1 Die Prekarität des Mensch-Seins

Das Sprechen über „Rassen“ mobilisiert sowohl volens als auch nolens volens ein rassifizierendes Denken. Wer über Rassismus spricht, spricht auch über „Rassen“. Und die Anführungszeichen, die auch ich hier zum Einsatz bringe, um die Gewalt des Begriffs einzuhegen, machen das Problem beim Sprechen über „Rassen“ nicht geringer, sondern nur sichtbar. Die Gänsefüßchen markieren die Gewalt, die im Begriff schlummert, indem dieser auf die Geschichte einer rassifizierten Welt verweist – woraufhin nun selbst der Versuch, rassifizierendes Denken zu überwinden, dieses stabilisieren kann.Footnote 1 Selbst wenn ich das Wort „Rasse“ aus meinem Vokabular verbanne: es nicht mehr nutze, nicht mehr schreibe, nicht mehr artikuliere, so würde ich nur einen „Oberflächeneffekt“ (Guillaumin 2017, S. 100) erzielen. Denn wie Colette Guillaumin bemerkt, ist die rassistische Ideologie beständig und flexibel zugleich: Sie kann selbst „die Zensur der ‚kompromittierten‘ Ausdrücke veranlassen“ (ebd.). Achille Mbembe bemerkt in Kritik der schwarzen Vernunft (2014, S. 27) zu Recht, dass „[i]n ihrem Tiefenbezug […] die Rasse […] ein perverser Komplex [ist], der Ängste und Qualen, Verwirrungen des Denkens und Schrecken, aber vor allem unendliches Leid und Katastrophen herbeiführt. In ihrer phantasmagorischen Gestalt der wahnhaften und gelegentlich auch hysterischen Phobie.“ Wenn es auch bedauerlich und verstörend ist, so muss Mbembe wohl zugestimmt werden: Wir leben nicht in einer postrassistischen Zeit, sondern „in mehrfacher Hinsicht ist unsere Welt, auch wenn sie das nicht zugeben möchte, bis heute eine ‚Welt der Rassen‘ geblieben.“ (ebd., S. 27) Daraus ergibt sich das Problem, welches Loïc Wacquant in seinem Text adressiert: Was tun mit der verschmähten, aber auch „kompromittierten“ Kategorie? Brauchen wir sie, um die (historische) Gewalt beschreiben zu können? Wie sollen wir darüber sprechen, dass Menschen aufgrund körperlicher Merkmale und unterstellter Persönlichkeitsmerkmale diskriminiert, marginalisiert, stigmatisiert und ermordet werden? Was bleibt, wenn Schweigen doch keine Option darstellt?

Die Einfallslosen sprechen davon, dass wir letztlich alle Menschen sind. Doch zeigt ein Blick in die Geschichte, dass eben genau das niemals außer Frage stand. Denn gerade die Zugehörigkeit zur Kategorie Mensch war immer schon prekär. Denken wir etwa an den berühmt-berüchtigten Disput von Valladolid, den Bartolomé de Las Casas und Juan Ginés de Sepúlveda 1550 und 1551 am Hof Karl V. über die Frage austrugen, ob die Subjekte in den spanischen Kolonien als Menschen anzusehen seien. Las Casas, ein dominikanischer Theologe, war auf derselben Route wie Kolumbus nach Hispaniola gesegelt und wurde, nachdem er zunächst über Jahre selbst als Kolonialherr Land annektiert und Menschen versklavt hatte, ein scharfer Kritiker der Kolonisierung sowie Verteidiger der Würde der „pueblos originarios“.Footnote 2 In seinen Abhandlungen protokollierte er die Gräueltaten der spanischen Kolonialherren und setzte sich für ein Ende des sogenannten Encomienda-Systems ein. Die Encomienda regelte, dass die Kolonisierten bei der spanischen Krone als verschuldet angesehen wurden. Dies wurde damit begründet, dass die Kolonisierten eine Entschädigung für die bei der Eroberung der Territorien geleisteten „Dienste“ der Kolonialherren zu erbringen hätten. Eigentlich handelte es sich dabei schlicht um ein perverses Mittel der Unterwerfung: Die Bestohlenen hatten für den Diebstahl auch noch mit harter Arbeit zu bezahlen, während umgekehrt die Encomienda den Kolonialherren das Recht auf Land und die Bearbeitung des Landes durch die von ihnen versklavten kolonisierten Subjekte garantierte.Footnote 3

