1 Ein zorniger Text

Loïc Wacquant hat einen zornigen Text verfasst (Wacquant 2022; auf Deutsch in diesem Heft). Und leicht kann ich die Wut und auch den Gram nachvollziehen, die im Aufsatz immer wieder aufscheinen. Race ist ein „Hirngespinst“, das auf körperliche Merkmale und/oder biologisch-genetische Konstruktionen mit dem politischen Anliegen bezogen wird, Gruppen von Menschen zu differenzieren, ohne dass eine empirische Grundlage das legitimieren könnte. Vielmehr zeigen Kulminationspunkte rassistischen Handelns (spanische Inquisition, Kolonialismus, Faschismus) die böseste, blutigste Seite der sozialen Konstruktion Race. Rassistischen Differenzierungen liegt der Versuch zugrunde, zu separieren und, in der Regel über Reinheitsvorstellungen, Herrschaft zu fundieren, zu rechtfertigen und zu reproduzieren. Wie die Geschichte zeigt, zielt kommunikatives Handeln im Namen von Race – oder noch deutlicher in der deutschen Sprache: im Namen von Rasse – auf Unterordnung und im schlimmsten Fall sogar auf Ausrottung.

Warum also die Kategorie Race als soziologischen Grundbegriff weiterführen, so als gäbe es irgendwo eine Substanz im Hintergrund, die diese Humandifferenzierung erlaube, fragt Wacquant sinngemäß. Warum die notorische Paarung von Ethnizität und Race, wenn es doch um kulturelle Differenzierungen geht? Warum Debatten über Anführungszeichen oder inhaltliche Bestimmungen einer eigentlich unmöglichen Kategorie? Warum diese zerstörerische Kategorie Race sogar als Strukturdimension einführen? Und, das scheint den Autor besonders zu ärgern: Warum Aktivismus mit Wissenschaft vermischen und Race zum Kampfbegriff machen? Kurzum, Wacquant will die toxische Kategorie Race, die dem Alltagsdenken entspringt, wissenschaftlich (oder wenigstens soziologisch) so weit wie möglich in den Hintergrund drängen, eigentlich loswerden. Ich finde das Anliegen sympathisch. Diese gänzlich substanzlose Kategorie im Wissen um die fatalen Folgen trotzdem weiter zu nutzen, um rassistische Differenzierungen zu erforschen, erfordert eine hohe Ambiguitätstoleranz.

Daher ist es wichtig, dass Loïc Wacquant uns einmal mehr dazu auffordert, über die Theoriearchitektur nachzudenken, in der Fragen von Rassismus ihren Platz finden müssen. Für die in Deutschland geführten Debatten macht dies doppelt Sinn, weil wir seit einigen Jahrzehnten, u. a. unter dem Einfluss von postkolonialer Theorie und der Black-Lives-Matter-Bewegung, verstärkt dazu übergehen, Fragen von Race und Rassismus in die soziologische Theorie und Empirie einzuarbeiten. Noch 2008 schrieb z. B. Mathias Bös, dass der Begriff der Rasse im Wissen um die schrecklichen Folgen faschistischer und nationalsozialistischer Herrschaft in vielen nationalen Soziologien gestrichen wurde. „Dies hat jedoch nicht in allen nationalen Soziologien zu einer Abschaffung geführt, so wird er etwa in den USA noch weiter verwendet“ (Bös 2008, S. 58). Die Aufforderung, noch einmal über die „Schwierigkeiten mit Race“ nachzudenken, bevor angloamerikanische Theoriebausteine vorschnell übernommen werden, leuchtet demnach ein: Bevor wir uns als Soziolog*innen dem doing race genauer zuwenden, sollten wir uns über den theoretischen Stellenwert des Konzepts Race klar sein.

