1 Einleitung

Ist Diego Maradona am 25. November 2020 gestorben? Alles sieht danach aus, werden doch die Fahnen vor den öffentlichen Gebäuden Argentiniens an diesem Tag auf Halbmast gesetzt, Altäre vor den großen Stadien der fußballverrückten Stadt Buenos Aires errichtet und eine dreitägige Staatstrauer durch Alberto Fernandez, den Präsidenten des Landes ausgerufen. Der allseits bekannte Fernsehmoderator und Schriftsteller Alejandro Dolina sagt sein Abendprogramm ab. Niemand sei in der Stimmung, sich durch Belanglosigkeiten unterhalten zu lassen. Diego Simeone, argentinischer Fußballtrainer in Diensten von Atletico Madrid, antwortet auf die Nachfrage eines Journalisten, wie er die Todesnachricht aufgenommen habe: „Schwierig, es ist schwierig. Wenn sie dich anrufen und dir erzählen, dass Diego gestorben ist, dann sagst Du: Nein! Nein, Diego kann gar nicht sterben.“ Indes stehen Millionen ArgentinierFootnote 1 kilometerweit Schlange, um sich von ihrem Volkshelden zu verabschieden, lehnen sich gegen die Ordnungskräfte auf, dringen gewaltsam in den Präsidentenpalast ein und verstoßen gegen die Regeln des „social distancing“ in Zeiten der Corona-Pandemie.

Die Reaktionen auf den Tod Maradonas machen deutlich: Das allgemeine Reden über Diego Armando Maradona hat bereits zu Lebzeiten einen Heldenmythos entstehen lassen, der sich früh von der historischen Person und ihrem Wirken in der Sinnsphäre Sport entkoppelte und im November 2020 lediglich auf die Spitze getrieben wurde. Heldendichter Maradonas waren zu keiner Zeit knapp. Nicht nur Sportreporter wie Victor Hugo Morales betonten stets die Außeralltäglichkeit und Einmaligkeit von „El Diez“, der argentinischen Nummer zehn, in ihrer Kommentierung großer Fußballturniere: „Kosmischer Drache! Woher kommst Du?“ Auch in literarischen Fiktionen über Maradona werden gängige Erzählweisen gemeinhin nicht durchbrochen, um die dunklen Seiten des Sports hervorzukehren.Footnote 2 Vielmehr befördern Schriftsteller wie Eduardo Sacheri, Roberto Fontanarrosa, Hernán Casciari, Eduardo Galeano, Juan Villoro, Osvaldo Soriano und Mario Vargas Llosa sowie die Musiker Andrés Calamaro, Rodrigo Bueno, Alex Bautista oder Manu Chao den Mythos Maradona in ihren Texten mit künstlerischen Mitteln. „Wenn ich Maradona wäre“, stellt sich Manu Chao in seinem Lied über den Ballkünstler vor, „würde ich wie er leben.“ Eduardo Sacheri (2010, S. 29) trägt seinen Teil zur Verklärung Maradonas bei, wenn er sich außerstande sieht, an Maradona „denselben Maßstab anzulegen wie an den Rest der Menschheit“. Um Maradona ist ein regelrecht sakraler Kult entstanden. Bereits in Neapel wurde er wie ein Stadtheiliger verehrt – und wird es bis heute. Mit der „Iglesia Maradoniana“ besteht in Argentinien seit den späten 1990er-Jahren sogar eine – wenn auch nur halb ernst gemeinte – religiöse Vereinigung, die Maradona göttliche Ehren zuteilwerden lässt.

Das Trauergeschehen anlässlich seines Todes stellt in dieser Hinsicht das Finale einer maßlosen Überhöhung dar. Über die Heldengeschichte aus Aufstieg, Fall und Wiederauferstehung (vgl. Bette 2007) hinweg bleibt der Maradonakult in Argentinien nahezu ungebrochen und kann scheinbar kaum erschüttert werden. Betrachtet man die Vielzahl an Eskapaden, Affären, Regelverstößen, Gesetzesbrüchen und sonstigen Grenzüberschreitungen, erscheint die Bewunderung Maradonas jedoch in einem anderen Licht. Neben mehrfachen Dopings, Schlägereien auf dem Fußballplatz, obszönen Gesten gegen sportliche Kontrahenten oder eben seinem zwar weltberühmten, aber doch unfairen und regelwidrigen Handspiel im Viertelfinale der Fußball-WM 1986 in Mexiko taugt Maradona auch jenseits des Sports weder als Testimonial für einen achtsamen Umgang mit sich selbst und anderen noch als Beispiel dafür, dass man aus Fehlern lernen kann. Die Liste seiner außersportlichen Verfehlungen und Entgleisungen ist lang: Ehebruch, Drogensucht, Alkoholismus, vulgäre Sprache, Steuerhinterziehung, jahrelange Verleugnung unehelicher Kinder, Kontakte mit der neapolitanischen Mafia sowie Backpfeifen für Reporter, die womöglich seiner Ehefrau zuzwinkerten. Als Journalisten im Februar 1994 sein Anwesen in Buenos Aires umlagern, schießt Maradona mit einem Luftgewehr auf die Medienvertreter.Footnote 3

In Wirtschaft, Politik, Religion und Sport bekommen heroische Figuren, die gegen Regeln verstoßen, den systemischen Code sabotieren und allzu tiefe Einblicke in die Hinterbühne ihrer öffentlichen Auftritte gewähren, die besondere Fallhöhe ihrer Prominenz meist schmerzhaft zu spüren und werden entlassen, abgewählt, exkommuniziert oder öffentlich degradiert. Beispielsweise hat Franz Beckenbauer im Zuge der Korruptionsvorwürfe rund um die Vergabe der Fußball-WM 2006 nach Deutschland einen enormen Ansehensverlust erlitten. Der „Kaiser“, einstmals Spieler, Trainer, Funktionär, Kolumnist und TV-Experte, hat sich in den letzten Jahren fast vollständig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Maradona hatte zwar zeitlebens Kritiker, die Gefallen daran hatten, „den König nackt zu sehen“ (Galeano 2014, S. 263), seine Verfehlungen akribisch dokumentierten (Passarelli 1991), ihm Therapiebedarf attestierten (Burns 2002) und ihre Abneigung in Form von Spitznamen wie „Maracoca“ oder „Maratonna“ zum Ausdruck brachten. In den letzten Jahren hat insbesondere die feministische Bewegung Argentiniens auf die Ambivalenzen und Widersprüche dieses Volkshelden verwiesen, die hegemoniale Männlichkeit Maradonas kritisiert, sein gewalttätiges Verhalten gegenüber Frauen angeklagt und sein promiskuoses (Ehe‑)Leben angeprangert. Über weite Teile der Bevölkerung hinweg bewirkten Einblicke in die Komplexität der „Unperson“ (Luhmann 2008, S. 142) Maradonas jedoch keine weitreichenden und nachhaltigen Reputations- und Gesichtsverluste. Im Gegenteil: Fast scheint, als bestärkten sie seine Popularität sogar und stellten ein zentrales Element seiner kultischen Verehrung dar. Dass selbst der argentinische Präsident Maradona per Twitter als einen Menschen bezeichnet, der das argentinische Volk „nur glücklich“ gemacht habe, und ihm ein Staatsbegräbnis zuteilwerden lässt, ist in jedem Fall erklärungsbedürftig.