Gegen Las Casas trat der Theologe, Humanist und Philosoph Sepúlveda an, bekannt für seine exzellente Rhetorik und, obschon er selber Europa nie verlassen hatte, ein glühender Verfechter des Kolonialismus. Sepúlvedas Argumentation nach handelte es sich bei den Kolonisierten kaum um Menschen, sondern diese seien nichts weiter als „Barbaren“. Deshalb sei der Krieg gegen sie als gerechter Krieg anzusehen: „Was hätte diesen Barbaren Besseres und Heilsameres widerfahren können, als unter die Herrschaft derer gebracht zu werden, deren Klugheit, Tugend und Religion sie von Barbaren, die den Namen Mensch kaum verdienten, in zivilisierte Menschen verwandeln sollten, soweit sie es sein konnten; von dumpfen und zügellosen in ehrliche und aufrechte Menschen; von Ungläubigen und Dienern des Teufels in Christen und Anbeter des wahren Gottes?“ (Sepúlveda 2016, S. 41; Übersetzung d. Aut.)

Die Debatte, die uns überliefert vorliegt, verdeutlicht die Prekarität des Mensch-Seins. Anhand der Frage, ob die Kolonisierten „Menschen“ seien, verhandelten Las Casas und Sepúlveda, welche Behandlung ihnen zustünde: Würden sie als Menschen anerkannt, wäre ihre Misshandlung als Verbrechen zu sehen und würde in den bischöflichen Augen Las Casas’ zur Sünde. Will man die koloniale Gewalt dagegen rechtfertigen, muss man ihnen das Mensch-Sein absprechen – das Mensch-Sein bleibt also verhandelbar (s. a. Hall 1992).

Natürlich könnten wir diese Debatte als veraltet und kurios abtun und urteilen, dass sie nichts mehr mit unserem heutigen Denken in Europa gemein hat. Wären da nur nicht die vertrackten Zeichen der Kontinuität, die uns immer wieder begegnen. So zeigen Diskussionen – durchaus auch solche, die wissenschaftlich legitimiert sind –, dass die Grenzen des Mensch-Seins auch heute noch Gegenstand vehementer Konflikte sind. Welche Körper gelten als menschlich?Footnote 4 Welche Subjekte werden als solche anerkannt? Die Frage des Mensch-Seins bleibt unweigerlich gebunden an Macht und Herrschaft und entscheidet im Zweifel über Leben und Tod. Deswegen müssen wir uns dem Leid und den Katastrophen zuwenden, wie Mbembe schreibt, die rassistisches Denken verursacht hat und nach wie vor verursacht. Und das genau tut, so meine These hier, Loïc Wacquant nicht.

Soziologisch „sezierend“ macht sich Wacquant in seinem Text „Immer Ärger mit ‚Race‘. Eine Agenda für den Umgang mit einer heiklen Kategorie“ (Wacquant 2022; auf Deutsch in diesem Heft) daran, den Diskurs zu korrigieren. Ganz genau will er bestimmen, was mit dem Begriff der „Rasse“ beschrieben wird und wie ein rassifizierendes Denken eine soziale Realität schafft, die einigen Menschen mehr Prestige und Ehre zukommen lässt, während andere verachtet oder missachtet werden oder ihnen schlimmstenfalls physische Gewalt angetan wird. Der Text besticht mit wissenschaftlicher Präzision und enttäuscht in seiner geradezu technokratischen Kälte, die es nicht ermöglicht zu verstehen, woher die Wut, die Trauer und die Empörung Schwarzer MenschenFootnote 5 nicht nur in den USA, sondern auch in Europa und Afrika rührt. Im Wissen um den Skandal der juristischen und philosophischen Rechtfertigung globaler Ungerechtigkeiten haben Liberale in Europa immer wieder – selbst wenn koloniale Gewalttaten eingestanden wurden – betont, dass Kolonialismus und Imperialismus letztlich der „unzivilisierten“ Welt Aufklärung, europäische Rationalität und Humanismus gebracht hätten (vgl. Gandhi 1998, S. 32 f.). Das Vordringen der europäischen Kolonisierung wurde von den Kolonialmächten als großer Triumph der Wissenschaft und Rationalität über den Aberglauben und das Unwissen gefeiert und als Zivilisierungsmission bezeichnet (vgl. Osterhammel 2007; Dhawan 2015).