Um es noch einmal zusammenzufassen: Wacquant schlägt vor, „Race als einen paradoxen Subtyp von Ethnizität“ zu behandeln. Paradox ist die Kategorie Race, da in dem Verweis auf Race die Arbitrarität des Ethnisch-Seins verleugnet werde. Wer aber nicht sähe, dass Race eine Unterform von Ethnizität sei, der verbleibe im Alltagsverstand und durchdringe den Sachverhalt nicht wissenschaftlich. Wacquants Vorschlag ist im Prinzip nicht neu. Schon Max Weber (1980, S. 234) hatte „‚Rassen‘zugehörigkeit“ unter der Überschrift „Ethnische Gemeinschaftsbeziehungen“ verhandelt. Dennoch gewinnt die Idee, „ein analytisches Konstrukt auszuarbeiten, das umfassend genug ist, um die vielfältigen Formen ethnorassischer Herrschaft einzuschließen, die über Zeit und Raum hinweg aufgetreten sind“, in Wacquants neobourdieuischer Ausformulierung eine neue Stoßrichtung und Klarheit.

Und dennoch wird mein Argument im Folgenden sein, dass der Preis, den wir für die Einhegung von Race im Feld der Ethnizität zahlen, zu hoch ist: erstens, weil auf diese Weise Klasse und Geschlecht substanzialisiert werden, und zweitens, weil die Subsumierung von Race unter Ethnizität so reibungslos plausibel dann doch nicht ist. Mein Gegenvorschlag wird sein, Race und Geschlecht als Konzepte zur Beobachtung (und zwar ausschließlich um doing race und doing Geschlecht zu verstehen) engzuführen, insofern beide Konstruktionen auf körperlichen Einschreibungen basieren und somit von dem Konstruktionsmodus der Klasse und der Ethnizität unterscheidbar sind.

Zunächst aber noch ein paar Sätze zu den wissenschaftlichen Grundsätzen einer Forschung zu „ethnorassischer Herrschaft“, die Wacquant über den Aufsatz hinweg in fünf Grundsätze fasst. Er ruft dazu auf, Forschung über Race zu historisieren und zu verräumlichen (d. h. auch „die Vereinigten Staaten aus ihrer archimedischen Position zu entfernen“), Schuldzuweisungen zu vermeiden (d. h. auch mehr über statt gegen Race zu arbeiten), die konstituierenden Elemente rassifizierender Praxis herauszuarbeiten sowie schließlich in Abgrenzung zum Alltagsverstand ein „Modell der rassischen Herrschaft“ zu entwickeln. Wissens- und raumsoziologisch gesehen sollten dies die Grundanforderungen an jede kultur- und sozialwissenschaftliche Forschung sein. Ich gebe Wacquant dennoch recht, dass sie in Bezug auf die Forschung zu Race/Rassismus nicht oft genug wiederholt werden können. Es ist auffällig, dass im Vergleich zum doing gender das doing race wenig erforscht wurde. Dürftig wird der Forschungsstand insbesondere dort, wo es um „Whiteness“-Studien (Eggers et al. 2005) geht, d. h. darum, in guter Goffman’scher Tradition zu verstehen, wie es möglich ist, dass Menschen, Dinge, Räume als weiß gelesen werden und diese Interpretation auch noch die Setzung des Unmarkierten erlaubt (Goffman 1975). Ich stimme Wacquant zu, dass rassistische Konstruktionen, die sich nicht einfach in die Gegenüberstellung weiß/Schwarz oder weiß/„of color“ fügenFootnote 1 – z. B. die (auch postkolonialen) rassistischen Beziehungen zwischen Japaner*innen und Koreaner*innen –, oft quer zu nordamerikanischen Rassismusanalysen liegen. In der Rassismusforschung ist nicht nur die Kritik einer „US-Zentrik“ (z. B. Bacchetta et al. 2017, S. 36) wiederholt artikuliert worden. Es wird auch mehr Aufmerksamkeit z. B. für die südamerikanische Resilienz gegenüber binären Differenzierungen durch heterogene (ethnisch-kulturelle) Positionierungen (Lehmann 2022) und kreolisch konstruierte, fluide Rassifizierungen (Rivera Cusicanqui 2020) eingeklagt.