Vor diesem Hintergrund ist es die Aufgabe der Soziologie, diese Befremdlichkeit zum Ausgang zu nehmen, um sich analytisch mit dem Phänomen vertraut zu machen. Die Forschungsliteratur zum „Mythos Maradona“ (Archetti 1997b, S. 48) ist dabei keineswegs knapp. Tatsächlich hat kaum ein anderer Sportler so viel Aufmerksamkeit von Kulturwissenschaftlern, Anthropologen, Soziologen, Politikwissenschaftlern und Historikern erfahren. Zu nennen sind hier in erster Linie die Arbeiten des argentinischen Anthropologen Eduardo Archetti, dessen übergeordnetes Interesse der Rolle des Fußballs für die Konstruktion nationaler Identität gilt. Der analytische Fokus der meist chronologisch angelegten Arbeiten liegt insbesondere auf der historischen Genese mythischer Erzählstrukturen im soziokulturellen bzw. politischen Kontext Argentiniens im 20. Jahrhundert und ihrer Reproduktion in Narrativen über Maradona.Footnote 4 Jüngere Arbeiten zum argentinischen Fußball im Allgemeinen und zu Maradona im Besonderen erweitern diese Erkenntnisse um interessante Details und innovative Vergleiche, bleiben der genannten Schwerpunktsetzung aber im Großen und Ganzen treu.Footnote 5 Grundsätzlich lassen sich die Forschungsarbeiten zu Maradona in den gängigen Bahnen geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlicher Forschung zur nationalen bzw. politischen Identitätsbildung im Fußball verorten (vgl. zum Beispiel Duke und Crolley 1996; Armstrong und Giulianotti 1999; Klein und Meuser 2008; Tomlinson und Young 2006).

Der vorliegende Aufsatz greift diese Erkenntnisse auf, systematisiert die Argumente jedoch neu. Im Mittelpunkt steht weniger die Frage nach der Entstehung des Mythos und seiner Funktion der Herstellung von „Argentinität“, sondern die Analyse der kommunikativen Bedingungen seiner auf den ersten Blick paradoxen Robustheit und ungebrochenen Stabilität. Erklärungsbedürftig ist nicht nur, wie Maradona ein Held werden, sondern auch, wie er in Anbetracht seiner langen Liste an Devianzen und Entgleisungen Held bleiben konnte und in welchem Maße sogar gerade die Widersprüche und Ambivalenzen seinen Heldenstatus befördert haben. Folglich werden in diesem Beitrag die Leitsemantiken, Legitimationsrhetoriken, „Neutralisierungstechniken“ (Sykes und Matza 1957), „Rechtfertigungsgeschichten“ (Lehmann 1980) und sonstigen Präfigurationen fokussiert, die im gesellschaftlichen Reden über Maradona wiederkehrend auftauchen und seine außerordentliche Bedeutung über alle Laster, Irrwege, Gesetzesbrüche und Verfehlungen hinweg stabilisieren. In Anlehnung an die „soziologischen Novellen“ von Rainer Paris (2005, S. 7) werden in aufeinanderfolgenden Abschnitten die Gemeinschafts- und Einheitsfiktionen sowie Protest‑, Genie‑, Opfer- und Gottessemantiken und -narrative im Diskurs über Maradona detailgenau rekonstruiert.Footnote 6 Sie stellen einen wesentlichen Teil des „Interpretationsrepertoires“ (Keller 2008, S. 235, 240) dar, auf das im allgemeinen Reden über Maradona und seine multiplen Vergehen wiederkehrend und regelhaft zurückgegriffen wird. Im Mittelpunkt stehen somit Deutungsmuster und Sinnstiftungsformeln, die längst im Diskurs eingespeist sind und über deren Eigenlogiken bzw. Wirkungen die an der Kommunikation beteiligten Akteure keineswegs selbst verfügen (vgl. Soeffner 1989; Kühnle 2019, S. 12 f.). Insofern bleiben subjektive Intentionen, wie sie etwa Fischer (2014, S. 174) mit der Frage adressiert, „bis zu welchem Grad das Subjekt Maradona ‚seinen‘ Mythos bewusst steuert“, in dieser Arbeit außen vor. Um die Stabilisierung des Mythos Maradona gegen Kritik in der Tiefe zu durchleuchten, leistet vielmehr soziologische Begriffsarbeit gute Dienste (vgl. Paris 2005, S. 125; 2016, S. 9 f.). Anhand der Leitfrage, wie gerade Maradonas Verfehlungen und Devianzen kommunikativ anschlussfähig werden, lassen sich die gesellschaftlich wirksamen Semantiken auf Differenzierungen, Variationen und Relationen hin abklopfen und so Aufschlüsse über die fundierenden Logiken kommunikativer Immunisierung gewinnen.

2 Gemeinschafts- und Einheitsfiktionen

In der Geschichte der recht jungen Nation Argentinien gibt es kaum eine historische Figur mit vergleichbarer Bedeutung für das nationale Selbst- und Fremdbild wie Diego Armando Maradona. Dies hängt mit der engen symbolischen Kopplung von Sport und Nation in Argentinien zusammen, wobei insbesondere dem Fußball die Rolle als Dreh- und Angelpunkt für die regionale und nationale Identitätsbildung zukommt (Archetti 1994, 11,12,a, b, 1997a). Aufgrund der hohen räumlichen, sachlichen und sozialen Mobilität in der Moderne sind kollektive Identitäten zunehmend prekär geworden (Martinez 2002, S. 24). Im Falle Argentiniens mit seinen wirtschaftlichen Höhen und Tiefen, politischen Umbrüchen und militärischen Niederlagen gilt dies umso mehr (Alabarces und Rodriguez 1996, 1999; Sibaja und Parrish 2014). Können Raumgrenzen die Nation in der „Weltgesellschaft“ (Stichweh 2000) zudem nicht mehr adäquat beschreiben, „übernehmen Gemeinschaftsfiktionen die Aufgabe, die Einheit des Differenten zu transportieren und den Gesellschaftsmitgliedern entsprechende Identitäts- und Inklusionsofferten anzubieten“ (Bette 2019, S. 143; Hervorh. i. Orig.). Dies gilt auch für die Außensicht. In manchen Winkeln der Welt, so der Schriftsteller Martin Chaparros (2020), sei Maradona bekannter als Argentinien selbst, oder mehr noch, sei Argentinien gar nur durch Maradona und seine Tore ein Begriff.

Zentrale Voraussetzung dafür, dass Maradona kein „local hero“ (Bette 2019, S. 57) bleibt, sondern ihn das Gros der argentinischen Bevölkerung als Repräsentanten ihrer „imagined community“ (Anderson 1983) betrachtet, ist paradoxerweise, dass er über weite Strecken seiner fußballerischen Karriere in Clubs fernab der Heimat in Barcelona, Neapel und Sevilla spielt. Regionale Fragmentierungen und lokale Rivalitäten kommen der allgemeinen Identifikation mit Maradona somit über dessen frühe Jahre als Spieler der Boca Juniors hinaus nicht dauerhaft in die Quere. Stattdessen werden alle Argentinier Fans von Napoli: „Er ließ uns alle EINS werden. Unsere kollektive Ekstase begann, als er den Napoli-Dress trug“, schreibt der argentinische Fußballjournalist Elio Rossi (zit. n. Birkner 2013, S. 206). Nicht unabhängig davon lässt sich ein systemisches „Heldenmanagement“ (Bette 2007, S. 262) Maradonas durch die Politik beobachten, das Maradona als staatlichen Repräsentanten nach innen und außen inszeniert. Bemerkenswert ist, dass sich Maradona selbst für gegensätzliche politische Positionen als anschlussfähig erweist (Goldberger 2018, S. 56). Bereits zu Zeiten der Militärjunta (1976–1983), mehr noch im Menemismus (1989–1999), aber auch während der Präsidentschaft Raul Alfonsins (1983–1989) sowie ganz besonders im Kirchnerismus (2003–2015) werden die starke Verbindung zwischen Nation und Sport sowie die Stellvertreterfunktion Maradonas durch symbolträchtige Inszenierungen auf Staatsempfängen und roten Teppichen politisch instrumentalisiert.

Das berühmte Marx’sche Schlagwort von der Religion als „Opium des Volkes“ (Marx 1976, S. 378) scheint auch auf die quasi-religiöse Bedeutung des Fußballs in Argentinien zuzutreffen. In Anbetracht ökonomischer Krisen, enormer Auslandsschulden, galoppierender Inflation und drohendem Staatsbankrott erhält das affektive Sich-Ausleben der Argentinier im Fußballstadion und vor den Fernsehbildschirmen einen kompensatorischen Charakter (Goldberger 2018, S. 56). Dagegen sind funktionale Äquivalente im Rock Nacional (z. B. Soda Stereo), Revolutionshelden vergangener Tage (wie José de San Martin, Manuel Belgrano und Ernesto „Che“ Guevara de la Serna) sowie Literaten (v. a. Jorge Luis Borges oder Julio Cortázar) von nachrangiger Bedeutung. Die prinzipielle Entbehrlichkeit des Sports für die gesellschaftliche Bestandserhaltung sollte dabei nicht als Defizit gesehen werden. Die Heroisierung Maradonas findet vielmehr „bezeichnenderweise in einem Sozialbereich statt, dem die soziologische Differenzierungstheorie den Status des Überflüssigen, prinzipiell Nicht-Notwendigen und lediglich Sekundär-Wichtigen zugesprochen hat“ (Bette 2019, S. 183).