Im Folgenden erlaube ich mir zum einen, einige Argumente Wacquants aus einer postkolonialen Perspektive kritisch zu untersuchen. Zum anderen möchte ich seinen Ruf nach einer postkolonialen Soziologie absichtlich missverstehen, um eine solche in Form einer antidisziplinären Rassismusforschung zu beschreiben.

2 Eine Diskurskorrektur?

Wacquant schlägt eine Diskurskorrektur vor. Dazu stellt er fünf Grundsätze auf. Doch bevor man sich daran macht, diese Prinzipien einzeln und als Gesamtplan zu beurteilen, wäre es wichtig zu wissen, warum Wacquant eine Diskurskorrektur überhaupt für notwendig erachtet und von welchem Diskurs hier eigentlich die Rede ist. In der Einführung wird dies nicht genau dargelegt – sodass wir nurmehr erahnen können, was Wacquant zufolge im Diskurs über „Race“ falsch gelaufen ist.

Zwischen den Zeilen ist eine Empörung zu spüren, die sich in den letzten Jahren in den Sozialwissenschaften, aber auch in den bürgerlichen Medien Luft verschafft. Im Extremfall wird sogar die Wissenschaftsfreiheit als bedroht wahrgenommen.Footnote 6 Obschon es zumeist konservative Professor_innen sind, die sich in ihren Freiheitsrechten von feministischen oder postkolonialen Perspektiven eingeschränkt fühlen, können wir auch in Wacquants Text den Nachhall dieses Unbehagens vernehmen. So werden gleich in der Einführung Race-Forscher_innen und Aktivist_innen angeführt, die „lautstark verkünden“, Race sei eine mit der Sklaverei in Verbindung stehende „Sünde des Westens“. In kritischer Diskursanalyse geschulten Wissenschaftler_innen fällt auf, dass hier nicht von Thesen gesprochen wird, die es zu überprüfen gilt, sondern – unsachlicher – von „lautstark verkünden“. Auch die Behauptung, Race würde als „Sünde“ bezeichnet, disqualifiziert eine in den postkolonialen Schriften häufig zu findende, aber keineswegs auf religiöse Motive beschränkte These. Aníbal Quijano (2016) oder Paul Gilroy (1993) etwa haben in ihren Schriften auf die enge Beziehung zwischen Kolonialismus, Eurozentrismus und der Etablierung eines transatlantischen Handels mit versklavten Menschen sowie der Einführung, Legitimierung und Stabilisierung einer wissenschaftlich geweihten Kategorie „Rasse“ hingewiesen. Quijano schreibt, es sei eine Tatsache, „dass die zukünftigen Europäer schon seit den Anfängen Amerikas die unbezahlte oder nicht-lohnbasierte Arbeit mit den beherrschten razas assoziierten, da diese für sie minderwertige razas waren“ (Quijano 2016, S. 36). Von „Sünde“ ist bei Quijano freilich nicht die Rede, aber schon von der Rolle der katholischen Kirche bei der Durchsetzung einer rassifizierten Welt.

Es ist der Sache wohl eher abträglich, wenn gleich zu Beginn des Beitrages die Kampflinie „Wissenschaft“ – „Aktivismus“ heraufbeschworen wird. Wir könnten natürlich sagen, dass es unerheblich ist für die Untersuchung des Rassismus, womit der Begriff der „Rasse“ in einem Zusammenhang steht. Stattdessen ließe sich argumentieren, dass es doch darum geht, den Begriff der „Rasse“ möglichst punktgenau und scharf zu erfassen. Sicher. Aber ist dies auch möglich, ohne mit einer Disqualifizierung und Zurückweisung zu beginnen? Die Abwertung einer Aussage als „unwissenschaftlich“ und als nur dem „Alltagsverstand“ angehörend erschwert eine Debatte zwischen unterschiedlichen Perspektiven – und letztlich auch die Arbeit an einer postkolonialen Soziologie, die eventuell das Potenzial hätte, sehr unterschiedliche und zuweilen auch divergierende Perspektiven im Feld der Rassismusforschung kontrapunktisch zusammenzuführen.