Die Frage ist, ob Wacquants Modell diesen komplexen Platzierungen gerecht werden kann, und auch, ob es angesichts des noch unterentwickelten Forschungsstands zum doing race für eine derart autoritative Modellbildung, wie sie Wacquant vorschwebt, nicht noch zu früh ist. Wacquants brillante ethnographische Studien haben mich immer wieder begeistert, auch deshalb, weil er mit einem starken theoretischen Modell das Datenmaterial sortiert. Immer wieder hat der Autor betont: „My position on the contrary, is to say, ‚go native‘ but ‚go native armed‘, that is, equipped with your theoretical and methodological tools, with the full store of problematics inherited from your discipline, with your capacity for reflexivity and analysis, and guided by a constant effort“ (Wacquant 2011, S. 87). Wenn ich aber nun das hier präsentierte Modell als Werkzeug zur Anleitung zukünftiger empirischer Forschungen ernst nehme, hege ich Zweifel: Zweifel, ob das analytische Konstrukt von Race als paradoxem Subtyp von Ethnizität die Bearbeitung der dringenden Aufgabe einer – wie ich es formulieren möchte – deutlich konzentrierteren Analyse der weltweiten, historisch gewachsenen Gefüge von doing race und damit von Rassismus nicht zu sehr verengt.

2 Geschlecht und die Verharmlosung von Ethnizität

Ethnizität, so argumentiert der Autor, sei die Basis für soziale Identität, Strategie und Struktur, gedacht als Kontinuum. Als selbst gewählte Identität (der eine Pol des Kontinuums) sei die Willkürlichkeit der Zuordnung mehr oder weniger offensichtlich, wenn auch dies selbstverständlich als historisch gewachsene und kulturell geformte Zuordnung verstanden werden müsse (Juden im heutigen Frankreich sind eines von Wacquants Beispielen). Gegen diese „‚thin‘ ethnicity“, wie es in der englischen Fassung heißt, steht die „‚thick‘ ethnicity“, die als naturgegeben, körperlich verankert oder praktisch unveränderlich erscheint. Es sind rassifizierte Formen der Ethnizität. Die Forschung, die Wacquant anregen will, könnte sich auf die „Umwandlung von Klassifikation [dünne Ethnizität, ML] in Stratifikation [dicke Ethnizität, ML] und umgekehrt“ konzentrieren. Viele der Forschungsfragen und -themen, die Wacquant in diesem Rahmen aufwirft, sind hochaktuell, und hoffentlich werden viele dieser Fragen zukünftig bearbeitet.

Wacquants Ausgangspunkt ist, dass Race „sowohl im logischen als auch historischen Sinne“ eine Unterform von Ethnizität ist. Warum das historisch stimmen könnte, wird im Aufsatz nicht begründet. Dass Race logisch der Ethnizität untergeordnet werden muss, folgt für Wacquant aus dem Argument, dass Ethnizität (und damit auch rassifizierte Ethnizität) auf „Wahrnehmung und Unterscheidungsvermögen“ basiert und keine „von der Kognition unabhängige materielle Grundlage“ habe. Das unterscheide Ethnizität von Geschlecht, Klasse und Alter, von Staatsbürgerschaft und Nation: „Klasse (die Produktionsweise), Geschlecht (die Reproduktionsweise), Alter (die Entfaltung des biologischen Lebens), Bürgerschaftsstatus und nationale Identität (die Zugehörigkeit zu einem Staat)“.

Ohne jetzt alle Kategorien im Detail durchgehen zu wollen, lohnt sich die Frage, ob die Kategorie Race tatsächlich als ausschließlich kognitive Differenzierung funktioniert und somit als Subkategorie von Ethnizität richtig platziert ist. Das hieße, Race wäre „eine reine Modalität symbolischer Gewalt“, Klasse und Geschlecht dagegen mehr als das. Klassen existieren demnach, weil die Produktionsweise existiert. Geschlechter existieren aufgrund der Reproduktionsweisen. Oder wie Wacquant schreibt: „Klassen existieren, wenn auch nur potenziell, bei Abwesenheit des Klassenbewusstseins“. Es mag sein, dass die Bürger*innen und Arbeiter*innen kein Klassenbewusstsein benötigen, damit Klassen existieren. Aber Klassen gibt es sicherlich nur so lange, wie Sozialwissenschaftler*innen, Politiker*innen oder andere Beobachter*innen Menschen nach Kriterien wie Einkommen, Arbeitsform oder Verfügung über Produktionsmittel zu Klassen zusammenfügen. Nicht die Produktionsweise, so mein Argument, fundiert Klassen, sondern Klassen sind Beobachtungskategorien. Ohne den Akt der Klassifikation gibt es keine Klassen. Das Klassenmodell ermöglicht die Beschreibung von Lebens- und Arbeitsbedingungen und eine Differenzierung von Lebensstilen und -chancen. Im Unterschied zu Race ist Klasse nicht mit der Last behaftet, dass diese Kategorie als toxische in die Welt gekommen ist, eher haben wir es mit einer Kategorie der Befreiung und der Skandalisierung ökonomischer Ausbeutung zu tun. Das macht aber Klassen nicht essenzieller. Mit Klasse wie mit Race thematisiert die Soziologie in erster Linie, wenn auch keineswegs ausschließlich, soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Man sollte die Differenz zwischen den Kategorien nicht verwischen: Klasse hat sich in vielerlei Hinsicht als produktive Beobachtungskategorie erwiesen, Race ist – wie eingangs dargestellt – sozial die viel kompliziertere Kategorie. Aber das heißt nicht, dass wir Race Ethnizität unterordnen sollten, um im gleichen Atemzug Klasse zu substanzialisieren.

