiträge antizipieren darüber hinaus grundlegende gesellschaftliche Strukturveränderungen, während andere in dieser Hinsicht eher zurückhaltend sind. Nach der Analyse von Dirk Baecker (2018) wird sich die kommende Gesellschaft dadurch auszeichnen, dass die Steuerung von Kommunikation maßgeblich von digitalen Technologien übernommen wird. Harald Welzer (2016) sieht einen Übergang in eine Smarte Diktatur heraufziehen, und Shoshana Zuboff (2018) befürchtet die Entwicklung hin zu einem Überwachungskapitalismus. Die strukturelle Veränderung besteht nach ihr darin, dass die technologische Steuerung von Verhalten total zu werden droht. Demgegenüber identifiziert Armin Nassehi (2019) die Digitalisierung als eine technologische Entwicklung, die perfekt in das Strukturmuster funktionaler Differenzierung passt, d. h. die Digitalisierung gefährdet das bestehende gesellschaftliche Strukturmuster nicht, sondern stützt es. Techniksoziologische Ansätze haben darüber hinaus schon seit Längerem betont, dass die Artefakte selbst in ihrer Materialität verhaltenssteuernd wirken können (vgl. Linde 1972, 1982; Winner 1985).

Wenngleich Verhaltensänderungen und -steuerungen einen zentralen Bezugspunkt der Literatur zur Digitalisierung bilden, bleibt in dieser bislang unklar, a) wie sich die Verhaltenssteuerung durch Technik genau vollzieht und wie sie wirkt, b) ob es tatsächlich in einem zunehmenden Maße zu solchen Verhaltenssteuerungsformen kommt und c) ob bzw. inwiefern mit ihnen wirklich ein gesellschaftsstruktureller Wandel verbunden ist.

Wir schließen aus dem bisherigen Diskussions- und Forschungsstand, dass der gesellschaftstheoretischen Diskussion bislang die begrifflichen Mittel fehlen, um die hochrelevante Frage empirisch fundiert untersuchen zu können, ob bzw. inwiefern ein gesellschaftsstruktureller Wandel infolge des Digitalisierungsprozesses zu erwarten ist und worin er besteht. Hier setzen wir an und unterbreiten einen Vorschlag, auf welche Weise eine technisch vermittelte Verhaltenssteuerung begrifflich zu fassen ist, wie sie sich gegenüber anderen Verhaltenssteuerungsformen abgrenzen lässt und entsprechend empirisch untersucht werden kann. Wir lassen uns hierbei von der Überlegung leiten, dass die Steuerung von Verhalten grundlegend damit zusammenhängt, Verhalten entlang spezifischer normativer Erwartungen auszurichten. Für die Erfassung des Spezifischen einer technisch vermittelten Verhaltenssteuerung ist es jedoch erforderlich, den in der Soziologie gängigen Begriff der sozialen Normen präziser zu fassen und ihn von technischen Normen in einem engeren Sinn zu unterscheiden.

Den Gewinn dieser Unterscheidung zwischen sozialen und technischen Normen für die Erforschung des transformativen Potenzials der Digitalisierung demonstrieren wir dabei zunächst als theoretisches Argument. Unseres Erachtens weisen soziale und technische Normen einige grundlegende Besonderheiten auf, die mit bestimmten Modi der Verhaltenssteuerung, der Fehlerkorrektur und der moralischen Verantwortungszuschreibung korrespondieren. Die Übertragung sozialer Normierungen an digitalisierte technische Normierungsprozesse tangiert daher die Normenordnung einer Gesellschaft und die Art, wie eine Verhaltenssteuerung über Normsetzungen erfolgt. Am aktuellen Beispiel der vom EU-Parlament beschlossenen Verpflichtung der Autohersteller, technische Assistenzsysteme in Fahrzeugen zu verbauen, zeigen wir auf, wie sich die Unterscheidung analytisch handhaben lässt und welche Möglichkeiten sich von hier aus ergeben, die gesellschaftstheoretische Frage empirisch zu adressieren, ob bestimmte Formen der Digitalisierung der Überwachung und Durchsetzung eines normenkonformen Verhaltens dazu führen können, die zentralen strukturrelevanten Institutionen und mit ihnen die horizontale Differenzierung moderner Gesellschaften zu untergraben.

In einem ersten Schritt nehmen wir eine sozialtheoretisch orientierte Differenzierung des Normbegriffs vor und explizieren die Differenz zwischen sozialen und technischen Normen (Abschnitt 2). Darauf aufbauend explizieren wir die methodische Funktion gesellschaftstheoretischer Annahmen und präzisieren unseren Vorschlag, wie mit Bezug auf die Differenzierung des Normbegriffs eine empirisch informierte Aussage darüber möglich wird, ob mit der Digitalisierung eine strukturelle Veränderung von Vergesellschaftung zu erwarten ist (Abschn. 3). Diese Frage diskutieren wir dann am Beispiel assistiver Verkehrstechnologien (Abschn. 4). Ein resümierendes Fazit schließt unsere Überlegungen ab (Abschn. 5).

2 Soziale vs. technische Normen und ihnen korrespondierende Modi der Verhaltenssteuerung

Es ist ein soziologischer Gemeinplatz, dass das eigene und fremde Verhalten mit Bezug auf Normen gesteuert wird. Wenn man den Normbegriff nicht, wie es in der Soziologie häufig üblich ist, auf die Sozialdimension, also auf soziale Normen beschränkt, die wechselseitige Verhaltenserwartungen zwischen Akteuren kommunikativ-institutionell regulieren, generalisieren und stabilisieren, wird der Blick auf die Frage frei, ob es andere als soziale Normen gibt und, falls ja, worin diese sich von sozialen Normen unterscheiden. Zu den Normen, in denen die Sozialdimension nicht im Vordergrund steht, sondern verschiedene materielle Sachverhalte kodifiziert werden, gehört der weite Bereich der technischen Normen. Wir wollen nachfolgend soziale und technische Normen genauer analysieren und voneinander abheben und auf dieser Grundlage zeigen, dass ihnen unterschiedliche Formen der Verhaltenssteuerung korrespondieren. Kommt es im Zuge der Digitalisierung zu einer umfassenderen Ablösung sozialer Normen und Normierungsprozesse durch technische Normen, hat das Konsequenzen für die vorherrschenden Formen gesellschaftlicher Steuerung und dementsprechend für die Struktur von Vergesellschaftungsprozessen.

Wie wir nachfolgend zeigen wollen, weisen soziale und technische Normen sowie die ihnen korrespondierenden Steuerungsformen des Verhaltens in der Sozial‑, Sach- und Zeitdimension einige grundsätzliche Unterschiede auf. (siehe Tabelle 1)

Tab. 1 Unterschiede zwischen sozialen und technischen Normen (kursiv: zentraler Steuerungsmodus; Quelle: Eigene Darstellung)

Mit Blick auf die Sachdimension ist es für soziale Normen einerseits kennzeichnend, dass das Verhalten von Akteuren, die gegen Normen verstoßen, durch sie oder andere Akteure korrigiert werden kann. Andererseits können Akteure – mit Blick auf die Sozialdimension – zusätzlich oder stattdessen für einen Normverstoß moralisch verantwortlich gemacht werden. Dieser soziale und moralische Aspekt ist für technische Normen in dieser Form nicht gegeben. In der Sozialdimension wird hier zwar mitunter festgelegt, wer welche Norm einhalten bzw. bei wem welche Fehlerkorrektur vorgenommen werden soll. Der moralische Aspekt spielt für die Verhaltenssteuerung jedoch keine Rolle. Im Vordergrund steht hier die Verhaltenskorrektur in der Sachdimension. In ihr geht es darum, wie die Sachverhalte existieren und erfasst werden, die durch die Normen geregelt werden (sollen). Dies betrifft in formaler Hinsicht vor allem, zu welchem Grad eine Norm expliziert sein muss, damit sie zum Mittel von Verhaltenssteuerung werden kann. Falls soziale Normen überhaupt vollständig expliziert sind, so sind solche Explikationen prinzipiell unscharf und interpretationsoffen. Dies gilt auch für solche sozialen Normen, die rechtlich oder rechtsanalog gesatzt sind.Footnote 1 Technische Normen hingegen bedienen sich zumeist mathematisierbarer Messgrößen und Entscheidungsroutinen, für die genau expliziert sein muss, in welcher Weise sie sich worauf beziehen.

In der Zeitdimension gilt vor allem für alltägliche, stark implizit bleibende soziale Normen, dass es oft unentschieden bleibt, welche von ihnen zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich verhaltenssteuernd wirken. Erst im Enttäuschungsfall entsteht ein Explikationsbedürfnis. Technische Normen hingegen müssen von Vornherein expliziert sein, damit sie verhaltenssteuernd wirken können. Diese Unterschiede in der Sachdimension sind nur sinnvoll verstehbar, insofern soziale und technische Normen in zeitlicher Hinsicht unterschiedlich existieren und wirken.Footnote 2 Soziale Normen gelten immer gegenwärtig und umgreifen von dort aus Vergangenheit und Zukunft, d. h. sie sind modalzeitlich verfasst. Technische Normen hingegen gelten in Bezug auf diskrete Zeitpunkte in beliebig feiner Reihung, d. h. sie sind digital-zeitlich verfasst. Die Fehlerkorrektur eines menschlichen Verhaltens entlang technischer Normen erfordert keinen Bezug auf eine (implizite) andauernde Geltung der Normen, sondern einen bestimmbaren Zeitpunkt, an dem ihre Geltung explizit ist.

Zur Entfaltung dieser Argumentation gehen wir im Folgenden so vor, dass wir zunächst die Berücksichtigung von Normen in der techniksoziologischen Diskussion verorten und dabei an Bernward Joerges’ (1989) Konzeptualisierung von sozialen und technischen Normen anknüpfen. Danach zeigen wir, dass diese Unterscheidung, um eine Gegenüberstellung der beiden Normarten zu ermöglichen, etwas anders angelegt und insbesondere im Hinblick auf die Sach- und Zeitdimension weitergeführt und präzisiert werden sollte (2.1). Dem Vergleich der beiden Normtypen in der Sach- (2.2) und Zeitdimension (2.3) widmen wir entsprechend eigene Abschnitte.

