1 Einleitung

Vor dem Hintergrund der Digitalisierung stellt sich für Sozial- und Gesellschaftstheorien fast zwangsläufig die Frage, wie zeitgemäß ihre eigenen theoretischen Instrumente (noch) sind, gilt der seit mindestens drei Jahrzehnten ablaufende Prozess der Digitalisierung doch als anhaltender Epochenbruch, der auch und gerade dazu zwingt, die Frage nach dem „Sozialen“ neu zu stellen. Ansatzpunkte dafür gibt es viele: Wie etwa lassen sich Gesellschaften begreifen, in denen medial vermittelte, „synthetische Situationen“ (Knorr-Cetina 2012) zum Normalfall des Miteinanders werden? Oder: Wie ist Sozialität beschreibbar, die – etwa im Kontext sozialer Medien – fundamental von digitalen Interfaces und Infrastrukturen abhängt, in denen das Soziale selbst zum Objekt von Designprozessen und Realexperimenten wird (Beer 2009)? Und wer gilt in dieser digitalen Welt überhaupt als Teilnehmer:in am Sozialen? Nur Menschen oder auch Computer und Algorithmen? (Baecker 2001; Esposito 2017)? Muss man das theoretische Verständnis des Sozialen grundlegend von seinem humanistischen Ballast befreien (Barad 2003; Latour 2005)? Oder geht es vielmehr darum, die Besonderheiten menschlicher Sozialität gegenüber algorithmischer Operation und „Künstlicher Intelligenz“ zu verteidigen (Collins 2018)? Müsste eine Theorie der digitalen Gesellschaft selbst mit digitalen Begriffen operieren (Roth 2019)? Oder sollte sie sich im Gegenteil von einem solchen Sprachgebrauch distanzieren, um digitale Sprechweisen von außen beobachten zu können (Hörl 2012)? Kurzum: Was sind die Folgen sozial- und gesellschaftstheoretischer Festlegungen für die Beobachtung dessen, was heute als „Digitalisierung“ in aller Munde ist?

Der Verhandlung dieser Fragen widmet sich dieser Beitrag anhand der soziologischen Systemtheorie. Und dies aus gutem Grund, denn seit die Digitalisierung in den Fokus sozial- und kulturwissenschaftlicher Aufmerksamkeit gerückt ist, wirken gerade die Beschreibungsangebote der Systemtheorie Luhmann’scher Prägung wieder hochaktuell. Die Systemtheorie positioniert sich in prominenter Weise als Sozial- und Gesellschaftstheorie, die sich besonders gut dazu eignet, die zeitgenössische digitale Gesellschaft zu verstehen (Baecker 2018; Nassehi 2019; Roth 2019), scheint sie doch in geradezu unheimlicher Weise adäquat für eine Gesellschaft, die von Codes, Programmen und intransparenten Operationsketten geprägt ist. So argumentiert etwa Armin Nassehi (2019) in seiner Theorie der digitalen Gesellschaft, dass die selbstreferentielle Musterbildung der Datenwelt eine Entsprechung und Radikalisierung der selbstreferentiellen Ordnungsbildung sozialer Systeme sei. Noch offensiver argumentieren Roth et al. (2019, S. 1), die den übrigen Sozial- und Gesellschaftstheorien unterstellen, immer noch dem Zeitalter des Buchdrucks verhaftet zu sein: „Though hardly ever away from keyboard, we scholars in general and social theorists in particular relate to the dominant media of the 21st century as if we are still living in the Gutenberg Galaxy.“ Durch ihren digital geprägten semantischen Apparat biete die Systemtheorie, so die Autor:innen, die Möglichkeit zu einer notwendigen Revolutionierung der Sozialtheorie im Zeichen des neuen Medienzeitalters. Diese Denkfigur lässt sich als Annahme eines epistemologischen Vorsprungs interpretieren, der sich durch eine Synchronisierung von Theorie und Technik ergibt.Footnote 1

An der Reflexion eben dieser Prämisse setzen meine Überlegungen an. Es geht mir im Folgenden um eine Beobachtung zweiter Ordnung, welche die Systemtheorie im doppelten Sinne als Theorie der digitalen Gesellschaft dechiffriert: als Theorie nämlich, die zum einen eine zunehmend digital werdende Gesellschaft zu ihrem Gegenstand erklärt und mit ihren Mitteln zu erklären versucht, die zum anderen aber selbst dem „Geist“ eben dieser digitalen Gesellschaft entspringt – und sich damit in einer paradoxen epistemologischen Situation wiederfindet, die ihren Anspruch auf Objektdistanz mindestens gefährdet und daher dringend zur Reflexion herausfordert. In einem ersten Zugriff skizziere ich zunächst systemtheoretische Selbstbeschreibungen, die der Theorie eine besondere Leistungsfähigkeit zur Analyse digitaler Verhältnisse zuschreiben (2). Daraufhin wechsle ich die Perspektive und wende mich den Fremdbeschreibungen zu, die eine Verhältnisbestimmung von Systemtheorie und digitaler Technologie vornehmen; dabei zeige ich auf, dass die Systemtheorie selbst als Theorie einer medientechnologischen Epoche interpretiert werden kann, die Sozialität im Rahmen eines Paradigmas der Informationsverarbeitung zu begreifen begann (3). Vor diesem Hintergrund argumentiert der Beitrag, dass die Systemtheorie medientheoretisch erweitert werden muss, um ihre eigenen blinden Flecken zu kompensieren. Dazu gilt es – so der Vorschlag dieses Beitrags – die Schnittstellen in den Blick zu nehmen, die Analoges in Digitales übersetzen: Es sind, so die These, diese Schnittstellen, welche schließlich dafür sorgen, dass sogar maschinelle Entitäten als soziale Akteure inkludiert werden können – wenn sie nur als Sprechende und Schreibende registriert werden (4). Statt aber diese Symmetrisierung von Mensch und Maschine durch einen neokybernetischen Kommunikationsbegriff bereits selbst zu betreiben, könnte eine weitergehende soziologische Aufgabe darin bestehen zu beschreiben, wie eine Gesellschaft hervorgebracht wird, die ihre analoge Umwelt digital vergessen kann und darauf verzichtet, die Differenz von kommunizierenden Menschen und kommunizierenden Maschinen zu ontologisieren (5).

2 Selbstbeschreibungen

In seiner 2019 vorgelegten Monographie Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft versucht Armin Nassehi nachzuweisen, dass das Faszinosum digitaler Technologie auf Erfolgsbedingungen basiert, die in den Strukturen einer selbst schon „protodigitalen“ Gesellschaft angelegt sind. Mehr noch: Nassehi argumentiert, dass es sich bei der selbstreferentiellen Musterbildung der Datenwelt um eine isomorphe Radikalisierung jener Prozessformen selbstreferenzieller Ordnungsbildung handele, wie sie für soziale Systeme moderner Gesellschaft insgesamt charakteristisch seien. Die Systemtheorie avanciert damit zu einer Theorie der operativen Immanenz des Digitalen, die der Form nach sowohl in der Sozialstruktur der Gesellschaft als auch in der Operationslogik technischer Apparate zu finden ist. Wenn wir Digitalisierung begreifen wollen, so benötigen wir daher Nassehi zufolge ein theoretisches Instrumentarium, das es uns in erster Linie ermöglicht, digitale Prozesse der Komplexitätsreduktion nachzuvollziehen, in deren Verlauf die Welt in technischer und sozialer Hinsicht unter dem Gesichtspunkt der Information beobachtet und geordnet wird.

Im Anschluss an Heidegger (1983, S. 16) greift Nassehi den Gedanken auf, dass die Kybernetik eine zentrale Voraussetzung für jene Entwicklung darstellt, die wir heute (etwas vorschnell) als digitale Revolution deuten. Die Kybernetik stellte demzufolge erstmals ein Paradigma zur Verfügung, das es erlaubte, Differenzen zwischen verschiedenartigsten Entitäten – wie Lebewesen und Maschinen – epistemologisch einzuebnen und unter dem formalen Gesichtspunkt ähnlicher Operationalitäten der Informationsverarbeitung vergleichend zu betrachten. Während diese informationstheoretische Symmetrisierung jedoch für Heidegger die Gefahren der Technik radikalisiert und eine dramatische „Seinsvergessenheit“ befördert, sieht Nassehi (2019, S. 82 ff.) damit in weitaus nüchternerer Weise das generelle Potenzial moderner Technologie verwirklicht, Inkommensurables kommensurabel zu machen. Stützen kann er sich dabei auf Luhmann (1997, S. 526), der eben dies als Merkmal von Technik schlechthin bezeichnet: „Technik ermöglicht […] eine Kopplung völlig heterogener Elemente. Ein physikalisch ausgelöstes Signal mag Kommunikation auslösen. Eine Kommunikation mag ein Gehirn dazu bringen, die Betätigung von Schalthebeln zu veranlassen.“

Davon ausgehend handelt es sich bei der Digitalisierung für Nassehi um die technische Seite jener formalen autopoietischen Operationalität, wie sie die moderne Gesellschaft generell auszeichnet. Dieser Gesellschaftsform sei selbst eine „digitale Struktur“ (Nassehi 2019, S. 19) inhärent, insofern ihre funktionalen Teilsysteme ebenso mit binären Codes operierten, deren Vergleich- und Übersetzbarkeit allein durch die Isomorphie der kommunikativen Form, nicht aber durch eine geteilte inhaltliche Referenz gewährleistet sei. Die Antwort auf die für Nassehi entscheidende „Frage nach dem Bezugsproblem der Digitalisierung“ – sprich: der Frage, für welches gesellschaftliche Problem die Digitalisierung eine operationale Lösung aufzeige – ist somit für ihn „die Digitalität der Gesellschaft selbst“ (ebd., S. 62), die sich wiederum dadurch erkläre, dass Kommensurabilität bei hoher inhaltlicher Differenzierung der Teilsysteme nur auf formaler Ebene erreichbar ist. Diese konstitutive Digitalität zeigt sich Nassehi zufolge darin, dass die sozialen Systeme moderner Gesellschaften ihre jeweilige Umwelt nach „Mustern“ abtasten und dabei nicht eine vermeintliche Gegebenheit der Welt kopieren, sondern die Welt nach internen Logiken neu ordnen. Was für Heidegger „Seinsvergessenheit“ begünstigt, ist für Nassehi folglich die Bedingung einer strukturell digitalen Gesellschaft, deren Funktionssysteme die „haltlose Komplexität“ (Luhmann 1990) ihrer jeweiligen Umwelt konstant in ein flexibel handhabbares Entweder/Oder-Schema übersetzen. Mit der Digitaltechnik tritt also Nassehi zufolge keineswegs ein weiteres Funktionssystem hinzu: Vielmehr beruhe der Problemlösungsmechanismus von Funktionssystemen und digitalen Maschinen auf demselben Prinzip, nämlich der Einführung einer binär strukturierten Technizität, die sich in einem Fall als Sozialtechnik und im anderen Fall als Sachtechnik realisiert (Nassehi 2019, S. 177).