3 Fünf neue Grundsätze

Doch kommen wir zu den Prinzipien, die das analytische Vorgehen, welches Wacquant zur Erforschung von Rassismus vorschlägt, umreißen. In Stichworten lauten diese: (1) Historisierung, (2) Verräumlichung und Ausweitung des geografischen Wahrnehmungsbereichs, (3) Verzicht auf Schuldzuweisungen, (4) Demarkierung und Repatriierung sowie (5) Disaggregation.

Selbstverständlich bedarf die Kategorie der „Rasse“ eines historischen Zugriffs (s. a. Hund 2007). Doch muss eingeschränkt gesagt werden, dass auch ein Historisieren nie neutral und objektiv ist. Was wird betont? Was hervorgehoben? Und was verschwiegen? Wacquant betont, wie notwendig es ist, Alltagsverstand und Wissenschaft nicht zu konfundieren, aber er spricht nicht davon, wer die Möglichkeit hatte, Geschichte zu schreiben (hierzu etwa Said 1978). Auch erscheint mir die Vorstellung, dass der Alltagsverstand der Wissenschaft in Gänze entgegengesetzt sei, problematisch. Ich folge lieber einer gramscianischen Idee von Alltagsverstand: Antonio Gramsci versteht unter Alltagsverstand (senso comune) nicht einfach eine Ansammlung von Irrtümern und Halbwissen, vielmehr erkennt er einen rationalen Kern, den er als „buon senso“, als „guten“ oder „gesunden Menschenverstand“ (Gramsci 1991 ff., S. 1379) bezeichnet. Der „gesunde Menschenverstand“ funktioniert danach wie ein Korrektiv des Alltagsverstandes. All die Verrücktheiten, metaphysischen Vorstellungen, Mythen können von ihm infrage gestellt werden. Das erlaubt es auch, unplausible Vorstellungen, die etwa im Begriff der „Rasse“ zusammenkommen, anzugehen. Dabei wird das im Alltagsverstand verhärtete Wissen nicht bekämpft, sondern Schritt für Schritt transformiert. Es ist dies die genuine Aufgabe der organischen Intellektuellen, denen es darum geht, die Menschen zu überzeugen, ohne ihre Philosophien grundsätzlich für untauglich zu erklären.

Der zweite Grundsatz bezieht sich auf die Ausweitung des geografischen Wahrnehmungsbereichs. Es erfüllt mich mit Unbehagen, wenn ein europäischer Wissenschaftler wie Wacquant darauf hinweist, dass Praxen der Rassifizierung nicht auf Europa zu beschränken sind. Das stimmt natürlich, aber es stellt sich die Frage, was das beweisen soll. Wacquant schreibt, dass der geografische Wahrnehmungsbereich ausgeweitet werden muss, um „die Diskussion zu dezentrieren“. Doch werden wir nur mit einigen willkürlich erscheinenden Beispielen für Rassifizierungen außerhalb Europas konfrontiert. Das indische Kastensystem oder die japanische Eta werden kurz genannt, aber ohne dass sie kontextualisiert würden – sodass wir nicht die Möglichkeit erhalten zu beurteilen, ob und inwieweit etwa das Kastensystem mit der Kategorie „Rasse“ vergleichbar ist. Irgendwie werde ich als Leserin das Gefühl nicht los, dass Wacquant schlicht beweisen will, dass Europäer_innen nicht die einzigen waren, die ein wirksames System der Missachtung und Verwerfung durchgesetzt haben. Das erinnert fatal an Debatten um Kolonialismus und Sklaverei, bei denen immer wieder vorgebracht wird, die „Araber“ hätten bereits vor den Europäer_innen mit versklavten Menschen gehandelt und das Osmanische oder Römische Reich seien auch Imperien gewesen. Und ja, ich würde dem zustimmen. Es macht auch wenig Sinn, das zu leugnen, doch wird mit dem Beharren auf diesen Tatsachen der eigentlich wichtige Punkt meines Erachtens verfehlt. Betrachten wir den Prozess der Rassifizierung nicht lediglich soziologisch, sondern machttheoretisch und historisch, so könnte das vorgebrachte Argument auch als Ablenkungsmanöver gelesen werden. Denn es ist wohl kaum ein Zufall, dass sich die europäische Vorstellung von „Rassen“ universalisieren konnte, aber nicht das indische Kastensystem – bleibt dieses auch in der globalen indischen Diaspora wirksam, so konnte es sich doch nicht auf andere ethnische Gruppen übertragen. In Großbritannien hat sich kein Kastensystem, welches aus dem kolonisierten Indien importiert wurde, in der gesamten Gesellschaft durchgesetzt. Doch in Indien ist durchaus ein rassistisches Denken wirksam, welches nach wie vor Vorstellungen einer weißen Suprematie nährt. Wacquant hat recht, dass wir Europäer_innen nicht die einzigen waren, die soziale Stratifizierungen durchgesetzt haben, die spezifische soziale Gruppen ausgrenzten. Doch die von ihm genannten Beispiele für ethnorassistische Klassifizierungen lassen die besondere Gewalt europäischer Rassifizierungspraxen außer Acht.