2.1 Die soziologische Diskussion um Normen und Technik

Technik ist ein integraler Bestandteil institutionalisierter Handlungsabläufe. Insofern ist es angemessen zu sagen, dass Technik mithandelt (Rammert und Schulz-Schaeffer 2002) bzw. dass Technik in einem Netzwerk Wirkungen entfaltet (Latour 1994). Dabei bestimmt Technik das Handeln von Akteuren mit. Diese werden durch Technik sozusagen arrangiert (Meister und Schulz-Schaeffer 2016), indem die Technik ihnen bestimmte funktionale Rollen zuweist. Gleichzeitig handelt Technik nicht nur mit, sondern legt auch in einem gewissen Grade fest, wie Akteure mit ihr handeln. Vergegenständlichte Technik und der praktische Umgang mit ihr müssen einander funktional entsprechen, sonst kann Technik nicht funktionieren (vgl. Schulz-Schaeffer 1999). Der sozialkonstruktivistische Ansatz akzentuiert dabei, dass die Nutzung der Technik nicht durch die Technik allein festgelegt wird. Vielmehr werde in sozialen Prozessen ausgehandelt, welche Nutzungserwartungen die Technik erfüllen soll und wie sie zu nutzen ist (Bijker 1992). Dies führt zu der Einsicht, dass Technik nicht nur mithandelt, sondern ihr Mithandeln auch mit Bezug auf Normen kommunikativ-institutionell gesteuert wird. Dabei wird Technik zu einem Symbol dessen, wie sie genutzt werden sollte, ihrer „Sollnutzung“ (Lindemann 2017, S. 263 ff.). Konkret heißt das: Werkzeuge bzw. Sachtechnik sind hergestellte, an zukünftige Nutzende adressierte sinnhafte Nutzungsvorschläge. Dabei antizipieren die Herstellenden die Kritik Dritter an ihrem Nutzungsvorschlag. D. h. der Nutzungsvorschlag kann bzw. muss ggf. gegenüber Kritik gerechtfertigt werden, weshalb die Herstellenden für ihren Nutzungsvorschlag normative Richtigkeit beanspruchen. Wie Artefakte dann allerdings faktisch genutzt werden, hängt davon ab, wie die Nutzer:innen den Sinnvorschlag der Technikproduzenten praktisch interpretieren. Die praktische Nutzung des Artefakts erfolgt ebenfalls unter Bezug auf die mögliche Kritik Dritter und eine mögliche Rechtfertigung. Durch den drittenvermittelten Gebrauch wird daher für die praktischen Zwecke ausreichend die normativ richtige Nutzung von Technik institutionalisiert. Mit dieser Konzeption integrieren wir die Einsichten des sozialkonstruktivistischen Ansatzes der Techniksoziologie in eine an der Theorie des Dritten orientierten Institutionenperspektive.

Ob Nutzende beim Technikgebrauch tatsächlich einen Interpretationsspielraum haben, und wenn ja, welchen, ist letztlich eine empirische Frage. Es kann sein, dass es einen solchen gibt, wie von sozialkonstruktivistischen Ansätzen hervorgehoben wird. Es kann allerdings auch sein, dass die Technik von ihrer Gestaltung her nur noch eine ganz bestimmte Nutzung zulässt (vgl. hierzu Schulz-Schaeffer 2022). Diese Differenz lässt sich mit Bezug auf die institutionalisierten Normen der Techniknutzung so formulieren: Eine Technik, die technisch vermittelt keinen Interpretationsspielraum bei ihrem Gebrauch zulässt, setzt ihre Sollnutzung selbst durch. Damit werden die Nutzenden selbst in den technischen Vollzug integriert. Es gibt in diesem Fall kein Zusammenspiel mehr zwischen sozialen und technischen Normen, denn die sozial gewollte Sollnutzung wird durch die Technik automatisch durchgesetzt; damit kommt es auch nicht mehr zu einer möglichen moralischen Zurechnung von Verantwortlichkeit an die Nutzer:innen. Soziale, d. h. kommunikativ-institutionell vermittelte Normen können in diesem Fall lediglich noch in der Technikentwicklung eine Rolle spielen, wenn implizit oder explizit darüber verhandelt wird, ob und wie die Sollnutzung technisch durchgesetzt werden soll. Anders verhält es sich, wenn ein Interpretationsspielraum in der Techniknutzung bleibt. In diesem Fall wird die gesollte konkrete Nutzung nicht automatisch durchgesetzt, sondern muss durch soziale Normen gewährleistet werden.

Technik funktioniert also nicht nur gemäß technischer Regeln, sondern sie wird auch durch soziale Normen gesteuert. Aber: Die Bedeutung von technischen Normen, welche das technische Funktionieren ermöglichen und orientieren, nimmt zu, wenn die kommunikativ-institutionelle Steuerung der Sollnutzung an das technische System selbst delegiert und automatisiert wird. Dies ist spätestens dann gegeben, wenn das Zusammenwirken von Werkzeugen im Rahmen einer handwerklichen Arbeitsteilung durch ein automatisches Zusammenwirken von Teilwerkzeugen etwa in einer Maschine ersetzt wird. Technik fungiert dann nicht nur als Körperersatz, sondern auch als Kommunikationsersatz. Wenn das kommunikativ-institutionell gesteuerte Zusammenwirken von Technik selbst automatisiert wird, sprechen wir von rekursiver Technikentwicklung (Lindemann 2017). Sobald es technisch möglich wird, soziale Steuerungsformen von Technik in technische Formen der Steuerung sozio-technischer Abläufe zu transformieren, wird es soziologisch unabdingbar, genauer zu untersuchen, ob bzw. wodurch sich technische und soziale Normen unterscheiden und wie sie aufeinander bezogen sind. Dies ist gerade für die Analyse avancierter Steuerungstechnologien relevant. Denn bei diesen ist es nicht mehr auszuschließen, dass soziale Normen nur noch bei der Technikentwicklung eine Rolle spielen und zunehmend weniger bei der konkreten Techniknutzung. Wir werden dies weiter unten ausführlicher anhand der zunehmend automatisierten Steuerung des Autofahrens explizieren.

Hinsichtlich unseres Vergleichs von sozialen und technischen Normen schließen wir an Joerges’ Analyse von technischen Normen an. Joerges (1989) weist im Anschluss an Max Weber darauf hin, dass das Funktionsprinzip einer Maschine seinerseits auch als Norm interpretiert werden kann. Wenn mit Bezug auf technisches Funktionieren von Normen gesprochen wird, stellt sich die Frage, ob und wie sich diese von sozialen Normen unterscheiden. Wenn diese Klärung gelingt, können wir genauer sagen, worin die Veränderung besteht, wenn die an sozialen Normen orientierte kommunikativ-institutionelle Steuerung gegenüber einer technischen Steuerung durch technische Normen an Relevanz verliert.

In einer explizit sozialwissenschaftlichen Perspektive definiert Joerges technische Normen zunächst allgemein folgendermaßen:

Technische Normen im weiteren Sinn sind alle jene Verhaltensvorschriften, die auf naturwissenschaftlich gerechtfertigte Meßgrößen und/oder formalwissenschaftlich gerechtfertigte Prozeduren (Algorithmen) rekurrieren. Sanktionsrelevante Ereignisse sollen in technischen Normen mit Hilfe solcher Meßgrößen oder/und Formalismen verifizierbar sein.“ (ebd., S. 247, Herv. i.O.)

Von dieser allgemeinen Definition ausgehend, differenziert Joerges dann drei unterschiedliche Arten von technischen Normen: erstens Normen, die die Sollnutzung technischer Artefakte beschreiben (a), zweitens Normen, die das Funktionieren von Geräten gewährleisten (b), und drittens Normen, die festlegen, welche messbaren Eigenschaften die Umwelt haben bzw. nicht haben sollte (c).

Ad a) Die Normen der Sollnutzung legen fest, wie ein Artefakt seiner technischen Beschaffenheit entsprechend genutzt werden sollte. Die vorgegebene Art der Nutzung gliedert das technische Artefakt in institutionalisierte Handlungsabläufe ein. Hierbei handelt es sich etwa um Verhaltensvorschriften, wie man sie z. B. in einer Gebrauchsanleitung finden kann, oder um einfache Anweisungen wie etwa diejenige, dass der Schraubverschluss einer Flasche nach links gedreht werden muss, um die Flasche zu öffnen, und nach rechts, um sie zu schließen (ebd.). Es handelt sich hier also eigentlich um soziale Normen in dem von uns oben erläuterten Sinne kommunikativ-institutioneller Handlungsvorgaben. Eine Unterscheidung, die Joerges so nicht trifft, da er technische Normen als eine Sonderform sozialer Normen begreift, wie wir gleich noch erläutern werden.

Ad b) Technische Normen im zweiten Sinne legen nicht das menschliche, sondern das maschinelle Verhalten fest, d. h. wie z. B. die Teile einer Maschine beschaffen sein müssen und wie sie zusammenwirken, also etwa wie der Motor eines Autos funktioniert und wie die vom Motor produzierte Kraft auf die Achsen des Automobils übertragen wird. (ebd., S. 247 f.)

Ad c) Normen der dritten Art legen z. B. fest, wie hoch der Anteil der durch Messung nachweisbaren Schadstoffe in der Umwelt sein darf. Joerges beschränkt sich in seinen Beispielen auf durch Maschinen und Anlagen verursachte Belastungen der natürlichen Umwelt (ebd., S. 248), aber solche technischen Messwerte können etwa auch herangezogen werden, um die Belastung der Atemluft nach einem Vulkanausbruch zu erfassen. Bei dieser dritten Art handelt es sich um technische Normen also deshalb, weil die Messung selbst ein technischer Vorgang ist, bei der Umweltparameter technisch vermittelt erfasst werden.

Diese drei Normenarten sind soziologisch relevant, weil sie alle in sozio-technischen Konstellationen erzeugt werden, weil insbesondere die erste Normart direkt auf eine Verhaltenssteuerung abzielt, die zweite Art auf die technische Umsetzung von zweckgebundenen Prozeduren in Geräten abstellt und anhand von technischen Normen der dritten Art identifiziert werden kann, ob es Phänomene in der Umwelt gibt, die von vorgegebenen Messgrößen abweichen. Durch den Einsatz automatisierter Digitaltechnik kann dann wiederum mittels einer technifizierten Überwachung von Messgrößen und der Sollnutzung eines Gerätes automatisch eine Korrektur des abweichenden Verhaltens eines Nutzers eingeleitet werden. Ein Beispiel dafür wäre etwa die automatische Messung, ob ein Autofahrer Alkohol getrunken hat, durch die im positiven Fall eine Wegfahrsperre aktiviert wird.