Während in der Digitalisierung für Nassehi damit letztlich die digitale Technizität der Moderne selbst zum Ausdruck kommt, ist die Digitalisierung für Dirk Baecker ein Prozess, der im Gegenteil das Ende der modernen Gesellschaft schlechthin einläutet und dem Übergang in eine „nächste Gesellschaft“ den Weg bereiten könnte. Ausgangspunkt dieser These ist die Annahme, dass der Medienwechsel vom Buchdruck hin zum Computer gleichbedeutend ist mit dem Ende der humanistischen Moderne und dem Beginn einer „posthumanistisch“ konfigurierten Gesellschaftsformation (Baecker 2017, S. 17 ff.). Baecker greift damit einen Gedankengang Niklas Luhmanns auf, der davon ausgeht, dass disruptive Medieninnovationen bestehende Gesellschaftsordnungen infrage stellen, insofern die jeweilige Form des Mediums je spezifische Voraussetzungen für die Form der Kommunikation impliziert. Universalisierte sich etwa mit dem Buchdruck die Schriftkommunikation unter Abwesenden und damit die charakteristische Differenzierung von Mitteilung und Verstehen, so wird dieser Unterschied selbst Luhmann zufolge in der digitalen Medienwelt latent unidentifizierbar. Gesellschaften stehen dann unausweichlich vor der Herausforderung, sich kulturell und strukturell neu zu erfinden, was Baecker (2001) zufolge nicht zuletzt einen Umbau des semantischen Apparats einer Gesellschaft erfordert. Die eigentliche Herausforderung liegt für ihn dabei indes nicht im Umgang mit digitalen Maschinen, die Kommunikation vermitteln, sondern an Kommunikation teilnehmen:

Digitalisierung als sozialer und kultureller Prozess (zu unterscheiden vom technischen Prozess) ist ein Prozess der rasant zunehmenden Beteiligung „intelligenter“ Maschinen an Kommunikation, und zwar an Kommunikation, die nicht als Signalübertragung, sondern als selektive Vernetzung subjektiv eigensinniger Akteure (das heißt hinreichend komplexer Einheiten) zu verstehen ist. […] Die von anderen Teilnehmern an der Kommunikation entsprechend wahrgenommene und zugeschriebene „Intelligenz“ dieser Maschinen besteht darin, dass sie an der Mensch-Maschine-Schnittstelle Operationen durchführen, die es schwer, wenn nicht unmöglich machen, eindeutige oder gar kausale Beziehungen zwischen einer Eingabe von Information und einer Ausgabe von Information herzustellen. (Baecker 2017, S. 17)

Elena Espositos (2017) Überlegungen zur gesellschaftlichen Rolle von Algorithmen setzen an eben dieser Stelle an. Im Anschluss an ihre Thesen zur Doppelgesichtigkeit des Computers als Medium und Maschine (Esposito 1993) entwirft Esposito Grundlinien einer Theorie artifizieller Kommunikation. An dieser Stelle ist zunächst von Relevanz, wie sie ihre Entscheidung für die Systemtheorie als einer Theorie plausibilisiert, die besonders geeignet sein soll, dem Phänomen jener Algorithmen gerecht zu werden, die in der Gesellschaft als Erscheinungsform Künstlicher Intelligenz verhandelt werden:

To address these developments, I argue that we need an approach referring not to intelligence but directly to communication. This requires a powerful and flexible concept of communication, sufficiently independent of individual psychological processes and able to take into account the cases where the partner is not (or cannot be) a human being. (Esposito 2017, S. 251)

Entscheidend ist für Esposito also die posthumanistische Anlage des systemtheoretischen Kommunikationsbegriffs, der zwar am Fall der zwischenmenschlichen Kommunikation entwickelt wurde, aber aufgrund seiner neokybernetischen – auf Informationsverarbeitung abstellenden – Anlage prinzipiell auch in der Lage sei, Sozialverhältnisse zu beschreiben, die nicht-menschliche Adressaten einbeziehen. Hier stoßen wir erneut auf die auch von Nassehi herausgearbeitete Deontologisierung, eben jene „Seinsvergessenheit“ kybernetischer Theorien, die Vergleiche und Relationierungen ermöglicht, da sie „substanziell“ Unterschiedliches im Hinblick auf seine Funktionen beobachtbar macht. Mensch und Computer können so gleichermaßen als informationsverarbeitende, nichttriviale Maschinen betrachtet werden (Esposito 1993, S. 339 f.).

Während Nassehi auf einer gesellschaftstheoretischen Ebene argumentiert und die systemtheoretische Sozialtheorie im Kern unangetastet lässt, sind Baecker und Esposito bestrebt, eben diese Sozialtheorie zu erweitern – nicht zuletzt, um die Kommunikation mit technisch-digitalen Entitäten besser erfassen zu können. Noch weiter reichen hier die Ambitionen Steffen Roths, dessen Anliegen nicht die Theoretisierung der Digitalisierung ist, sondern umgekehrt die Digitalisierung der soziologischen Theorie, sei diese doch immer noch weitgehend „analoge Theorie“.Footnote 2 Dem Medienzeitalter des Buchdrucks verhaftet, sei sie zunehmend ungeeignet zur Beschreibung digitaler Sozialverhältnisse. Das Urteil über den aktuellen Zustand sozialtheoretischen Denkens ist entsprechend dramatisch: Lediglich die Systemtheorie Luhmann’scher Prägung sei auch nur halbwegs gerüstet für das digitale Zeitalter, operiere sie doch zumindest schon ein Stück weit selbst als digitale Theorie. Zugleich bleibe sie aber in ihrer Adaption informationstheoretischer Konzepte immer noch zu oberflächlich (Roth 2019, S. 2). Das Ziel Roths und seiner Mitautor:innen hingegen lautet, die Sozialtheorie von Grund auf digital „umzuschreiben“, um sie so in ein Passungsverhältnis zu einer sich digital transformierenden Gesellschaft zu bringen (Roth et al. 2019).

Luhmanns Idee, dass es sich bei Theorien um „Programme“ des Wissenschaftssystems handelt, nehmen Roth et al. mit Blick auf dieses Unterfangen beim Wort: Sie streben ein umfassendes „Debugging“ der Sozialtheorie an, um diese von ihren analogen Restbeständen zu befreien und endgültig aus der Gutenberg-Galaxis hinauszuführen. Ihr „Update“ soll erlauben, jede analoge Beschreibung als digitale Unterscheidung zu reformulieren. Ähnlich wie bei Nassehi lautet die Ausgangsthese dabei, dass digitale Unterscheidungen und die Operationswese sozialer Systeme gleichermaßen durch eine Binarität charakterisiert sind, in der eine Seite die andere ausschließt, etwa System/Umwelt, offen/geschlossen oder wahr/falsch. Konkret besteht das Ziel von Roth et al. nun darin, existierende Sozialtheorien von falschen Unterscheidungen zu bereinigen. Darunter verstehen sie Unterscheidungen, deren Seiten sich nicht wechselseitig ausschließen, wie etwa Wirtschaft und Gesellschaft:

The suggested update installs a social-theory programme that scans social theories for their guiding distinctions, and which translates analogue into digital distinctions. The programme is compatible with every paradigm and runs with minimum systems theory requirements. When executed, this „universal social theory machine“ emulates any traditional – or creates new digital – social theories required to critically reflect or complement big data-driven approaches to the digital transformation of society. (ebd., S. 3)

Die „universal social theory machine“ begreift Roth als sozialtheoretisches Äquivalent einer Turing-Maschine, die sämtliche „analogen Theoriemaschinen“ im Paradigma digitaler Codierung neu formatiert. Der besondere Vorzug einer solchen digital „bereinigten“ Theorie sei dabei gerade das, was man ihr reflexartig vorwerfen werde – nämlich, dass sie inhaltlich völlig unbestimmt sei. Dies räumt Roth freimütig ein, deutet es aber zu einer Stärke seiner prototypischen Universaltheorie um. Dazu greift er das Adjektiv „supervacuus“ heraus, das Luhmann (2002, S. 192) an einer Stelle selbst zur Verteidigung seines Theorieprogramms nutzt (Roth 2019, S. 93). Damit ist gemeint, dass die Theorie im Übermaße leer und informationsarm gestaltet ist und gerade dadurch eine potenzielle Universalität aufweist (Luhmann 2002, S. 192 f.).

