1 Einführung

Die Fähigkeit, wiederholt erfolgreich Drittmittelanträge stellen zu können, ist zu einem zentralen Moment der Selbst- und Fremdzuschreibung von akademischem Erfolg im Wissenschaftsbetrieb geworden und spielt bei der Leistungsermittlung auf individueller wie auch organisationaler Ebene eine zunehmend wichtige Rolle (Jansen et al. 2007). Kurzum: Ein erfolgreicher Wissenschaftler ist zugleich auch ein erfolgreicher Antragsteller.Footnote 1 Diese symbolisch aufgeladene Bedeutung des Drittmittelerfolgs kontrastiert mit der nüchternen Formalität eines Antragsverfahrens, das eine strukturierte Abfolge an Interaktionen zwischen Antragstellern, Peers und Förderorganisationen vorsieht, um förderwürdige Forschungsprojekte zu identifizieren (Swales 1990). Als Wissenschaftlerinnen wissen wir, dass es sozial relevante Vorteile hat, Antragserfolge zu erzielen, und wir wissen, wie die Antragstellung prinzipiell funktioniert. Doch was genau befähigt die Wissenschaftler dazu, immer wieder erfolgreich Anträge zu stellen? Diese quälende Frage, der sich alle Wissenschaftlerinnen früher oder später stellen müssen, nehmen wir in unserem Beitrag zum Ausgangspunkt, um das Zustandekommen erfolgreicher Drittmittelbiografien zu analysieren.

Wir gehen dabei von der Annahme aus, dass der Erfolg eines Drittmittelantrags in doppelter Hinsicht kontingent ist. Erstens haben sich die Erfolgsaussichten eines Antrags über die letzten 30 Jahre rasant verschlechtert. Immer mehr Wissenschaftler bewerben sich auf stagnierende Fördersummen (vgl. Abbildung 1). Da es inzwischen strukturell unmöglich geworden ist, alle Anträge zu fördern, die den formalen Verfahrensrichtlinien entsprechen, hängt die Bewilligungsentscheidung zwangsläufig von der Wettbewerbslage ab. Die Güte des eigenen Antrags bemisst sich somit in zunehmendem Maße relativ zur Güte der anderen eingereichten Anträge, während zugleich die Unkenntnis über das Feld der Mitbewerberinnen nicht selten absolut ist. Zweitens, und damit zusammenhängend, sind die Bewertungs- und Entscheidungskriterien für die Kategorisierung von Anträgen tendenziell diffus (Langfeldt 2001; Travis und Collins 1991). Nach dem Prinzip: „Man erkennt sie, wenn man ihr begegnet“ (Nowotny 2012, S. 6) wird die Förderwürdigkeit von Anträgen sowohl fachspezifisch (Serrano Velarde 2018) als auch „situativ“ (Lamont 2009; Mallard et al. 2009) ausgehandelt. Demzufolge sind Drittmittelverfahren, wenngleich standardisiert, auch einzigartig, kontingent und ergebnisoffen. Antragsteller – auch wiederholt erfolgreiche Antragsteller – können prinzipiell nicht wissen, ob der mit Bedacht verfasste Antrag (erneut) durchkommen wird.

Abb. 1
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Fachübergreifende Bewilligungsquoten im DFG-Normalverfahren, bei der Fritz Thyssen Stiftung und der Volkswagen Stiftung (1960–2015). (Quelle: Eigene Darstellung auf der Grundlage der Angaben in den Jahresberichten der Förderorganisationen)

Wir begreifen den erfolgreichen Antragsteller als ein Individuum, das, frei nach Peter L. Bergers und Thomas Luckmanns Charakterisierung der als selbstverständlich angesehenen Wirklichkeit der Alltagswelt (2009, S. 24 ff.), die fraglose (Un‑)Gewissheit der antragsbasierten Forschungsförderung nicht nur akzeptiert hat, sondern sie auch lebt. Problematische Situationen, wie etwa das Scheitern eines Antrags, führen nicht gleich zum Abbruch der gesamten Drittmittelaktivitäten. Stattdessen hängt die Aufrechterhaltung der subjektiven Gewissheit, dass ein Antrag auch unter Bedingungen hoher Handlungsunsicherheit Erfolg haben kann, damit zusammen, dass erfolgreiche Antragstellerinnen sich in der Lage sehen, ihr Wissen kontinuierlich zu erweitern, zu aktualisieren und situativ anzupassen. Eigene und ihnen übermittelte fremde Erfahrungen mit der Antragstellung versorgen sie mit Handlungs- und Deutungsmustern, um zukünftige Krisen zu bewältigen. Erfolgreiche Antragsteller sind in diesem Sinne Wiederholungstäter.

Was aber zeichnet dieses Wissen über Antragstellung aus? Wie und von wem, d.h. in welchen Praktiken und von welchen Interaktionspartnern wird dieses Wissen erworben? Wie entwickelt sich der Lernprozess im Laufe der Biografie? Auf der Makroebene produziert ein wettbewerbsbasiertes System der Forschungsförderung zwangsläufig „Gewinner“ und „Verlierer“. Mikrosoziologisch drängt sich somit die Frage auf, wie die Kontingenz der Antragstellung durch die Individuen immer wieder von neuem bewältigt wird. Ziel der Studie ist es daher, sowohl die Formen als auch die Bedingungen des Lernprozesses herauszupräparieren und zu vergleichen sowie schließlich zu erklären, warum manche Antragstellerinnen am Glauben festhalten, erfolgreich Forschungsanträge stellen zu können.

Der Aufsatz gliedert sich in fünf Abschnitte. Nach einer kritischen Würdigung der vorliegenden Forschungsliteratur zu Lern- und Sozialisationsprozessen im Wissenschaftssystem (Abschnitt 2) stellen wir den wissenssoziologischen Deutungs- und Erklärungsrahmen der Studie (Abschn. 3) sowie die Datengrundlage und das methodische Vorgehen unserer Untersuchung vor (Abschn. 4). Die Charakterisierung des Wissens über die Antragstellung als „Rezeptwissen“ ermöglicht es uns, drei Analyseperspektiven herauszuarbeiten, die im fünften, empirischen Abschnitt der Untersuchung zur Anwendung kommen: Der Ergebnisteil geht auf die Funktion des sozialen Umfelds bei der Weitergabe und Verarbeitung von Antragserfahrungen, auf die Dynamiken des Lernens im wissenschaftlichen Lebenslauf und auf die zentrale Bedeutung des Umgangs mit Scheitern ein. Mit Blick auf die empirischen Ergebnisse unserer Studie diskutiert der sechste und letzte Abschnitt theoretische Perspektiven und Anknüpfungsmöglichkeiten an bestehende Debatten in der Drittmittel- und Peer-Review-Forschung.

2 Literatur zur Drittmittelforschung

Drittmittelerfolge sind zu einer institutionalisierten Bewertungsgrundlage für wissenschaftliche Leistung avanciert und fester Bestandteil einer wettbewerbsbasierten Wissenschaftspolitik (Hicks und Katz 2011; Himanen et al. 2009; Hicks et al. 2015). Die materielle und symbolische Bedeutung von Drittmittelerfolgen auf der Governance-Ebene wird auch durch Forschungen zur Karrieregestaltung von Wissenschaftlerinnen belegt. Eingeworbene Drittmittel gelten z. B. als ein Kriterium, nach dem in Berufungsverfahren über die Vergabe von Professuren entschieden wird (Bloch et al. 2014; Hornbostel et al. 2009). Andere Untersuchungen haben die Bedeutung von Drittmitteln für das Forschungshandeln herausgearbeitet. Drittmitteleinwerbungen üben einen entscheidenden Einfluss darauf aus, was geforscht wird bzw. geforscht werden kann (Laudel und Bielick 2018; Whitley et al. 2018). Die konkreten Effekte der Drittmittelorientierung werden dabei ambivalent bewertet (Clegg 2008; Laudel 2006). Einerseits wird kritisch konstatiert, dass die Abhängigkeit der Forschung von Drittmitteln zu einer Anpassung an förderpolitische Programmatiken führe, was einen Autonomieverlust der Forscher zur Folge habe (Rostan 2010; Smith 2010). Auch die Abkehr von riskanten Forschungsthemen (Whitley et al. 2018; Weingart 2005; Leisyte et al. 2010) und Veränderungen des Publikationsverhaltens (Müller 2014) werden als negative Effekte der wachsenden Abhängigkeit von Drittmitteln angesehen. Andererseits wird die Pluralität des Drittmittelangebotes als Chance gedeutet, die Kontrolle über die eigene Forschungsagenda zurückzugewinnen (Grimpe 2012; Harsh et al. 2018): Durch die reflektierte Entscheidung für bestimmte Förderformate und -partner entstehen neue Profilierungsmöglichkeiten und vor allem die Chance, eine größere finanzielle Unabhängigkeit von der eigenen Forschungsorganisation zu gewinnen.