Im Unterschied zu dieser differenzierten Analyse technischer Normen ist der Begriff sozialer Normen bei Joerges eher allgemein gehalten, weil er ihn als Oberbegriff auch für technische Normen konzipiert. Er bezieht sich vor allem auf Weber, wenn er soziale Normen als „empirisch feststellbare kollektive Verhaltenserwartungen und Verhaltensanweisungen [versteht], die als legitim gelten“ (ebd., S. 244). Damit ist angesprochen, dass soziale Normen mit Bezug auf die Sozialdimension von Vergesellschaftung zu analysieren und sie generalisiert gültig sind. D. h. Normen müssen in einer symbolisch generalisierten Weise als legitimerweise geltend dargestellt werden. Auf dieser allgemeinen Grundlage kann man allerdings noch keinen genauen Vergleich zwischen sozialen und technischen Normen vornehmen, denn das Kriterium legitimer Geltung trifft auf beide Normen gleichermaßen zu. Um trennscharf zwischen technischen und sozialen Normen zu unterscheiden, beschränken wir uns auf ein engeres Verständnis von technischen Normen als Joerges. D. h. wir begreifen diejenigen Normen, die die Sollnutzung eines Geräts bzw. Artefakts festlegen, im Unterschied zu Joerges, nicht als technische Normen. Bei diesen Normen handelt es sich eher um auf Techniknutzung bezogene soziale Normen, weil in ihnen Erwartungen und Anweisungen an menschliches Verhalten artikuliert werden. Die Sollnutzung ist eine soziale Norm, die im Rahmen einer rekursiven Technikentwicklung aber zu einer technischen Norm werden kann. Dies ist dann der Fall, wenn a) die Sollnutzung als soziale Norm im Prozess der Technikgenese in technische Normen transformiert wird, und zwar in einer Form, bei der b) die Technik selbst ihre Sollnutzung durchsetzt, weil sie nur noch dieser gemäß gebraucht werden kann.

Der angestrebte Vergleich zwischen sozialen und den in einem engeren Sinne verstandenen technischen Normen erfordert zudem in zwei Hinsichten eine Differenzierung der Normanalyse:

  1. 1.

    ist eine genauere Analyse der Sachdimension für die Normbildung notwendig, weil soziale und technische Normen die zu regelnden Sachverhalte unterschiedlich erfassen.

  2. 2.

    ist in der Zeitdimension die Bedeutung der modalzeitlichen Differenz zwischen Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft und deren Verhältnis zur Dauer weitgehend ungeklärt, und es ist unklar, wie sich die für technische Normen konstitutive metrifizierte Raum-Zeit von der Raum-Zeit sozialer Normen unterscheidet. Letztere gelten jeweils hier und jetzt, d. h. sie müssen mit Bezug zur Modalzeit und zu praktischen Raumbezügen expliziert werden, während technische Normen ausschließlich an der messbaren Raum-Zeit orientiert sind.

Der Vergleich beider Normarten gewinnt an Tiefenschärfe, wenn man ihn in unterschiedlichen Dimensionen durchführt. Wenigstens für die Sach- und Zeitdimension wollen wir das im Folgenden zeigen.Footnote 3

2.2 Der sachliche Gehalt von Normen

Wir gehen zunächst von der Prämisse aus, dass Normen wirken, indem sich Akteure sinnhaft an ihnen orientieren. Aus diesem Grund ist die Überwachung der Einhaltung von Normen von Bedeutung, weil nur so entschieden werden kann, ob bzw. welche Normen wirken. In diesem Sinne wird die Normbildung und -geltung bereits von Luhmann angesprochen. Ihm zufolge sind Normen gültig, wenn in der Sozialdimension gilt, dass Akteure bei Abweichungen vom erwarteten Verhalten auf dessen Einhaltung beharren und dabei mit der Unterstützung von Dritten rechnen können (Luhmann 1972, S. 66). Die Sachdimension des Erwartens bezieht sich gemäß Luhmann auf die sinnhafte Identifikation und Spezifikation von Erwartungszusammenhängen, ohne die eine selektive Orientierung an bestimmten Normen angesichts der unüberschaubaren Menge an möglichen Verhaltenserwartungen nicht möglich wäre (ebd., S. 101 f.). Eine solche Bündelung und Spezifikation der jeweils relevanten Sachdimension des normativen Erwartens leisten z. B. bestimmte Rollen und Programme, die es erlauben, einen typischerweise erwarteten Sachverhalt oder Ereignisablauf zu identifizieren, zu generalisieren und zu kommunizieren. Luhmann geht ebenfalls darauf ein, dass die Sachdimension auch bei der Reaktion auf den Normverstoß eine Rolle spielt. Diese besteht zunächst darin, dass die Gültigkeit der Norm dargestellt wird.

Auf der Einhaltung eines typisch erwarteten Ablaufs von Verhalten zu bestehen und dies darzustellen, kann auf zweierlei Weise geschehen. Erstens: Es wird die Abweichung erkannt und korrigiert. Die Norm erhält in diesem Fall den Status der faktischen Gültigkeit. Zweitens: Es wird keine Korrektur eingeleitet, sondern einem Akteur explizit die Verantwortung für den Normverstoß zugeschrieben. Die Norm erhält in diesem Fall den Status moralischer Gültigkeit. Die Zurechnung von Verantwortung wird hier gegenüber der Wiederherstellung des typischen Ereignisablaufes bevorzugt bzw. spielt hier überhaupt erst eine Rolle.

In beiden Fällen wird daran festgehalten, dass der typisch erwartete Verhaltensablauf einzuhalten ist. Die erste Form – Identifikation der Abweichung und Korrektur – verbleibt in der Sachdimension. Nehmen wir als Beispiel das Autofahren. Beim Abbiegen von einer Straße sollte etwa erst das Setzen des Blinkers (X) und dann das Abbiegen (Y) erfolgen. Wenn der fahrende Akteur die Handlung X nicht ausführt, wird der typisch erwartete regelgerechte Ereignisablauf nicht eingehalten. Wenn der Akteur etwa durch Hupen seitens anderer Fahrer:innen daran erinnert wird, die Handlung X auszuführen und dies auch tatsächlich tut, ist der Fehler korrigiert. Das Autofahren verläuft wieder normgemäß. Wenn der Akteur allerdings zunächst für sein Fehlverhalten zur Rede gestellt wird, wird er primär als moralisch verantwortlich identifiziert. Bei dieser zweiten Form des Geltendmachens der Einhaltung der Norm tritt somit die Sozialdimension in den Vordergrund. An diesem Fall wird gleichwohl sichtbar, dass die sachliche und die soziale Identifikation von Normverstößen im Alltag kaum zu trennen sind: auch mit dem Hupen wird ein Schuldiger sanktioniert. Dies wäre nur dann nicht mehr der Fall, wenn der Fehler automatisch durch die Technik selbst korrigiert würde.

Dass der Sachgehalt des normierten Ereignisablaufs nicht eingehalten worden ist, wird auch bei der Reaktion, die nach einem Verantwortlichen sucht, vorausgesetzt, aber der Schwerpunkt liegt hier nicht auf der sachlichen Korrektur, sondern auf der Zuschreibung von Verantwortung. Der sachliche Funktionsaspekt und der sozial-moralische Aspekt von Normen müssen also bei der Darstellung der Gültigkeit von Normen voneinander unterschieden und reflektiert aufeinander bezogen werden. Denn im Alltag sind der sachliche und der moralische Aspekt zumeist untrennbar miteinander verbunden. Die Aufforderung zur Einhaltung des typischen Ablaufs eines Verhaltens und deren praktische Befolgung können mehr oder weniger stark moralisch aufgeladen sein, und die Verantwortungszuweisung kann ggf. auch eine explizite Aufforderung zur Fehlerkorrektur enthalten. Diese beiden Aspekte analytisch zu unterscheiden, wird unabdingbar, wenn es um die Technisierung von Normen und deren Durchsetzung geht, denn eine solche Technisierung kann den moralischen Aspekt der Norm und Normbefolgung überflüssig machen.

Diese These erfordert eine weitere Differenzierung innerhalb der Sachdimension. Soziale Normen sind an einer Typik des Ereignisablaufs orientiert, während technische Normen an einem expliziten Modell des Ereignisablaufes orientiert sind. Bei typischen Abläufen ist der Typus, an dem sich die beteiligten Akteure orientieren, nicht vollständig expliziert. Die Orientierung an einem Typus schließt diffuse Hintergrunderwartungen mit ein (Garfinkel 1967). Der Typus ist also teilweise expliziert, bleibt aber in vielen Hinsichten unexpliziert. Im Anschluss an Hermann Schmitz bezeichnen wir die Erwartungen, die auf einen typischen Ablauf von Ereignissen bezogen sind, als eine relativ chaotische Menge. (Schmitz 1964, S. 311 ff.) Diese ist formal darüber definiert, dass es einerseits unentschieden ist, ob die Elemente der Menge miteinander identisch oder verschieden voneinander, also chaotisch sind, während es andererseits für einzelne Elemente entschieden ist, ob sie miteinander identisch oder voneinander verschieden sind. Dies kennzeichnet präzise die formale Struktur von sachbezogenen Erwartungen, die Beteiligte bezogen auf einen typischen Ereignisablauf haben. Einige Erwartungen sind expliziert, während andere in einem chaotischen Verhältnis zueinanderstehen. Sie könnten expliziert, also als bestimmte Erwartungen identifiziert werden, aber dies ist noch offen. Solange die Erwartungen noch nicht expliziert sind, ist es unklar, wie viele es sind und um welche Erwartungen es sich genau handelt. Chaotische bzw. relativ chaotische Mengen sind nicht bzw. nicht vollständig zählbar und können daher auch nicht in ein mathematisches Kalkül integriert werden.