Mir geht es an dieser Stelle nun weniger um die konkreten theoretischen Überlegungen der oben skizzierten Positionen, sondern um die Explikation einer Prämisse, auf denen aktuelle Proponenten der Systemtheorie ihre Überlegungen entwickeln. Sie alle nämlich gehen wie Roth et al. davon aus, dass die theoretische Selbstbeschreibung der Gesellschaft ihrer medientechnologischen Bedingung nicht „hinterherhinken“ sollte. Soziologische Theorie soll Digitalisierung begrifflich durchdringen können, um einer digitalen Gesellschaft angemessen zu sein. So argumentiert etwa Elena Esposito, dass erst eine umfassend systemtheoretische Umstellung des soziologischen Blicks es diesem erlauben werde, zeitgenössische digitale Transformationsprozesse adäquat zu beschreiben – und dass diese Beschreibung folgerichtig dann auch weg von der Frage nach den Intentionen von Menschen oder der „Intelligenz“ von Maschinen und hin zu Fragen kommunikativer Operativiät führen müsse. Erst wenn man demzufolge Menschen und Algorithmen als informationsverarbeitende Entitäten beschreibt, kann man die Gemeinsamkeiten und Unterschiede ihrer Art und Weise der Informationsverarbeitung vergleichend identifizieren (Esposito 2017, S. 251 f., 263). Ähnlich plädiert auch Dirk Baecker dafür, dass die Soziologie erwägen solle, sich von ihrem „humanistischen Vorurteil“ (Baecker 2020, S. 26) zu lösen, da dies die Erforschung von Sozialverhältnissen auf zwischenmenschliche Interaktionen beschränke. Etablierte „humanistische“ Ansätze verführten zudem zu Defizit- und Verfallsdiagnosen sowie dazu, die Digitalisierung als einen Fremdkörper zu behandeln. Die Systemtheorie hingegen stoße hier auf eine Welt der Operationen, Codes und Programme, die ihr schon semantisch vertraut sei.

Für systemtheoretische Autor:innen sind mithin die „digitale“ Semantik, vor allem aber die binär-funktionalistischen Anlage der Systemtheorie die ausschlaggebenden Faktoren dafür, dass sich eben diese Theorie besonders gut für die theoretische wie empirische Durchdringung der zeitgenössischen Sozialverhältnisse eignet. So meint auch Armin Nassehi, dass die „nötigen Theoriemittel“ zur Beschreibung der Gegenwart „der Beschaffenheit moderner Gesellschaften adäquat sein“ müssen und diese „innere Verschränkung von Theoriemitteln und Gegenstand […] in der soziologischen Systemtheorie sicher ihren Höhepunkt“ finde – einer Theorie, welche das Soziale eben nicht vom Menschen her denke, sondern im Sinne von Systemen, „die ihre interne Dynamik durch das Nacheinander und damit die informationelle Rückkopplung von Kommunikation gewinnen“ (Nassehi 2019, S. 93). In eben diesem Sinne sei, so Niels Werber (2004, S. 96), die Systemtheorie in der Tat „eine Theorie der Digitalisierung“, rechne sie doch mit codierten, informationsverarbeitenden Kommunikationssystemen, die medial operieren und nur im Sinne ihrer Selbstsimplifikation dazu genötigt sind, ihre digitalen Operationen auf die Handlungen analoger Akteure zuzurechnen. Die analoge Komplexität der Umwelt wird demnach in digitale Operationen umgewandelt, die Bestimmbarkeit verdichten und Negation erleichtern.Footnote 3 Roth versucht im Kern, genau diesen Gedanken auf die Spitze zu treiben, wenn er eine bereits digital inspirierte Theorie weiter digital umschreiben will.

Die genannten Autor:innen unterscheiden sich durchaus hinsichtlich des unterschiedlich veranschlagten Revisionsbedarfs der Systemtheorie angesichts der Herausforderungen des Digitalen. Ihre Gemeinsamkeit liegt freilich darin, dass sie die Systemtheorie grundsätzlich als besonders geeigneten Ausgangspunkt zur Beschreibung einer digital geprägten Gesellschaft deuten. Der Grund dafür liegt in einer Beschreibungssprache, die nicht auf „Menschlichkeit“ bzw. „Zwischenmenschlichkeit“ abstellt, sondern auf kommunikative Informationsverarbeitung, auf Modi der Komplexitätsreduktion durch Codierungen und Programmierungen sowie auf binären Unterscheidungen – kurzum: auf einer Sozialität, die bereits in der Theorieanlage digital gedacht wird. Die teils implizite, teils explizite Prämisse ist in allen Fällen, dass eine digitale Gesellschaft eine Theoriearchitektur erfordert, die ebenfalls digital gebaut ist.

3 Fremdbeschreibungen

Dass Theorien immer auch ein Ausdruck ihrer Zeit sind, ist gewiss ein wissenssoziologischer Gemeinplatz. Jede Theorie ist, mit Luhmann gesprochen, immer auch als historisch situierte Semantik beobachtbar, also als Begriffsapparat, mit dessen Hilfe eine Gesellschaft sich und ihre Umwelt in ihrer jeweiligen Gegenwart beobachtet (Luhmann 1980). Jede Begriffsverwendung, ja jeder Gebrauch von Unterscheidungen schlechthin macht dabei bestimme Dinge sichtbar und andere unsichtbar. Das gilt selbstverständlich auch für Sozial- und Gesellschaftstheorien. Brisant werden solche Selbstverständlichkeiten, wenn Relationen zwischen Gesellschaftsstruktur und Theorie im theoretischen Diskurs selbst thematisiert werden – das nämlich lässt Theorien in der Tat als zeitlich situierte Semantiken in Erscheinung treten. Man kann dann nicht nur fragen, ob Theorien richtig oder falsch sind, sondern etwa auch, ob sie zeitgemäß oder anachronistisch sind: Theorien können in diesem Sinne als Semantiken beschrieben werden, die ihrer Zeit voraus sindFootnote 4 oder aber ihr hinterherhinken.Footnote 5

In einer etwas anderen Richtung lässt sich fragen, inwiefern eine Sozialtheorie durch die Art und Weise, wie sie Sozialität beschreibt, etwas über die spezifische Sozialität ihrer Zeit aussagt, inwiefern sie also zeitgebunden ist. Vor diesem Hintergrund kann an jede Sozialtheorie die Frage gestellt werden, ob ihre Aussagen zur Sozialität im Allgemeinen sich nicht tatsächlich auf die Strukturierung einer vergleichsweise spezifischen Konfiguration von Sozialität beziehen, die zwar für ihre jeweils gegenwärtige Zeit und Kultur paradigmatisch sein mag, in Wahrheit aber eine Reihe unentdeckter Besonderheiten aufweist, die den ontologischen Anspruch der Theorie einschränken oder gar obsolet machen. Es ist somit, wie Lindemann (2011b, S. 4) schreibt, „in Rechnung zu stellen, dass die sozialtheoretischen Annahmen sich als historisch kontingent und damit als möglicherweise nicht universell gültige Annahmen herausstellen“. Diese Form der Historisierung operiert also auf der Ebene sich wandelnder Sozialstrukturen, die dafür sorgen, dass sich Sozialität im Zeitverlauf wandelt und somit theoretische Generalisierungsansprüche zu einem grundsätzlich riskanten Unterfangen machen. In einer weiteren reflexiven Schleife lässt sich darüber hinaus dann fragen, ob die Deutungen des Sozialen, die eine Sozialtheorie anbietet, nicht in ersterer Linie die Möglichkeiten und Grenzen, aber auch Idiosynkrasien des jeweiligen begrifflichen Reservoirs einer Epoche mit Blick auf die Beschreibung von Sozialität reflektieren. Diese Form der Historisierung operiert also auf der Ebene der Semantik und fragt etwa nach der historischen Kontingenz intellektueller Moden, der eine Theorie unterliegt. Theorien mittlerer Reichweite müssen solche Reflexionen wenig kümmern, da sie lediglich für jeweils spezifische Phänomene Gültigkeit beanspruchen, von denen in der Regel angenommen werden kann, dass sie selbstverständlich einem zeitlichen Wandel unterliegen. Sozialtheorien hingegen beanspruchen grundsätzlich eine translokale wie auch überzeitliche Gültigkeit.

Diese Gültigkeit und Generalisierbarkeit wird von Vertreter:innen der Systemtheorie mit Vehemenz beansprucht, gerade auch mit Blick auf Zweifel, die sich aus den angesprochenen Historisierungsversuchen fast zwangsläufig ergeben. So nimmt Niels Werber Luhmann beim Wort, wenn er zu dem Schluss kommt, dass dessen Theorie Sozialität immer schon – sprich: translokal und überzeitlich – als kommunikative Informationsverarbeitung denke, bei der „strukturelle Kopplungen analoge Verhältnisse digitalisieren“ (Luhmann 1997, S. 101, Hervorhebung im Original): „Schon archaische, orale Kulturen haben“ demzufolge, so Werber (2004, S. 96), „die ihnen gleichzeitig gegebene Umwelt im Sinne Luhmanns ‚digitalisiert‘ und in Informationen der Kommunikation verwandelt“. Da „jedes Kommunikationssystem“ aus systemtheoretischer Perspektive so operiere „seit es Gesellschaft gibt, sind für diese Theorie Medienumbrüche irrelevant […]“. Für eine Theorie der Medienumbrüche wäre daher „diese Handhabung der Differenz von analog und digital nicht sonderlich hilfreich“, da sie eine digitale Operationslogik sozialer Systeme in ahistorischer Weise immer schon vorrausetze. Der digitale Wandel lässt sich damit – folgt man Werber – mit der Systemtheorie gar nicht begreifen, gerade weil diese Theorie im oben angeführten Sinne „eine Theorie der Digitalisierung“ (ebd.) ist.