Auch wenn es einen Konsens darüber gibt, dass der Umgang mit Drittmittelanträgen gelernt sein will (Laudel 2006) – Wissenschaftlerinnen also z. B. lernen müssen, mit den heterogenen Erwartungsstrukturen der Förderorganisationen reflektiert umzugehen (Hallonsten 2014; Morris und Rip 2006) –, ist unklar, wie der Wissenserwerb konkret aussieht. Wie also lernen Wissenschaftler das Einwerben von Drittmitteln – und damit verbunden, die Praxis des Antragstellens? In der aktuellen Forschungsliteratur zur Wissenschaftssoziologie sind lerntheoretische Ansätze erstaunlich unterrepräsentiert. Mit Blick auf die von uns verfolgte Forschungsfrage gibt es zwei Literaturstränge, die relevante Einsichten in das zugrundeliegende Phänomen des Wissenserwerbs versprechen: sozialisationstheoretisch informierte Studien zur wissenschaftlichen Profession und Forschungen zum Peer Review.

Die Forschung zur wissenschaftlichen Sozialisation befasst sich vornehmlich mit der Frage, wie der wissenschaftliche Nachwuchs Normen, Werte und Forschungspraktiken verinnerlicht, um Zugang zur und Anerkennung in der Fachgemeinschaft zu finden (Weidman und DeAngelo 2020). Am Beispiel der Promotion als zentraler Statuspassage (Delamont und Atkinson 2001), aber auch am Beispiel der Organisation von Lernopportunitäten im Arbeitsprozess der Fachgemeinschaft (Campbell 2003; Roth und Bowen 2001) oder der narrativen Weitergabe von Wissen (Wylie 2019) wurde in verschiedenen Untersuchungen die Rolle des sozialen Umfelds für die frühe wissenschaftliche Sozialisation herausgearbeitet. Zu diesem Umfeld zählen sowohl hierarchische Mentoren- und egalitäre Peer-Verhältnisse (Feldon et al. 2019) als auch inner- sowie interuniversitäre Interaktionen und Beziehungen (vgl. Crane 1972). In seiner Studie zur ideengeschichtlichen Entwicklung der Theorie des sozialen Handelns hat Charles Camic beispielsweise den Einfluss lokaler Netzwerke der Harvard University auf die Auswahl der theoretischen Referenzpunkte in Parsons Werk The Structure of Social Action herausgearbeitet (Camic 1992; Camic und Gross 2001; vgl. auch Camic et al. 2011). Neuere Untersuchungen fokussieren wiederum die Bedeutung der Mentorinnen und Mentoren für die Prägung wissenschaftlicher Karrieren (Kirchmeyer 2005; Torka 2018; Nästesjö 2021) oder aber den Einfluss von Organisationskultur und Prestige auf individuelle Selbstzuschreibungen (Gardner 2008). Interessanterweise werden in der Literatur zwar vielfältige Wissensinhalte genannt, die im Sozialisationsprozess vermittelt werden, wie etwa das Wissen über fachspezifische Praktiken und Relevanzsysteme, angemessene Forschungsfragen oder Kommunikations- und Sichtbarkeitsstrategien (Laudel und Gläser 2008; Burt 2017). Im Zentrum der Analysen stehen jedoch weniger die Inhalte und Wissensformen als die Kommunikationswege, über die wissenschaftspraktisch relevantes Wissen weitergegeben wird. Zudem liegt der Fokus sozialisationstheoretischer Erklärungen von akademischen Lernprozessen vornehmlich auf frühen Karrierephasen wie der Promotion oder der Post-Doc-Phase (Müller 2014; Laudel und Gläser 2008). Die Bedeutung des Lernens in späteren Karrierephasen wird dagegen ausgeblendet.

Dass Wissenschaftler über die Arbeit an ihrer Promotion hinaus etwas lernen, wird wiederum in der Peer-Review-Forschung aufgezeigt. Das Peer Review ist nicht nur ein zentrales Governance-Prinzip im Wissenschaftssystem, sondern auch ein verbreitetes Entscheidungsverfahren bei der Allokation knapper Ressourcen in der Fachgemeinschaft (Bornmann 2008): Fachexpertinnen tätigen qualitative Aussagen über die Manuskripte, Drittmittelanträge oder Projektvorhaben ihrer Peers. Diese informieren wiederum die Vergabeentscheidungen zu Fördermitteln oder Publikationsplätzen. Von besonderer Brisanz ist hierbei das Reziprozitätsprinzip des wissenschaftlichen Peer Review, durch das sich wissenschaftliche Gemeinschaften selbst regulieren und die beteiligten Akteure wechselseitig voneinander lernen (Schendzielorz und Reinhardt 2020). Studien zum Peer Review in Fachzeitschriften weisen z. B. auf Prozesse der kollaborativen Wissensproduktion (Gläser 2006) und der Aushandlung geteilter Bewertungskriterien hin (Hirschauer 2005, 2010). Unter der Prämisse, dass eine latente Unsicherheit darüber besteht, was gute und publizierbare Forschung ist (Karpik 2011; Laudel 1999), nimmt diese Forschungsrichtung die inhaltlichen Aushandlungsprozesse zwischen Autoren und Gutachtenden und die ihnen zugrundeliegenden Bewertungsmaßstäbe in den Blick (Mallard et al. 2009; Hirschauer 2005). Die Autoren modifizieren ihre Erkenntnisansprüche vor dem Hintergrund der pluralen, legitimen Kritik der Gutachtenden (Knorr-Cetina 1999; Myers 1985), während die Gutachtenden die ihren Voten zugrundeliegenden Bewertungsmaßstäbe angesichts pluraler Deutungen spezifizieren und intersubjektiv nachvollziehbar explizieren (Hirschauer 2010; Lamont 2009). Zentral für die Erklärung des Erfolgs einer Manuskripteinreichung ist die Rekonstruktion der situativ angelegten Bewertungsmaßstäbe und ihre konkrete inhaltliche Ausgestaltung durch die beteiligten Akteure. Im Bewertungsprozess wird dabei Wissen darüber generiert, was gute Forschung ist – allerdings ist dessen Bestimmung immer situativ gebunden. Während sich also durchaus Lerneffekte im Peer Review vermuten lassen, bleibt unklar, wie sich diese in der biografischen Lernkurve verorten lassen und mit Lernerfahrungen im sozialen Umfeld verschränken.

Die wissenschaftliche Literatur zur Drittmittelforschung befasst sich vornehmlich mit den Wirkungsmechanismen der externen Forschungsförderung und beleuchtet die ordnungspolitische Dimension dieses neuen Allokationsmechanismus, ohne Lernprozesse auf individueller Ebene zu berücksichtigen. Die Forschung zur wissenschaftlichen Sozialisation gibt Auskunft über die wissenschaftliche Initiation und über zentrale Kommunikationswege, über die Wissen vermittelt wird, aber nur begrenzt Auskunft über die Wissensformen und das Lernen in späteren Karrierephasen. Die Peer-Review-Forschung nimmt zwar Lernprozesse im wissenschaftlichen Produktions- und Selektionsprozess in den Blick, lässt jedoch Einsichten darüber vermissen, was eigentlich gelernt wird und wie sich diese Lerneffekte im wissenschaftlichen Lebenslauf der Antragsteller sedimentieren. Die vorliegende Studie schließt an diesem Desideratum an. Unser Ausgangspunkt für die Analyse von Lernerfahrungen in der antragsbasierten Forschungsförderung ist der hohe Grad an Unsicherheit über den Erfolg von Anträgen. Im folgenden Abschnitt greifen wir deshalb auf Überlegungen aus der Wissenssoziologie zurück, um das Wissen zu charakterisieren, das einen Umgang mit dieser Unsicherheit und damit das wiederholte Stellen von Drittmittelanträgen ermöglicht, und um die Lernprozesse in biografischer Perspektive begrifflich zu fassen, die dann im empirischen Teil unserer Studie näher analysiert werden.

3 Das Alltagswissen der Antragstellung

Alfred Schütz charakterisiert die wissenschaftliche Theoriebildung im engeren Sinne dadurch, dass sie losgelöst von pragmatischen Problemen aus einer unbeteiligten Beobachtung bzw. theoretischen Kontemplation entspringt (Schütz 1971, S. 281 ff.). Erfolgreiche Drittmittelanträge zu stellen ist dagegen ein handfestes Handlungsproblem, dem sich Wissenschaftler immer weniger entziehen können. Die Wissenschaftssoziologie verweist schon länger auf die zentrale Relevanz auch des Alltagshandelns (Lynch 1993) und des impliziten (Alltags‑)Wissens (Collins 2010) für das Gelingen wissenschaftlicher Arbeit, hat aber primär das konkrete Forschungshandeln, meist im Labor, in den Blick genommen.Footnote 2 Wir wollen dagegen die Wissensperspektive der Akteure in den Mittelpunkt stellen und argumentieren, dass für die antragsbasierte Forschungsförderung das implizite sowie das alltägliche Wissen über die Antragstellung eine zentrale Rolle spielen.

Dabei besteht, wie oben herausgestellt, eine zentrale Anforderung darin, dass dieses Wissen eine subjektive Gewissheit als Handlungsgrundlage in einer Situation objektiver Unsicherheit ermöglichen muss. Niedrige Förderquoten und die Situationsgebundenheit der Aushandlung von Bewertungskriterien machen das Scheitern von Förderanträgen zu einer stets von neuem drohenden Gefahr. Das inhaltliche Wissen darüber, was Anträge wissenschaftlich gesehen auszeichnen sollte und wie sie formal auszusehen haben, spielt hierbei zweifelsfrei eine wichtige Rolle, kann aber im Drittmittelgeschäft keinen Erfolg garantieren. Vielmehr muss dieses Wissen zugleich in einen Rahmen eingebettet sein, der die Aufrechterhaltung des Glaubens an die Machbarkeit von Antragserfolgen sichert.