Im Verlauf der Fußball-Weltmeisterschaft in Mexiko 1986 erreicht die gesellschaftliche Identifikation mit Maradona ihren Höhepunkt. Wie kaum eine Begegnung in der Geschichte des Fußballs zeigt das Viertelfinale zwischen Argentinien und England, dass es im Sport „nicht nur um sportliche Konkurrenzen geht, […] sondern um nationale Identitäten und Selbstwertgefühle, die mit Hilfe des Sports in einer relativ harmlosen Weise ausgekämpft werden“ (Bette 2019, S. 132). Der sportliche Konflikt mit den Engländern gestaltet sich nicht nur aufgrund der britischen Wurzeln des Fußballs in Argentinien als bedeutungsvoll (Alabarces 2010, S. 55 ff.; Ackermann 2013, S. 272 f.). Mehr noch fungiert der Fußball als Eigenwelt, in der sich die Geschichte nicht notwendigerweise wiederholt. Auf die Niederlage des argentinischen Militärs im Falklandkrieg folgt die Fortsetzung des Krieges mit fußballerischen Mitteln, die „Antwort in einem Stadion“ (Sacheri 2010, S. 33). Beim 2:1-Sieg gegen England rückt Maradona mit seinen Toren fast im Alleingang den Nationalstolz wieder ins Lot und wird sogar zu einer Identifikationsfigur englandkritischer Strömungen in Schottland (Rodriguez 2003). Die beiden Treffer, mit denen Maradona die Fußball-Nation England seinerzeit in Schockstarre versetzt, gehören bis heute zu den wenigen Toren mit Eigennamen. „La mano de Dios“ und „El gol del siglo“ erhalten auf diesem Weg ein Alleinstellungsmerkmal, das ihre Inklusion als Thema in der gesellschaftlichen Kommunikation erleichtert und ihre Bedeutung im kollektiven Gedächtnis der argentinischen Nation manifestiert (Alabarces et al. 2001).

Dass er beim ersten Tor offensichtlich die Hand zu Hilfe nimmt, wird deshalb auch nicht nach sportlichen Fairnesskriterien bewertet. Vielmehr wird das unerlaubte und nicht geahndete Handspiel als Erniedrigung des Erniedrigers legitimiert: als eine Leistung, die die symbolische Ordnung der Dinge wiederherstellt und die gerechte Strafe eines Schlitzohrs für den viel größeren Diebstahl am argentinischen Volk darstellt. Nicht zufällig wird dieses Tor in Argentinien bis heute mehr gefeiert als jedes andere (Britto et al. 2014, S. 683). Es steht für die Gerissenheit eines „Bengels“, der im Luftduell mit dem Torwart seine geringere Körpergröße durch einen Regelbruch kompensiert und auf symbolische Weise zeigt, wie auch aus einer subalternen Position heraus dem Größeren ein Schnippchen geschlagen werden kann. Maradona verkörpert somit die ambivalent definierte „viveza criolla“, die sich aus der Differenz zum imperialistischen Europa speist und Devianz zum Referenzpunkt für nationale Identität macht.

Diego Maradona ist allerdings noch in einer weiteren Hinsicht von eminenter Bedeutung für das argentinische Volk, handelt es sich bei dem Jungen aus Villa Fiorito doch um ein Kind der Unterschicht, das die Karriereleiter in der „Leistungsgesellschaft“ aus eigenen Stücken hinaufklettern konnte. Gerade dieses Aufstiegsnarrativ, so Alabarces (2010, S. 23), stelle eine „integrierende Rahmenerzählung“ in der argentinischen Einwanderergesellschaft dar, die „argentinische Entsprechung zum American Dream“ (Fischer 2014, S. 186; Hervorh. i. Orig.). Ganz offensichtlich reüssiert Maradona nicht aufgrund von Geburt, Reichtum, Religion, Hautfarbe oder Herkunft, sondern hat es rein aufgrund seiner fußballerischen Fähigkeiten bis nach Europa geschafft. „Was er gerade für uns bedeutet“, so Marcelo Bielsa, ehemaliger Nationaltrainer Argentiniens, über den Tod Maradonas: „Diego hat uns das Gefühl gegeben, […] dass das, was dieser Mensch tut, wir alle tun können. Deshalb trifft der Verlust des Helden die Ausgeschlossenen, die Schutzlosesten besonders hart. Denn sie sind es, die am meisten daran glauben müssen, dass es möglich ist zu triumphieren.“Footnote 7 Maradona sei in der Lage gewesen, „die utopischsten Träume zu materialisieren“, so der argentinische Sportjournalist Pablo Geraldes (zit. n. Birkner 2013, S. 206).

Die Fehltritte und Entgleisungen Maradonas führen auch deshalb nicht zur Pauschalverurteilung, weil sie die Conditio humana des Helden offenbaren, ihn gar zum Symbol für den „Kampf gegen sich selbst“ (Cáceres und Gertz 2020, S. 3) und das Scheitern werden lassen, und somit an die Lebenswelt des Publikums mit eigenen Schwächen und Unvollkommenheiten erinnern (vgl. auch Fischer 2014, S. 204; Bette 2019, S. 151). Im Gegensatz beispielsweise zu Jorge Luis Borges, dem zeitlebens eine Ignoranz bezüglich der sozialen Probleme Argentiniens vorgeworfen wurde (Camartin 1978, S. 2), funktioniert Maradona gerade deshalb als Identifikationsfigur für die Vielen, weil seine Eskapaden und Verfehlungen nicht als dekadent gelten. Vielmehr verbürgen sie die bescheidene Herkunft dessen, der in der Welt „dort oben“ nie so recht angekommen ist (Villoro 2006, S. 92). Gleichzeitig ist Maradona auch für die Elite symbolisch anschlussfähig, verkörpert er doch den „Selfmademan“ par excellence und hält auf diesem Weg die kollektive „Illusio“ (Bourdieu und Wacquant 2013, S. 149) aufrecht, dass sich Investitionen in die Karriere auszahlen, Leistung sozial den Unterschied macht und soziale Ungleichheit im meritokratischen Sinne „verdient“ und dadurch legitimiert ist.

Erst recht trägt zur gemeinschaftsstiftenden Funktion bei, dass Maradona als Familienmensch dargestellt wird, der immer wieder an den Ort seiner Kindheit zurückkehrt, den Eltern mit seinem ersten Gehalt aus ihrer Armut hilft und ein Mädchen aus der Nachbarschaft heiratet. In einschlägigen Dokumentationen wird berichtet, wie Maradona daran zerbricht, wenn er seine Nächsten enttäuscht, sich von ihnen entfremdet und das Aufwachsen der beiden Töchter aufgrund seiner Drogenexzesse verpasst (Ibáñez und Kusturica 2008, 00:52:45). „Die Argentinier haben ihn nicht verstoßen, als es ihm schlecht ging“, weiß der weltberühmte Musiker und Komponist Daniel Barenboim (2020), der in Buenos Aires geboren wurde, im Interview mit der Zeit zu berichten: „Der sentimentale Blick auf ihn hat immer gesehen, dass er ein großes Herz hatte.“

Auch die „parasoziale Beziehung“ (Horton und Wohl 1956), die so viele Argentinier zu Maradona pflegen, wird anlässlich seines Todes zu wahrlichen Intimitätsfiktionen gesteigert. „Der Schmerz, den wir fühlen“, so stellt der Fernsehmoderator, Fußballexperte und öffentliche Intellektuelle Alejandro Dolina stellvertretend für seine Zuschauer fest, „ist ein intimer und tiefer Schmerz, wie wenn ein Mitglied der Familie uns verlässt. Und tatsächlich geht ein Teil der Familie – selbst bei jenen, die Diego nicht einmal persönlich gekannt haben.“ (La Voz 2020) Mit der Sinnsphäre der Familie ist dabei gerade jener Sozialbereich angesprochen, in dem das Kommunikationsmedium Liebe die „Komplettberücksichtigung“ (Fuchs 1999, S. 24) des anderen mit allen Sorgen, Ängsten und Schwächen gebietet. Selbst Pablo Alabarces, als Soziologe eigentlich einer analytischen Distanz verpflichtet, schildert seine professionelle Auseinandersetzung mit Maradona als eine Art Liebesbeziehung, gesteht im Interview, dass ihn die Bilder des jungen Diego auf dem Bolzplatz von Fiorito „bis ins Innerste“ bewegten, und beginnt zu weinen (Vorterix Bahia 2020).