Zu einer ganz entgegengesetzten Lesart der Systemtheorie kommt Scott Lash: Er liest Luhmanns Theorie von vornherein als Ausdruck einer spezifischen Epoche. Luhmanns Theorie beschreibt aus Lashs Perspektive eine spezifische zeitgenössische Situation, in der Sozialität zunehmend so funktioniert, wie Luhmann es formuliert. Lash macht das an einem Wandel kultureller Machtverhältnisse fest, den er als Wandel hin zu einer post-hegemonialen Konstellation diagnostiziert. Macht sei in dieser Konstellation nicht mehr epistemologisch zu deuten, sondern schreibe sich ontologisch unsichtbar fest; zunehmend wirke sie „von innen“ statt „von außen“ und operiere weniger durch die Setzung von Normen als durch das Schaffen von Fakten (Lash 2007, S. 56). Damit unterscheide sich die Operationsweise von Macht manifest von früheren Gesellschaftsordnungen, in denen das Soziale noch als etwas gedacht und in Szene gesetzt worden sei, das durch das Kollektivbewusstsein der Subjekte einerseits und ein von außen auf diese Subjekte einwirkendes Institutionengefüge andererseits zusammengehalten wird. Macht sei in dieser Gesellschaftsordnung in erster Linie eine Macht der Repräsentation gewesen und damit eine, die auf das erkennende Subjekt angewiesen war. Im Kontrast dazu sei die Ordnung zeitgenössischer Gesellschaften durch eine kommunikative Macht bestimmt, die sich in den Beziehungen zwischen Subjekten realisiere. Lash meint das nicht habermasianisch, sondern machtkritisch: Kommunikation vollziehe sich in diesem Kontext kurzfristig und operativ. Im Kontrast zur symbolischen Repräsentation, die Gegenstand subjektiven Erkennens und Urteilens (und genau daher epistemologisch) sei, verortet Lash Kommunikation auf der Seite des Ontologischen, das sich hinter dem Rücken der Subjekte vollzieht und sich ihrem Erkennen entziehen kann. Dieser kommunikative Modus der Macht sei ferner nicht mehr auf die Idee eines Gesellschaftsvertrags angewiesen, der Individuum und Institutionen versöhnt, sondern strikt operativ zu denken. Seine Legitimation sei eine Legitimation durch Verfahren und seine Reproduktion eine Reproduktion durch autopoietische Systeme, die sich in einer immer flüchtigeren Umwelt dadurch behaupten, dass sie unablässig neue Fakten und Regeln schaffen (Lash 2007, S. 56 ff.). Nichtlineare und selbstreflexive Systeme, die ihre Umwelt nach Informationen abtasten, sind für Lash somit kein Modus des Sozialen, der sich immer schon so und nicht anders vollzogen hat: Vielmehr handele es sich um eine spezifische Formation des Sozialen in einer reflexiv-modernen Informationsgesellschaft (Lash 2003, S. 50 f.).

Niklas Luhmann ist für Lash der Leittheoretiker dieser neuen sozialen Ordnung. Denn Luhmann hat Lash zufolge verstanden, dass sich in der mediatisierten Informationsgesellschaft der Gegenwart das Soziale auf Kommunikation reduziert. In der Gestalt von Kommunikation verwandle das Soziale sich – selbst im Kontext von Face-to-face-Verhältnissen – in ein entbettetes Verhältnis, das Subjekte zueinander auf Distanz hält und – so könnte man hinzufügen – die Durkheim’sche Idee des Kollektivbewusstseins zum Anachronismus werden lässt (Lash 2007, S. 65 ff.).Footnote 6 Lash liest Luhmanns Sozialtheorie somit als Kryptotheorie eines sozialen Wandels: Was die systemtheoretischen Begriffe beschreiben, ist, folgt man Lash, gerade nicht die Funktionsweise von Sozialität schlechthin, sondern ihre Funktionsweise in der heutigen Informationsgesellschaft (vgl. auch Lash 2002).

In eine ähnliche Richtung argumentiert Erich Hörl. Auch er liest Luhmann historisch, ist aber eher an einer Archäologie des systemtheoretischen Wissens interessiert – in Luhmann’scher Theoriesprache: an der Systemtheorie als Teil des semantischen Apparats einer Epoche. Hörl (2012) betrachtet Luhmann als den radikalsten und konsequentesten jener neokybernetischen Vordenker, die zur Mitte des 20. Jahrhunderts die intellektuelle Bühne betraten. Denn Luhmann verstehe seine Theorie selbst als eine, die das philosophische Denken Alteuropas vollständig hinter sich lassen wolle, und platziere sie damit zugleich an der vordersten Front eines radikal modernen Denkens. Luhmanns Theorie der Differenzen erlaube eine grundlegende Verabschiedung jedweder ontologischen Weltauffassung – und dies sei zugleich genau die Bewegung, die Luhmann zufolge die moderne Wissenschaft insgesamt vorantreibe:

In Luhmann’s reading science appears as a massive counter-ontological offensive that foils all naïve and originary fixations on being and presence and instead proceeds to lead the way out of the ontological cave. […] The core of the never-ending task of science was to bring about a radical de-ontologizing of our relationship to the world and thus to produce distance. (ebd., S. 102)

Die das 20. Jahrhundert durchziehenden Klagen über eine Entfremdung der Wissenschaft von der Unmittelbarkeit und Vertrautheit der Lebenswelt erscheinen damit aus Luhmann’scher Perspektive als Phantomschmerzen eines Denkens, welche die neokybernetischen Distanzierungsgewinne nur als Verlustgeschichte zu deuten vermag.

Das kybernetische Paradigma der Informationsverarbeitung ist für Hörl fundamental für jede Form der systemtheoretischen Theoriebildung. Zugleich bleibe Luhmanns Theorie aber so gebannt von selbstreferentiellen Systemen, dass sie übersehe, wie sehr Technologie in Zeiten des „ubiquitous computing“ ökologisch geworden sei und sowohl Systeme wie auch deren Umwelt präge – und selbst die Kopplungsmöglichkeiten von System und Umwelt konditioniere. Ebenso wie Luhmann sich von der Semantik Alteuropas absetzen musste, müssen wir uns daher heute, so Hörl (ebd., S. 95), von der neokybernetischen Semantik absetzen. Denn in seiner Faszination für Deontologisierung verkenne Luhmann die technologische Bedingung seiner eigenen Theorie und mache sie ohne Absicht unsichtbar. Eben diese technologische Bedingung jedoch steht im Zentrum von Hörls Analyse (vgl. Block und Dickel 2020).

Hörl spricht dabei in einer höchst spezifischen Weise von einer „technologischen Bedingung“, die mehr meint als „nur“ Technik. Vielmehr bezeichnet er damit einen sowohl epistemologischen als auch ontologischen Wandel, der mit dem Erscheinen der Kybernetik seinen Anfang nahm, aber erst in Zeiten ubiquitärer Digitalität in seinem ganzen Ausmaß abschätzbar wird. Die Erfindung des Computers markiert für Hörl den Beginn dieser technologischen Welt, die sich dadurch auszeichne, dass technische Objekte nicht länger als Prothesen, sondern als operierende Gegenüber fungierten. Technische Objekte sind demzufolge nicht mehr nur Instrumente, die von Menschen geformt und gebraucht werden. Vielmehr sei ein Wandel „hin zu systemischen, aktiven, intelligenten und kommunizierenden Objekten [auszumachen]“. Und diese Verschiebung bringe „eine folgenreiche Neubestimmung unserer gesamten objektiven Verfassung und des Platzes, den wir als Subjekte darin einnehmen, mit sich“ (Hörl 2011, S. 25): Der Computer wird zum Ausgangspunkt einer kybernetischen Deutung von Sinn – nämlich einer informationstheoretischen Deutung, die auf Mensch und Maschine gleichermaßen anwendbar wird. Im Kontext dieser „technologischen Sinnverschiebung“ (ebd., S. 32) werde die Leitdifferenz von Mensch und Maschine (welche nach Lindemann [2011b] eine der konstitutiven Grenzen der modernen Mitwelt ausmacht) suspendiert und durch alternative Unterscheidungen überformt:

Der Übergang von der klassischen zur transklassischen Maschine, wie ihn Gotthard Günther seit den 1950er Jahren immer wieder beschrieb, sodann die schon erwähnte, zeitgleich von Gilbert Simondon entwickelte Unterscheidung von geschlossener und offener Maschine, schließlich Heinz von Foersters Differenzierung von trivialen und nichttrivialen Maschinen seit den späten 1960er Jahren oder Humberto Maturanas und Francisco Varelas Unterscheidung von auto- und allopoietischen Maschinen – all das waren gewissermaßen in systematische Differenzen gegossene Reflexionen und zugleich Ausdrücke des Übergangs von der technischen in die technologische Welt. (Hörl 2011, S. 25)

Insbesondere der Begriff der nichttrivialen Maschine erlaube es dabei, ganz verschiedene „Systemtypen“ miteinander unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt vergleichbar zu machen, nämlich im Register der Form der Informationsverarbeitung. Der Begriff der trivialen Maschine, von dem sich dieser Begriff abhebt, bezeichnet kausal bestimmte Systeme, in denen Input und Output fest gekoppelt sind und die somit extern gelenkt werden können. Das unterscheidet sie von nichttrivialen Maschinen, in deren Innerem Prozesse ablaufen, die von außen nicht einsehbar und ggf. auch nicht nachvollziehbar sind. Ihr Output wird maßgeblich durch ihre inneren Systemzustände beeinflusst. Nichttriviale Maschinen verarbeiten ihre Umwelt somit nicht als unvermittelt wirksame Kausalität, sondern als kontingente Quelle von Irritationen.Footnote 7 Damit erscheinen nichttriviale Maschinen als autonome Entitäten, triviale Maschinen hingegen als bloße Automaten. Menschen gelten im neokybernetischen Deutungsrahmen zwar als Paradebeispiel nichttrivialer Maschinen, jedoch nicht notwendigerweise als die einzigen. Es wird also explizit nicht ausgeschlossen, dass es nichtmenschliche nichttriviale Maschinen geben könnte. Die Differenz von trivialen und nichttrivialen Maschinen bietet sich somit als alternative Unterscheidung an, Menschen und rechnende Maschinen jenseits essenzialistischer Setzungen unter allein funktionalen Gesichtspunkten vergleichbar zu machen. Luhmanns Theorie berücksichtigt jedoch eigentlich nur zwei Typen nichttrivialer Systeme: Menschen (genauer: psychische Systeme) und soziale Systeme. Sein Begriff von Technik bleibt hingegen weitgehend einem mechanistischen Verständnis verhaftet (Dickel und Lipp 2016).