Wer zu Rassismus arbeitet, kann aber, dies ist zumindest meine Meinung, nicht einfach zentrale Macht- und Herrschaftsfragen außen vor lassen. Es bedarf der Macht, Kategorien zu universalisieren, d. h. ihnen als gültige Norm möglichst global zum Durchbruch zu verhelfen. Europa hat den Großteil der Welt unterworfen. 1918 regierte Europa über 85 % des weltweiten Territoriums in Form von Kolonien, Protektoraten und Dependancen (vgl. Said 1993, S. 8). Darf das in einem Text zum „Rassendiskurs“ außer Acht gelassen werden? Die Konstruktion des Westens als normative Macht hat eine Spur gewaltsamer und ausbeuterischer Systeme im Namen von Moderne, Fortschritt, Emanzipation, Vernunft, Recht, Gerechtigkeit und Frieden hinterlassen. Postkoloniale Subjekte, Gemeinschaften und Staaten, die als zivilisiert und modern gelten wollen, müssen sich diesen Normen anpassen, riskieren sie doch sonst, gegen ihren Willen „zivilisiert“ und „modernisiert“ zu werden. Die Rassifizierung der Welt, von der wir heute sprechen, ging von Europa aus – auch wenn wir in vielen Teilen der Welt ethnische Segregierungspraxen kennen. Man kann diese mit dem europäischen Rassifizierungspraxen vergleichen, aber dann müssen Macht und Herrschaft vollumfänglich mitgedacht werden.

Mit Wacquant stimme ich darin überein, dass die Diskussion um den Rassebegriff, zumindest in Europa, zu stark von US-amerikanischen Positionen dominiert wird und dass diese „archimedische Position“ der USA verantwortlich für einige Schiefstellungen im Diskurs ist. Es ist eine überzeugende Kritik, dass US-spezifische Debatten und Analysen in Europa unkontextualisiert übernommen werden. Vielleicht wäre hier mit Said über die Folgen für Konzepte, Theorien und Kategorien nachzudenken, wenn diese migrieren. Sein Essay Travelling theory (1983) beschreibt, wie nicht nur Menschen und Waren, sondern auch Theorien von einem Ort zum anderen reisen – und dabei nicht unberührt bleiben (ebd., S. 226). Saids Ausführungen werfen bedeutsame Fragen bezüglich des Produktionsortes, der Rezeption und der Übertragung von Theorien auf.