Dieses Argument machen wir grundsätzlich für alle Arten sozialer Normen geltend. Gewohnheiten, Sitten, Gebräuche, Konventionen, religiöse, rechtliche Normen usw. unterscheiden sich in ihren Sachbezügen, in ihrer Geltungsreichweite, in der Form der Durchsetzbarkeit ihrer Einhaltung und nicht zuletzt in ihrem Explizitheitsgrad (Weber 1980, S. 16 ff.). Wie sich dies im Einzelfall konkret gestaltet, ist eine empirische Frage, die sich nur mit Bezug auf konkrete Situationen, die in ihnen geltenden Normen und die entsprechenden Möglichkeiten der Normdurchsetzung beantworten lässt. Generell kann man aber sagen, dass etwa rechtliche Normen einen vergleichsweise hohen Explizitheitsgrad aufweisen, ohne allerdings vollkommen explizierbar zu sein; wären sie vollständig expliziert, bestünde keine Notwendigkeit für Rechtsverfahren, an denen noch Richter:innen beteiligt sind, die die teilexplizierten Normen interpretieren müssen. Die Notwendigkeit einer in ihrem Ergebnis offenen Explikation der rechtlich geltenden Normen am jeweiligen Fall ist daran erkennbar, dass die Rationalität von Urteilen in erster Linie nicht an ihrem konkreten sachlichen Gehalt gemessen wird, sondern daran, ob dem Urteilsverfahren Rechtstreue beigemessen werden kann (Luhmann 1978). In dessen Rahmen werden im Hinblick auf die Passung von Regel und Fall oder die Strafbeimessung Erwartungen und Normen expliziert, die vorher implizit waren.

Solche offenen Aus- und Festlegungen sind für technische Normen nicht explizit genug. Nehmen wir noch einmal das Beispiel des Autofahrens. Wenn man den Vorgang des Abbiegens einschließlich der dabei relevanten Normen technisiert, kann dies, moderne automatisierte Technologien vorausgesetzt, etwa so funktionieren: Es werden Autos gebaut, die den Vorgang des Abbiegens ohne Hilfe der Fahrer:innen vornehmen. Den Autos können die Grundregeln der Straßenverkehrsordnung implementiert werden. Weiterhin reicht es aus, eine technische Kontrolleinheit einzurichten, in die ein „Modell“ (Guagnin und Pohle 2019) eines angemessenen Abbiegens implementiert ist. Die Kontrolleinheit kann das Auto über Fehlermeldungen steuern. Dazu sind Sensoren erforderlich, die Umgebungsdaten erfassen und diese auf das Modell des angemessenen Abbiegens beziehen. Weiterhin muss dem Auto ein Lernmechanismus implementiert werden, der es so lange probieren lässt, bis die Abläufe des Abbiegens in der richtigen Reihenfolge erfolgen. Wird der sachliche Ablauf in dieser Weise an einem Modell orientiert, sind die Einzelheiten im Vorhinein im Sinne messbarer Parameter definiert. Der Blinker ist etwa bei einem Mindestabstand von der Abbiegestelle zu setzen und eine angemessene Geschwindigkeit beim Abbiegen zu wählen usw. Was zu einem späteren Zeitpunkt der Fall sein wird, ist im Sinne einer Menge expliziter sachlicher Festlegungen definiert. Diese ist zu verstehen als eine im Vorhinein bestimmte Menge möglicher sachlicher Konstellationen: Was wann an welchem Ort in welchem zeitlichen Abstand zu anderen definierten Orten und Zeiten abläuft. In diesem Fall ist für alle Elemente der zukünftigen Konstellation entschieden, ob sie miteinander identisch oder voneinander verschieden sind. Eine solche Menge bezeichnen wir mit Schmitz als eine individuelle Menge, deren Elemente voneinander verschieden sind und deshalb gezählt und in ein mathematisches Kalkül integriert werden können (Schmitz 1964, S. 395 ff.).

Mit Bezug auf die Sachdimension lassen sich also zwei wichtige Unterschiede zwischen sozialen und technischen Normen ausmachen. Der erste Unterschied besteht darin, dass die Fehlerkorrektur bei sozialen Normen mit Bezug auf eine Typik erfolgt, deren Eigenschaften nicht vollständig expliziert sind. D. h. bestimmte Aspekte bleiben implizit und sind hinsichtlich ihrer Merkmale unentschieden. Sie können erst im Nachhinein expliziert werden. Da die Menge der Erwartungen, die auf den typischen Ablauf bezogen sind, relativ chaotisch ist, kann sie nicht in ein mathematisches Kalkül und damit in eine algorithmische Steuerung einbezogen werden.Footnote 4 Im Gegensatz dazu sind technische Normen vollständig explizit, d. h., sie sind an einem Modell orientiert, das festlegt, welche Ereignisse wie aufeinander folgen bzw. anhand welcher Kriterien die Fehlerfreiheit eines Verhaltens bzw. einer Prozedur bemessen und ein ggf. auftretender Fehler korrigiert werden kann (Guagnin und Pohle 2019). Die Ereignisse, die als Folgeereignisse in Frage kommen sollen, bilden eine Menge aus diskreten voneinander unterscheidbaren Elementen, weshalb diese auch problemlos in einen technisch-algorithmischen Steuerungsmechanismus integriert werden können.

Der zweite wichtige Unterschied zwischen sozialen und technischen Normen besteht darin, dass im Fall von sozialen Normen bei der sachlichen Fehlerkorrektur immer die Sozialdimension mitgedacht werden muss. D. h. bei sozialen Normen geht es immer auch darum, Verantwortliche für den Normverstoß zu identifizieren. Darüber kann die sachliche Fehlerkorrektur ggf. sogar vollständig in den Hintergrund treten. Bei technischen Normen steht dagegen die sachliche Fehlerkorrektur bzw. die Fehlerprävention im Vordergrund, die zumeist selbst in technischer Weise erfolgt.

2.3 Die Zeitlichkeit von Normen

Die Bedeutung der Zeit für das Normverständnis wird zumeist implizit vorausgesetzt. Habermas spricht etwa von der räumlichen und zeitlichen Generalisierung der Gültigkeit von Normen durch ihre Internalisierung (Habermas 1995, S. 57). In vergleichbarer Weise wird die Zeit auch bei Durkheim und Weber in Anspruch genommen. Berger und Luckmann (1980, S. 62 ff.) zufolge entwickelt sich eine gesellschaftliche Welt mit stabilen, d. h. dauernden Normen und Institutionen, wenn die Typisierungen, die sich im Verhältnis von Ego und Alter entwickelt haben, an Dritte, d. h. an Nachkommen, weitergegeben werden. Hier werden die Sozialdimension (Einführung von Dritten) und die Zeitdimension (generationenübergreifende Dauer) argumentativ ineinander verschränkt. Luhmann geht einen Schritt weiter, da er den Erwartungsbegriff zentral stellt und damit auch den Zukunftsbezug in der Zeitdimension berücksichtigt. Im Anschluss an Galtung (1959) führt er die Unterscheidung zwischen normativen und kognitiven Erwartungen ein. Diese Unterscheidung macht er daran fest, wie Erwartungsenttäuschungen verarbeitet werden und welche Folgen das für die Erwartungen selbst hat. Ändert ein Akteur seine Erwartungen, nachdem sie enttäuscht worden sind, handelt es sich um kognitive Erwartungen. Wenn ein Akteur dagegen an enttäuschten Erwartungen festhält und dies entsprechend zum Ausdruck bringt, handelt es sich um normative Erwartungen (Luhmann 1972, S. 42 ff.). In Bezug auf die Sachdimension haben wir argumentiert, dass an Erwartungen sowohl im Sinne der Forderung nach einer Verhaltenskorrektur (sachlich-funktionaler Aspekt) als auch durch moralische Verantwortungszurechnung im engeren Sinn (sozial-moralischer Aspekt) normativ festgehalten werden kann. Auch beim Zeitbezug, der durch die zentrale Stellung von Erwartungen in der Normenanalyse Luhmanns deutlich hervortritt, sind weitere Differenzierungen erforderlich. Dasjenige, was jemand erwartet, ist zukünftig, aber da Erwartungen das gegenwärtige Handeln leiten, sind Erwartungen als gegenwärtige Zukunft zu verstehen. Dieses komplexe Verhältnis von Gegenwart und Zukunft gilt es genauer zu erläutern.

Soziale Akteure erwarten einen gegenwärtigen und zukünftigen Ablauf von Ereignissen. Was sie gegenwärtig tun, ist durch die erwartete Zukunft (mit)bestimmt. Nur mit Bezug auf bestimmte Erwartungen ist ein gegenwärtiger Handlungsvollzug überhaupt sinnvoll. Die erwartete Zukunft ist also nicht nur etwas, was sich an einem späteren Zeitpunkt ereignen wird. Vielmehr ist die erwartete Zukunft gegenwärtig, denn die Zukunft ist jetzt wirksam – sie bestimmt den gegenwärtigen Handlungsvollzug, insofern bildet die Zukunft einen integralen Bestandteil der Gegenwart. Zugleich ist die Zukunft aber noch nicht realisiert. Das Zukünftige ist noch nicht. Die Gegenwart ist also einerseits von der Zukunft unterschieden, andererseits ist die Zukunft bereits gegenwärtig wirksam, weil sie die Gegenwart bestimmt. Wenn ich Auto fahre, ist das zukünftige Ziel bereits in der Handlung des Autofahrens präsent. Es macht einen Unterschied für die Gegenwart, ob ich ein konkretes Ziel vor Augen habe oder der Weg mein Ziel ist.

Dieses praktisch wirksame Verhältnis von Gegenwart und Zukunft bezeichnen wir als ein reflexives bzw. dialektisches Verhältnis. Denn Zukunft und Gegenwart sind einerseits zwei voneinander unterschiedene Zeiten, andererseits sind Gegenwart und Zukunft eins, weil die Zukunft gegenwärtig ist, d. h. Gegenwart und Zukunft bilden eine auf Zukunft ausgerichtete Gegenwart, weshalb Gegenwart und Zukunft gerade nicht als zwei verschiedene Zeiten beschrieben werden können, sondern als eine. Dies ist auch die Bedingung dafür, dass die Zukunft handlungsmotivierend wirkt (Lindemann 2016), denn nur als gegenwärtige Zukunft, die scheitern kann, ist der gegenwärtige Zukunftsbezug handlungsmotivierend. Die Zukunft ist also zukünftig und zugleich im gegenwärtigen Vollzug präsent. Schütz (1982, S. 80 f.) spricht von Um-zu-Motiven, allerdings ohne die Dialektik im Verhältnis von Gegenwart und Zukunft eigens zu reflektieren.