Diesen Rahmen begreifen wir im Anschluss an wissenssoziologische Überlegungen von Berger und Luckmann (2009, S. 24) als Teil der „‚natürliche[n]‘ Einstellung“ gegenüber der „Wirklichkeit der Alltagswelt“. Diese Alltagswelt bildet die Wirklichkeit par excellence, innerhalb derer wir uns unserer Handlungsfähigkeit gewiss sind. In der natürlichen Einstellung können Probleme, wie beispielsweise das Scheitern von Anträgen, unproblematisch sein, solange wir sie durch unser alltagsweltliches Wissen „in die Routine [unseres] Alltags integrieren“ (ebd., S. 27) bzw. als Problem innerhalb unserer Alltagswelt bearbeiten können. Wir übersetzen deshalb in Anlehnung an Berger und Luckmann die Frage nach der Aufrechterhaltung des Glaubens an die Machbarkeit erfolgreicher Drittmittelanträge in die Frage nach dem Wissen, das die Veralltäglichung der Antragstellung im Sinne einer Routinisierung der Antragspraxis ermöglicht.

Wir schlagen vor, dieses routinisierte Alltagswissen innerhalb der Welt der Wissenschaft im Anschluss an Berger und Luckmann als „Rezeptwissen“ zu begreifen, das jede Institution aufweist (ebd., S. 70). Das Rezeptwissen hält fest, wie man etwas tut, hält also jenes institutionseigene Wissen bereit, das notwendig ist, um praktische Probleme im Hier und Jetzt lösen zu können. Das Rezeptwissen definiert sowohl situations- als auch zweckbezogen, was vor dem Hintergrund latenter Unsicherheit als relevantes (und irrelevantes) Wissen innerhalb einer Institution gelten kann. Wir begreifen Rezeptwissen also als ein organisierendes Wissen, insofern es bestimmt, in welchen Situationen auf welche Bestandteile des alltäglichen bzw. wissenschaftlichen Wissensvorrats zurückgegriffen werden muss.

In ähnlicher Weise funktioniert das Rezeptwissen im Umgang mit Mitmenschen (ebd., S. 44). Es greift auf Typisierungen anderer Akteure und ihres institutionell erwartbaren Verhaltens zurück. Im Verfahren der Antragstellung für Drittmittel beziehen sich diese Typisierungen und Verhaltenserwartungen vor allem auf die im Verfahren institutionalisierten Rollen wie die der Gutachter und Förderer, aber auch auf deren Erwartungen an die Antragsteller. Die Antragstellerinnen – und insbesondere wiederholt erfolgreiche Antragstellerinnen – handeln aufgrund der institutionell verbürgten Prämisse, dass die anderen Interaktionsteilnehmer so agieren werden, wie es ihnen vor dem Hintergrund des bestehenden institutionseigenen Rezeptwissens zugeschrieben wird.

Diese Selektion relevanten Wissens und die Entwicklung von institutionellen Verhaltenserwartungen sind die Lösungen, die das Rezeptwissen für das Kontingenzproblem der Antragstellung bietet. Das Rezeptwissen der Antragstellung erfüllt demzufolge eine subjektiv ordnungsstiftende Funktion. Die wahrgenommene Komplexität und Unsicherheit der sozialen Welt wird so weit reduziert, dass das Handeln subjektiv nicht mehr länger als völlig unsicher erscheint: Insbesondere bereits einmal erfolgreiche Antragsteller meinen zu wissen, dass der Drittmittelerfolg wiederholbar ist bzw. sein sollte.

Rezeptwissen ist ein verinnerlichtes Wissen, das nicht vollständig sprachlich objektiviert ist und das nicht rein sprachlich angeeignet werden kann, sondern den Erwerb praktischer Fähigkeiten einschließt. Die Übertragung und Aneignung dieser Wissensform ist daher keine triviale Angelegenheit: Der Prozess der Aneignung von Rezeptwissen umfasst zum einen die interaktive Übertragung des sprachlich objektivierten Wissens, das wir als „Rezepte“ fassen. Zum anderen ist damit aber auch die Synthese eben dieser Rezepte der Antragstellung und der praktischen Erfahrungen mit eigenen Antragstellungen zu einem individuellen Rezeptwissen angesprochen (vgl. Abbildung 2).

Abb. 2
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Lernen der Antragstellung im sozialen Umfeld. (Quelle: Eigene Darstellung)

Als sprachlich objektivierte Form des Rezeptwissens können Rezepte durch die Akteure artikuliert und übermittelt bzw. vor Ort selbst empirisch erhoben werden (Schütz und Luckmann 2003, S. 227 f.). Die Rezepte geben sich beispielsweise in den „Kriegsgeschichten“ (Orr 1996, S. 125 ff.) erfahrener Wissenschaftler zu erkennen. Die intersubjektive Weitergabe dieser Rezepte an und durch andere Wissenschaftler ist ein wesentliches Moment wissenschaftlicher Sozialisation. Allerdings transportieren Rezepte die verinnerlichten praktischen Elemente des Rezeptwissens Anderer nur unvollständig. Bevor sie Handlungen anleiten können, müssen die Rezepte der Antragstellung deshalb von den angehenden Antragstellerinnen auf der Grundlage eigener Erfahrungen qualifiziert, synthetisiert und verinnerlicht werden.

Nachdem dieses ordnungs- und identitätsstiftende Rezeptwissen synthetisiert ist, entwickelt es eine gewisse Robustheit. Solange es „befriedigend funktioniert, [sind seine Inhaber] im allgemeinen bereit, Zweifel an ihm nicht aufkommen zu lassen“ (Berger und Luckmann 2009, S. 45). Eine mögliche Krise in Form z. B. des Scheiterns eines Drittmittelantrages ist nicht ausgeschlossen, birgt dann aber zugleich die Chance, das bestehende Rezeptwissen zu prüfen und anhand der neuen Gegebenheiten zu kalibrieren. Gelingt es den Antragstellern, diese Krisen immer wieder in die Ordnung ihrer wissenschaftlichen Lebenswelt einzuhegen – d. h. den Moment des Scheiterns dahingehend zu bewältigen, dass die Gründe für das Scheitern plausibilisiert werden und ein neuer Antrag gestellt wird –, bilden sie eine Grundlage für die ständige Anpassung und Aktualisierung des Rezeptwissens im weiteren wissenschaftlichen Lebenslauf.

Wir haben am Anfang die Frage nach dem Charakter und den Bedingungen des Erwerbs jenes Wissens gestellt, das erfolgreichen Antragstellern die wiederholte Teilnahme am Verfahren ermöglicht. Auf Basis unserer wissenssoziologischen Überlegungen können wir eine erste vorläufige Charakterisierung dieses Wissens vornehmen und erste Anhaltspunkte für Lernprozesse in der Drittmittelbiografie identifizieren. Es handelt sich um ein Rezeptwissen, das eine Selektion des relevanten Wissens und adäquater Erwartungen sowohl an das Verfahren als auch an dessen Rollenträger leistet. Auf diese Weise stellt es eine subjektive Ordnung her, die zur Grundlage der Routinisierung der Antragstellung werden kann.

Die Aneignung des Rezeptwissens, dessen praktisch einzuübende implizite Wissensanteile nur begrenzt in Form von Rezepten sprachlich vermittelbar sind, ist an Bedingungen geknüpft. Diese Bedingungen liefern uns drei Analyseperspektiven für die Untersuchung von Lernprozessen in der Drittmittelbiografie: Erstens sind die Bedingungen der anfänglichen Aneignung des Rezeptwissens in den Blick zu nehmen, da zunächst eine erste Verinnerlichung der im sozialen Umfeld verfügbaren Rezepte und deren Synthese zu einem individuellen Rezeptwissen geleistet werden muss. Zweitens legen unsere Überlegungen nahe, genauer darauf zu schauen, wie das gegen Zweifel relativ immune Rezeptwissen durch Krisen herausgefordert und aktualisiert wird. Dadurch rückt, drittens, der Umgang der Antragsteller mit gescheiterten Anträgen in den Fokus und wie dieser eine erneute Teilnahme am Antragsverfahren ermöglicht. Nur wenn das individuelle Rezeptwissen erfolgreich angeeignet, kontinuierlich angepasst und selbst bei einem wiederholten Scheitern nicht fundamental infrage gestellt wird, bleiben Erfolge bei der Antragstellung aus der Sicht der Antragsteller weiterhin prinzipiell machbar und wiederholbar. Diese drei Analyseperspektiven strukturieren im Folgenden unsere empirische Untersuchung des Erwerbs und des Charakters des Wissens erfolgreicher Antragsteller.

4 Daten und Methode

Die Datengrundlage der Studie bilden 30 problemzentrierte, teilnarrative Interviews (Witzel und Reiter 2012), die zwischen 2015 und 2018 mit erfolgreichen Antragstellern aus der Politikwissenschaft und der organischen Chemie geführt worden sind.Footnote 3 Die Fallauswahl sollte somit, erstens, einer Verengung unserer Perspektive auf die Eigenheiten nur einer Disziplin vorbeugen: Während die Chemie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine arbeitsteilige und vernetzte Laborwissenschaft praktiziert (Laszlo 2006), stellt sich die relativ junge Disziplin der Politikwissenschaft vergleichsweise erst seit Kurzem auf kooperative Projektzusammenhänge um (Vorländer 2015; Hartmann 2003). Zweitens wollten wir mit unserer Fallauswahl unterschiedliche Zeiträume von Drittmittelaktivitäten erfassen. Ausgehend von der Annahme, dass die gesellschaftliche Relevanz von drittmittelbasierter Forschung seit den 1990er-Jahren erheblich zugenommen hat, war es unser Anliegen, die Antrags- und Drittmittelerfahrungen verschiedener Generationen miteinander zu vergleichen. Die in unserem Sampling berücksichtigten Gruppen sind in Tabelle 1 zusammengefasst.