Während also die Systemtheorie die Gesellschaft in neokybernetischer Manier als informationsverarbeitende Maschine fasst, reflektiert sie Hörl zufolge zu wenig, welch fundamentale Rolle die informationsverarbeitende Sachtechnik für die Konstitution der eigenen systemtheoretischen Beobachtung spielt. Der zentrale blinde Fleck der Luhmann’schen Theorie ist in dieser Lesart der Computer selbst – und das zeigt sich Hörl (2012) zufolge immer deutlicher, je stärker Computertechnologien Teil der Ökologien werden, in denen Gesellschaft stattfindet. Angesichts einer Welt, in der Computertechnologien ökologisch ubiquitär werden, seien auch technische Aktivitäten immer weniger auf das Handeln menschlicher Subjekte zurechenbar (Hörl 2011, S. 21). Mehr noch: Eine Sinnkultur, die davon ausgeht, dass menschliche Subjekte „ihre“ Welt deutend auslegen, ist demzufolge infrage gestellt, wenn es zur Normalität wird, dass Menschen umgekehrt von Maschinen beobachtet und ausgewertet werden und sich damit das Subjekt-Objekt-Schema geradezu umkehrt. Das Resultat dieser Sinnverschiebung sei eine Ontologie der „ökotechnologischen Subjektivität“ (ebd.), in der das menschliche Subjekt keine herausgehobene Position mehr beanspruchen könne, sondern in eine technologisch responsive Umwelt eingefügt sei. Dieser techno-ontologische Umbau der Welt entziehe sich dem Blick einer postontologisch auftrumpfenden Theorie. Es gelte daher Deutungen zu finden, die eine Außenbeobachtung des neokybernetischen Paradigmas eröffnen können, damit die Neokybernetik nicht ebenso zu unserem gedanklichen Gefängnis wird, wie es einst das Denken Alteuropas war (Hörl 2012, S. 117).

Die Fremdbeschreibungen Lashs und Hörls haben eines gemein: Sie schreiben der Systemtheorie eine enorme zeitgenössische Aktualität zu, die ihr (selbst im deutschsprachigen Raum) in den letzten Jahren kaum mehr zugebilligt wurde. Sie lesen Luhmann – und hier treffen sie sich durchaus mit Nassehi – als Theoretiker, der die Gesellschaft bereits als digital beschrieben hat, als Digitalisierung noch kein Gemeinplatz gesellschaftlicher Selbstbeschreibung war. Zugleich weisen sie darauf hin, dass die Theorie selbst ein Ausdruck des Informationszeitalters ist – und dessen blinde Flecken mit sich führt.

4 Digitalisierte Sozialität

4.1 Der kybernetische Blick

Die Beobachtungen von Lash und Hörl zur Zeitgebundenheit der Systemtheorie sind überaus hilfreich, um das Verhältnis von Systemtheorie und Digitalisierung näher zu spezifizieren. Sie sind jedoch kaum geeignet, die Systemtheorie in einer naiv-ideologiekritischen Manier zu dekonstruieren. Denn es kann als eine der zentralen Lehren des im 20. Jahrhundert geführten „Streits um die Wissenssoziologie“ (Meja und Stehr 1982) festgehalten werden, dass der Nachweis der sozialen Positionalität von Denk- und Sprechweisen nicht deren Falschheit impliziert. Gerade im Fall der Systemtheorie würde der Versuch einer solchen Entlarvung das selbstreflexive Potenzial dieser Theorie verkennen. Sie ist – auch und gerade „ihrem Selbstverständnis nach“ – eine Theorie der modernen Gesellschaft, die sich ihres „spezifischen Modernitätsindex[es]“ bewusst ist, insofern sie die „gesellschaftshistorische Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit nicht in einem sozialtheoretisch begründeten Allgemeinen sieht, sondern vielmehr in der Strukturform der Moderne selbst, als deren Teil sie sich begreift“ (Göbel 2011, S. 153). Damit wird das Konstitutionsverhältnis von Gesellschafts- und Sozialtheorie umgedreht (ebd., S. 152). Das wiederum bedeutet, dass sich eine ahistorische Lesart der Systemtheorie eigentlich ihren eigenen Prämissen folgend verbietet. Werber (2004) führt somit zwar zu Recht an, dass die Systemtheorie Sozialität immer schon als digitale Informationsverarbeitung denkt, welche einer analogen Umwelt abgerungen wird. Doch reflektiert diese Theorie bereits, dass sie im Zuge der sozialtheoretischen Generalisierung ihre moderne Deutung auf vormoderne Epochen überträgt. Sie ist nach eigenem Verständnis als Theorie der Moderne eben auch eine Theorie der Moderne.

Dieser Gedanke kann fortentwickelt werden: Im Anschluss an Lash lässt sich so die Systemtheorie in der Tat nicht nur als Theorie des Digitalen, sondern auch und gerade als Theorie des Digitalen lesen, also als Theorie, die nicht das Soziale schlechthin beschreibt – was immer damit gemeint sein könnte –, sondern eine spezifische Form von Sozialität: digitale Sozialität. Das impliziert, dass man die bei Luhmann überaus scharfe Grenze von digitaler Kommunikation und analoger Nicht-Kommunikation nicht als immer schon gegebenen Ausgangspunkt der Analyse voraussetzt, sondern selbst als Produkt sozio-medialer Evolution betrachten kann.Footnote 8 Luhmann selbst gibt dazu Hinweise – nämlich dann, wenn er einräumt, dass „[d]ie Grenze des Kommunikationssystems zur Umwelt“ durch mediale Umbrüche immer „schärfer gezogen“ wird (Luhmann 1997, S. 283). Sprache, Schrift und Buchdruck erscheinen damit bei Luhmann bereits als medientechnologische Brüche, welche Kommunikation und Nicht-Kommunikation immer klarer voneinander unterscheiden und damit zur Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems selbst beitragen. Jeder weitere Medienumbruch schärft dann die Grenzen der Kommunikation auf wiederum spezifische Weise und rekonfiguriert, was zweifelsfrei als Kommunikation gelten kann. So gibt erst Sprache die Möglichkeit, die analoge Fülle von Interaktionszusammenhängen hinter sich zu lassen, und erst mit der Schrift entwickelt sich ein Zeichensystem, das Sinn symbolisiert und dessen Selektionsspielraum zugleich erweitert und einschränkt. Die Verbreitung von Schrift, die im Buchdruck einen vorläufigen Höhepunkt findet, bewirkt, dass nur noch diejenigen fraglos als soziale Akteure gelten, die auch potenzielle Autoren sein könnten – was Bäume, Tiere und Geister aus dem Bereich des Sozialen verbannt (Luhmann 1997, S. 249 ff.).

Aus einer solchen Perspektive erscheint es dann folgerichtig, dass die von Lash diagnostizierte „Reduktion“ des Sozialen auf Kommunikation in der sogenannten Informationsgesellschaft einen neuen Höhepunkt erreicht hat, der sich wie folgt zuspitzen ließe: Nur noch das, was sich digitalisieren lässt, gilt im Paradigma dieser spezifischen soziokulturellen Formation als zweifelsfrei sozial. Wenn Luhmann (1996, S. 9) in der Blütezeit der analogen Massenmedien die These aufstellte, dass fast alles, was die Gesellschaft über sich weiß, aus den Massenmedien stammt, dann könnten wir heute sagen: fast alles, was Gesellschaft heute (für sich) ist, ist das, was digital erfasst, mitgeteilt und abrufbar gemacht werden kann.Footnote 9 Digital mediatisierte Kommunikation wird zum Regelfall, wodurch Interaktionen unter körperlich Anwesenden genauso einen neuen Sinn erlangen wie alternative Modi medialer Vermittlung – wie etwa der handschriftliche Brief. Die digitale Gesellschaft, so daher meine These, zeichnet sich also nicht allein dadurch aus, dass immer mehr Menschen immer digitaler kommunizieren. Vielmehr ist es dann legitim von einer digitalen Gesellschaft zu sprechen, wenn in einer spezifischen Gesellschaftsformation Sozialität selbst von einem digitalen Paradigma her verstanden wird, wie von Udo Thiedeke beschrieben:

Begriffe aus der Computertechnik und Informatik [haben sich] ganz selbstverständlich als Beschreibung alltäglicher Lebenszusammenhänge etabliert. Sie sind anscheinend auch unverzichtbar geworden, um uns einander unsere Definitionen der Welt und der sozialen Beziehungen in dieser Welt zu vermitteln. Phänomene und Effekte des Umgangs mit Computern beeinflussen auf diese Weise unsere Beschreibungen der Wirklichkeit und somit alle Bereiche des gesellschaftlichen Diskurses. (Thiedeke 2018, S. 67)

Solche Überlegungen betten sich nicht nur in die Beobachtungen von Lash und Hörl ein, sondern verweisen wesentlich allgemeiner auf die Notwendigkeit einer Medienarchäologie von Kybernetik, Digitalität und Information (Hagner und Hörl 2008; Hayles 1999; Weber 2012). Dabei lässt sich durchaus an Nassehis (2019, S. 82 ff.) Interpretation der Heidegger’schen Techniktheorie anschließen: Das von Heidegger (2000) als Gefahr beschworene „Gestell“, das die Welt und den Menschen rekonfiguriert, entspricht einer Gesellschaft, die sich und ihre Umwelt technologisch, genauer: „informationsförmig“, beschreibt. „Wir sehen“, so Nassehi (2019, S. 88), „heute kybernetisch – ob wir wollen oder nicht“. Das von Shannon und Weaver (1949) am Fall analoger Sachtechnik entworfene Modell von Kommunikation, welche sich für die Kommunikationstheorie insgesamt – und nicht zuletzt eben für die soziologische Systemtheorie – als außerordentlich prägend erwiesen hat, kann Nassehi zufolge als normalisiertes Modell moderner Sozialität gelten. Als digitalisierte Kommunikation könne diese Sozialität analoge Störungen als Rauschen ausschließen. Die Ordnungsbildung erfolge zwar auf dem „Realitätsunterbau“ (Luhmann 1984, S. 43) dieses Rauschens, aber der (auch symbolische) Technisierungsgrad von Sozialität kann dieses Rauschen sukzessiv operativ vergessen. Da der Mensch in der modernen Gesellschaft hauptsächlich als Rollenträger, und nicht als „ganzes Wesen“ auftrete, sei das Rauschen seiner „analogen Fülle“ in den meisten gesellschaftlichen Zusammenhängen von vornherein irrelevant. Wichtig sei in den meisten Kontexten allein seine rollenbedingte funktionale Informationsträgerschaft. Insofern agiere der Mensch in der modernen Gesellschaft in rein formaler Hinsicht immer schon vornehmlich „digital, also als Informationswert“ (Nassehi 2019, S. 94) – ganz unabhängig von der Ubiquität digitaler Technologien in seiner Umwelt.