Noch offensichtlicher werden die Probleme dieser Art von Modellbildung mit Blick auf die Kategorie Geschlecht. War es nicht Pierre Bourdieu, der die Neigung der Wissenschaftler*innen, „Wahrnehmungs- und Denkkategorien als Erkenntnismittel zu verwenden, die er als Erkenntnisgegenstände zu behandeln hätte“ (Bourdieu 1997, S. 153), gerade am Beispiel Geschlecht so treffend beschrieben hat? Am Exempel der Geschlechterkonstruktionen der Berber*innen hat er ausgeführt, wie das „Prinzip der Di-vision […] diese Vision der Welt strukturiert“ (ebd., S. 156). Die Wahrnehmung und Unterscheidung von Geschlechtern, so Bourdieu, schlage sich in der Modalität der symbolischen Gewalt (männlicher Herrschaft) in Praktiken und Diskursen nieder, „die das Sein im Modus der Evidenz aussprechen und so daran mitwirken, dass es dem Sagen entspricht“ (ebd., S. 158). Moderne Gesellschaften differenzieren nicht deshalb hierarchisch zwei Geschlechter – in Relation zu denen jede Transperson, jedes dritte Geschlecht, jede non-binäre Existenz nur als Abweichung sich Raum verschaffen kann –, weil Frauen dreißig Jahre ihres Lebens gebärfähig sind, weil Frauen natürlicherweise eher für Hausarbeit zuständig sind oder weil Menschen sich durch die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle reproduzieren. Wir haben es hier vielmehr mit einer Differenzierung von Geschlechtern zu tun, die in ihrer vermeintlich biologisch-körperlichen Fundierung und in ihren oft toxischen Folgen der Funktionsweise des Konzepts Race gar nicht unähnlich ist. Anders gesagt: Um Race zur Subkategorie von Ethnizität zu machen, müsste man schon ein gutes anderes Argument finden als die Differenz „reine Modalität symbolischer Gewalt“ versus „eine eigenständige, von der Kognition unabhängige materielle Grundlage“ aufweisend.

Verstehen wir Race dagegen doch als paradoxen Subtypus der Ethnizität, dann werden wir zumindest eine Konstellation nur schwer integrieren können, die auftritt, wenn Rassismus ohne ethnische Differenzierung in Erscheinung tritt. Nehmen wir den Fall einer afrodeutschen Wissenschaftlerin, die in Deutschland geboren ist, deren deutsche Mutter, die sich als weiß versteht und als solche auch wahrgenommen wird, das Kind nach den Gewohnheiten der deutschen Mittelschicht aufgezogen hat, die aber – weil sie als schwarz gelesen wird – ein Leben lang und bis heute andauernd mit rassistischen Diskriminierungen zu kämpfen hat. Ist es sinnvoll, sie als ethnisch different zu entwerfen, um den erfahrenen Rassismus zu verstehen? Nach Wacquant wird hier „gewöhnliche“ in „rassifizierte (und dadurch verleugnete) Ethnizität verwandelt“. Ich nehme an, Wacquant würde argumentieren, dass meine afrodeutsche Kollegin von denen, die sie rassistisch adressieren, ethnisch anders zugeordnet wird – ungeachtet der Tatsache, dass es zwischen ihr und mir keine ethnische Differenz in Praktiken und Selbstzuordnungen gibt. Aber müsste das nicht die Forschungsfrage sein, anstatt als Ergebnis schon vorweggenommen zu werden? Ist es vielleicht möglich, Körper rassistisch aufzuladen, obwohl die jeweiligen Personen ethnisch gleich eingeordnet werden?