Von diesem reflexiven Bezug von Zukunft und Gegenwart bei der Orientierung an sozialen Erwartungen und Normen ist der technisch vermittelte rekursive Bezug zwischen einem Vorher und einem Nachher zu unterscheiden, der etwa die robotische Steuerung einer Maschine kennzeichnet (Lindemann 2017, S. 270). Diese Steuerung erfolgt, indem an einem Vorherzeitpunkt ein Nachherzeitpunkt kalkuliert wird und am Nachherzeitpunkt eine rekursive Kontrollschleife eingebaut wird, durch die der für den Nachherzeitpunkt kalkulierte Zustand mit dem tatsächlich erreichten Zustand am Nachherzeitpunkt abgeglichen wird. Zum Zweck solcher rekursiven Bezüge von Vorher-Nachherzeitpunkten kann die Zeit in größere oder immer kleinere Maßeinheiten untergliedert werden: Milliarden von Jahren, Jahre, Monate, Wochen, Tage, Sekunden und immer kleinere Bruchteile von Sekunden. Diese mathematisierte Zeit bezeichnen wir als digitale Zeit (vgl. Lindemann 2014, S. 169 ff.). Um 13:45 Uhr findet Operation X statt, und für 13:55 Uhr wird ein bestimmter Zustand kalkuliert. Die beiden Operationen, das Ausführen von X und die Kalkulation des Nachherzeitpunkts, sind voneinander getrennt. Am Nachherzeitpunkt, also um 13:55 Uhr, finden ebenfalls zwei voneinander getrennte Operationen statt: zum einen die rekursive Kontrollschleife, mittels derer der kalkulierte Zustand und der erreichte Zustand abgeglichen werden, und zum anderen die Operation Y, die auf die Operation X folgt.

Wie in Bezug auf die Sachdimension von Normen herausgearbeitet wurde, existieren im Falle sozialer Normen die Erwartungen im Modus unbestimmter Hintergrunderwartungen, die eine relativ chaotische Menge bilden. Dies gilt in hohem Maße für Gewohnheiten und Traditionen. Aber auch rechtlich kodifizierte Normen sind, wie wir argumentiert haben, nicht wirklich vollständig expliziert. Dementsprechend kann es im Fall von enttäuschten Erwartungen, die in der Vergangenheit nicht exakt definiert wurden, dennoch für die Akteure völlig einleuchtend sein anzunehmen, dass sie implizit bestanden hatten. Und deshalb ist es auch möglich, eine Norm nachträglich zu explizieren, die implizit schon in der Vergangenheit gegolten hat. In diesem Fall wird die Norm nicht gegenwärtig gesetzt, sondern vielmehr wird gegenwärtig erkannt, dass eine Norm auch schon zuvor gegolten hat. Sie war nur noch nicht als solche explizit gemacht worden (ebd., S. 269). Soziale Normen können gelten, ohne im Einzelnen expliziert zu sein. Dieses Normverständnis ist vereinbar mit der Annahme, dass es eine offene Zukunft gibt. Auch eine unbestimmte, offene Zukunft bleibt auf dauernde Normen bezogen, denn es ist möglich, sie auf eine neu explizierte Weise auf Normen zu beziehen, die schon in der Vergangenheit bestanden haben. Dies ist die Grundlage dafür, dass Normen auch unter der Bedingung einer offenen Zukunft dauerhaft existieren und damit ein Vertrauen in ihre Geltung ermöglichen.

Nun kann man das Verhältnis von Modalzeit und Dauer genauer fassen, bei der wir an Schmitz anschließen, der Dauer über ihr Verhältnis zur Modalzeit definiert. (Schmitz 1967, S. 115 ff.) Danach übergreift die Dauer die modalen Differenzen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wenn es um die Dauer von etwas geht, gibt es hierfür zwei Möglichkeiten. Etwas, etwa eine Norm, ist sowohl gegenwärtig als auch vergangen und zukünftig. Dies wäre ein logischer Widerspruch, der vermieden werden kann, wenn man Dauer und die modalen Differenzen im Sinne eines chaotischen Verhältnisses begreift. Etwas dauert, wenn es unentschieden ist, ob es eindeutig gegenwärtig, vergangen oder zukünftig ist. Gemäß diesem Verständnis von Dauer meint die Aussage, dass soziale Normen dauern, dass es für gültige Normen nicht entschieden ist, ob sie vergangen, gegenwärtig oder zukünftig sind. Dauernde Normen haben bereits in der Vergangenheit gegolten, aber sie sind nicht eindeutig vergangen, denn sie gelten auch gegenwärtig, sie sind aber auch nicht eindeutig gegenwärtig, denn sie gelten auch zukünftig. Normen sind aber auch keine zukünftigen Sachverhalte, die erst noch realisiert werden müssten, denn sie gelten schon jetzt und haben auch in der Vergangenheit gegolten.

Die rekursive Kontrollschleife im Rahmen von Vorher-Nachher-Relationen im Fall einer mittels technischer Normen und Algorithmen ins Werk gesetzten robotischen Steuerung funktioniert anders. Hier muss am Vorherzeitpunkt der Zustand definiert werden, der später am Nachherzeitpunkt erreicht sein soll. Der Nachherzustand wird als fehlerhaft identifiziert, wenn er der am Vorherzeitpunkt gegebenen Definition nicht entspricht. Eine nachträgliche Explikation von Normen ist hier nicht notwendig, weil technische Normen bereits per se detailliert expliziert sein müssen und die dabei definierten Elemente eine Menge aus individuellen Elementen bilden, die mathematisierbar sind. Die Norm, die am Vorherzeitpunkt implementiert war, ist auch am Nachherzeitpunkt noch gültig. An die Stelle des dynamischen Verhältnisses von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft tritt die lineare Abfolge möglichst exakt messbarer Zeitpunkte, die anhand eines Vorher und Nachher streng geordnet sind. Es bedarf einer expliziten Rekursion auf einen zuvor kalkulierten Nachherzeitpunkt, um an einem Nachherzeitpunkt zu prüfen, ob ein Fehler aufgetreten ist.

Vor diesem Hintergrund lassen sich die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen technischen und sozialen Normen hinsichtlich der Zeitdimension noch einmal kurz zusammenfassen. Letztere müssen in der Gegenwart nicht vollständig expliziert sein, sondern können auch nachträglich expliziert und dennoch als Normen anerkannt werden, die schon in der Vergangenheit gegolten haben. Indem sie dauern, übergreifen soziale Normen die modale Differenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In diesem modalzeitlichen Sinne dauern technische Normen nicht. Sie gelten für einen definierten Zeitraum bzw. zumindest ab einem definierten Zeitpunkt und würden ohne weitere Prüfung für alle Nachherzeitpunkte gelten, bis das Modell bzw. technische System, dessen Teil sie sind, geändert wird.

Für die soziologische Analyse gegenwärtiger Vergesellschaftungsprozesse eröffnet sich auf der Grundlage dieser Unterscheidung zwischen sozialen und technischen Normen die Möglichkeit, die Frage zu stellen, ob mit der Durchsetzung digitaler Technologien der moralische Aspekt sozialer Normen in den Hintergrund rückt und es dadurch möglich wird, individuelles Verhalten ausschließlich über technische Normen zu steuern. Empirisch operationalisieren lässt sich diese Frage, indem genauer untersucht wird, ob bzw. wie die kommunikativ-institutionell gesicherte Sollnutzung von Technik selbst automatisiert wird. Denn dadurch würde die Sollnutzung, die zuvor durch soziale Normen gesichert worden war, zu einer technisch durchgesetzten Norm, gegen die man nicht mehr verstoßen kann. Um untersuchen zu können, ob eine solche mögliche Verschiebung auch transformative Konsequenzen für die Gesellschaftsstruktur hätte, ist es zudem notwendig, zu Beginn der Analyse eine gesellschaftstheoretische Festlegung vorzunehmen, von welcher Strukturform in der Analyse ausgegangen wird. Die systematische Bedeutung dieser Annahme soll im Folgenden für die Analyse von Digitalisierungsprozessen näher erläutert werden.

3 Die methodische Bedeutung von Gesellschaftstheorie

Wir hatten einleitend festgestellt, dass es umstritten ist, ob bzw. inwiefern der als Digitalisierung bezeichnete gesellschaftliche Prozess zu einer strukturellen Veränderung von Gesellschaften führt. Um eine empirisch fundierte Antwort auf diese Frage zu ermöglichen, ist es erforderlich, eine gesellschaftstheoretisch informierte Aussage über den Ausgangspunkt einer solchen Veränderung zu machen. Es ist also erforderlich, sich für eine Gesellschaftstheorie zu entscheiden. Um die Frage der Strukturveränderung empirisch zu operationalisieren, schlagen wir vor, folgendermaßen vorzugehen: In einem ersten Schritt geht es darum, die zentralen bestandserhaltenden gesellschaftlichen Institutionen zu identifizieren. In einem zweiten Schritt kann dann danach gefragt werden, ob die Digitalisierungsprozesse zu einer Veränderung der strukturstützenden Institutionen führen bzw. führen können und ob dies grundlegende Veränderungen der Gesamtstruktur der Gesellschaft zur Folge hat bzw. haben kann.

Wir führen diesen Gedanken anhand eines Beispiels und mit Bezug auf die Theorie funktionaler bzw. horizontaler Differenzierung vor, von der ausgehend Möglichkeiten einer Entdifferenzierung der Gesellschaft diskutiert werden. (Lindemann 2019; Pohle 2012, 2018; Rost 2008) Leitend ist das folgende Vorgehen:

  1. 1.

    Wir identifizieren jene Institutionen, denen für eine bestehende Gesellschaft Strukturrelevanz zukommt, weshalb bei deren Veränderung eine Veränderung der gesellschaftlichen Gesamtstruktur als plausibel gelten kann.

  2. 2.

    Wir beziehen die Differenz zwischen sozialen und technischen Normen auf die strukturrelevanten Institutionen und fragen danach, wie sich mithilfe der Normanalyse eine Veränderung der strukturrelevanten Institutionen empirisch fundiert in den Blick nehmen lässt.