Man könne selbst Feministin sein, ihn scharf kritisieren und doch die eigene Widersprüchlichkeit annehmen und Maradona lieben, denn man liebe auch jene, die Fehler machen, so Alabarces und Bianculli (2020). Zum 60. Geburtstag des argentinischen Volkshelden titelte dementsprechend eine renommierte feministische Zeitschrift: „Uns gehört Diego auch.“ (Fuks 2020) Auch nach seinem Tod einen Monat später nimmt nicht etwa die Kritik an Maradona Überhand. Zwar gehen manche Gruppierungen hart mit ihm ins Gericht, viele andere aber betonen, in ihm keineswegs nur das Schlechte zu sehen. Zum Abschied posten selbst bekannte argentinische Frauenrechtlerinnen Fotos von Maradona auf ihren Instagram-Profilen und nehmen Debatten in den eigenen Reihen vorweg: „No voy a discutirlo“ (Carbajal 2020) – hier gebe es nichts zu diskutieren. Fast scheint, als müsse der Feminismus mit der ungebrochenen Popularität Maradonas in Argentinien kompatibel werden, will er immer tiefer in die öffentliche Meinung einziehen. Stellenweise liest man, Maradona sei nicht mehr und nicht weniger „machista“ als andere Männer – und somit ein Produkt der gesellschaftlichen Umstände (Bellizzi 2021). Vor allem habe er sich stets konsequent und vehement für die gemeine Bevölkerung eingesetzt und sich gegen das Establishment und die Privilegierten aufgelehnt.

3 Protest- und Rebellenfigur

Nicht nur die „menschlichen“ Schwächen Maradonas wecken breites Verständnis, Sympathie oder sogar Liebe. Mehr noch sind die Erzählungen über Maradonas Leben in ein Imaginarium aus Auflehnung, Rebellion und Revolte eingewoben, regelrecht durchdrungen von symbolischen Kräftefeldern aus oben/unten, Nord/Süd, reich/arm, stark/schwach und überlegen/unterlegen sowie in der narrativen Struktur von David-gegen-Goliath-Geschichten oder Spartakus-gegen-die-Römer-Ideologien verfasst (vgl. Villoro 2006, S. 101). Maradona gilt als „Rebell für eine gute Sache“ (Levinsky 1996). Dass er auf dem Spielfeld als Linksfuß („la zurda“) agiert, also anders spielt, „als man eigentlich soll“ (Galeano 2014, S. 261), tue sein Übriges zur Beförderung dieser anti-elitären Symbolik.

Maradona wird zeitlebens als notorischer „Hitzkopf“ beschrieben, mit der Angewohnheit, Schläge „nach oben“ auszuteilen und Dinge zu sagen, die „wie Stiche ins Wespennest“ (ebd., S. 264) wirkten. Bereits in frühen Jahren entscheidet sich dieser „Zwerg aus Argentinien“ (Sacheri 2010, S. 35) mit einer Körpergröße von knapp über 1,60 Meter gegen das große Geld bei River Plate, dem reichen Club aus dem Stadtteil Belgrano im Norden von Buenos Aires, und nimmt das Angebot der Boca Juniors im ärmeren Osten der Hauptstadt an. Diese können zwar kein vergleichbar lukratives Angebot unterbreiten, seien dafür jedoch schon immer der Lieblingsverein von Maradonas Vater („Don Diego“) gewesen (Maradona et al. 2002, S. 58 f.). Schon damals knöpft sich Maradona den späteren Präsidenten des Clubs (1995–2007) sowie Argentiniens (von 2014–2019), Mauricio Macri, vor. Diesem reichen Sohn einer bekannten Unternehmerfamilie bescheinigt Maradona abfällig, weniger Bezug zur Wirklichkeit „auf der Straße“ zu haben als die Hafenstadt Venedig mit ihrer Vielzahl an Brücken und Kanälen.Footnote 8 Auch während seiner Zeit in Barcelona (1982–1984) zeigt sich die Widerständigkeit Maradonas in wiederkehrenden Diskussionen mit der Vereinsführung, die sich um das Nacht- und Eigenleben ihres Superstars sorgt. Maradonas Auftritte in Italien (1984–1991) finden ebenfalls vor dem Hintergrund historisch gewachsener Spannungen statt, die auch zwischen der Vielzahl an wohlhabenden Vereinen im Norden und dem SSC Neapel als „Mannschaft von unten und gegen alle“ (Villoro 2006, S. 88) bestehen.

Nicht zuletzt die Wahl zum FIFA-Weltfußballer des Jahrhunderts zeigt, dass Maradona kein Günstling von Havelange, Blatter und anderen Sportfunktionären war und nach eigenen Angaben „lieber Waise als Mitglied der FIFA-Familie“ (zit. n. Birkner 2013, S. 213) sein wollte. Letztlich wurde Pélé vom Auswahlgremium zum Preisträger gekürt, obwohl die Abstimmung im Internet recht deutlich Maradona als Wahlsieger ergeben hatte. Noch als Trainer der argentinischen Fußball-Nationalmannschaft wies er die anwesenden Sportjournalisten ob ihrer ständigen Negativberichterstattung sehr deutlich an, sie sollten ihm – mit Verlaub („con perdon de las damas“) – „den Schwanz lutschen und immer weiterlutschen“. Solche Momente der Vulgarität und Dezivilisierung in der Öffentlichkeit werden ihm indes nicht in erster Linie als Verstoß gegen die „political correctness“ und den Kodex der guten Sitten ausgelegt (Villoro 2006, S. 91), bisweilen gelten sie sogar als Leistung oder auch Prinzip. Eine derart explizite Sprache macht jedenfalls deutlich, wo Maradona herkommt und wem er sich zugehörig fühlt. Des Weiteren stellt sie klar, dass die Welt „dort oben“ korrupt ist, von einigen wenigen Mächtigen dominiert wird und dem Aufsteiger Probleme bereitet.

Zu seiner Bedeutung als Protestfigur gehört nicht zuletzt die politische Fremd- und Selbstinszenierung Maradonas als Klassenkämpfer, Rebell und politisch Linker („izquierdista“), der sich mit anarchischem Charakter und subversiven Impulsen für die Sache des Volkes einsetzt (Anaya 2006, S. 159). Mit Fidel Castro, der Maradona nicht nur aufgrund seiner argentinischen Herkunft als „Che des Sports“ (Iturizza 2006, S. 165) bezeichnete, und Hugo Chavez, dem früheren Staatsoberhaupt Venezuelas, habe ihn eine große Freundschaft verbunden. Vielzitierte Schnappschüsse zeigen Maradona mit einer Cohiba, der Lieblingszigarre Castros, kubanischer Revolutionsmütze, einem Tattoo des „Che“ Guevara auf der linken Schulter und einem weiteren Tattoo Fidel Castros auf dem rechten Unterschenkel. Auch gemeinsame Auftritte mit Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien oder an der Seite von Evo Morales auf einer Demonstration gegen den US-Präsidenten George W. Bush gehören zum ikonografischen Eigenleben Maradonas in der Boulevardpresse, in Fotobänden, auf Postern sowie in den zahlreichen Bilderserien im Internet. Rebellion und Protest scheinen die Authentizität und Leidenschaft Maradonas dabei genauso zu verbürgen wie seine Eskapaden und Fehltritte. Es ist diese Figuration, die es etwa dem Filmemacher Emir Kusturica ermöglicht, eine Dokumentation über Maradona zum Medium einer antiimperialistischen Botschaft zu machen, die Diego als politischen „Führer“ und Identifikationsfigur der Marginalisierten thematisiert.