Und es liegt noch eine andere kritische Nachfrage auf der Hand: Zahlen wir mit dem Modell nicht den Preis, dass dünne Ethnizität plötzlich harmlos wirkt? Die Grafik legt dies mit ihrem Pfeil, der von oben nach unten zeigend doch Abstieg symbolisiert, nahe. Von Horizontalität zur Vertikalität. Von Kultur zur Natur. Von Identifikation zu „fremd zugeschriebene[r] Identität, wobei die Würde abgestuft ist“. Begleitet die Konstruktion von Ethnizität (kulturell, selbst zugeordnet, zeitlich begrenzt) nicht allzu oft auch Reinheitsdenken, Exklusion, gewaltsame Durchsetzung von Gleichheitserwartungen innerhalb der Gruppe? Ich bezweifle, dass es nur die rassifizierten Formen der Ethnizität sind, die uns „tief in die vertikale Dimension der Ungleichheit“ führen. Die Aufgabe der Soziologie ist es nicht nur, wie Loïc Wacquant zweifelsohne weiß, doing ethnicity ausgehend von einer Praxis widersprüchlicher, sich überlagernder, wechselseitig abhängiger, kreolisierter Identifizierungen als Fall zu begreifen, der erklärt werden muss und nichts erklärt. Sondern ein Modell von Ethnizität muss auch so angelegt sein, dass es die ganze Brutalität kultureller Klassifizierung auch bei dünner Ethnizität (um bei diesem Begriff zu bleiben) abbilden kann.

3 Gegenderte und rassifizierte Körper

Was also tun? Ich schlage vor, zunächst ernst zu nehmen, dass Geschlecht, Klasse, Ethnizität, Race, Alter, Dis/ability, Sexualität etc. nicht nach der gleichen Logik wahrgenommen und unterschieden werden. Manche Differenzierungen sind binär konstruiert, andere wiederum prozessual (wie Alter) oder polyvalent (wie Ethnizität). Insbesondere Geschlecht und Race werden als unmittelbar körperlich beobachtbare, „biologisch verankerte Marker“ (Hirschauer 2014, S. 170) vorgestellt. Sie werden, so Stefan Hirschauer weiter, „als lebenslange Konstanten erwartet, während Alter immanent transitorisch ist und bei Klassen und Nationen an Mobilität zumindest gedacht wird“ (ebd., S. 171). Die auffälligste Gemeinsamkeit der sozialen Konstruktionen Geschlecht und Race ist ihre scheinbar lebenslange Festlegung aufgrund von körperlicher Einschreibung. Dabei wechseln je nach Ort, Situation, Praktik die Zuschreibungen dessen, was am Körper als Verifikation herangezogen wird. Die Konstruktionen von Race reichen weit über die Hautfarbe hinaus und können diese auch ignorieren – sie integrieren z. B. Nasenformen, Kopfgröße oder Haarstrukturen. So wie auch die Konstruktionen von Geschlecht weit über die im Alltag meist nicht sichtbaren primären Geschlechtsorgane hinausreichen können und situativ sowohl Komponenten wie Hormone oder Chromosomen einschließen als auch auf Haarschnitte, Stimmhöhe, Handgröße etc. ausgerichtet sein können. Gemeinsam ist beiden Kategorien ihre Naturalisierung.