Auf der Grundlage der Theorie horizontaler Differenzierung lässt sich der Ausgangspunkt der Strukturveränderung folgendermaßen skizzieren: Es gibt eine Vielzahl gesellschaftlicher Handlungszusammenhänge, in die sich Individuen vergesellschaften können, die in einem nicht-hierarchischen Verhältnis zueinanderstehen. Beispiele für solche Handlungsbereiche wären etwa Recht, Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft. (Luhmann 1999; Lindemann 2018) In einem nicht-hierarchischen Verhältnis zueinander zu stehen, ist die Bedingung dafür, dass sich in den verschiedenen Handlungszusammenhängen je unterschiedliche Handlungslogiken ausbilden können. Die Wirtschaft folgt einer Logik der Gewinnmaximierung, die Wissenschaft einer Logik kritischer Wahrheitsprüfung und die Politik einer Logik des Machterhalts. (Luhmann 1997; Lindemann 2018) Die Aufrechterhaltung dieser Differenzierungsordnung hängt zentral von der Institutionalisierung der Grundrechte ab bzw. der Bildung der Institution des Menschen gleich an Freiheit und Würde. Durch diese wird verhindert, dass Individuen von der Logik einzelner Handlungszusammenhänge vereinnahmt werden und nur noch dieser folgen. Nur wenn Individuen frei sind, unterschiedlichen Handlungslogiken zu folgen, können sie sich im Rahmen politischer Betätigung am Machterhalt, im Rahmen wissenschaftlicher Arbeit an kritischer Wahrheitsprüfung orientieren und so weiter. Die These, dass die genannten Institutionen der Grundrechte bzw. des Menschen gleich an Freiheit und Würde strukturrelevant sind, führt die Differenzierungstheorie Durkheims (1991) weiter, der den Kult des Individuums als ein Strukturmerkmal moderner Vergesellschaftung identifiziert hatte. (Lindemann 2018)

Um die Analyse konkret durchzuführen, machen wir eine Unterscheidung explizit, die in der Individualisierungsforschung eher implizit gehalten wird und die auf ein doppeltes Individualitätsverständnis der Moderne verweist. (ebd., S. 318 ff.) Dieses bezeichnen wir mit den Termini „Individuum als Besonderes“ und „Individuum als Einzelnes“. (Lindemann 2019) Die Rede vom Individuum als Besonderem bezieht sich darauf, dass Menschen, aber auch Dinge, z. B. Autos, oder Tiere, durch ihre positiven und durch Messung zu erfassenden Merkmale bestimmt werden. So verstanden ist Individualität eine je besondere Merkmalskombination, d. h. eine bestimmte Ausprägung allgemeiner Merkmale (Geschlecht, Alter, Beruf, sozialer Status, Klick- und Kaufverhalten usw.), die gemessen werden kann. Reckwitz (2017) beschreibt dies als Logik der Besonderung. Damit ist aber noch nicht thematisiert, ob ein Mensch, ein Ding oder ein Auto auch als ein freies Wesen behandelt werden, welches seine Zukunft selbst gestalten und deswegen auch gegen eine Norm verstoßen kann.

Die Rede vom Individuum als Einzelnes bezieht sich auf etwas anderes. Als Einzelnes ist das Individuum dasjenige, was nicht durch ein Wissen erfasst wird und sich in seiner „Exklusionsindividualität“ (Luhmann 1993) außerhalb des gesellschaftlichen Zugriffs befindet (so schon Simmels zweites soziologisches Apriori: Simmel 1983, S. 25 ff.). Das Individuum außerhalb der Gesellschaft ist zugleich eines in Subjektstellung, d. h. es kann sich zu sich verhalten und ist nicht durch die Eigenschaften determiniert, die es als der Welt zugehörig ausweisen. Da es sich zu sich verhalten kann, unterbricht es seine Determiniertheit und kann daher für sein Handeln verantwortlich gemacht werden (siehe dazu etwa Luhmann 1984, S. 195 f.). Damit die moralische Adressierung von Individuen für die Steuerung gesellschaftlicher Prozesse relevant wird, müssen die Individuen in einer gesellschaftlich relevanten Weise als Einzelne angesprochen werden. Genau das ist mit institutionalisierter Individualisierung gemeint, dass die Individuen stets zugleich als Besondere und als Einzelne adressierbar sind.

Wenn man von dieser gesellschaftstheoretischen Prämisse ausgeht, fällt insbesondere bei Nassehi (2019) eine interessante Auslassung auf. Trotz seiner außerordentlich breiten Berücksichtigung der Literatur bezieht er sich nicht auf diejenigen Arbeiten, deren Digitalisierungsanalyse gesellschaftstheoretisch die Institution der Grundrechte (Pohle 2012) oder die Institution des menschlichen Individuums gleich an Freiheit und Würde (Lindemann 2015, 2019) zentral stellen. Diese Arbeiten identifizieren – wenn auch in unterschiedlicher Weise – jeweils strukturrelevante Institutionen, deren Veränderung eine Veränderung der Differenzierungsstruktur insgesamt als möglich erscheinen lässt.

Bislang fehlt aber auch im Rahmen dieser differenzierungstheoretischen Ansätze, die strukturrelevante Institutionen identifiziert haben, eine empirisch breit angelegte Fundierung. Um diese zu erreichen, bietet sich die Orientierung an einem differenzierten Normbegriff an. Denn dieser ermöglicht es, das spezifische doppelte Individualitätsverständnis, das in der horizontalen Differenzierung normativ-institutionell verankert ist, in Bezug zu setzen zu konkreten, empirisch vorfindbaren Formen der Verhaltenssteuerung. Gefährdet es die Institution des Individuums gleich an Freiheit und Würde, wenn Individuen nicht mehr als moralisch verantwortliche Einzelne adressiert werden? Ist eine Trennung der Handlungslogiken etwa von Wirtschaft, Wissenschaft oder Politik und Recht überhaupt noch erforderlich, wenn alle Informationen über das Individuum technisch auf großen digitalen Plattformen zusammengeführt und das individuelle Verhalten entsprechend vorhergesagt und gesteuert werden kann? Die Beantwortung solcher Fragen bedarf einer umfangreichen empirischen Forschung. Der von uns gemachte Vorschlag, Veränderungen der Verhaltenssteuerung entlang der Differenzierung von sozialen und technischen Normen zu untersuchen, würde es im Rahmen einer solchen Forschung ermöglichen, konkrete Formen der Verhaltenssteuerung in ihrer Relevanz für die gesellschaftliche Strukturbildung und deren Veränderung zu erfassen. Wie derartige Formen der Verhaltenssteuerung funktionieren, werden wir nachfolgend am Beispiel von Assistenztechnologien illustrieren, die ab 2024 im Rahmen der EU-Strategie „Vision Zero“ in Neuwagen implementiert werden sollen.

4 Vision Zero. Das ersehnte Ende des Verkehrsdelinquenten?

Im Rahmen der von der EU vorgestellten Strategie zur Verkehrssicherheit „Vision Zero“ (Europäische Kommission 2020), nach der bis 2050 keine Verkehrstoten mehr zu beklagen sein sollen, wurden Autohersteller vom EU-Parlament zu einer Reihe sicherheitsrelevanter Anpassungen verpflichtet.Footnote 5 Hierzu gehören eine Reihe technologischer Neuerungen, die das Verhalten der Fahrer:innen, des Fahrzeugs und der Umwelt des Fahrzeugs überwachen und bei bestimmten Ereignissen automatisiert bestimmte Veränderungen im Fahrzeug in Gang setzen sollen. Seit dem 06. Juli 2022 gilt diese Verordnung für alle Typengenehmigungen in der EU für KFZ, LKW und Busse. Ab dem 7. Juli 2024 müssen Technologien, die diesen Anforderungen entsprechen, in jedem Neuwagen verbaut sein. Varianten der geforderten Technologien sind bereits heute in einigen Fahrzeugen mehrerer Hersteller im Einsatz.

Diese Technologien sind für uns ein interessanter Anwendungsfall, weil hier, erstens, eine avancierte automatisierte Technologie zum Einsatz kommt, deren Einsatz, zweitens, rechtlich durch EU-Vorgaben in bestimmter Weise reguliert ist und die, drittens, in eine Handlungsumgebung eingreift, die in spezifischer Weise auch von anderen sozialen als nur rechtlichen Normen reguliert wird.

Zur besseren Eingrenzung der Thematik beziehen wir uns auf eine bestimmte Technologie, den sogenannten intelligenten Geschwindigkeitsassistenten (EU-Verordnung 2019). Mit diesem ist vorgesehen, Fahrer:innen dazu zu bewegen, Geschwindigkeitsbegrenzungen nicht zu übertreten.

Geregelt ist zum einen, was diese Technologie leisten können soll, und zum anderen, inwieweit ihre Funktion ausgesetzt werden darf oder sollte. Zunächst sollen die Fahrer:innen zuverlässig und deutlich informiert werden, wenn sie die jeweils geltende Geschwindigkeitsbeschränkung überschreiten. Hierzu muss es zu einem Informationsabgleich zwischen den digitalen Kartendiensten, den GPS-Koordinaten des Fahrzeuges und ggf. den per Video erfassten Straßenschildern vor Ort kommen. Die Technologie darf das Fahrzeug nicht automatisch abbremsen. Zulässig möglich, aber nicht zwingend erforderlich ist es allerdings, die Kraftzufuhr zu reduzieren. Jedoch muss die Möglichkeit gewährleistet sein, dass die Fahrer:innen die Geschwindigkeitsbegrenzung ggf. überschreiten können. Während diese Technologie nach dem Starten des Fahrzeugs standardmäßig aktiviert sein soll, müsse es möglich bleiben, diese bei der Fahrt abzuschalten (ebd., Art. 6). Damit soll die Nutzer:innenakzeptanz bei der Einführung der Technologie gesteigert werden, wie das European Transport Security Council (ETSC 2018) in einem Briefing schreibt. Neben der Vermeidung von Unfalltoten wird ein weiterer politischer Nutzen darin gesehen, dass hierdurch auch CO2-Emissionen eingespart werden könnten. Gleichwohl geht man davon aus, dass für die Fahrer:innen selbst andere Gründe dafür sprechen, der Verwendung dieser Technologie zuzustimmen, z. B. die Vermeidung von Ordnungsstrafen wegen überhöhter Geschwindigkeit (ebd.).