Tab. 1 Sampling der Interviewten

Obwohl wir versucht haben, ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis im Sample abzubilden, ließen sich aufgrund der geschlechtsspezifischen Unterschiede (und Hürden) bei der Wahrnehmung wissenschaftlicher Karrieren gerade unter etablierten und emeritierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nur vier weibliche Antragstellerinnen ausfindig machen.Footnote 4 Ferner wurde beim Sampling auf eine bundesweite regionale Verteilung der Forschungsstandorte geachtet, an denen erfolgreiche Antragsteller tätig sind, um eventuellen bundesland- oder standortspezifischen Verzerrungen der Drittmittelerfahrungen entgegenzuwirken.

Durch den Vergleich der Erfahrungen von Antragstellerinnen aus unterschiedlichen Generationen war es möglich, den Wandel der Wahrnehmung der Drittmittelforschung und ihrer Antragstellung abzubilden. Wir beschränken uns nachfolgend auf Aussagen von erfolgreichen bzw. über erfolgreiche Antragstellerinnen. Darunter verstehen wir Wissenschaftler, die im Laufe ihrer Karriere mehrere erfolgreiche Drittmittelanträge gestellt haben. Um Interviewpartner ausfindig zu machen, die wiederholt erfolgreiche Anträge gestellt haben, griffen wir zunächst auf die DFG-Datenbanken und DFG-Jahresberichte zurück und ergänzten diese Informationen durch Recherchen bei anderen Förderorganisationen mit weiteren Förderprogrammen (z. B. Ressortforschung oder Stiftungen).

Die Interviews wurden in der Regel in den Büros der jeweiligen Wissenschaftlerinnen durchgeführt und dauerten zwischen 60 und 180 Minuten. Thematisiert wurden neben den ersten Antragserfahrungen Erfahrungen mit den darauffolgenden Drittmittelerfolgen, Momente des Scheiterns, die Bedeutung des sozialen Umfelds und eigene Gutachtererfahrungen. Ferner wurde gegen Ende des Interviews ein Experiment durchgeführt: Die Befragten wurden gebeten, einen bewilligten Antrag aus ihrem Fachgebiet aus den frühen 1970er-Jahren zu lesen und aus der heutigen Gutachterperspektive zu beurteilen. Die Ausführungen der Befragten zur Angemessenheit und Förderwürdigkeit älterer Anträge gaben Hinweise auf Begutachtungsstrategien und Bewertungskriterien sowie deren Wandel. Die Interviews wurden vollständig transkribiert und für die Auswertung anonymisiert.

Für die qualitativ vergleichende Inhaltsanalyse waren subjektive, biografisch verankerte Erfahrungen von Bedeutung, die die Wissenschaftler im Umgang mit der Antragstellung als relevant einstuften. Ein Fokus lag dabei auf Krisenerfahrungen. Der Krisenmodus veranlasste die Wissenschaftlerinnen dazu, Teile ihres Rezeptwissens zu explizieren, indem sie auf die Enttäuschung ihrer Erwartungen eingingen. Über die Diskussion von Krisensituationen, etwa das Scheitern eines Antrags oder die Wahrnehmung von Inkonsistenzen in der Bewertung von Anträgen, konnte auch darüber Aufschluss gewonnen werden, wie das Rezeptwissen den individuellen Umgang mit dem Scheitern prägt. Die Analyse fokussierte darüber hinaus die Lernumwelten, in denen die Antragserfahrungen gemacht wurden. Das entsprechende Kodebuch wurde in einem abduktiven Prozess erarbeitet. Die Kategorien wurden zunächst aus dem Forschungsstand abgeleitet und in mehreren Überarbeitungsschleifen mit dem Interviewmaterial konfrontiert. Das finale Kodebuch enthielt 38 Kategorien in 8 Metakategorien und wurde von den drei Autoren mithilfe der qualitativen Datenanalysesoftware Atlas.ti auf das Datenmaterial übertragen. Vor der Übertragung fanden mehrere Teamsitzungen statt, in denen durch eine Besprechung der Kodierentscheidungen eine Angleichung der Kodierstile sichergestellt wurde. In gemeinsamen Auswertungssitzungen wurden zunächst auf der Basis von Memos, die während des Kodierens erstellt wurden, Kodekombinationen festgelegt und das zugehörige Query ausgewertet. Auf Basis der Ergebnisse dieser ersten Auswertung wurde dann die Auswahl weiterer Kodekombinationen getroffen. Die Auswertung erfolgte nach dem Verfahren der chronologisch vergleichenden Inhaltsanalyse nach Miles und Huberman (1996). Die in der Inhaltsanalyse herauspräparierten biografischen Episoden der Antragstellung und der Begutachtung wurden entlang des wissenschaftlichen Lebenslaufs angeordnet. Dabei fiel auf, dass die Fälle ein hohes Maß an Heterogenität und biografischer Eigenlogik aufwiesen, was uns dazu führte, zusätzlich Einzelfallmemos (Kühn und Witzel 2000) anzufertigen. Durch die Triangulation der Einzelfallmemos und der qualitativen Inhaltsanalyse wurde die biografische Perspektive des Lernprozesses mit der fallvergleichenden Perspektive vermittelt.

5 Ergebnisse

5.1 Sozialisation und Lernprozesse im sozialen Umfeld der Antragstellerinnen

Alle Befragten waren bereits promoviert, bevor sie zum ersten Mal eigene Drittmittelprojekte beantragt haben. Sie haben mit ihrer Promotion ein erstes eigenes wissenschaftliches Projekt geplant, durchgeführt und publiziert und häufig auch schon erste Erfahrungen mit dem Schreiben wissenschaftlicher Artikel für Fachzeitschriften gesammelt. In den meisten Fällen hatten die Befragten zu diesem Zeitpunkt ihrer Biografie jedoch noch nicht direkt mit Drittmitteln zu tun. In unseren Interviews stellte sich heraus, dass die Einwerbung von Drittmitteln erst verhältnismäßig spät in der Karriere relevant wurde. Schaut man sich die biografische Phase vor dem ersten eigenen Antrag genauer an, wird deutlich, dass mit der ersten lebensweltlichen Konfrontation mit Drittmitteln ein komplexer Lernprozess angestoßen wird, der schließlich in dem Anspruch gipfelt, selbst einen Antrag zu schreiben.

Bevor die Befragten ihren ersten Antrag verfassen, machen sie als junge Wissenschaftler in ihrem sozialen Umfeld bereits Erfahrungen mit Drittmitteln, meist vermittelt über andere Wissenschaftlerinnen. Ein Nachwuchswissenschaftler der Politikwissenschaft schildert die Situation mit folgenden Worten:

[W]ir hatten beide davor keine Anträge gestellt. Ich kam aus einer Professur […], der damals emeritiert gerade war, der […] in seinem ganzen Leben nur […] einen erfolgreichen DFG-Antrag gestellt hat […], der aber extrem gut geflogen ist, und der seine Reputation (lachend) sozusagen begründet hat. Und ich wusste aber im Kern eigentlich nicht, wie man so einen Antrag schreibt. […] [Die Kooperationspartnerin kam] von Professuren, die relativ viele erfolgreiche Anträge gestellt haben. Also habe ich mir gedacht, ich suche mir jemand, der sozusagen eine Ahnung haben könnte, wie man das systematisch betreibt, […] um das letzten Endes zu lernen. Ich konnte es einfach nicht, ich wusste, dass man so ein Ding braucht. (PoWi_Jun_03)

An der Formulierung wird erkennbar, dass ein Bewusstsein darüber besteht, dass das Einwerben von Drittmitteln eine grundlegende lebensweltliche Relevanz für Wissenschaftler besitzt. Erworben wird das Bewusstsein über die allgemeine Relevanz in diesem Fall durch das Wissen um die enorme Bedeutung, die der Antragserfolg für die wissenschaftliche Karriere des eigenen Mentors hatte. Die Relevanz von Drittmitteln wird von den meisten Befragten am Beispiel solcher konkreten Vorbilder aus dem eigenen Umfeld gelernt und reflektiert. Sie erscheint daher nicht als bloße subjektive Gewissheit, sondern zugleich als intersubjektiv geteiltes, objektiviertes Relevanzmuster der Wissenschaftsgemeinschaft.

Zugleich steht der Nachwuchswissenschaftler der Politikwissenschaft zu diesem Zeitpunkt seiner Biografie vor dem Problem, dass er selbst nicht über das notwendige praktische Wissen verfügt, um Drittmittel erfolgreich einzuwerben. Der fehlende Zugang zu diesem Wissen wird als Defizit wahrgenommen, das durch das Knüpfen von Kontakten kompensiert werden muss. Die Befragten stimmen darin überein, dass nur erfahrenere Wissenschaftlerinnen, die bereits Erfolge in der Antragstellung vorweisen können, als Quellen für Rezepte dienen können. Erfahrene Wissenschaftler fungieren als „Gatekeeper“ für praktisches Wissen über die Antragstellung.