Geschlecht und Race weisen dabei beide eine Tendenz zur binären Lesart auf. Im Unterschied zum Geschlecht, das (heute) weitgehend binär konstruiert wird und bei dem die zahlreichen Versuche, dritte bzw. weitere Identitäten zu entwickeln, als widerständige Praktiken zur Matrix der Zweigeschlechtlichkeit durchgesetzt werden müssen, bleibt allerdings in der Differenzierung weiß/„of color“ der Pol, an dem sich People of Color verorten (müssen), heterogen. Es ist vor allem das Drama der Versklavung von afrikanischen Menschen und hier noch einmal besonders der US-amerikanische Kontext, in dem die binäre Konstruktion von weiß/Schwarz wirkmächtig wurde. Breit diskutiert wird, dass die uns bekannte Matrix der Zweigeschlechtlichkeit (also nicht die Kategorie Geschlecht, sondern deren binäre Polarisierung) erst kolonial durchgesetzt wurde, insofern abweichende Regelsysteme nicht länger akzeptiert wurden (Oyewùmí 1997). Auch diese Naturalisierung in der (kolonialen) Moderne (Quijano 2000; Lugones 2007) würde dann Zweigeschlechtlichkeit nur mit einer einzigen anderen sozialen Differenzierung teilen, und zwar mit Race.

Diese Gemeinsamkeiten legen es nahe, eine soziologische Perspektive so anzulegen, dass die Frage nach der Vergeschlechtlichung auch als Frage nach der Rassifizierung gestellt wird und umgekehrt, weil Race wie Geschlecht auf jeden Körper projiziert werden (im doing und im undoing race/Geschlecht) und dort zusammentreffen. Dieses Geflecht aus Vergeschlechtlichung und Rassifizierung zu beschreiben, ist Aufgabe der Soziologie. Das eröffnet meiner Einschätzung nach auch die Möglichkeit, nach systematischer und systemischer Diskriminierung oder allgemeiner nach Formen sozialer Ungleichheit, nach Dominanz und Unterwerfung zu fragen, die sich mit naturalisierten Differenzierungen verbinden. Insbesondere in der postkolonialen, feministischen Theorie gibt es durchaus Stimmen, die die koloniale Durchsetzung einer heterosexuellen Geschlechterordnung als zugleich unmittelbar und untrennbar rassifizierte Grenzziehung problematisieren. María Lugones (2007, S. 186) z. B. nennt Heterosexismus die – im Zuge kolonialer Machtergreifung durchgesetzte – Matrix, mit der Geschlecht und Race verschmelzen. Ihr Argument ist, dass sexuelles Handeln und damit auch Familienorganisation direkt auf rassistischen Klassifikationen basiere. Am Beispiel der Keuschheit z. B. erläutert sie, dass dieses Konzept nicht nur gegendert ist, d. h. in der Moderne nicht (mehr) für Männer angewandt wird, sondern auch rassifiziert, insofern Schwarze Frauen nie als keusch entworfen wurden (dazu auch Collins 2000). Man wird weiter die jeweiligen Kontexte prüfen müssen: Wie gegendert sind japanische Konstruktionen von Race in Korea, wie rassistisch sind japanische Konstruktionen von Geschlecht in Korea (um bei diesem Beispiel zu bleiben) etc.?

Meine These ist, dass in einer Welt, in der Geschlecht ebenso naturalisiert ist wie Race, der gegenderte Körper nur als zugleich rassifizierter Körper zu verstehen ist und umgekehrt, selbst wenn der eine oder der andere Aspekt situativ latent bleiben kann. Mein Vorschlag ist daher, soziologische Forschung perspektivisch noch deutlicher so auszurichten, dass Rassifizierungen im Zusammenhang mit der permanenten Anrufung, Geschlecht im Rahmen einer heterosexuellen, binären Matrix zum Ausdruck zu bringen, untersucht werden. Wir sollten die Unterscheidungspraxis in Bezug auf Race und Geschlecht gleichzeitig in den Blick nehmen.

Das von Wacquant herangezogene Beispiel des Gefängnisses legt zudem nahe, auch Klassenfragen zu Rassifizierungsfragen ins Verhältnis zu setzen. Aber die Adressierung nach Klasse unterscheidet sich stärker von der nach Race als die nach Geschlecht: Geschlecht und Race sind an naturalisierte Verschmelzungs- und Verweisungszusammenhänge gebunden, Klasse und Ethnizität dagegen stellen kulturelle, gedachte Kollektivformationen dar. Bei Lebenslagen, die wir nach Klassen zu differenzieren uns zutrauen, und bei Praktiken der Zugehörigkeit, die wir unter der Überschrift Ethnizität behandeln, geht es um Lebenswelten, die sich mit aller Brutalität in Handeln einschreiben. Wir lesen (gerade als soziologische Profession, aber ebenso im Alltag) Körper als klassenspezifisch und ethnisch geformte. Doch scheint diese Einschreibung in den meisten Gesellschaften nicht (z. T. nicht mehr) als angeboren, sondern als erworben verstanden zu werden. Wir müssen uns immer wieder vergegenwärtigen, dass das nicht harmloser ist. In dem von Wacquant geschilderten Fall wäre das Wahrnehmungsschema Klasse stärker als die Konstruktion von Race. Es erscheint mir wichtig, hier Systematiken der Adressierung zu erforschen.