Wohlgemerkt: Das Argument Nassehis lautet, dass es sich hierbei nicht ausschließlich um eine kontingente theoretische Beschreibung handelt, sondern zugleich um ein implizites Selbstverständnis der Sozialform der Gegenwartsgesellschaft. Nicht nur die Systemtheorie interessiere sich wenig für das individuelle Innenleben ihrer Blackboxes, sondern die moderne Form des Sozialen funktioniere auf derselben Grundlage: Man bezahlt an der Supermarktkasse, folgt dem Hinweis der Verkehrspolizistin und zitiert den wissenschaftlichen Autor, ohne über das „Innenleben“ dieser Akteure einen weiteren Gedanken verschwenden zu müssen. Man schließt an Informationen an, ohne die Person, welche als Zurechnungspunkt dieser Information fungiert, in ihrer „analogen“ Komplexität rekonstruieren zu müssen.

Für Nassehi (2019) ist nun das Argument zentral, dass dieser Prozess gerade nicht erst durch die Computertechnologie hervorgebracht, sondern durch sie „lediglich“ verstärkt, erweitert und verfestigt wird. Hörl und Lash würden hier dagegenhalten, dass dies freilich die Beobachtung einer partikularen Theorie in einer historisierbaren Epoche ist, die sich bereits auf einen kybernetischen Beobachtungsstandpunkt begeben hat. Die Systemtheorie ist damit ein Ausdruck eines semantischen Apparats, der sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts und bis hinein ins 21. Jahrhundert digital umgeschrieben hat und weiterhin fortlaufend umschreibt. Mit Lash und Hörl lässt sich dann, wie bereits oben ausgeführt, der Verdacht formulieren, dass diese Theorie gerade aufgrund ihrer digitalen Verstrickung Beschreibungsdefizite aufweist: Für Lash ist Luhmann derjenige, der die Reduktion des Sozialen auf Kommunikation im Informationszeitalter auf den Punkt gebracht hat. Damit ist aus dieser Perspektive aber auch klar, dass es Sozialitäten geben kann, die mit dem systemtheoretischen Vokabular nicht angemessen zu beschreiben wären. Hörl wiederum erblickt in der Systemtheorie eine Theorie, die das Technoimaginäre unserer Epoche wie keine andere zum Ausdruck bringt, dabei aber so tief mit der Semantik des Digitalen verwoben ist, dass ihr die technologische Umformung der analogen Umwelt entgeht.

Diese kritischen Diagnosen gebrauche ich im Folgenden als Irritationen, um selbst einen blinden Fleck der Systemtheorie auszuleuchten und ein Desiderat für eine Sozialtheorie der Digitalisierung zu explizieren. Dabei begreife ich Digitalisierung zunächst erstens im basalen Sinne einer Transformation des Analogen in etwas Digitales sowie zweitens im Sinne der Bedingungen und Folgen dieser Transformation. Die Rückbesinnung auf den technischen Begriffskern von Digitalisierung ermöglicht dabei eine Distanz zu der gegenwärtig ubiquitären Verwendung des Begriffs und seiner unspezifischen Ausweitung. Zugleich gilt es freilich, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Einführung der Unterscheidung digital/analog einen Unterschied macht für vielfältige gesellschaftliche Phänomene. Die Unterscheidung bildet daher einen plausiblen Ausgangspunkt, aber freilich keinen Schlusspunkt soziologischer Analytik.Footnote 10

4.2 Interfaces: analog/digital

Wenn Digitalisierung zunächst bedeuten soll, dass Analoges digital wird, müsste eine Theorie der Digitalisierung auch gerade beschreiben können, wie es zu einer solchen Umformung analoger in digitale Verhältnisse kommt (Schröter 2004). Sie sollte daher gerade nicht (wie von Roth et al. vorgeschlagen) in Eigenregie analoge Beschreibungen in digitale Unterscheidungen transformieren. Vielmehr müsste sie die Umformung von Analogem in Digitales selbst zum Gegenstand der Analyse machen. Dies leisten systemtheoretische Beschreibungsangebote bislang nur unzureichend. Als Theorie digitaler Sozialität versteht sich die gegenwärtige Systemtheorie spätestens seit Nassehis Buch Muster auch als eine „Theorie der digitalen Gesellschaft“ und reflektiert damit gewissermaßen bruchlos die Immanenz und Geschlossenheit ihres Gegenstandes. Schon aufgrund dieser fehlenden Objektdistanz kann sie jedoch keine Theorie sein, mit der sich die Transformation von analog zu digital – und ggf. zurück – umstandslos rekonstruieren ließe.

Es wäre theoretisch zu kurz gegriffen, das Analoge als eine ursprüngliche Natürlichkeit zu begreifen, vom dem das Digitale sich nun künstlich abhebt, oder als eine irgendwie „eigentlichere“ Realität, die dann digital virtualisiert wird. Vielmehr ist die Unterscheidung analog/digital als eine Unterscheidung ernst zu nehmen, bei der die analoge Seite erst durch ihr digitales Gegenüber spezifiziert wird – und vice versa. Die Besonderheiten dessen, was analog genannt werden kann, treten also vereinfacht gesagt erst durch Digitalität hervor. So kann man etwa bei nunmehr als „analog“ erscheinenden Elementen von Sozialität – wie etwa der Körpersprache – einen Verweisungsreichtum beobachten, der als solcher überhaupt erst auffällig wird in Differenz zu jener spezifischen Negationsfähigkeit, wie sie zunächst durch die Sprache hergestellt, dann durch die Schrift konkretisiert und schließlich durch die digitaltechnisch-binäre Differenz von 0 und 1 auf radikal zugespitzt formalisierte Weise geleistet wird (Baecker 2017, S. 4). Der Formalisierungsimperativ, der mit jeder Art von Codierungssystem, von der verschriftlichten Lautsprache bis zum Computerprogramm, verbunden ist, macht also erst ex negativo weniger formalisierte (oder auch formalisierbare) Weisen von Kommunikation unterscheidend intelligibel.

Um die Unterscheidung von analog und digital selbst in den Fokus dessen zu rücken, was als Digitalisierung zu beschreiben ist, lässt sich auf den kultur- und medienwissenschaftlich breit diskutierten Begriff des Interfaces zurückgreifen (Galloway 2012; Hookway 2014; Karafillidis 2018; Scolari 2012). Mit Interfaces werden Beziehungen zwischen Menschen und Artefakten sowie Menschen und Artefakten untereinander in besonderer Weise materiell gebaut und symbolisch gedeutet: Interfaces bilden Orte der Übersetzung vom Analogen ins Digitale – und vice versa. Interfaces schaffen a) Grenzen zwischen Entitäten, spezifizieren dabei b) die Entitäten auf den beiden Seiten der Grenze und definieren c) Übergangs‑, Zutritts- und Interaktionswege, mit denen Kontakte möglich werden. Interfaces machen Blackboxes füreinander kompatibel und disponibel (Lipp und Dickel 2022). Der Begriff kann zunächst verschiedene Ebenen von Medialität bezeichnen. So können z. B. einerseits die Input- und Output-Möglichkeiten von Geräten wie Smartphones (visuelle Darstellungen, Touchscreens, Töne) als Interfaces begriffen werden. Anderseits fungieren mediale Artefakte wie Smartphones selbst als Interfaces, die einen spezifischen Zugang zur digitalen Welt ermöglichen und sich in dieser Hinsicht von anderen Technologien wie dem Laptop unterscheiden. Interfaces sind aber nicht nur als Artefakte relevant. Im Begriff des Interface kommt vielmehr eine kybernetische Neubestimmung des Verhältnisses von Mensch und Technik selbst zum Ausdruck: Der Gebrauch von Technik verwandelt sich mit der Ausbreitung der Computertechnik zunehmend in eine Bedienung von Interfaces (Hookway 2014, S. 1). Dass nichtdigitale Technologien im Zuge des digitalen Paradigmas erst als analoge Technologien sichtbar werden, eröffnet zugleich die Möglichkeiten, sie per Interface digital anschlussfähig oder durch rundheraus neue digitale Technologien ersetzbar zu machen. Ein Alltagsbeispiel für Ersteres sind Plattenspieler, die über eine App angesteuert werden können, eines für Letzteres die digitale Verfügbarmachung eines ehemals nur auf Vinyl verfügbaren Musikstücks durch eine Server-App-Infrastruktur.

Mit der Idee von Interfaces verbindet sich einerseits die Vision einer generellen Übersetzbarkeit heterogener Elemente, andererseits eine Deutung dieser Elemente als intransparente Blackboxes, die qua Design in ein Kommunikationsverhältnis gebracht werden (Karafillidis 2018; Baecker 2020). Es handelt sich bei Interfaces also um eine spezifische Form der Medientechnologie, die die Unterscheidung digital/analog nutzt, aber zugleich paradoxerweise unsichtbar macht – nämlich dann, wenn das Interface tatsächlich die Komplexität des technologischen Unterbaus erfolgreich auf Distanz hält. Das Smartphone stellt die gegenwärtig wohl markanteste Entwicklungsstufe zeitgenössischer Interfaces hin zu anschmiegsamer Intuitivität und Intimität dar (Kaerlein 2018). Das Design von Hard- und Softwareinterfaces ist dabei stets der Versuch einer Reduktion von technologischer Komplexität. Jedoch konstituiert die komplexitätsreduzierende Verbindung, die durch Interfaces geschaffen wird, zugleich eine Trennung: Interfaces machen einerseits die technische Komplexität von Hard- und Software für Menschen unsichtbar und sorgen andererseits dafür, dass technische Apparate nicht die volle Komplexität der menschlichen Entitäten berücksichtigen müssen, sondern nur das, was das Interface als Input erscheinen lässt (Nake 2019 [1984], S. 39 f.). Interfaces eröffnen somit selektive Wege des Miteinander-in-Kontakt-Tretens, etwa durch Laute, Vibrationen, Wischgesten, Fingerabdrücke oder Texteingaben (Karafillidis 2018).