Gelegentlich werden erste Rezepte erworben, indem junge Wissenschaftlerinnen von ihrem akademischen sozialen Umfeld in die Praxis der Drittmitteleinwerbung eingebunden werden. Weit verbreitet sind Unterstützungen von Kollegen bei der Antragstellung, bei Recherchen oder Vorarbeiten oder durch das Korrekturlesen und die Kommentierung von Antragsentwürfen. In einigen Fällen haben Befragte auch zuvor bereits einzelne Abschnitte von Anträgen oder gar ganze Anträge ihrer Vorgesetzten (mit)verfasst. Ein etablierter Wissenschaftler aus der organischen Chemie gab etwa an, dass er Anträge gemeinsam mit seinem Doktorvater geschrieben habe, an denen er selbst nicht finanziell beteiligt war: „Da könnte man den Eindruck haben, dass das so was wie eine Ausbeutung wäre, ist es aber nicht, weil man wahnsinnig viel dabei lernt.“ (OC_Adv_05) Die jungen Wissenschaftler werden unter Anleitung älterer Wissenschaftlerinnen punktuell mit dem Schreiben von Anträgen vertraut gemacht. Die Heranführung geschieht nur selten systematisch, gibt aber einen ersten Einblick in die praktische Dimension des Antragschreibens. Das Wissen um die Relevanz der Drittmitteleinwerbung wird sukzessive um Wissen ergänzt, wie die Einwerbung praktisch zu realisieren ist.

Dennoch zeigt sich anhand unserer Daten, dass das Schreiben des ersten eigenen Antrags für die Befragten eine Herausforderung darstellt, die nicht allein mit dem Wissen gelöst werden kann, das sie sich im Austausch mit anderen Antragstellern angeeignet haben. Zwar kann das soziale Umfeld den Prozess der eigenen Antragstellung auf verschiedene Weisen unterstützen, aber dieser Unterstützung sind Grenzen gesetzt:

Also, [der Doktorvater] hatte meine Anträge korrigiert. […] Aber dass wir uns jetzt zusammengesetzt haben und gesagt haben, jetzt reden wir heute mal nur über Anträge, das ist jetzt nicht passiert. Also das war eher so ein „learning by doing“, dass ich halt was geschrieben hatte oder ich mir Sachen von ihm angeguckt habe und dann halt selber […] ein Gefühl dafür entwickeln musste und auch durfte. (OC_Jun_05)

Das Schreiben des Antrags wird in diesem Fall primär als Eigenleistung verstanden. Die Unterstützungsleistungen des Doktorvaters werden zwar als bedeutsam hervorgehoben, im Endeffekt jedoch als nicht entscheidend eingestuft. Sie bieten einen hilfreichen Rahmen, der durch die Weitergabe von Tipps, Hinweisen und Beispielen – also ersten Rezepten – Orientierung stiftet und Anpassungen des entstehenden Rezeptwissens ermöglicht. Die Beschreibung der Nachwuchswissenschaftlerin der organischen Chemie, im eigenständigen Schreiben des Antrags ein „Gefühl“ (OC_Jun_05) für die Antragstellung gewonnen zu haben, deutet auf die zentrale Entwicklung in dieser Phase der Biografie hin. Erst der eigenverantwortliche Nachvollzug des gesamten praktischen Prozesses ermöglicht die Synthese von einzelnen Erfahrungen und Rezepten zu einem subjektiven Rezeptwissen, wie auch ein anderer Nachwuchswissenschaftler hervorhebt:

Die Leute sollen erst mal selber schreiben. Ich habe es selber auch so gelernt von meinem Betreuer. Und da haben wir uns am Anfang manche, manche Schlappe eingehandelt, wo wir dann angefangen haben zu schreiben und unser Betreuer vor Wut geschäumt hat und gesagt hat, so kann man es gar nicht schreiben. […] Es hilft keinem, wenn man […] sagt: „So, ich schreibe das jetzt für dich, und du liest dir das noch mal durch, so hätte es sein müssen.“ (OC_Jun_01)

Das Feedback, das junge Wissenschaftlerinnen als Unterstützung während des Schreibens aus ihrem sozialen Umfeld erhalten, stellt einen Mechanismus dar, durch den Erstantragsteller Zugriff auf das exklusive Wissen erfahrener Antragstellerinnen erhalten können. Zugleich erlaubt es ihnen aber, das erhaltene Wissen anschlussfähig für die eigenen Wissensbestände zu machen, auf konkrete Handlungsprobleme bezogen zu differenzieren und so zu verinnerlichen. Aus dem Zitat ist darüber hinaus zu entnehmen, dass das kollegiale Feedback einen Raum eröffnet, in dem aus den bei den ersten Schreibversuchen gemachten Fehlern, die zum Scheitern eines Antrags führen würden, gelernt werden kann. Das Feedback simuliert gewissermaßen die im Antragsverfahren bevorstehende Prüfungssituation, ohne irreversibel zu sein. Das soziale Umfeld setzt den entstehenden Antrag einem geschützten Stresstest aus, der das in Bildung begriffene Rezeptwissen produktiv irritiert. Die eigenständige rekursive Einarbeitung von Feedback sorgt nicht nur für eine fortwährende Anreicherung des Rezeptwissens, sondern in letzter Konsequenz auch dafür, dass die Gefahr einer Ablehnung des Antrags zumindest in der subjektiven Wahrnehmung sinkt und das Zutrauen in die eigene Kompetenz steigt.

5.2 Lernen im und durch das Verfahren

Das im sozialen Umfeld gebildete Rezeptwissen der Antragstellung hat mit der Bewilligung des ersten eigenen Antrags den entscheidenden Realitätstest bestanden. Aus der Perspektive der Wissenschaftlerinnen hat das Rezeptwissen seinen pragmatischen Zweck erfüllt und kann von ihnen als vorläufig valide verstanden werden. Es birgt damit zugleich das Potenzial, Antragserfolge auch in Zukunft zu wiederholen. Offen bleibt jedoch, ob und wie dieses Potenzial im weiteren Verlauf der wissenschaftlichen Biografie tatsächlich abgerufen und aktualisiert wird. Wie wird aus einem einmalig erfolgreichen Antragsteller ein dauerhaft erfolgreicher Antragsteller?

Die aus dem „Buschfunk“ (PoWi_Adv_05) von Kollegen gewonnenen, oft fragmentarischen Informationen über die Entscheidungsverfahren sind bedeutsam, aber nicht hinreichend, um das eigene Rezeptwissen an neue Situationen anzupassen und zu aktualisieren. Viele der Befragten teilen die Ansicht, dass die Informationen, die man über die Bewertung von Anträgen erhält, selten ausreichen, um valide Schlüsse auf die genauen Gründe von Bewilligung oder Ablehnung ziehen zu können. Als Zentrum biografischer Erzählungen zum Scheitern von Anträgen lassen sich häufig solche Hinweise auf Informationsdefizite ausmachen, die für die Antragsteller die Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen infrage stellen und dadurch mögliche Lernprozesse begrenzen.

Diese Informationen zur konkreten Vergabe- und Entscheidungspraxis der Gutachter- und Gremienkreise kann jedoch eine eigene Tätigkeit als Gutachter bieten. Nach dem ersten erfolgreichen Antrag werden junge Wissenschaftlerinnen in der Regel von den Förderorganisationen als Gutachterinnen angefragt. Mit diesem Rollenwechsel vom Antragsteller zum Gutachter gewinnen die Wissenschaftler eine neue Einsicht in die Vergabeverfahren. Erfolgreiche Antragstellerinnen bekommen von nun an regelmäßig Anträge anderer Wissenschaftler zu lesen. Bisher war ihr Wissen über andere Anträge auf ihr unmittelbares soziales Umfeld beschränkt. Sie erhalten dadurch konkrete Einblicke, wie andere Wissenschaftlerinnen und potenzielle Mitbewerber Anträge inhaltlich ausgestalten. Sie gewinnen auf diese Weise allmählich einen Überblick über die Leistungsprofile der Wettbewerberinnen im eigenen Forschungsfeld. Ebenso konkretisiert sich ihr Wissen über das Verfahren dahingehend, dass die vorher abstrakt bekannten Anforderungen an die Gutachter, etwa die Entscheidung über die Güte von Anträgen und die Explikation des Urteils, nun selbst vollzogen und so lebensweltlich erschlossen werden. Statt Objekt einer Prüfung zu sein, sind sie nun aktiv daran beteiligt, die Anträge anderer Wissenschaftler zu prüfen und mit Blick auf ihre Förderwürdigkeit zu beurteilen. Der Wechsel der Wissenschaftler in die Rolle des Gutachters versetzt sie in eine Position, für die ein verwandtes, aber anders akzentuiertes Rezeptwissen verlangt wird.