4 Geniesemantik

Maradona werden seine Verfehlungen nicht nur vergeben, weil er sich über seine Stärken und Schwächen hinweg als „dramatischer Übererfüller“ (Bette 2019, S. 81) zeigte. Vielmehr gehören die Entgleisungen und Maßlosigkeiten konstitutiv zu seinen Eigenschaften als „Genie“ (vgl. ebd., S. 152) und heben die Außeralltäglichkeit und Einzigartigkeit Maradonas hervor. Legt man die kantische Definition des Genies an, können mindestens drei Aspekte den konjunkturresistenten Maradonakult erklären. Auf direktem oder indirektem Weg zeigen sie an, dass das Genie notwendig unverstanden bleiben muss (vgl. auch Alabarces 2010, S. 171).

Versteht man das Genie gemäß Kant (1974, §46) erstens als das „Talent […], welches der Kunst die Regel gibt“, rückt die Originalität Maradonas in den Fokus. Zahlreich sind die Beschreibungen Maradonas als „Künstler“ bzw. „Virtuose“ der Ballfertigkeit, der – so beispielsweise Maradonas früherer Nationalmannschaftskollege Jorge Valdano (2020, S. 27) – keinen „Ergebnissport“ betrieben habe, sondern wie kaum ein anderer das „schöne Spiel“ liebte. In der Version Sacheris (2010, S. 35) bewegte sich Maradona zum „Takt einer Musik, […] die diese armen Idioten [gemeint sind wiederum die britischen Gegenspieler] nicht begreifen“. Daniel Barenboim, selbst als „Wunderkind“ bekannt, plaudert aus dem Nähkästchen der Virtuosität: „Er [Maradona] schrieb sich seine Partitur selbst.“ (Barenboim 2020)

Maradonas Genialität aus Eigensinn und Spontanität steht idealtypisch für den kreolischen Spielstil des argentinischen Fußballs, der die fortschreitende Emanzipation von den britischen Wurzeln vorantrieb und die argentinische Identität auf dem Spielfeld symbolisierte (Archetti 1995a, 2002, S. 155; Alabarces 2010, S. 49 ff., S. 174). Der kreolische Stil baut auf einer multiplen Unterscheidung auf: Den wiederkehrenden Zuschreibungen physischer Eigenschaften (wie beim englischen „Kick and Rush“), eiserner Disziplin (wie bei den „deutschen“ Tugenden), beinhartem Defensivstil (wie im italienischen „Catenaccio“), strikt methodischem Vorgehen und dem Primat mannschaftstaktischer Vorgaben (wie beim „Resultatfußball“ vieler europäischer Mannschaften) steht die agile, tänzerische, ballverliebte, improvisierende, undisziplinierte, aber eben geniale Individualität der Dribbler, Torjäger und Mannschaftskapitäne auf der kreolischen Seite der Differenz gegenüber (Wilson 2013, S. 8 ff., 36 ff., 153 ff., 194 ff., 300 ff.; Archetti 1999, 2003). Und die unbändige Freude, die diese Seite gerade im Fall Maradonas vermittelt, wiege schwerer als jedes moralische Urteil über ihn (Archetti 1999, S. 184).

Maradonas „Kunst des Unvorhergesehenen“ (Galeano 2014, S. 272) auf dem Spielfeld kommt gerade in kniffligen Situationen zum Vorschein, in denen er stets überraschende Lösungen findet und unerklärliche Wirkungen erzeugt. Dass Maradona dabei nicht nur die gegnerischen Spieler in Staunen versetzt, zeigt sich idealtypisch in seinem zweiten Tor gegen die Engländer. Jorge Valdano beschreibt die Szene aus der Sicht des Mitspielers, der nur dem Anschein nach aktiv am Geschehen teilnimmt: „Zunächst lief ich verantwortungsbewusst noch mit. Aber dann bemerkte ich, dass ich nur ein weiterer Zuschauer war. Es gab nichts, das ich hätte tun können. Es war sein Tor, und damit hatte die Mannschaft nichts zu tun. Es war Diegos persönliches Abenteuer, und es war wirklich spektakulär.“ (Fussball Gold 2020) Auch in anderen Texten finden sich wiederkehrend Passagen, die Maradona als „totalen Führer“ (Villoro 2006, S. 93) beschreiben und das argentinische Spielsystem als „absolute Hierarchie“ (ebd.). Geradezu abstrus erscheine die Vorstellung, Argentinien hätte den WM-Titel 1986 auch ohne den meistgefoulten Spieler des Turniers erringen können.

Mit dem kantischen Geniebegriff ist zweitens die Natürlichkeit des Talents bezeichnet, „durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt.“ (1974, §46) Entsprechende Natürlichkeitsfiktionen finden sich gerade in den Beschreibungen von Kindheit und Jugend Maradonas als „pibe“ (Junge, Bursche), der auf dem „potrero“ seiner Bestimmung folge und sich auch deshalb nicht um Konventionen schere.Footnote 9 Maradona darf als geradezu vollkommene, archetypische Verkörperung des „pibe“ gelten (Archetti 1997b, 2008). An institutionalisierten Lernorten wie der Schule hält er nur deshalb durch, „weil es wohl oder übel sein musste, denn ich wollte Mama und Papa nicht enttäuschen“ (Maradona et al. 2002, S. 15). Dass Maradona bereits jung extrem erfolgreich war, mit fünfzehn Jahren in der ersten argentinischen Liga und mit siebzehn Jahren in der Nationalmannschaft debütierte, wird entsprechend weder als Ergebnis der Vereinssozialisation noch als bloßes Resultat harter Arbeit gesehen. Denn zum Genie wird man geboren (Alabarces 2010, S. 50).

Dass Maradona im Erwachsenenalter die außerordentlichen Erwartungen an ihn als das größte Talent Argentiniens (Archetti 2008, S. 271) sogar noch übertraf, wird darauf zurückgeführt, dass er die Qualitäten eines „pibe“ – freche Tricksereien, phantasievolle Ballkunst und spielerische Leidenschaft – über seine gesamte Karriere hinweg bewahrte. Bei genauer Hinsicht ist dies keineswegs selbstverständlich. Besonders der europäische Fußball sozialisiert den „pibe“ als die „prototypische kreolische Spielerfigur“ (Goldberger 2018, S. 55) fast zwangsläufig zum Erwachsenen. Maradona selbst illustriert die gängigen Trainings- und Übungsregimes anhand einer Anekdote aus seiner Zeit beim FC Barcelona, seinem ersten europäischen Verein. Die grundsätzliche „Umstellung von der Technik zum Kampf“ (Maradona et al. 2002, S. 92) sowie die Bedeutung von monoton-repetitiven Athletikübungen und Leistungstests ohne spielerische Komponente bereiten ihm Probleme. Beim Lauf- und Medizinballtraining sowie bei Ausdauertests wird er zum „underperformer“ oder verweigert sich solchen Trainingsmethoden ganz.

Ganz anders verläuft seine Zeit in Neapel. Wohlwissend, dass Maradona niemals dieselbe Trainingsdisziplin wie seine Teamkollegen an den Tag legen würde, wird er von Vereinsführung, Trainerteam und Mitspielern mit informellen Sonderrechten ausgestattet, die ihm erlauben, gelegentlich das Training zu schwänzen, wenn er beispielsweise verschlafen oder keine Lust hat (Birkner 2013, S. 169 ff.). Der „pibe“ bewegt sich jenseits von sozialen Regulierungen, Grenzen oder Kontrollen. Auch weil Maradona stets seine Leistung bringt und ganz wesentlich zum Erfolg seiner Mannschaft beiträgt, wird er von den klassischen Techniken der (Körper‑)Disziplinierung im Korsett autoritärer Strukturen weitgehend verschont. Vielmehr formt er sich selbst, und zwar in direkter Opposition zu den von außen auferlegten Handlungsimperativen und den dahinterstehenden Körper‑, Fitness- und Schönheitsidealen. Maradonas Normbrüche, Exzesse und Eigenarten auf dem Spielfeld und abseits von ihm werden so zum authentischen Ausdruck desjenigen, der sich nicht unterwirft, sondern stets „pibe“ geblieben ist (Archetti 2002, S. 160).