Über Beispiele wie das Smartphone hinaus wird der Interfacebegriff jedoch auch als Metapher gebraucht, die nicht nur Maschine-zu-Maschine- und Mensch-zu-Maschine-Kopplungen beschreibt, sondern, im Zuge einer kybernetischen Deutung des Sozialen, auch Mensch-zu-Mensch-Kopplungen. Interfaces sind in diesem Sinn dann allgemein „Simulationen von Situationen des menschlichen Umgangs mit Systemen“, ob sozialen und/oder technischen, also „Pragmatiken im Wortsinn“ (Schanze 2004, S. 77). Mit dem Begriff des Interfaces lässt sich somit präziser beschreiben, was in die Systemtheorie unter dem Begriff der strukturellen Kopplung firmiert. Diese leistet – ich zitiere erneut Luhmann – jene „Umformung analoger (gleichzeitiger, kontinuierlicher) Verhältnisse in digitale, die nach einem entweder/oder-Schema behandelt werden können“. Dadurch erfolgt eine „Intensivierung bestimmter Bahnen wechselseitiger Irritation bei hoher Indifferenz gegenüber der Umwelt im übrigen“ (Luhmann 1997, S. 779). Werbers (2004) oben paraphrasierte Kritik, dass Luhmann Sozialität immer schon digital begreife und die Systemtheorie daher medienhistorisch unsensibel sei, lässt sich konstruktiv bearbeiten, wenn man das, was Luhmann beschreibt, wiederum historisiert – als Purifizierung (Latour 2008), die sich sozial folgenreich in einer spezifischen kulturellen Praxis unter dem Paradigma digitaler Sozialität vollzieht.Footnote 11 Purifizierung meint hier ein Absehen von analoger Komplexität durch seine digitale Übersetzung und eine dadurch erwirkte Steigerung der Indifferenz gegenüber der Umwelt. Das „Analoge“ wird damit zu einem latenten Restbestand, der sich potenziell in Folgeoperationen selektiv nutzen lässt.

Auch und gerade zwischenmenschliche Sozialität wird in der Systemtheorie gedeutet als autopoietischer Kommunikationsprozess, der seine durch Interfaces gekoppelten Teilnehmer:innen latent als Blackboxes behandelt. Das ist nur dann nicht der Fall, wenn diese selbst Thema „intimer“ Kommunikation werden, die der Großteil sozialer Systeme als irrelevant behandelt. Im Anschluss an Lash lässt sich vermuten, dass es sich hierbei nicht um eine idiosynkratische Deutung handelt, sondern um die theoretische Widerspiegelung eines breiteren kulturellen Selbstverständnisses der digitalen Gesellschaft, die sich technisch und symbolisch am Paradigma des Interface orientiert. Vom Interface in dieser Form zu sprechen, bedeutet nicht, dass hier eine technisierte Sozialität nur als Semantik existiert und dass diese Semantik eine irgendwie eigentliche, natürliche, echte oder authentische Form der Verbindung lediglich verdecken würde. Medientheoretisch interessant ist vielmehr, wie eine Sozialwelt funktioniert, die ihre Kontaktzonen – symbolisch und technisch – als Schnittstellen konstruiert. Erst eine so konturierte Installation und Deutung von Sozialität erlaubt es nämlich, analoge Komplexität digital zu vergessen und auszublenden. Und eben dies ermöglicht jene „Symmetrisierungen von Mensch und Maschine“, welche bereits Heidegger (1983) der Kybernetik zugeschrieben hatte.

4.3 Kommunikative Symmetrisierung von Mensch und Maschine

Ein empirischer Fall, an dem sich dies konkretisieren lässt, ist die Kommunikation mit „Künstlicher Intelligenz“. Esposito (2017) und Baecker (2011) weisen, wie oben beschrieben, zurecht darauf hin, dass sich die Gesellschaft offenbar zunehmend daran gewöhnt, dass maschinelle Entitäten am Sozialen teilnehmen. Die Diskussion um den Einfluss von Algorithmen auf die Strukturierung sozialer Beziehungen und der Filterung der gesellschaftlichen Welt zeigen, dass der immer weitgehendere Einbau solcher Systeme in die Gesellschaft dieser mitunter unheimlich erscheint (Beer 2017). Eine noch größere Irritation des Sozialen stellt sich freilich ein, wenn Software nicht nur in Sozialität eingreift (etwa als Algorithmus in Social Media und Dating-Apps), sondern sich selbst als soziales Gegenüber anbietet – sprich: wenn sie als künstliche Kommunikationsteilnehmer:in konfiguriert und als solche wahrgenommen wird.

Dass man technischen Objekten mitunter Kommunikations- und Handlungsfähigkeit zuschreibt, ist zunächst nichts Außergewöhnliches und kein Phänomen, das sich erst seit der Erfindung des Computers beobachten ließe. Sozio-technische Delegationen von Handlungen an Technologien sind in der Moderne, dem Zeitalter der Maschinen, im Gegenteil üblich. Solche Delegationen konnten stets auch mit einer „anthropomorphe[n] Deutung technischer Abläufe“ (Schulz-Schaeffer 2008, S. 3139) einhergehen. Auch sprechende Apparate faszinierten die Gesellschaft bereits vor ihrer weiträumigen Implementierung, nicht zuletzt seit der Verbreitung von Telefonen, Radios und Tonträgern. Real- und Gedankenexperimente mit Computern, welche als „interaktive Artefakte“ (Suchman 2007) fungieren, haben die gesellschaftliche Vorstellung einer Kommunikation mit Maschinen allerdings seit Mitte des 20. Jahrhundert enorm katalysiert, was sich nicht zuletzt im Begriff der „Künstlichen Intelligenz“ manifestierte, die sich Alan Turing (1950) zufolge durch eine nicht mehr vom Menschen zu unterscheidende Kommunikationsfähigkeit auszeichnet. Aufsehenerregenden Beispielfällen wie Weizenbaums Programm „Eliza“, die als Symbole der Hoffnung oder Mahnung fungierten, zum Trotz blieb die Gesellschaft jedoch bis ins frühe 21. Jahrhundert insgesamt von kommunizierenden Maschinen weitgehend unbehelligt.

Das beginnt sich nun offenbar zu ändern: Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz, die auf Kommunikation angelegt ist, hat in den vergangenen Jahren rapide zugenommen. Der Unterschied zu früheren anthropomorphen Deutungen technischer Prozesse besteht darin, dass die computertechnischen Trägerobjekte von KI nicht nur okkasionell wie ein Mensch behandelt werden können, sondern explizit daraufhin konstruiert sind, in einen kommunikativen Austausch mit Menschen zu treten. In der Science Fiction wurden solche Sozialverhältnisse bereits in zahlreichen Varianten portraitiert,Footnote 12 in Computerspielen wurden sie in der gesellschaftlichen Breite eingeübt; aber erst seit Kurzem sind Interaktionen mit künstlichen Agenten zur möglichen Alltagserfahrung geworden, die über den Cyberspace spezifischer Spielwelten hinausgeht. Digitale Assistentinnen wie Siri und Alexa wandern in private Haushalte, Chatbots bevölkern Service-Hotlines, elektronische Reporter:innen verfassen Beiträge für journalistische Medien. Social Bots verbreiten Nachrichten in sozialen Medien, und Apps wie „Replika“ bieten sich als Gesprächspartner an, mit denen man persönliche Dinge besprechen kann und soll (Guzman und Lewis 2019).

Durch die Teilnahme von Software als Kommunikationsakteur werden allerdings nicht nur soziale Situationen „synthetisch“ (Knorr-Cetina 2012): Teilnehmer:innen am Sozialen können mittels digitaler Infrastrukturen nun selbst als synthetische Akteure in Erscheinung treten. Die sozialtheoretische Relevanz dieser Entwicklung ist enorm, ließ sich doch die moderne Gesellschaft bislang als kulturelle Ordnung beschreiben, die zwar einerseits komplexe Operationsketten an Technik delegiert, nicht-menschliche Entitäten aber andererseits nicht (mehr) als Gesellschaftsmitglieder akzeptiert (Lindemann 2011a; Luckmann 1980). Mit dem Aufkommen von digitalen Entitäten, denen nicht nur in der akademischen Fremdbeschreibung, sondern auch in der gesellschaftlichen Alltagspraxis – zumindest situativ – Handlungsträgerschaft, Autonomie, Kommunikations- und Beziehungsfähigkeit zugesprochen wird, erscheint das humanistische „Grenzregime“ (Lindemann 2009) der Moderne (wieder) problematisch.

Der systemtheoretische Kommunikationsbegriff, der dezidiert auf eine Wesensbestimmung der Kommunikationsteilnehmer:innen verzichtet, hat grundsätzlich kein Problem damit, auch Maschinen als Entitäten zu qualifizieren, denen Kommunikation zugerechnet werden kann (Baecker 2011; Esposito 2017). Um den Wandel einer kommunikativen Ordnung zu erklären, die solche künstlichen Entitäten normalisiert, reicht freilich der Verweis auf kontingente kommunikative Zurechnungsmodi kaum aus. Hierzu ist vielmehr der medientechnologische Wandel zu berücksichtigen: An der Sozialität mit Programmen, die schriftlich oder mündlich kommunizieren und dabei menschliche Rollen einnehmen, zeigt sich, dass elektronische Medien die Gesellschaft bereits darauf sozialisiert haben, mit einem Gegenüber zu kommunizieren, das ihnen als körperlose Stimme oder Textrepräsentation begegnet. Das Design der Interfaces, sei es ein Bildschirm oder ein Lautsprecher, macht es technisch irrelevant, ob „hinter“ dem Interface ein analoger Körper steht oder „nur“ technische Hard- und Software. Das Interface schafft ein soziales Spielfeld, durch das Mensch und Maschine in dieser Hinsicht symmetrisiert werden. Chatbots funktionieren nur in einer Gesellschaft, in der man Chatten bereits gewohnt ist, also bereit ist, sowohl sich durch maschinell vermittelten Text als Person repräsentieren zu lassen als auch andere Texte dieser Art ebenfalls als Äußerungen von Personen zu interpretieren.