Ein empirischer Zugang zum Wissen der Befragten als Gutachterinnen wurde im Rahmen dieser Studie durch das oben genannte Interviewexperiment hergestellt, in dem die Befragten gebeten wurden, einen anonymisierten Drittmittelantrag aus den 1970er-Jahren, der damals bewilligt wurde, aus heutiger Sicht zu bewerten. Exemplarisch sei an dieser Stelle die Aussage eines etablierten Politikwissenschaftlers herangezogen. Nach kurzem Lesen des Antrags fällt der Befragte ein klares ablehnendes Urteil:

Hätte nicht den Hauch einer Chance durchzukommen. Was auffällt, […] es gibt nahezu kaum einen Verweis auf die Forschungslage, außer der Behauptung, dass eine Forschungslücke besteht. […] Es gibt keinen Verweis, nicht einmal auf Sekundärliteratur. Es gibt keine Theorie, es gibt keine Methodik. Es würde in weniger als einer halben Minute abgelehnt werden, wo jeder sagen würde, wir haben so viele andere Sachen zu machen. Nicht den Hauch, nicht den Hauch einer Chance. (PoWi_Adv_03)

Der Politikwissenschaftler nennt klare Kriterien, nach denen er den Antrag bewertet und ihn aus Sicht der heute geltenden deutlich höheren Standards als mangelhaft einstuft. Die Geschwindigkeit, mit der das Urteil gebildet wird, verweist auf die Übung und Routine, über die der Befragte bei der praktischen Bestimmung der Förderwürdigkeit verfügt. Bemerkenswert ist weiter, dass er sein Urteil durch die Formulierung „wo jeder sagen würde“ zugleich als intersubjektiv nachvollziehbar und evident rahmt. Die Bewertungskriterien werden als Teil einer gemeinschaftlichen Praxis der Gutachter verstanden. Ähnliche Reaktionen auf den vorgelegten Antrag fanden sich bei vielen unserer Befragten.

Die Bewertungskriterien, die der Beurteilung zugrunde liegen, werden hauptsächlich durch ihre kontinuierliche Anwendung in der eigenen Begutachtungspraxis angeeignet und geschärft. Dort werden die Wissenschaftlerinnen damit konfrontiert, was „andere Leute für relevant halten“ (PoWi_Sen_01), und beobachten auf diesem Wege die praktische Auslegung von Kriterien der Förderwürdigkeit von Forschungsanträgen durch andere Wissenschaftlerinnen. Um zu einem Urteil zu gelangen, sind Gutachter dazu gezwungen, die fremden Auslegungen von Kriterien in ein reflexives Verhältnis zu den eigenen Auslegungen zu setzen und so den „eigenen Horizont zu erweitern“ (PoWi_Sen_01). Der Zwang rührt daher, dass sie ihr Urteil im Gutachten für andere Verfahrensbeteiligte intersubjektiv nachvollziehbar explizieren müssen (am Beispiel des Peer Review in einer Fachzeitschrift Hirschauer 2005). In diesem Prozess wird das implizite Wissen über Bewertungskriterien, das auch schon in die eigene Antragstellung eingeflossen ist, in ein explizites Wissen transformiert und die darin enthaltenen intersubjektiv geteilten Bewertungsmaßstäbe herausgearbeitet.

Der Transfer dieses in der Gutachterrolle angeeigneten Wissens in eigene weitere Antragstellungen ist nicht trivial, sondern bedarf eines weiteren Mechanismus des Lernens in Form einer veränderten Perspektivenübernahme: der Übertragung des Gutachterblicks auf die eigene Antragstellung. Hierbei geht es weniger darum, das konkrete Handeln von Gutachtern vorauszusehen. Tatsächlich können aufgrund der verfahrensinhärenten Anonymität der Gutachterinnen keine hinreichend gesicherten Erwartungen hinsichtlich ihrer Voten gebildet werden. Der Einfluss des Wissens aus der eigenen Begutachtungspraxis auf das Verfassen von Anträgen ergibt sich vielmehr aus der Anwendung des eigenen urteilenden Gutachterblicks im Schreibprozess, oder wie ein Chemiker zuspitzend formuliert: „Wenn ich mein eigener gröbster Feind wäre, was würde ich zum Anlass nehmen, um meinen eigenen Antrag zu kippen?“ (OC_Jun_01) Die Übertragung des Gutachterblicks auf den eigenen Antrag etabliert ein verändertes Selbstverhältnis, das es ermöglicht, einen kritischen, reflexiven Blick auf das eigene Schaffen zu werfen und es für die kommende Prüfungssituation zu optimieren. Der Gutachter erscheint in diesem Zitat weniger als konkrete Person denn als Prinzip: die Erwartung an eine penible und kritische Prüfung des Antrags wird zu einer allgemeinen Erwartung an die Rolle des Gutachters generalisiert.

5.3 Lernen zu scheitern

All diese Lernmechanismen sorgen zwar dafür, dass die subjektiv wahrgenommene Gefahr des Scheiterns eingehegt wird, räumen aber die Gefahr selbst nicht aus. Die strukturelle Unsicherheit des Antragserfolgs begründet eine stets mögliche Gefahr des Scheiterns, die so lange latent bleibt, bis die Entscheidung schließlich gefallen ist. Wird sie durch die Ablehnung eines Antrags im Verfahren zur manifesten Realität, wird der pragmatische Charakter des Rezeptwissens fragwürdig. Insbesondere ein wiederholtes Scheitern kann zu Krisen führen, wie ein Seniorwissenschaftler der organischen Chemie eindrücklich beschreibt:

Und das sind fröhliche, gläubige, junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, und die gehen da ran und scheitern und scheitern noch einmal und scheitern wieder. Dann ist in meinen Augen das ganze Schiff nur noch zu retten dadurch, dass man sich dieser beiden innigst annimmt, ihre Sorgen diskutiert, ihnen hilft, hier weiter zu kommen, dabei, indem man also jetzt eine sehr, sehr enge innige Kontaktnahme mit diesen, damit die auch merken: Er beurteilt das. Er sieht das. Er sieht das (klopft auf Tisch), dass wir gearbeitet haben wie verrückt, und er sieht, dass wir gescheitert sind, und er will uns helfen. (OC_Senior_04)

Im Zitat wird dem Scheitern mit der Metapher des drohenden Schiffbruchs eine existenzielle Dimension verliehen. Diese Erfahrung betrifft jedoch nicht nur junge, sondern auch erfahrene Wissenschaftler. Wie bereits im vorherigen Abschnitt herausgearbeitet, erleben die Befragten die Rückmeldung, die sie insbesondere zu negativen Begutachtungsergebnissen ihrer Anträge erhalten, häufig als unzureichend.Footnote 5 Durch den Mangel an Informationen fehlt die Möglichkeit, aus dem Scheitern zu lernen. Grundlegende subjektive Wissensbestände und Gewissheiten werden erschüttert, können aber nicht durch eine Aktualisierung des Rezeptwissens wiederhergestellt werden.

Gerade das soziale Umfeld erfüllt bei der Bewältigung des Scheiterns wichtige Funktionen. In Extremsituationen, wie sie der Seniorwissenschaftler der organischen Chemie schildert, erfüllt das soziale Umfeld gewissermaßen eine seelsorgerische Funktion, die einen möglichen endgültigen Bruch mit der Drittmittelpraxis verhindert. Gespräche über das Scheitern im Kollegenkreis helfen, die „Enttäuschung auf der psychologischen Ebene […] erst mal sacken zu lassen“ (PoWi_Jun_04). Andere Beispiele zeigen, dass das soziale Umfeld als Quelle genutzt wird, um an verfahrensinterne Informationen zu gelangen, die eine Kontextualisierung des Scheiterns und eine Anpassung des eigenen Rezeptwissens erlauben. Gemein haben die geschilderten Beispiele, dass der Austausch im sozialen Umfeld für die Betroffenen jeweils dazu dient, ihre subjektive Ordnung der Lebenswelt so weit herzustellen, dass Handeln wieder möglich erscheint. Das soziale Umfeld fungiert als „Konversationsmaschine“ (Berger und Luckmann 2009, S. 163 ff.), durch die sich die Subjekte gegenseitig der Ordnung ihrer Lebenswelt versichern und der Daueraufgabe der Bearbeitung von enttäuschten Erfahrungen im Feld der Wissenschaft stellen (Berli 2021). Dadurch wird es möglich, die Gefahr des Scheiterns in ein Risiko zu verwandeln, das zwar unvermeidbar ist, aber mit dem strategisch umgegangen werden kann: „Aber Ablehnungen gehören halt zum Geschäft. Und wenn man länger halt dabei ist, dann weiß man, dass das Leben danach, das akademische Leben danach halt weitergeht.“ (PoWi_Jun_04)

Die Einsicht in die Normalität und Möglichkeit des Scheiterns, die in der allgegenwärtigen Wendung „Ablehnungen gehören halt zum Geschäft“ eingefangen wird, wird aus der Perspektive der eigenen Begutachtungspraxis konsolidiert und zugleich durch ein neues Element angereichert: Als Gutachter können die Wissenschaftlerinnen das Scheitern Anderer als wohlbegründete und daher nachvollziehbare Entscheidung erleben, auch dann, wenn die Betroffenen selbst die Begutachtungsergebnisse für unangebracht halten. Gutachterinnen sind aktiv in die Genese des Urteils und die dahinterstehenden Informationen und Prozessschritte – von den einzelnen Gutachten zur Einschätzung der Umsetzbarkeit notwendiger Nachbearbeitungen bis hin zum finalen Urteil – involviert. In der Gutachterrolle zeigt sich ihnen, dass das Scheitern eines Antrags auf Eigenschaften dieses Antrags zurückzuführen sein kann und diese Entscheidung im Rahmen einer grundsätzlich legitimen sozialen Ordnung gefällt wird. Zu dieser Einsicht kann man auch gelangen, wenn man sich in die Rolle der Gutachter hineinversetzt und mögliche Ablehnungsgründe antizipiert:

[W]enn man sich selbst überlegt: Wie sollte ein Gutachter sein? Oder wie würde ich gutachten? Oder was sollte ihn überzeugen? Und dann ist es wahrscheinlich, dann ist das Risiko, dass ich mich im Nachhinein ärgere, geringer, weil das könnte dann sein, also entweder es war nicht gut genug, okay. Aber, oder es könnte sein, dass ich einen Gutachter bekommen habe, der nicht danach funktioniert, nicht nach den Regeln gespielt hat. Aber da kann ich, werfe ich mir dann nichts vor. (PoWi_Jun_02)

Der Nachwuchswissenschaftler versucht sich die Aufgaben der Gutachterinnen bewusst zu machen und geht von einem Grundvertrauen in die Regelgebundenheit des Verfahrens und die damit verbundenen Rollenanforderungen aus. Ein Förderurteil kann dann auch im negativen Fall als nachvollziehbar und gerechtfertigt erscheinen, statt bloß zu Verärgerung zu führen. Die Vertrauenswürdigkeit und Nachvollziehbarkeit eines Urteils sind dabei aber eng an Rollenerwartungen und die Geltung intersubjektiv geteilter Regeln eines „Spiels“ (PoWi_Jun_02) gekoppelt. Die faktische Geltung der Regeln ist erst dann gegeben, wenn die Gutachterinnen gemäß der ihrer Rolle zugeschriebenen professionellen Verhaltenserwartungen handeln. So kann man „darauf bauen, dass Gutachter sagen, okay, das sehe ich ganz anders, aber es ist gut begründet. […] So will man ja auch selbst gutachten. Man möchte ja nicht sagen, nein, also da passt mir die Meinung nicht. Darauf sind wir ja trainiert“ (PoWi_Sen_01). Hier werden die wissenschaftliche Sorgfaltspflicht und Unvoreingenommenheit der Begutachtung als zentrale Verhaltenserwartungen hervorgehoben. Wie der Seniorwissenschaftler der Politikwissenschaft in dem Zitat deutlich macht, gelten sie für die fremde und die eigene Begutachtungspraxis. Diese Verhaltenserwartungen basieren nicht nur auf einer gesatzten OrdnungFootnote 6 mit festgelegten Rollen, Verfahren und Standards, sondern auch auf einem Reziprozitätsprinzip im Hinblick auf die Anerkennung dieser Ordnung, und sie werden durch Wiederholung eingeübt bzw. „trainiert“ (PoWi_Sen_01). Ein weiterer Befragter bezeichnete die „Fairness“ und den „Zeitaufwand“, die er als unverzichtbare Grundlage einer gelungenen Begutachtungspraxis versteht, prägnant als „Geschäft auf Wechselseitigkeit“ (OC_Adv_01), denn alle erwarten, dass alle Beteiligten fair und regelgebunden handeln und behandelt werden. Folgt ein Gutachter diesen „Spielregeln“ jedoch nicht, wird also „mit Leichtfertigkeit begutachtet“ (PoWi_Sen_05) oder sogar, wie in der zweiten vom Nachwuchswissenschaftler im obigen Zitat durchgespielten Variante, der eigene Antrag durch einen Gutachter regelwidrig behandelt, besteht die Möglichkeit, das Scheitern des Antrags einem dysfunktionalen Verhalten des jeweiligen Gutachters zuzuschreiben und so gewissermaßen zu externalisieren, wie es in der Formulierung des Nachwuchspolitikwissenschaftlers „da […] werfe ich mir dann nichts vor“ (PoWi_Jun_02) anklingt. In diesem Bezug auf die Spielregeln wird ein Umgang mit Scheitern thematisiert, der nicht die Legitimität der Ordnung des Vergabeverfahrens hinterfragt, sondern etwa individuelle Gutachterinnen als Fehler- und Irritationsquellen identifiziert.

6 Zusammenfassung und Diskussion

An dieser Stelle können wir nun zu unseren anfangs gestellten Fragen nach Erwerb und Charakter, Aktualisierung und Anpassung sowie Sicherung der Robustheit des Wissens der Antragstellung zurückkehren. Wir sehen, erstens, unsere These bestätigt, dass Wissenschaftler aktiv Wissen erwerben, das es ihnen ermöglicht, wiederholt Drittmittelanträge zu verfassen. Der Erwerb dieses Wissens ist ein Prozess lebenslangen Lernens. Die Lerndynamik ist von der Regelmäßigkeit der Verfahrensteilnahme und dem stetigen Rollenwechsel zwischen den Rollen des Antragstellers und des Gutachters geprägt. Auf der Zeitachse lassen sich die Lebensläufe der Drittmitteleinwerber heuristisch als eine Verkettung von eigener Antragstellung und Begutachtung anderer Anträge abbilden (siehe Abbildung 3).

Abb. 3
figure 3

Lernen der Antragstellung im Verfahren. (Die Linearität der Abbildung ist Darstellungszwecken geschuldet und stellt eine Idealisierung dar. Wirkliche individuelle Drittmittelbiografien können viel komplexer ablaufen und zeitweise Hochphasen, Abbrüche und Sackgassen aufweisen.) (Quelle: Eigene Darstellung)

Auf diesem Wege lernen Wissenschaftler die Bewertungskriterien, nach denen über die Güte von Anträgen entschieden wird, aus zwei Perspektiven kennen: als Objekt und Subjekt der Bewertung. Da das System der Forschungsförderung auf Peer-Review-Verfahren basiert, sind diese Rollenwechsel institutionalisiert: Es ist gängige Praxis, dass erfolgreiche Antragsteller in der Folge selbst als Gutachter angefragt werden. Unsere Darstellung zeigt, dass erfolgreiche Wissenschaftlerinnen in ihrem Lebenslauf mit dem Rezeptwissen des Antragstellers und dem Rezeptwissen des Gutachters zwei Formen von Rezeptwissen erlernen. Beide Formen von Rezeptwissen gleichen sich darin, dass sie die situative Auslegung von Bewertungskriterien zum Gegenstand haben. Die Auslegung dieser Bewertungskriterien muss stets intersubjektiv hinreichend nachvollziehbar sein, um die Entscheidungssituationen im Verfahren mit adäquaten Rechtfertigungen bestreiten zu können. Als Antragsteller bedürfen Wissenschaftler eines Rezeptwissens, um erfolgversprechende Anträge schreiben und die Entscheidung der im Verfahren beteiligten Akteure (insbesondere der Gutachter) rational abschätzen zu können. Als Gutachter bewerten sie hingegen die Qualität und Förderungswürdigkeit der Anträge anderer Wissenschaftler. Die Verschränkung dieser beiden Wissensformen gelingt durch die Übertragung des Gutachterblicks auf den eigenen Antrag. Wissenschaftlerinnen lernen, die eigenen Anträge aus der Perspektive eines generalisierten Gutachters zu bewerten. Durch diese Syntheseleistung gewinnen sie ein Wissen, das ihnen eine höhere subjektive Sicherheit über das erfolgreiche Einhalten der Erwartungen verschafft, die im Verfahren an sie gestellt werden. Die Übertragung des Gutachterblickes ermöglicht eine eigenständige (und vermittelt über regelmäßige Verfahrensteilnahmen mehr oder minder erfahrungsgesättigte) Simulation der bevorstehenden eigenen Prüfungssituation. Sie glauben also dadurch besser zu wissen, wie ein erfolgreicher Antrag auszusehen hat. Gleichzeitig zeigen unsere Ergebnisse: Jenseits eines Grundkonsenses über weitgehend abstrakte, universalistische Normen herrscht eine große Heterogenität der Deutungsmuster hinsichtlich der konkreten Auslegung der daraus abgeleiteten Kriterien. Es gibt schlicht keine einfachen Erfolgsrezepte, die jeder Prüfungssituation standhalten. Das (subjektive) Wissen bleibt damit stets fragil und der (erneute) Erfolg auch bei wiederholt erfolgreichen Antragstellern ungewiss.

Wir sehen, zweitens, dass wir die in der Literatur identifizierten Lerneffekte in der wissenschaftlichen Sozialisation im sozialen Umfeld und in der komplexen Bewertungssituation des Verfahrens in der Biografie erfolgreicher Antragsteller anordnen können. Der Wissenserwerb der Antragstellung ist in zwei unterschiedliche Lernumwelten eingebettet, die sich im Lebenslauf verschränken: das soziale Umfeld und die Verfahren. Zudem zeigt sich, dass den Lernumwelten in verschiedenen Phasen des akademischen Lebenslaufs unterschiedliche Relevanz zukommt. In der frühen Karrierephase, in der erste praktische Erfahrungen mit dem Schreiben von Anträgen gemacht werden, spielt das soziale Umfeld eine zentrale Rolle. Das erste Wissen über eine Antragstellung wird in Interaktionen mit anderen Wissenschaftlern, insbesondere den Vorgesetzten und Doktoreltern erworben. Dies gilt verstärkt für das Schreiben des ersten Antrags. Hier kompensieren signifikante Andere Wissensdefizite des Erstantragstellers, die darauf zurückzuführen sind, dass bestimmte Detail- und Hintergrundeinsichten in das konkrete Verfahren an eine erste erfolgreiche Antragstellung geknüpft sind. Indem sie den Schreibprozess durch die Bereitstellung von Rezepten und Feedback begleiten, helfen die bereits erfolgreichen Kollegen dabei, abstrakte Handlungsanforderungen, etwa die Richtlinien der Antragstellung, in konkrete Handlungsanweisungen zu übersetzen. Sie bringen ihr Wissen über verfahrensimmanente Bewertungspraktiken in die Erarbeitung des ersten Antrags ein. Ist die Hürde des ersten Antragserfolges genommen, verschiebt sich, wie oben ausgeführt, der Schwerpunkt der Lerndynamik auf die Verfahrensteilnahme, die dann oft auch die Übernahme der Gutachterrolle für die Anträge Anderer umfasst.