Um ein Fazit zu ziehen: Ich bin auch zornig, aber darauf, dass wir zusätzlich zu der Unverschämtheit von Race auch noch mit der Zumutung von Geschlecht leben müssen. Race und Geschlecht (und damit, wie wir spätestens seit Judith Butler (1991) wissen, auch sex im Sinne des biologischen, vergeschlechtlichten Körpers) sind „Hirngespinste“, die sich auf körperliche Merkmale und/oder biologisch-genetische Konstruktionen beziehen. Sie entspringen dem politischen Anliegen, Gruppen von Menschen zu differenzieren, ohne dass eine empirische Grundlage das nahelegen würde. Die Soziologie könnte mit größerem Engagement untersuchen, wie, wann und warum doing race in Verflechtung mit doing Geschlecht relevant wird. Sie sollte nur nie vergessen, dass es sich hierbei ausschließlich um Beobachtungs- und Differenzierungskategorien handelt. Das impliziert die empirische Offenheit für Ausdrucksweisen des Hybriden, des Dritten, des Dazwischen. Es beinhaltet empirische Offenheit für die Fluidität von Einschreibungen.

Wenn ein Modell, warum dann also nicht Race und Geschlecht auf die eine Seite der naturalisierten, jeden einzelnen Körper adressierenden Einschreibungen setzen und Klasse sowie Ethnizität als die kulturell gelesenen, auf Kollektive zielenden Einschreibungen auf der anderen Seite platzieren? Dann wäre die eine soziologische Aufgabe, nach den fallspezifischen Intersektionen zwischen beiden Seiten zu fragen. Und die andere wäre es, die Formen der Bezogenheit jeweils nach einer der beiden Seiten hin zu erkunden.

So schmerzhaft es ist: Race und Geschlecht (d. h. Rassismus und Sexismus, aber auch doing race and doing Geschlecht) brauchen wir noch als Beobachtungskategorien. Denn wir kommen nicht umhin, nach Konstruktionen von Race und Geschlecht zu fragen, wenn wir die Gewalt der Klassifikation und Stratifikation verstehen wollen. Zugegeben, ich schreibe hier Race und nicht Rasse, weil ich (wie viele andere deutschsprachige Menschen) im Begriff der Rasse nur die biologistische Einteilung hören kann, im Begriff Race aber das Wissen um die soziale Herstellung der biologistischen Einschreibung mittransportiert wird. Das Lehnwort schafft Distanz und neue Assoziationskontexte. Aus den gleichen Gründen bleibe ich auch vorzugsweise bei dem deutschen Wort Geschlecht, weil Gender nicht die biologistische Formatierung kommuniziert, Geschlecht aber soziale und naturalisierende Verweise aufruft. Diese sprachliche Sensibilität scheint mir eine Voraussetzung für die Arbeit mit Beobachtungskategorien zu sein, die auf das Verständnis einer Praxis zielen, in der Differenzierungen biologisch-genetisch oder körperlich-naturalisierend legitimiert werden. Die soziologisch genutzten Worte müssen das Wissen um den Konstruktionscharakter zugleich mit aufrufen. Wenn dies im amerikanischen Kontext mit dem Begriff Race nicht (mehr?) möglich wäre, könnten wir gemeinsam über alternative Begriffe nachdenken. Das verändert jedoch die Modellbildung nicht. Gerade wenn wir Race und Geschlecht von Ethnizität und Klasse abrücken und beide Begriffspaare im Modell auf jeweils unterschiedlichen Seiten platzieren, können wir – das jedenfalls ist meine Überzeugung – deutlich machen, dass die von uns untersuchte Praxis auf biologistisch oder naturalistisch aufgeladenen Hirngespinsten basiert.