Ein solches Assistenzsystem unterstützt Fahrer:innen also bei der Orientierung an der Sollnutzung ihres Autos. Die Einhaltung der angemessenen Geschwindigkeit des von ihnen gesteuerten Fahrzeugs wird durch die Technik überwacht und die Geschwindigkeit ggf. automatisch korrigiert, indem die Kraftzufuhr abgesenkt wird. Das ausgegebene Signal zeigt an, welche Handlungsalternative gewählt werden sollte. Die aus dem Signal zu ziehenden Handlungskonsequenzen sollen jedoch weiterhin vom Menschen verantwortet werden. Entsprechend wird die Einführung dieser Technologie auch von dem Einbau einer Black Box begleitet, die die kurz vor, während und nach einem eventuellen Unfall automatisiert und DSGVO-konform aufgezeichneten Daten speichert, weil sie Rückschlüsse über das Fahrverhalten der Fahrer:innen erlauben und damit auch haftungsrechtliche Fragen beantworten helfen können sollen (EU-Verordnung 2019, Art. 6).

Die verpflichtende Einführung dieser assistiven Technologie ist rechtlich stark reguliert und von einem bestimmten politischen Willen gekennzeichnet. Neben dem vorrangigen Ziel des Lebensschutzes von Verkehrsteilnehmer:innen geht es auch darum, diesen Schutz nicht gegen grundlegende Freiheitsrechte von Fahrer:innen auszuspielen. Diese beinhalten grundsätzlich, dass Fahrer:innen Verhaltensvorschläge von Technologien überstimmen können sollen. Vor allem jedoch müssen Fahrer:innen im rechtlichen Sinne für unerwünschte Folgen haftbar gemacht werden können. Das geht jedoch nur, solange sie als Individuen gleich an Freiheit und Würde adressiert werden. Denn nur als grundsätzlich frei Handelnde können sie weiterhin moralisch für ihr Fehlvergehen verantwortlich gemacht werden. Insofern macht sich das Recht hier als spezieller Modus sozialer Verhaltenssteuerung geltend, das über die technische Verhaltenssteuerung hinaus die Oberhand für sich beansprucht.

Der rechtliche bzw. politische Gestaltungsanspruch und die avisierte technische Funktionsweise stehen hier offenbar in einem Delegationszusammenhang: Das Recht bedient sich der Technik, um jenseits der Moralisierung des Verhaltens von Fahrer:innen die Wahrscheinlichkeit dafür zu erhöhen, dass das gewünschte Verhalten (die Einhaltung einer regelkonformen Höchstgeschwindigkeit) auch tatsächlich zustande kommt, es also zu einer Enttäuschung normativer Erwartungen erst gar nicht kommt, sodass für die moralische Markierung von Erwartungsenttäuschungen gar kein Anlass mehr besteht. Dies kann einerseits zu einer Entlastung des Rechts insofern führen, als weniger Verkehrsdelikte überhaupt rechtlich anhängig werden. Andererseits ist jeder Wegfall eines Verkehrsdelikts nicht nur eine Entlastung, sondern auch eine Aufhebung der Notwendigkeit von Rechtsprechung, da Möglichkeiten, die Geltung enttäuschter normativer Erwartungen in symbolisch generalisierter Weise („im Namen des Volkes“) darzustellen, entfallen. Angesichts des Arguments, dass die Ausschaltbarkeit des „intelligenten Geschwindigkeitsassistenten“ anfängliche Akzeptanzprobleme lösen soll, bleibt denkbar, dass die Freiheitsgrade in der Nutzung solcher Technologien durch die Fahrer:innen in Zukunft dann doch sukzessive weiter abgesenkt werden bis zu dem Punkt, an dem die Sollnutzung selbst technisch durchgesetzt wird. Man kann bereits an diesem Punkt der Analyse des Einsatzes solcher Technologien die Frage aufwerfen, ob solche assistiven Technologien Rückwirkungen haben auf die Theorie und Praxis der Rechtsprechung. Diskutiert wird dies etwa hinsichtlich des automatisierten Vollvollzugs von Recht (vgl. u. a. Bernzen und Kehrberger 2019).

Während man also berücksichtigen muss, dass und in welcher Weise die Entwicklung und Einführung neuer Technologien in einem bestimmten rechtlichen und politischen Regulierungsrahmen stattfinden, ist es für die weitere Thematisierung des Beispiels angezeigt, das Zusammenspiel sozialer und technischer Normen stärker am Gegenstand ausgerichtet zu analysieren. Hierzu gehen wir hilfsweise davon aus, dass die eingesetzte Technologie (in etwa) so funktioniert, wie es rechtlich geboten ist. Wie oben angemerkt, geht es im Autoverkehr nicht nur um rechtliche Normen. Sie bilden einen – wenngleich wichtigen – Spezialfall bei der Steuerung des Verhaltens von Verkehrsteilnehmer:innen. Darüber hinaus spielen soziale Normen jenseits des Rechts für die konkrete Gestaltung des Autofahrens eine große Rolle. Dabei fassen die Verkehrsteilnehmer:innen die Verhaltensweisen von Autos selbst als Indikatoren für die Handlungsweisen der darin sitzenden Fahrer:innen auf und begeben sich unter dieser Prämisse in interaktionsähnliche Beziehungen mit ihnen: Der gesetzte Blinker oder das Betätigen der Hupe werden dabei genauso als Intentionsmarker der Fahrer:innen interpretiert, wie subtilere Veränderungen von Bewegungsimpulsen (z. B. wenn der LKW auf der rechten Spur der Autobahn vor einem einen Linksdrall aufweist) oder weniger subtile Bewegungsänderungen anderer Autos, die nicht auf formalisierte Zeichenformen zurückgreifen. Hierzu zählen das Ausbremsen, das Dichtauffahren oder die sogenannte „Lichthupe“. Zudem gibt es Übergänge zu einem direkten Interaktionsverhalten zwischen den Fahrer:innen, das nicht technisch vermittelt ist, etwa wenn ein überholender Fahrer einer Fahrerin des überholten Fahrzeugs einen „Stinkefinger“ zeigt (Katz 2015).

Das sind alles Beispiele für auf soziale Normen bezogene Verhaltensweisen, mit denen z. T. nicht hinnehmbare Erwartungsenttäuschungen moralisch markiert werden, ohne dass diese wiederum zwangsläufig auch rechtlich als nicht hinnehmbare Erwartungsenttäuschungen markiert würden. So wurde z. B. 2015 in München ein Taxifahrer wegen Nötigung und Beleidigung zu einer Geldstrafe und einem vorübergehenden Fahrverbot verurteilt, weil er einem anderen Fahrer beim Überholen einen „Stinkefinger“ zeigte, knapp vor ihm wieder einscherte und ihn zu einer Vollbremsung gezwungen habe, um ihm zu zeigen, dass er auf der linken Fahrspur zu langsam gefahren sei (Amtsgericht München 2015). Es dürfte nicht zu weit hergeholt sein, in diesem Fall davon auszugehen, dass es nicht im Vorhinein entschieden war, welche Geschwindigkeit als zu langsam interpretiert werden würde. Erst durch den „Stinkefinger“ und das Ausbremsen wurde die Annahme der Geltung einer entsprechenden sozialen Norm durch den Taxifahrer expliziert und damit in ihrem Sachgehalt identifiziert. Zugleich wird der zeitliche Aspekt sozialer Normen an diesem Beispiel gut sichtbar. Es kann fraglich sein, ob die Normexplikation selbst normgemäß erfolgt ist. In diesem Fall wurde nachträglich im Rahmen einer gerichtlichen Verhandlung festgestellt, dass „Stinkefinger“ und Ausbremsen nicht als angemessene Form der Normexplikation gelten können. Die Verteidigungsrede des Taxifahrers vor Gericht wurde als „Schutzbehauptung“ gewertet (ebd.). Insgesamt hat das Gericht die Normexplikation durch den Taxifahrer als unrechtmäßig eingestuft. D. h. ob die explizierte soziale Norm gültig bzw. ihre Explikation angemessen war, wird im rechtlichen Konfliktfall rechtlich erst längere Zeit nach der Normexplikation entschieden. Wenn dies entschieden ist, signalisiert das zugleich, ob die Norm bzw. ihre Geltung dauert. Sie hat schon bestanden, bevor sie verletzt worden war, und soll auch zukünftig gelten. Diese sachlichen und zeitlichen Merkmale sozialer Normen würden sich gravierend verändern, wenn die Sollnutzung technisch durchgesetzt werden würde.

Weit unterhalb der Schwelle der rechtlichen Registrierung gesellschaftlichen Geschehens reduzieren assistive Technologien nicht nur das Risiko für Unfälle und stellen in diesem Sinne einen Beitrag zur Verkehrssicherheit dar. Sie reduzieren auch die Wahrscheinlichkeit dafür, dass das Autofahren als spezielle, aber doch sehr weit verbreitete gesellschaftliche Praxis mit Bezug auf soziale Normen reguliert wird. Denn die Automatisierung der Einhaltung von Geschwindigkeitsvorgaben, von Sicherheitsabständen usw. reduziert die Freiheitsgrade für die Fahrer:innen, das Auto für die symbolische Markierung moralischer Grenzüberschreitungen zu verwenden bzw. das Verhalten anderer Autos als solche zu interpretieren.

Nicht auszuschließen ist, dass infolge der flächendeckenden Durchsetzung solcher Technologien neue Möglichkeiten gefunden werden, Erwartungsenttäuschungen zu moralisieren. Diese empirische Frage lässt sich an dieser Stelle jedoch nicht klären. Angesichts der technischen Aufrüstung der Fahrzeuge mit immer mehr und besseren Assistenz- und Automatiksystemen ist es plausibel zu erwarten, dass es im Autoverkehr sukzessive zu geradezu dramatischen Verschiebungen in der normativen Steuerung des Verhaltens von Fahrer:innen kommt, weg von sozialen, hin zu technischen Normen.