Ein solcher Blick verhindert zugleich das, was Wacquant in seinem dritten Grundsatz als „Logik der Gerichtsverhandlung“ bezeichnet: Seiner Meinung nach gilt es zu vermeiden, dass Analysen von Schuldzuweisungen und moralischer Entrüstung dominiert und vernebelt werden. Im Grunde ist dem zuzustimmen; doch lässt ein solch rigoros formuliertes Prinzip keinen Raum für Affekte: für die Wut auf die Erniedrigung, die Scham der Entrechteten o. Ä. Zwar schreibt er, dass „[r]assische Subjektivität, Emotionen, Diskurse und Interpellationen […] ein wesentlicher Bestandteil der objektiven Realität der rassischen Herrschaft“ sind und „daher bei ihrer wissenschaftlichen Erforschung in vollem Umfang berücksichtigt werden“ müssen. Doch die Antwort darauf, was das konkret bedeutet, bleibt uns der Text schuldig. Es ist ein geradezu klassischer Widerspruch: Auf der einen Seite wird gesagt, Emotionen müssten in der Forschung berücksichtigt werden, während auf der anderen Seite eine „rigorose Theoriebildung“ gefordert wird, die keinen Raum für Affekte und Emotionen lässt. Die Permanenz des Rassismus zwingt uns, die Vielfalt der Konsequenzen rassistischer Strukturen (und ich bin nicht der Meinung, dass Begriffe wie „struktureller Rassismus“ schwammig sind und „mehr Probleme schaffen als sie lösen“) auch in der Wissenschaft hinzunehmen. Der Begriff allein ist von unterschiedlich sozial positionierten Subjekten ungleich gut auszuhalten und zu bearbeiten. Die, die seit Jahrhunderten unter einer rassifizierten Welt leiden müssen, die das Trauma des Rassismus verarbeiten müssen, haben meines Erachtens das Recht, den Begriff der „Rasse“ anders zu bewerten und anders mit ihm umzugehen als jene von uns, die auf der „falschen Seite der Geschichte“ stehen und von Rassismus nach wie vor profitieren – ob wir wollen oder nicht. Kaum jemand hat uns eindrücklicher geschildert, was es bedeutet, in einer rassistischen Welt als Schwarze Person angerufen zu werden, als der Psychiater Frantz Fanon (2013). Seine antikolonialen Texte erinnern uns daran, welche Gewalt von Europa ausging und wie diese auch von den angeblich neutralen und objektiven Wissenschaften legitimiert wurde. Eine harmlose Sozialwissenschaft ist ein schöner, aber auch ein gefährlicher Traum. Das Grauen kann nicht einfach ausgespuckt werden.

Dennoch kann ich der Argumentation des Textes dann gut folgen, wenn dargelegt wird, dass eine Rassismuskritik nicht Fragen von Klassenzugehörigkeit ausblenden sollte und auch die Dynamiken zwischen unterschiedlichen sozialen Verwerfungen in den Blick nehmen muss. Gayatri Chakravorty Spivak bringt dies allerdings mit der anhaltenden Nichtberücksichtigung der epistemischen Gewalt des Imperialismus in Beziehung und kann deswegen wesentlich komplexer argumentieren. Anders als Wacquant legt sie dar, dass die Nichtberücksichtigung epistemischer Gewalt letztlich auch dazu führt, dass die internationale Arbeitsteilung stabilisiert wird – etwa indem sie mit der Situation der Gastarbeiter_innen oder der Menschen aus der „‚Dritten Welt“ innerhalb der „Erste-Welt-Arenen“ in eins gesetzt wird, während das umfassendere Problem nicht in den Blick gerate (Spivak 1990, S. 14). Dagegen betont sie die Überausbeutung der subalternen Frauen im Süden und unterstreicht, dass deren Subalternität nicht konfundiert werden sollte mit unorganisierter Arbeitskraft, Frauen im Allgemeinen, Proletarier_innen, Kolonisierten, Migrant_innen oder geflüchteten Menschen. Die Vermengung dieser Subjektpositionen im Begriff der Subalternität sei wenig gewinnbringend (Spivak 1995, S. 115).

Nun ist Spivak zu Recht für ihre mehrdeutige Verwendung des Konzepts „Subalterne“ kritisiert worden. Der Ambiguität steht allerdings die Klarheit dessen gegenüber, wer für sie nicht darunter fällt: Unmissverständlich betont sie, dass nicht jedes postkoloniale Subjekt und auch nicht jedes Mitglied einer ethnischen Minderheit sogleich subaltern ist (etwa Spivak 1999, S. 310). Auch Spivak ruft also nach Differenzierung – würde aber womöglich nicht einen Untersuchungsrahmen vorschlagen, der „die gewöhnlichen rassischen Überzeugungen beiseiteschieb[t], um die materielle und symbolische politische Ökonomie zu rekonstruieren, die der ethnorassischen Stratifikation zugrunde liegt“, um dann „eben diese Wahrnehmungen und Überzeugungen wieder in das objektivistische Modell der rassischen Herrschaft ein[zu]fügen“. Viel eher wird eine poststrukturalistisch inspirierte postkoloniale Theorie ein „objektivistisches Modell der rassischen Herrschaft“ hinterfragen und „idealtypische Blaupausen“ als eingebettet in ein eurozentrisches worlding nachzeichnen (Castro Varela und Dhawan 2020).