Interessanterweise bleibt Maradona auch nach seiner aktiven Karriere offensichtlich „pibe“ und bringt seine Undiszipliniertheit zunehmend auch in (Körper‑)Form von Übergewicht zum Ausdruck. Bei der Fußball-WM 2006 tritt Maradona als Edelfan in Erscheinung, der bei Argentiniens überlegenem Sieg gegen Serbien-Montenegro (6:0) vor lauter Ekstase fast über die Brüstung der VIP-Lounge fällt (Behrmann 2014). Bezeichnenderweise ist er auch danach als Trainer weniger als Stratege denn als Motivator bekannt – wenngleich er damit wenig Erfolg hat. In seinem wichtigsten Amt als Nationaltrainer Argentiniens scheidet er mit einer 0:4-Niederlage gegen Deutschland im Viertelfinale der Fußballweltmeisterschaft 2010 sang- und klanglos aus. In den Folgejahren tauscht er seine Rolle als Trainer an der Seitenlinie wieder gegen jene des Fans auf der Tribüne, der sich auch in fortgeschrittenem Alter kindlich-ungeniert gibt und seinen Emotionen freien Lauf lässt. Bei der WM 2018 fordert er vor dem Spiel der argentinischen Mannschaft gegen Nigeria eine Dame zum Tanz auf. Während des Spiels gestikuliert er wild, hält zwischendurch ein Nickerchen, stimmt Fangesänge an, schickt Stoßgebete gen Himmel, zeigt den Gegnern den Mittelfinger und wird nach dem Spiel völlig entkräftet ins Krankenhaus gebracht.

Mit Bezug auf Kant (1974, §47) lernen wir drittens, dass „Genie dem Nachahmungsgeiste gänzlich entgegen zu setzen sei.“ Schon in Maradonas Jugend wird sein jüngerer Bruder Hugo gefragt, ob er dem Vorbild seines großen Bruders nacheifere. „Ich habe nie daran gedacht, wie er zu sein“, versichert er, „denn mein Bruder kommt vom Mars [„es un marciano“].“ (DiFilm 2013, 00:01:34). Auch darüber hinaus tauchen im Reden über Maradona wiederkehrend Unvergleichbarkeitskonstruktionen auf. Direkt oder indirekt werden die zahlreichen Vergleiche mit Pélé, Alfredo di Stefano, Zinedine Zidane oder Cristiano Ronaldo mit dem Vergleichen von Äpfeln und Birnen gleichgesetzt. Für Maradonas Verehrer besteht die Funktion solcher Vergleiche somit weniger darin, auf Basis transparenter Maßstäbe eine Antwort auf die Frage nach dem Besten aller Zeiten zu finden, als vielmehr darin, die außer- bzw. überirdische Begabung Maradonas immer wieder neu hervorzukehren. Vor allem der ständige Vergleich zwischen Maradona und Messi wird regelmäßig auf den gleichsam kategorischen Unterschied zwischen der emblematischen Aufstiegs- und Heldengeschichte mit ihren ekstatischen, unvergesslichen Momenten auf der einen Seite sowie zählbaren Rekorden und Statistiken eines weißen Jungen aus der Mittelschicht Rosarios auf der anderen Seite gebracht, der den hohen Ansprüchen an ihn gerade bei Spielen der „Albiceleste“ nicht gerecht werde (Korstanje 2016; Brach 2012).Footnote 10

5 Opfernarrative

Maradonas ultrastabile Bedeutung in Argentinien lässt sich in vielfältiger Weise auch auf verbreitete Erzählungen über seine Funktion als Opfer zurückführen. Entsprechende Geschichten finden sich zwar vereinzelt auch in den Selbstbeschreibungen Maradonas, er selbst macht sich diese Perspektive aber nicht durchgängig zu eigen. Stattdessen stellt er sich an exponierter Stelle immer wieder selbst an den Pranger, entschuldigt sich öffentlichkeitswirksam für sein Fehlverhalten und gelobt Besserung. Unvergessen sind die Worte, die er am Tag seines Karriereendes in „La Bombonera“, dem berühmten Stadion der Boca Juniors, an das Publikum richtete. Im Gegensatz zu anderen Dopingsündern (Yar 2014) oder Athleten mit Depressionen (Kühnle 2019, 2020) erzählt Maradona kein Melodram über den inhumanen Spitzensport. Vielmehr nimmt er die Verantwortung für die Tiefpunkte seiner Karriere auf sich, gesteht Fehler und spricht den Fußball von einer Mitschuld frei: „Ich habe mich geirrt und dafür bezahlt, aber der Fußball wird niemals schmutzig.“ (Ibáñez und Kusturica 2008, 01:23:24) Auf diesem Weg stößt er die argentinische Bevölkerung gerade nicht auf transintentionale Verstrickungen ihrer kollektiven Sportbegeisterung und Athletenbewunderung. Stattdessen lässt er die Phantasie einer besseren Welt in Gestalt des Fußballs unangetastet. An anderer Stelle findet Maradona noch deutlichere Worte: „Ich habe es verschissen.“ (zit. n. Villoro 2006, S. 105)

Die kontinuierliche Bewunderung Maradonas in Argentinien folgt gleichwohl längst nicht durchweg einem Sinn für Rechtmäßigkeit und Gerechtigkeit, die auf dem Weg der Entschuldigung wiederhergestellt würde. Sein kritischer Verstand, so Sacheri (2010, S. 29), setze bei diesem „Kerl“, wahrlich „kein Wohltäter der Menschheit“, regelrecht aus, und weiche dem tiefen Gefühl, Maradona für seine Bereitschaft zum Opfer seinerseits etwas zu schulden. Der im Deutschen mehrdeutige Opferbegriff ist dabei in zweifacher Hinsicht relevant. Er kann im viktimen Sinne eines Geopfertwerdens verstanden werden, des passiven Ausgeliefertseins an ein übermächtiges Geschehen, aber auch in sakrifizieller Hinsicht des bewussten Opferns seiner selbst, eines aktiv-heroischen Eingreifens in den Gang der Dinge (Münkler 2015a, S. 88). Im gesellschaftlichen Diskurs über Maradona sind beide Dimensionen – freilich keine sachlichen Beschreibungen, sondern sinnstiftende Interpretationen – ineinander verwoben.

Die beiden Seiten des Opferbegriffs lassen sich am Beispiel der Kommunikation über Maradonas Dopingvergehen in den Jahren 1991 und 1994 veranschaulichen. Dem Kokainbefund 1991 wird zunächst ohnehin abgesprochen, illegitimes Doping zum Zweck der Leistungssteigerung zu sein. Maradona spielte besser als alle anderen, „trotz, nicht wegen des Kokains“ (Galeano 2014, S. 261). Stattdessen wird auf die viktime Dimension seines Kokainkonsums referiert. Die „Droge“ sei sein Mittel für „traurige Feste, um zu vergessen oder vergessen zu werden, als er schon vom Ruhm bedrängt wurde“ (ebd.). Maradonas Devianz erscheint demgemäß nicht als individuelles Fehlverhalten, sondern als Struktureffekt seiner panoptischen Beobachtung. Der Ephedrinskandal während der Weltmeisterschaft 1994 in den USA ist anders gelagert. Wird die Dopingeinnahme selbst sakrifiziell bewertet als Opfer für das Vaterland (vgl. Alabarces 2010, S. 175), schlägt die Verarbeitung dann ins Viktime um, wenn es um die Tatsache der Entdeckung des Regelbruchs geht. Maradona wird als Opfer einer Verschwörung der Mächtigen gesehen, die ihm durch die harte Bestrafung regelrecht „die Beine abschneiden“. Laut Galeano (2014, S. 264) sei dem Machtapparat die positive Dopingprobe jedenfalls gerade recht gekommen.