Für den Rückbezug auf die gesellschaftstheoretische Frage, ob durch die zunehmende Datafizierung aller gesellschaftlichen Handlungsbereiche das moderne Individualitätsverständnis erodiert, lassen sich folgende weiterführende Überlegungen anstellen. Das Beispiel legt es nahe, dass im Recht das moderne Individualitätsverständnis zunächst nicht aufgegeben wird. Gleichzeitig müssen empirische Schärfungen an zwei Stellen erfolgen:

1) Wird das Recht durch seine Funktionalisierung unterminiert, d. h. geraten Anspruch und Praxis des Rechts zueinander in einen Widerspruch? Das ist denkbar insofern, als die Freiheitsgrade bestimmter Akteure mit Billigung des Rechts abgesenkt werden, indem es zu Formen des rechtlichen Vollvollzugs durch die eingesetzte Technologie kommt. Der Endpunkt einer solchen Entwicklung wäre die vollständige technische Durchsetzung aller rechtlichen Normen, die sich auf die angemessene Steuerung von Fahrzeugen beziehen. In diesem Fall hätten wir es mit einer rekursiven Technikentwicklung zu tun, durch die das ehemals kommunikativ-institutionell gesteuerte Zusammenwirken von Autos auf der Grundlage des eigenständigen individuellen Verhaltens der Autofahrer:innen im Straßenverkehr durch eine technische Steuerung der Autos und Verkehrsströme ersetzt würde.

2) Dies hätte auch Auswirkungen darauf, wie im Alltag des Straßenverkehrs soziale Normen geltend gemacht werden. Denn es stellt sich die Frage, ob im Autoverkehr jenseits seiner rechtlichen Regulierung das moderne Individualitätsverständnis praktisch wirksam auf das Besondere reduziert wird. Das ist denkbar, weil die moralische Responsibilisierung von Akteuren in Interaktionen zur Voraussetzung hat, einen solchen Akteur als Einzelnen zu begreifen. Wenn Akteure durch die Eigenart der sozio-technischen Konstellation, in die sie eingebunden sind, und durch technische Normen effektiv daran gehindert werden, moralische Verantwortung zu übernehmen und zuzuschreiben, weil dazu auch gar kein Anlass mehr besteht, verliert es praktisch an Bedeutung, sich im Straßenverkehr gegenseitig als Einzelne zu erfassen. Es wäre sozusagen widersinnig, gegenüber technisch gesteuerten Fahrzeugen moralische Empörung etwa wegen zu langsamen Fahrens darzustellen.

In dieser Weise hilft die Unterscheidung von sozialen und technischen Normen bzw. von moralischen und funktionalen Aspekten moderner Fahrassistenzsysteme dabei, die empirische Forschung anzuleiten, substanzielle Beiträge zu der drängenden gesellschaftstheoretischen Frage zu liefern, ob von den Digitalisierungsprozessen gesellschaftsstrukturelle Umbrüche zu erwarten sind. Mit den hier vorgelegten Vorschlägen wollen wir eine Debatte über die Fruchtbarkeit der Unterscheidung zwischen einer sozialen und technischen Verhaltenssteuerung anstoßen, eine Debatte über die empirischen Perspektiven, die sich daraus ergeben, und welche Möglichkeiten diese Unterscheidung bietet, den Digitalisierung genannten gesellschaftlichen Transformationsprozess besser in den Blick zu bekommen.

5 Fazit

Ausgangspunkt dieses Artikels war die Beobachtung, dass in der soziologischen Debatte über Digitalisierungstrends der implizite Konsens besteht, dass gesellschaftlicher Wandel mit der Steuerung von Verhalten zusammenhängt und mit Blick auf die Digitalisierung entsprechend am Sachverhalt technologischer Verhaltenssteuerung deutlich werden müsste. Auf der Grundlage der Prämisse, Verhaltenssteuerung ausgehend von der Orientierung an Normen zu fassen, haben wir zunächst einen sozialtheoretischen Vorschlag vorgelegt, der diesen Zusammenhang erfassen können soll. Um die Spezifik einer digital-technologischen gegenüber einer analogen Verhaltenssteuerung herauszuarbeiten, haben wir an der Unterscheidung zwischen sozialen und technischen Normen angesetzt und diese beiden Normen in der Sach- und Zeitdimension verglichen. Dabei haben wir gezeigt, dass mit diesen unterschiedlichen Typen von Normen auch unterschiedliche Modi der Verhaltenssteuerung einhergehen. Diese Einsicht haben wir zum Anlass genommen, Implikationen unseres Normverständnisses für die weitere soziologische Beforschung des Digitalisierungstrends herauszuarbeiten.

Ob Digitalisierung ein gesellschaftstransformatives Potenzial hat, ist in der gegenwärtigen Debatte umstritten. Diese Frage wird der empirischen Analyse zugänglich, wenn man die Steuerung von Verhalten in den Blick nimmt. Es fehlt jedoch bislang eine differenzierte sozialtheoretische Perspektive, mit der solche Veränderungsprozesse präzise erfasst werden können. Die Orientierung des Verhaltens an technischen Normen radikalisiert eine Möglichkeit der Verhaltenssteuerung, die bei sozialen Normen bereits angelegt ist: statt des moralischen Aspekts steht bei ihnen jedoch der sachlich-funktionale Aspekt von Normen im Vordergrund. Beim sachlich-funktionalen Aspekt von Normen geht es im Falle von Erwartungsenttäuschungen um die Rückkehr zum normgerechten Sachverhalt bzw. zum geregelten Ablauf. Es geht darum, Fehler zu identifizieren und zu korrigieren. Beim moralischen Aspekt von Normen geht es hingegen darum, Verantwortung im Sinne individueller Schuldhaftigkeit zuzurechnen; eine Fehlerkorrektur ist möglich, steht gegenüber der moralischen Verantwortungszurechnung jedoch im Hintergrund.

Entlang dieser Unterscheidung kann untersucht werden, ob mit der voranschreitenden Digitalisierung aller Lebensbereiche eine Verschiebung des Verhältnisses dieser beiden Modi der Verhaltenssteuerung verbunden und zu erwarten ist, dass damit auch ein struktureller Gesellschaftswandel einhergeht.

Am Beispiel assistiver Verkehrstechnologien haben wir argumentiert, dass, erstens, ihre spezifisch technische Form der Verhaltenssteuerung zwar in Dienst genommen werden kann für politische Zwecke, dies aber, zweitens, der zentralen normativen Institution unserer Gesellschaft, der Festlegung von Menschen auf Individuen gleich an Freiheit und Würde, nicht widersprechen muss. Solche Technologien sind rechtlich stark eingehegt, d. h. bestimmte antizipierte Risiken im Gebrauch solcher Technologien steuern die rechtliche Aufmerksamkeit für den Schutz grundrechtlicher Güter: zum einen, indem Persönlichkeitsrechte nicht verletzt werden, zum anderen, indem Freiheits- und Gesundheitsrechte gegeneinander abgewogen werden. Strukturelle Folgen für das Recht können dann eintreten, wenn die rechtliche Einhegung solcher Technologien im Modus des technischen Vollvollzugs rechtlicher Normen realisiert wird und dies Rückwirkungen auf die Verfahrensrationalität rechtlicher Operationen hat. Dies lässt sich am untersuchten Fall nur vermuten, aber nicht belegen.

Gleichwohl hat bereits eine innerrechtliche Reflexion eingesetzt, die genau dieses Problem adressiert. Die Prämisse dieser Reflexion ist, dass der Ersatz der kommunikativ-institutionellen Steuerung sozio-technischer Prozesse durch immer autonomer agierende digitale Steuerungssysteme so weit gediehen ist, dass menschliche Akteure sich auf die entsprechenden assistiven Technologien weitgehend verlassen können sollen. In einem solchen Fall wäre es nicht mehr angemessen, den menschlichen Akteur abrupt in die moralische Verantwortung zu nehmen, wenn die assistiven Technologien etwa zu einem Unfall im Straßenverkehr führen. In diesem Fall würde der/die Fahrer:in zum „Haftungsknecht“ gemacht (Beck 2021, S. 117). D. h. es ginge nur noch darum, eine Form rechtlicher Verantwortungszuschreibung abzusichern, die faktisch überholt sei. Eine andere Form der rechtlichen Reflexion auf den Vollvollzug des Rechts durch technische Normen besteht darin, ein Recht auf Rechtsbruch zu postulieren. Denn nur dann, wenn rechtliche Normen noch gebrochen werden könnten, sei es sinnvoll, Recht im Sinne einer Norm zu verstehen, der Individuen als moralisch verantwortliche Einzelne folgen, weil sie die Norm einsehen oder weil sie die Konsequenzen des Normbruchs fürchten (Rademacher 2019).

Wie wir argumentiert haben, ist es nicht ausgeschlossen, dass diese innerrechtlich diskutierte Tendenz zum Vollvollzug rechtlicher Normen trotz des Versuchs der rechtlichen Einhegung solcher Technologien langfristig dazu führt, dass technische Formen der Verhaltenssteuerung in immer mehr nicht-rechtliche Bereiche sozial normativer Verhaltenssteuerung eingreifen. Das herangezogene Beispiel assistiver Verkehrstechnologien erhärtet den Verdacht, dass solche automatisierten Technologien zwar rechtlich eingehegt sein mögen, sie dennoch die Formen der Verhaltenssteuerung nahezu vollständig auf den Aspekt der Fehlerkorrektur umstellen. Während diese Umstellung gravierend sein kann, lassen sich deren gesellschaftsstrukturelle Folgen bislang nur erahnen.

Vor diesem Hintergrund können wir nun aber Kriterien angeben, die erfüllt sein müssen, um von einer Veränderung der Strukturen horizontaler Differenzierung zu sprechen. Als Ausgangspunkt dient die Unterscheidung zwischen sozialen und technischen Normen. Dies ermöglicht einen empirisch fundierten Zugang zum doppelten Individualitätsverständnis der Moderne (Individuum als Einzelnes und Besonderes), das in der Gesellschaftstheorie als Institution des Individuums gleich an Freiheit und Würde adressiert wird. Wenn die empirische Analyse der Normen, die sozio-technische Prozesse steuern, zu dem Ergebnis führt, dass die Institution des Individuums gleich an Freiheit und Würde gefährdet ist, lässt dies den Schluss zu, dass auch die Struktur horizontaler Differenzierung gefährdet ist. Mit der Unterscheidung zwischen sozialen und technischen Normen bekommt die soziologische Theorie ein Instrument in die Hand, solche Verschiebungen in den Blick zu nehmen. Das mögliche gesellschaftstransformative Potenzial der Durchsetzung von Digitalisierung wird damit als eine ernste Herausforderung für die soziologische Gesellschaftstheorie verstanden, die sich bewältigen lässt, wenn das analytische Instrumentarium geschärft wird.