Unsere Darstellung zeigt jedoch, drittens, wie prekär das Rezeptwissen in der Praxis der Befragten aufgrund der nicht völlig auszuschließenden Möglichkeit des Scheiterns sein kann. Deshalb ist der erfolgreiche Umgang mit dem Scheitern ein wichtiger Teil des Rezeptwissens, das sich wiederholt erfolgreiche Antragsteller angeeignet haben. Wir konnten rekonstruieren, wie das Scheitern eines eigenen Antrags Routinen und mit ihnen die subjektive Gewissheit über die soziale Ordnung der wissenschaftlichen Lebenswelt erschüttern kann. Mit der Infragestellung des Rezeptwissens und der sozialen Ordnung, in die es eingebettet ist, wird auch die Möglichkeit, überhaupt erfolgreiche Anträge stellen zu können, infrage gestellt. Der Glaube an die grundlegende Ordnung wird jedoch über verschiedene soziale Mechanismen aufrechterhalten. Wir haben argumentiert, dass das soziale Umfeld als „Konversationsmaschine“ einen entscheidenden Beitrag leistet, um mit solchen Krisensituationen umzugehen. Im Austausch mit Kollegen werden Informationen geteilt, um das Scheitern subjektiv nachvollziehbar (und personell zurechenbar) zu machen. Solche kommunikativen Prozesse rahmen das Scheitern als kollektives Phänomen, als Teil eines „Berufsrisikos“, das jeden treffen kann. Als Risiko kann Scheitern in „subjektive Theorien“ der Antragstellung integriert werden und zu einer Aktualisierung des Rezeptwissens führen, statt zu dessen Verwerfung. Im Verfahren lernen die Wissenschaftler ferner, sowohl das Scheitern Anderer als auch ihre eigenen Misserfolge zu plausibilisieren. So wird sowohl dem Erfolg als auch dem Scheitern ein Platz im „Alltag“ – und damit in der sozialen Ordnung der Wissenschaft – zugewiesen: Das Scheitern im Antragsverfahren wird zu einem sozialen Phänomen, das bewältigt werden kann.

In Übereinstimmung mit der Peer-Review-Forschung zeigen unsere Ergebnisse zunächst, dass die Genese und Aktualisierung von Wissen ein zentraler Bestandteil von Drittmittelverfahren ist. Neben dem Wissen um die geteilte, intersubjektive Geltung grundlegender Bewertungskriterien und Bewertungsschemata wird in den Antragsverfahren auch Wissen über die kollektive Praxis der konkreten Auslegung dieser Kriterien akkumuliert. Dieses Wissen entsteht jedoch nicht durch die einmalige, sondern durch die wiederholte Teilnahme an diesen Verfahren (in unterschiedlichen Verfahrensrollen). Dieses Lernen durch wiederholte Teilnahme gerät aber erst in den Blick, wenn die integrierte Perspektive von erfolgreichen Antragstellern betrachtet wird, die auch als Gutachter aktiv sind. Unsere Studie ist demnach zugleich ein Plädoyer dafür, entgegen dem verbreiteten Fokus auf die Begutachtungspraxis die Perspektive der Antragstellerinnen und ihre Narrative in den Mittelpunkt zu rücken, um die Aneignung des notwendigen Rezeptwissens besser und vor allem in der Längsschnittperspektive zu verstehen. Des Weiteren weisen unsere Ergebnisse auf eine mögliche Vergleichsdimension hin, die in bisherigen Arbeiten zu Peer-Review-Verfahren kaum Beachtung gefunden hat. Der deutliche Fokus der Forschung liegt bisher auf Peer-Review-Verfahren in Zeitschriften. Die Vergabeverfahren von Drittmitteln werden demgegenüber seltener behandelt. Das Informationsdefizit, das unsere Befragten als eine grundlegende Erfahrung bei der Antragstellung beschreiben, verweist darauf, dass Ergebnisse aus der Forschung zu Zeitschriften nicht unmittelbar auf Antragsverfahren für Drittmittelförderungen anwendbar sind. Während in Zeitschriften Feedback-Schleifen institutionalisiert sind, die ggf. die Überarbeitung von eingereichten Artikeln ermöglichen und so Formen der Co-Konstruktion wissenschaftlichen Wissens erlauben (Gläser 2006, S. 95 ff.), scheinen solche Formen in Drittmittelverfahren tendenziell geringer ausgeprägt zu sein. Die konkrete Struktur der Peer-Review-Verfahren hat also einen entscheidenden Einfluss auf die Prozesse des Wissenserwerbs. Eine stärker komparative Forschung, die zur Ausarbeitung einer Typologie auf soziologische Theorien des Verfahrens etwa bei Luhmann (1978) zurückgreifen könnte (vgl. Schendzielorz und Reinhart 2020), würde interessante Einblicke in mögliche Synergien und ganzheitliche Lernprozesse von Wissenschaftlerinnen in Peer-Review-Verfahren eröffnen, die wir hier größtenteils ausgeklammert haben.

Anknüpfungspunkte bieten sich auch mit Blick auf Forschungen zum Matthäus-Effekt der Forschungsfinanzierung (Bol et al. 2018; Jansen et al. 2007; Münch 2008). Unsere Ergebnisse weisen auf kritische Statuspassagen hin (Laudel und Gläser 2008), die bei der Erforschung der sozial ungleichen Verteilung von Drittmitteln im Wissenschaftssystem berücksichtigt werden sollten: Insbesondere in frühen Karrierephasen ist das soziale Umfeld von entscheidender Bedeutung für die Drittmittelaktivität von Wissenschaftlern. Es ist davon auszugehen, dass ein drittmittelerfahrenes soziales Umfeld durch die Weitergabe von akkumuliertem Wissen ein zentraler Faktor für die Initiation einer erfolgreichen Drittmittelkarriere auf Nachwuchsebene ist. Der Matthäus-Effekt sollte also nicht nur hinsichtlich der Reputation, sondern auch des Drittmittelerfolgs eines wissenschaftlichen sozialen Umfelds untersucht werden, in dem bereits erfolgreiche Antragsteller zukünftige Generationen von Antragstellern in Sachen Forschungsfinanzierung ausbilden. Zugleich weist unsere Studie darauf hin, dass die Bedeutung des sozialen Umfelds als (elementare) Lerninstanz ab dem ersten eigenen Antragserfolg abnimmt, da das eigene Rezeptwissen nun auch über Verfahrensteilnahmen als Gutachter geschärft und aktualisiert werden kann. Dabei spielt das Prinzip des Peer Review eine große Rolle. Durch die regelmäßige Verfahrensteilnahme – in der Rolle des Antragstellers und des Gutachters – verliert das Wissen der Antragstellung seine Exklusivität, und der Zugang zu ihm wird egalitärer. Dafür rückt im späteren Verlauf ggf. der Umgang mit dem Scheitern trotz schon erfolgreicher Anträge in den Vordergrund. Die „Berufsrisiko“-Erzählung normalisiert das Scheitern nur bis zu einem gewissen Grad. Das Scheitern von Drittmittelanträgen wird dann zu einem existenziellen Problem, wenn der Zugang zu notwendigen Ressourcen dauerhaft verschlossen bleibt. Je nachdem, wie prekär die jeweilige Situation ist, kann das Problem bereits beim einmaligen Scheitern (in frühen Karrierephasen) oder auch erst bei einem mehrfachen Scheitern auftreten. Damit schließen unsere Ergebnisse an eine jüngere Diskussion in der Literatur an, die die Bedeutung von Scheitern und die sozialen Mechanismen der Bewältigung in der Wissenschaft hervorheben (Berli 2021; Schuol 2020).

Unsere Ergebnisse deuten schließlich auf gemeinschaftsstiftende Momente von Drittmittelverfahren hin (vgl. hierzu Gläser 2006; Schendzielorz und Reinhart 2020). Mit der zunehmenden Relevanz von Drittmitteln weitet sich die Teilnahme an Vergabeverfahren auf alle Fachgemeinschaften aus. Sie wird inzwischen, mit wenigen Ausnahmen, von allen an Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen beschäftigten Wissenschaftlerinnen erwartet. Die Relevanz der Spielregeln und intersubjektiv geteilten Ordnungsvorstellungen im Drittmittelvergabeverfahren, die wir herausgestellt haben, verweist darauf, dass genauer als bisher untersucht werden muss, wie das in den Verfahren erworbene und angewendete Wissen über das jeweils einzelne Verfahren hinaus individuelle und kollektive Wissensbestände konstituiert bzw. wie deren Wechselwirkung theoretisch zu fassen ist.