In eine ähnliche Richtung geht die wiederkehrende Unterscheidung zwischen „Diego“ und „Maradona“ mit den verbundenen Kontrasten von Licht und Schatten, Sportsmann und Schurke, Bodenständigkeit und Hemmungslosigkeit, Zu- und Abgewandtheit oder auch Vergnügen und Schmerz. Immer wieder bezeugen gerade enge Wegbegleiter die Einheit der Differenz einer komplexen Persönlichkeit. Zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust! „Es gibt Diego und es gibt Maradona“, fasst Fernando Signorini (zit. n. Valdano 2020, S. 27), der persönliche Fitness- und Athletiktrainer Maradonas, zusammen: „Mit Diego würde ich bis ans Ende der Welt gehen, aber mit Maradona nicht mal bis zur nächsten Straßenecke.“ Erst recht fungiert die Unterscheidung als eine Art Neutralisierungstechnik gegen Kritik an „Maradona“. Während sie die positiven Eigenschaften mit der Seite „Diegos“ assoziiert, beschreibt sie die dunkle Seite „Maradonas“ als Begleitfolge seines Opfers, das die schlechtesten Eigenschaften nahezu zwangsläufig entstehen lässt. „Diego“, so lautet Jorge Valdanos (ebd.) Überzeugung, „war das Produkt des bescheidenen Viertels, in dem er geboren worden war.“ „Maradona“ sei hingegen die öffentliche Figur, der „Star einer Reality-Show“, die ihn begleitete, wohin er auch ging, sein Privatleben zu einem öffentlichen Gut werden ließ und ihm mehr abverlangte, als er schultern konnte. „Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie schwierig es ist, Maradona zu sein“, gibt Daniel Arcucci, Sportjournalist, Biograf und Freund Maradonas zu bedenken (zit. n. Roberts 2020). Erst recht erscheint Diego Armando als „tragischer Held“ (Bette 2019, S. 70; Archetti 2002, S. 160). Er habe seinen Ruf in einer wahrhaftigen Geste der Reinheit beschmutzt, lautet der paradoxe Schluss Juan Villoros (2006, S. 100). „Vieles, was er getan hat, hat er für uns getan“, so auch die Globaleinschätzung des spanischen Sportjournalisten Guillem Balagué (2022, S. 22) in seiner Biografie.

6 Gottessemantik

Nicht nur in Argentinien wird dem Fußball häufig eine Funktion als „Religionsersatz“ (Bausenwein 1997) oder „Zivilreligion“ (Weis 1995) zugeschrieben. Eine Offenlegung der sakralen Dimension Maradonas erschöpft sich jedoch keineswegs in Diskursen über die „Sakralisierung des Profanen“ (Gugutzer 2012, S. 285) im Fußball. Auch die Idee des Opfers, die „ohne Bezug zum Religiösen schwerlich gedacht werden kann“ (Münkler 2015b, S. 169), sowie eine „Epik des Armen“ (Alabarces 2010, S. 165), die als narratives Schema in religiösen Erzählungen wohlbekannt ist, stellt nur einen Teil der kommunikativen Vergöttlichung Maradonas dar. Mit der Apotheose Maradonas soll weiterhin mehr bezeichnet sein als die Tatsache, dass Maradona wiederkehrend, fast reflexhaft als „Fußballgott“ bzw. „Gott der Füße“ (Villoro 2006, S. 88) beschrieben wird, der mit seinen übermenschlichen Fähigkeiten – in den Worten des italienischen Journalisten und Schriftstellers Darwin Pastorin – „einen schnöden Lederball in einen Schrein der Erhabenheit“ zu verwandeln imstande war (zit. n. Birkner 2013, S. 211). Vielmehr wird auf Maradona eine Gottessemantik im wahrhaft religiösen Sinne angewandt, die ihn als Zeichen der Transzendenz in der Immanenz begreift.

Der christliche Gott wird zwar häufig als allmächtig und allgütig gedacht und in der Kommunikation regelmäßig vom Teufel unterschieden (vgl. Luhmann 2017, S. 263 ff.). Aufbauend auf den Ideen von Nikolaus von Kues gibt es jedoch das gleichermaßen wirkmächtige geistesgeschichtliche Konzept der „coincidentia oppositorum“, des Zusammenfallens der Gegensätze bei Gott (Hopkins 2019). In verschiedenen Phasen seiner Biografie wird Maradona als eine Art irdische Inkarnation überirdischer Größe dargestellt und im Zuge dessen nicht selten auf einer Ebene höherer Gerichtsbarkeit angesiedelt (Serra 2015). Die Beobachtung Maradonas nimmt dabei zuweilen paradoxe Züge an. „Ihn immer wie einen Gott zu halten – keinen Halbgott, keinen fast Heiligen, sondern einen wirklichen Anti-Gott, sündig und exzessiv, aber, wie alle Götter, unbefleckt und unsterblich: unmenschlich“, identifiziert Anaya (2006, S. 154 f.) als den tieferliegenden Beweggrund all jener, die ins Stadion pilgern, um Maradona spielen und dribbeln zu sehen. Mit Blick auf sein mit der Hand erzieltes Tor gegen England verweist Maradona selbst seine Kritiker an eine „höhere Macht, die seinen Körper lediglich als Medium benutzte“ (Fischer 2014, S. 179). „Es war ein wenig mit dem Kopf und ein wenig mit der Hand Gottes“, so berichtet Maradona selbst (zit. n. Serra 2015, S. 20). Für Mario Benedetti, einen der bedeutendsten Schriftsteller Uruguays, ist „La mano de Dios“ bis heute gar der einzig gültige Gottesbeweis.

Den offensichtlichsten Ausdruck der Vergöttlichung Maradonas stellen die Riten und Kulte dar, die um seine Person entstanden sind. Wenngleich die „Iglesia Maradoniana“ in Argentinien als „Spaßreligion“ gegründet wurde, erzeugen ihre Glaubenssätze, Aktionen und Rituale doch eine symbolträchtige, wunderbare „Erscheinung“ von geradezu metaphysischer Kraft. Die Maradonakirche setzt den Geburtstag des „D10S“ am 30. Oktober mit dem Weihnachtsfest gleich, feiert den Tag des WM-Spiels gegen England (22. Juni) als Osterfest der „Kirche Maradonas“, widmet unter dem Titel „Te Diegum“ das christliche Vaterunser um, betrachtet Maradonas Autobiografie als ihre Bibel und führt sogar Eheschließungen mit Diegos Segen im Stadion durch (Schadt 2007; Ibáñez und Kusturica 2008, 01:02:00).Footnote 11 In dieser Hinsicht ist auch der Tattookult um Maradona instruktiv. Wer sich Maradonas Konterfei, seine Signatur, die Nummer 10 oder explizitere Symbole seiner sakralen Überhöhung („D10S“, in Anspielung auf „Dios“) auf die Haut tätowieren lässt, nutzt seinen individuellen Körper für die Zitation überindividueller Formen, „die denselben Sinn für alle anderen haben und deren Erscheinung nicht notwendig an den eigenen Körper gebunden ist“ (Hahn 2010, S. 121). Er zeigt dadurch nicht nur, zu wem er aufschaut; überdies nutzt er das Tattoo als untilgbares Zeichen der Zugehörigkeit zur großen Gemeinschaft der Gläubigen.