Das „neobourdieuische Modell“, welches Wacquant schließlich vorschlägt, soll es Soziolog_innen ermöglichen zu analysieren, wie „Race […] in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit anerkannt und praktiziert wird“, indem Race verstanden wird als eine „verkappte[] Variante der ethnischen Klassifikation und Stratifikation, die erklärt werden muss (Explanandum), statt als ein sich selbst antreibender Auslöser (Explanans) einer Bandbreite von sozialen Sachverhalten angesehen und behandelt zu werden“. Mich machen solche Modelle ein wenig nervös, weil sie letztlich den Gestus der Klassifizierung wiederholen, den die Kategorie der „Rasse“ in Vollkommenheit repräsentiert. Der von Wacquant eingeforderte Grundsatz der Disaggregation ruft nach einer Zerlegung „elementarer Formen rassischer Herrschaft“ und weckt eine phantasmagorische Hoffnung, den Überschuss, die verstörende Gewalt der Kategorie „Rasse“ in den Griff zu bekommen. Welches Begehren steckt dahinter? Wir sehen hier, wie die Soziologie ebenso ein Produkt der Moderne ist wie das, was in Wacquants Text gefesselt werden soll: Rassismus (s. hierzu etwa Liebscher 2021, S. 52 ff.). Artikulationen „zu sezieren“ wird uns mehr Daten bescheren, die wir kombinieren und analysieren können: Die Zerstückelung soll bei der Verdauung des Unerträglichen helfen. Aber wird sie uns von den Geistern der Vergangenheit befreien oder nur folgenreich die Geschichte eskamotieren?Footnote 7 Die „unausweichlichen Unlogiken ethnorassischer Klassifizierung“ finden sich auch in der Soziologie. Sie ist wie ein Kampf gegen einen unheimlichen Gegner, der desto stärker zu werden scheint, je mehr wir ihn in die Knie zwingen wollen. Étienne Balibar schreibt in seinem Text „Gibt es einen ‚Neo-Rassismus‘“? (2017, S. 25), dass es „in der Tat ohne Theorie(n) keinen Rassismus“ gebe. Das zu verstehen, kann nicht gelingen, wenn das Ziel ist, „die rassische Ordnung zu sezieren“. Wie Avery Gordon (2008, S. 21) schreibt: „A different way of knowing and writing about the social world, an entirely different mode of production, still awaits our invention.“

4 Schlussbemerkungen: Plädoyer für eine antidisziplinäre Rassismusforschung

Die Erforschung des Rassismus ist ein wissenschaftliches Projekt, d. h. es wird um die Beschreibung desselben gestritten und debattiert. Und während einige von uns Karriere damit machen, dass sie das Phänomen beschreiben und seine Artikulationen „sezieren“, sind die Archive Europas immer noch angefüllt mit sezierten Überresten der Kolonisierten (siehe etwa Fründt 2011). Es ist sehr viel Tinte (bzw. heutzutage Elektrizität) geflossen, um Rassismus zu verstehen und zu beschreiben. Insbesondere Menschen, die nach einer gerechteren Welt streben, haben unaufhörlich daran gearbeitet, Rassismus und seine Wirkungsweisen zu verstehen, um Wege und Strategien zu finden, ihn aus der Welt zu schaffen. Auch Wacquants Ansatz öffnet viele Türen, um über Rassismus nachzudenken. In einer politischen Situation, in der es immer schwerer fällt, über Rassismus zu sprechen, ist dies ein ehrenwertes Unterfangen. Doch seine disziplinäre Treue schwächt den Ansatz.

Ich plädiere deswegen für eine antidisziplinäre Rassismusforschung, die sich inspirieren lässt von postkolonialer Theorie und den „unordentlichen“ Schriften rassistisch missachteter und verfolgter Wissenschaftler_innen – etwa Frantz Fanon, Audre Lorde oder Angela Davis. Menschen, die am eigenen Körper die Macht des Rassismus haben spüren müssen und dennoch – vielleicht auch gerade deswegen – in der Lage waren, uns Dokumente zu hinterlassen, die uns Rassismus verstehen lassen, ohne dass ein Akt des Sezierens stattfindet. Um die Bedingungen der „Akzeptanz des Tötens in einer Normalisierungsgesellschaft“ (Foucault 1999, S. 295) zu verstehen, müssen wir uns verabschieden von methodologischer Reinheit, von den „blutleeren Kategorien“, den „enge[n] Begriffe[n] des Sichtbaren und Empirischen“, den „professionellen Standards der Indifferenz“ wie auch den „institutionellen Regeln der Distanzierung und Kontrolle“ (Gordon 2008, S. 21). Rassismuskritik ist immer auch die Kritik der Institutionen, der Disziplinen und ihrer Methodologien. Eine antidisziplinäre Rassismusforschung setzt sich kritisch mit dem Instrumentarium der Analyse auseinander und sucht nach Wegen, mit den Symptomen der Verachtung umzugehen. Ich weiß, der Vorschlag bleibt vage, aber das „Sezieren“ muss ein Ende haben.