Cur deus homo – warum wurde Gott zum Menschen? Als „Heiliger des dunklen Lebens“ (Galeano 2006, S. 213) hat Maradona so gut wie alle Verhaltensregeln der guten Lebensführung verletzt und ein unheilvolles Leben geführt. Die immanente Widersprüchlichkeit aus übermenschlichen Fähigkeiten auf der einen und menschlichen Schwächen auf der anderen Seite stellt in diesem Zusammenhang jedoch weniger einen logischen Widerspruch dar, sondern hat Methode. Maradonas allzu menschliche Seiten schaffen eine Vertrautheit, die der Distanzierung und Entfremdung der Gläubigen entgegenwirkt. Es sind, mit anderen Worten, gerade seine Laster und Verfehlungen, die den Gott vermenschlichen, so dass sich wiederum alle Normalsterblichen inklusive der Armen, Abgehängten und Gescheiterten in ihm wiedererkennen können. Solange Menschen – in den Worten des argentinischen Fußballjournalisten Elio Rossi – „Wein, Barbecues (und hoffentlich Huren) mit dem sündigsten Gott teilen“ (zit. n. Birkner 2013, S. 204), bleibt Maradona nahbar und unantastbar zugleich. In Asif Kapadias Fernsehdokumentation „Diego Maradona“ wird Letzteres auf den Punkt gebracht: „Nichts Schlechtes über Maradona, denn wer Maradona kritisiert, kritisiert Gott, und Gott steht über allem.“ (Kapadias 2019, 01:08:45)

Von hier aus erklärt sich, dass die Kommunikation über Maradona eine Vielzahl an Elementen religiöser Erzählungen enthält. Maradonas sportliche Erfolgsgeschichte kommt aus der Rückschau nicht nur einer Bestimmung gleich, die durch die außerordentliche Begabung des Jungen angelegt war. Der Heilsbringer wird früh als solcher erkannt: Dass er bereits als Neunjähriger mit Fußballtricks in den Halbzeitpausen seines Heimatvereins in der ersten Liga auftritt, während das Publikum begeistert „¡Qué-da-te!“, „Bleib da!“ skandiert (Maradona et al. 2002, S. 19, 26 f.), verleiht seiner Geschichte prophetische Züge. Mit nur zehn Jahren darf das Ausnahmetalent in der Fernsehsendung Sábados Circulares seine Tricks zeigen und spricht indes nicht weniger teleologisch über seinen Traum, „in der ersten Liga zu spielen […] und in der Nationalmannschaft und Weltmeister zu werden“ (zit. n. Alabarces 2010, S. 167 f.; vgl. auch Ibáñez und Kusturica 2008, 01:25:35.).

Im Erwachsenenalter wartet Maradona dann mit Leistungen auf, die sich gerade deswegen ins kollektive Gedächtnis einschreiben, weil sie sehnsuchtsvoll erwarteten Erlösungstaten gleichen. Abgesehen davon, dass beiden Toren im Viertelfinalspiel bei der Fußballweltmeisterschaft 1986 gegen England etwas Übernatürliches zugeschrieben wird, schafft Maradona im Alleingang das, wozu im Falklandkrieg eine ganze Armee nicht fähig gewesen sei – und schießt sich damit „für immer und ewig ans Firmament der Unseren“ (Sacheri 2010, S. 33). Auch dass mit dem Wechsel Maradonas zum notorisch abstiegsbedrohten SSC Neapel die bis heute erfolgreichste Fußballzeit des Vereins anbricht, der mit Maradona zweimal die Meisterschaft sowie einmal den Pokal gewinnt, wird bei neapolitanischen Hagiographen bis heute auf die Ankunft eines „Messias“ zurückgeführt, der von den Demütigungen erlöst, die der reiche Norden dem armen Süden zugefügt hat (Materazzo und Sarnataro 2016; Bellinazzo und Garanzini 2012; Birkner 2013).

Hat sich der Sport in der Moderne auch von religiösen Ursprüngen entkoppelt, wird im Fall Maradonas der Sportler selbst auf überzeitliche Attribute hin verdichtet. Der transzendente Status Maradonas mit anschließenden Unsterblichkeitsfiktionen wird auch dadurch befördert, dass Maradona dem irdischen Tod immer wieder aufs Neue von der Schippe springt oder sogar „wiederaufersteht“. Infolge seiner exzessiven Lebensweise gleicht Maradonas spätes Erwachsenenleben einer Serie von Krankenhausaufenthalten mit reihenweise Nahtoderfahrungen. Über seinen Zusammenbruch im Jahr 2004 sagt Maradona im Rückblick selbst: „Ich war tot.“ (Ibáñez und Kusturica 2008, 00:43:11) Gott selbst habe ihn jedoch zurück auf die Erde geschickt: „Der dort oben sagte mir, deine Zeit ist noch nicht gekommen, noch nicht.“ Verschiedentlich wurde Maradona auch durch Dritte bereits für tot erklärt (Fischer 2014, S. 195 ff.; Alabarces 2010, S. 199 ff.) – und ist doch bis zu jenem 25. November 2020 immer wieder auferstanden. Ein argentinischer Reporter bringt dies während der Fußball-WM 2010 auf den Punkt: „Eine Katze hat sieben Leben, aber bei Maradona haben wir mit dem Zählen aufgehört.“ (Beck 2020)

7 Schluss

Aus soziologischer Sicht offenbart sich somit weniger die Außeralltäglichkeit des heroischen Individuums Diego Maradona, sondern seine alltägliche Vereinnahmung durch das argentinische Volk und deren kommunikative Immunisierung gegen Kritik. In der ultrastabilen Bewunderung und ungebrochenen Popularität Maradonas geht es demnach vor allem um seine Bewunderer, weniger um den Bewunderten selbst. In diesem Sinne ist das Zitat Roberto Fontanarrosas zu verstehen: „Was interessiert mich, was Diego mit seinem Leben gemacht hat. Wichtig ist, was er mit meinem Leben gemacht hat.“ (Redacción Iusport 2020) In dem Maße, wie Maradona Teil der argentinischen Identität wird, ist es weder möglich noch notwendig, sich ein Bild von der dahinterliegenden Person zu machen. Am Ende des Tages, so Levinsky (1996, S. 13), könne nichts und niemand erklären, wie und wer genau Diego eigentlich sei. Die vorliegende Analyse legt vielmehr offen, wie vielfältig die kommunikativen Einrichtungen sind, die Maradonas außerordentliche Bedeutung immer wieder neu erzeugen und kontrafaktisch stabilisieren. In der Gesamtschau zeigt sich, dass der Diskurs über Maradona in Argentinien an gesellschaftlich wirksamen Fiktionen, Semantiken und Narrativen anschließt und umso mehr als Teil der kollektiven Selbstverständigung fungiert. Maradona gilt als Stellvertreter des gemeinen Volks, Sinnbild des sozialen Aufstiegs, Rebell gegen die mächtigen Eliten, absolutes Genie, Selbstopfer im Dienst der Vielen sowie Medium einer höheren Macht jenseits irdischer Maßstäbe. Vor diesem Hintergrund erscheint der Mythos Maradona als hochgradig voraussetzungsvolle und komplexe kommunikative Konstruktion, die ein regelrecht populäres Glück zu stiften imstande ist. „Die glücklichsten Momente der letzten 50 Jahre“, so Pablo Alabarces (2020), „hängen mit Maradona zusammen.“ Indes steigern die Widersprüchlichkeit seines Handelns und die Höhen und Tiefen seiner Biografie das Identifikationspotenzial Maradonas in der Bevölkerung, die ihm lediglich eines nicht verziehen hätte: Durchschnittlichkeit.

Die historische Person Diego Armando Maradona spielt nur scheinbar die Hauptrolle im gesellschaftlichen Reden über ihn. Der Tod Maradonas, der Entzug des Menschen von allen Projektionen, ist dennoch ein Problem für die Mythenbildung – mit offenem Ausgang. Bis auf Weiteres hat sich die Überzeugung des kubanischen Salsa-Musikers Alex Bautista, Diego werde niemals sterben, als Fehlannahme erwiesen. Man kann wohl noch vermuten, Maradona sei einem Mordkomplott zum Opfer gefallen, oder annehmen, dass sein Tod zumindest hätte verhindert werden können (Hutt 2021). Dies ändert allerdings nichts an der Tatsache seines Ablebens. Ob sich Zweifel am Tod Maradonas verbreiten werden („Maradona lebt!“), ein neuer Auferstehungsmythos entsteht oder Konstruktionen der Übermenschlichkeit und Transzendenz auf andere Weise forciert werden – all dies liegt einmal mehr nicht in der Hand des Helden selbst, sondern in der seiner Beobachter. Derweil bietet am Eingang von La Boca der Maradona-Doppelgänger Escolastico „Berto“ Mendez den zahlreichen Besuchern der Fußgängerzone Caminito für ein paar Pesos auch heute noch Fotos mit „Maradona“ an (Testigo Directo 2022).