Zu meiner und auch zu Wacquants Verteidigung muss ich hier zugeben, dass ich weder soziologisch geschult bin noch eine besondere Leidenschaft verspüre, soziologische Texte zu lesen. Im Gegenteil, sie sind mir oft ein Graus, repräsentieren sie für mich doch die kalte Wissenschaft, die die europäische Moderne hervorgebracht hat. Eine Disziplin, die v. a. versucht, komplexe und undurchdringliche Phänomene und Praxen über Tabellen und Diagramme (be-)greifbar zu machen. Die Techniken und Methodologien dieser Disziplin empfinde ich als schockierend, ganz wie Wacquant sie in seinem Text auch (ein wenig triumphierend) beschreibt: Sie sollen den Alltagsverstand „brechen“ und „chirurgisch“ vorgehen, sodass am Ende das Präparat „trennscharf, klar und neutral“ vor uns liegt – Begriffe, die „logisch kohärent, spezifisch und sparsam sind“. Ist es wirklich so, wie Wacquant schreibt, dass diejenigen den „historischen Interessen der Beherrschten am besten [dienen]“, die ihre „sozialen Leidenschaften konsequent sublimieren in rigoroser Theoriebildung, robusten methodologischen Designs und gewissenhafter empirischer Beobachtung und überzeugende Erklärungen für die komplexen und sich verändernden Strukturen liefern, die diese niederhalten“? Ich bezweifle das – auch wenn ich mir mit diesem Bekenntnis ein ablehnendes Stirnrunzeln und womöglich selbst die Verachtung der Soziolog_innen einhandeln sollte, die wie Wacquant nach wie vor glauben, dass wir sezierend die Welt retten werden.

Ich selbst habe eher eine Vorliebe für philosophische, historische und literaturwissenschaftliche Herangehensweisen entwickelt, die die Geister nicht wegreden und die den widersprüchlichen Affekten begegnen – auch ihren eigenen. Diese legen es nicht unbedingt darauf an, soziale Phänomene genau zu klassifizieren. Es ist ihnen möglich – wenn sie das zugegebenermaßen auch nicht immer tun –, das Unerklärliche unerklärlich zu lassen. In meinem mit Yener Bayramoğlu verfassten Buch Post/pandemisches Leben. Eine neue Theorie der Fragilität (2021) setzen wir unter anderem auf das „Serendipity-Prinzip“, welches besagt, „dass wir beizeiten zufällig Dinge finden oder Ideen haben, nach denen wir nicht gesucht haben. Manchmal fällt ein Gedanke auf fruchtbaren Boden und bringt unverhofft neue Erkenntnisse. Deswegen ist es durchaus sinnvoll, dass wir uns zick-zack-förmig durch Texte, Theorien, Bilder, Filme und Poesie bewegen und dabei unser Denken von zuvor Nicht-Gedachtem kontaminieren lassen. Zuweilen ist es auch zielführend, jenen zuzuhören, die nicht das sagen, was wir selber sagen würden. Nur so können wir den sozialen Blasen entkommen, die uns ein trügerisches Selbstbewusstsein bescheren.“ (ebd., S. 8) Nicht zuletzt in Zeiten zunehmender algorithmischer Macht und Kontrolle ist es notwendiger denn je, Möglichkeiten einer unordentlichen Methodologie zu finden und unser Zuhören und unsere Geduld zu trainieren, sodass wir auch die hören können, deren Alltagsverstand keine geordneten soziologischen Pläne produziert. Wir können den Horror Europas nicht einfach soziologisch verdauen, wir müssen uns fortwährend daran verschlucken. Und das Verschlucken gilt es zu verstehen.