Freilich kann man einräumen, dass die meisten Maschinen nur unter sehr voraussetzungsreichen Laborbedingungen einen „Turing-Test“ bestehen würden, also nicht mehr von Menschen unterscheidbar wären. Auf die bislang unzureichenden Kapazitäten der Maschinen kommt es an dieser Stelle nicht an, sondern nur auf die Form der Kommunikation, die sich über Bildschirme und Apparate vollzieht und die ohne ein körperlich ko-präsentes Gegenüber auskommt.Footnote 13 Entscheidend ist, dass die Gesellschaft sich daraufhin trainiert hat, solche medial „ausgedünnten“ – in den Worten Lashs: auf Kommunikation reduzierten – Relationen zwischen Entitäten überhaupt als Sozialität zu begreifen, an die angeschlossen werden kann, die Entitäten adressierbar macht, die digital gespeichert und sozial erinnert werden kann.

4.4 Unbekannte Infrastruktur

Die Voraussetzungen der Inklusion von Maschinen bleiben gerade dann unsichtbar, wenn diese Inklusion geradezu geräuschlos gelingt. Wenn ich etwa die Sprachassistentin Alexa in der heimischen Küche etwas frage und eine Antwort erhalte, in der das System mich mit meinem Namen anspricht, dann basiert diese Situation auf sozio-technischen Operationsketten, die räumlich weit entfernte Datenzentren involvieren.Footnote 14 Auf der Vorderbühne agieren die Nutzer:innen mit einer ansprechbaren, namentragenden Entität, die mit Mikrofonen „hört“ und mit Lautsprechern „spricht“. Auf der Hinterbühne der Interaktion mit dem System steht eine komplexe Infrastruktur. Gerade das, was hier als Sozialität aktualisiert wird, erfordert ein kompliziertes „Akteur-Netzwerk“ (Latour 2005), das in der spezifischen Situation unsichtbar und untergründig bleibt bzw., mit Luhmann gesprochen, als nicht weiter beachteter „Realitätsunterbau“ (Luhmann 1984, S. 43) fungiert. Eben hier zeigt sich aber nicht nur der blinde Fleck einer so installierten Sozialität, sondern zugleich ein blinder Fleck der systemtheoretischen Kommunikationstheorie. Die Inklusion maschineller Agenten basiert auf einer fundamentalen Veränderung der Infrastrukturen der Gesellschaft – oder mit Hörl (2011, S. 21) gesagt: ihres „ökotechnologischen“ Hintergrunds, eben ihres „Realitätsunterbaus“, der – Nigel Thrift zufolge – immer mehr selbst durch technologische Systeme gebildet wird:

All human activity depends upon an imputed background whose content is rarely questioned: it is there because it is there. It is the surface on which life floats. At one time, the bulk of this background would have consisted of entities which existed in a “natural order” [...]. But over time, this background has been filled with more and more “artificial” components until, at the present conjuncture, much of the background of life is “second nature”, the artificial equivalent of breathing. Roads, lighting, pipes, paper, screws and similar […] constituted the first wave of artificiality. Now a second wave of second nature is appearing, extending its fugitive presence though object frames as diverse as cables, formulae, wireless signals, screens, software, artificial fibres and so on. (Thrift 2004a, S. 584 f.)

Die Naturalisierung des Gebrauchs von Infrastrukturen bedeutet nun gerade nicht, dass das Wissen um die detaillierten Funktionsweisen von Infrastrukturen jedem Gesellschaftsmitglied verfügbar wäre. Vielmehr ist das genaue Gegenteil impliziert. Wenn Technik Infrastruktur geworden ist, dann ist sie so selbstverständlich geworden, dass sie im Alltag nicht mehr umfassend verstanden werden muss (Star 1999). Letztlich vertraut die Moderne der Funktionsfähigkeit der technischen Artefakte, die sie in die Welt setzt. Und sie tut dies auch und gerade dann, wenn ihr Funktionieren von den meisten Menschen nicht mehr nachvollzogen werden kann, wie Latour beobachtet:

[S]cientific and technical work is made invisible by its own success. When a machine runs efficiently, when a matter of fact is settled, one need focus only on its inputs and outputs and not on its internal complexity. Thus, paradoxically, the more science and technology succeed, the more opaque and obscure they become. (Latour 1999, S. 304)

Die Folge dieser Entwicklung ist laut Thrift ein „technologisches Unbewusstes“ (Thrift 2004b), eine Nicht-Reflexion der technologischen Bedingungen von Sozialität. Das praktische Nicht-Reflektieren der Bedingungen einer Praxis ist an sich nichts Neues für eine Soziologie, die davon ausgeht, dass Sozialität sich schlichtweg praktisch vollzieht, ohne ihre Vollzugsbedingungen in der Regel mitreflektieren zu müssen (Nassehi 2006). Doch macht es eben einen womöglich entscheidenden Unterschied, wenn die Bedingungen dieses Vollzugs nicht „natürlich“ sind, sondern es sich vielmehr um konstruierte Infrastrukturen handelt. Der zentrale Aspekt der von Thrift so genannten „second wave of second nature“ ist, dass der Hintergrund von Sozialität selbst operativ wird. Dies erst erlaubt überhaupt die Emergenz von Entitäten, die sich auf Basis eben dieses artifiziellen Hintergrunds selbst als soziale artifizielle Entitäten präsentieren.

Damit zeigt sich, dass „Interfacing“ (Lipp und Dickel 2022) und „Infrastructuration“ (Edwards 2019) bei der Verbreitung und Veralltäglichung der Computertechnologie als komplementäre Prozesse zu verstehen sind: Sie ermöglichen das soziale Vergessen des Analogen im operativen Vollzug.Footnote 15 Durch Interfaces wird die Computertechnologie zur Blackbox und kann gerade dadurch als selbstverständliche, aber unverstandene Infrastruktur fungieren. Ebenso können im Paradigma digitalisierter Sozialität menschliche Körper analog zur technischen Infrastruktur betrachtet werden. Auch sie können Blackbox werden und bleiben.

5 Schlussfolgerungen

Wie können Sozial- und Gesellschaftstheorien mit der Digitalisierung umgehen? Diese Frage stand am Beginn dieses Beitrags. Ich habe zu zeigen versucht, dass die Antwort auf diese Frage ganz entscheidend davon abhängt, welche Differenzen ein Begriffsapparat zwischen Analogem und Digitalen sowie zwischen Mensch und Maschine einbezieht (oder negiert). Sind die Begriffe etwa exklusiv auf menschliche Entitäten und ihre Beziehungen zugeschnitten? Setzen sie Mensch und Maschine in ein Symmetrieverhältnis? Wird das Humane von vornherein in einer Sprache beschrieben, die der digitalen Technologie entlehnt ist? Ein abschließendes Urteil über diese Fragen ist gegenwärtig noch kaum möglich. Damit man aber in der theoretischen Praxis nicht blind, sondern reflexiv operieren kann, ist eine Prüfung des theoretischen Apparats auf seine eigene technologische Bedingt- und Affiziertheit unbedingt erforderlich. Angesichts dieser Problemstellung bestand das Ziel des Beitrags darin, am Fall der Systemtheorie eine ebensolche Theoriefolgenabschätzung zu betreiben.

Die Entgrenzung von Kommunikation durch elektronische Medien verleitete Luhmann zu Spekulationen über eine Welt, in der die bereits symbolisch digitalisierte Kommunikation eine technologische Transformation durchläuft und primär durch digitale Maschinen vermittelt wird. Die Folge wäre eine radikale Veränderung im „Verhältnis von (zugänglicher) Oberfläche und Tiefe. […] Die Oberfläche ist jetzt der Bildschirm mit extrem beschränkter Inanspruchnahme menschlicher Sinne, die Tiefe dagegen die unsichtbare Maschine, die heute in der Lage ist, sich selbst von Moment zu Moment umzukonstruieren, zum Beispiel in Reaktion auf Benutzung.“ (Luhmann 1997, S. 304) Eine Welt der analog/digitalen Schnittstellen, in der „die menschlichen Körper […] an die Anschlußstellen gebunden“ werden, welche die Technik bereitstellt, „auch wenn es tragbare Geräte sind“ (ebd., S. 309), wäre eine Welt, in der die Operationsbedingungen von Kommunikation sich in die menschliche Unerkennbarkeit verflüchtigen würden, während sich Kommunikation zugleich totalisieren könnte (ebd., S. 308). Damit würde „die soziale Entkopplung des medialen Substrats der Kommunikation ins Extrem getrieben“ (ebd., S. 309, Hervorheb. weggel.).

Das lässt nicht zuletzt die Stellung des Menschen im Kontext einer kommunikativ totalisierten Welt kontingent erscheinen. Aus einer humanistischen Theorieperspektive wäre eine Gesellschaft, deren Sozialität vornehmlich oder ausschließlich als digitale Kommunikation prozessiert, sozial reduziert, ausgedünnt und verflacht (Lash 2007). Aus einer posthumanistischen Perspektive stellt sich dies gleichwohl umgekehrt dar. Die kommunikativ-formale Verengung des Sozialen bereitet dann nämlich den Boden für eine Erweiterung des Sozialen, womit auch nicht-menschliche Entitäten als Zurechnungspunkte einer Sozialität fungieren können, die sich nicht über Körperlichkeiten und Innerlichkeiten, sondern kommunikative Anschlussmöglichkeiten definiert (Esposito 2017). Wie gesehen geht es hier zugespitzt um eine grundsätzliche Bewertung von formal-funktionaler, substanzagnostischer Sozialität, wie sie für digitale Kommunikation charakteristisch ist, entweder als Katalysator von „Seinsvergessenheit“ oder aber als Einsatzpunkt einer Befreiung aus dem cartesianischen Paradigma, das nicht-menschliche Umwelt ausschließlich als nicht-responsive „Objektwelt“ begreifen will.

Nirgends wird die „Antiquiertheit des Menschen“ (Anders 1956) gegenwärtig wohl so konsequent in ihren möglichen Konsequenzen durchleuchtet wie in spekulativen Fiktionen der Posthumanität. So sind es etwa in Charles Stross Roman „Accelarando“ die hochautomatisierten Finanzinstrumente, die sich vom Menschen emanzipieren und eine sozio-ökonomische Ordnung errichten, die für den analogen Menschen irgendwann keine Verwendung mehr hat und diesen schließlich aus der Gesellschaft exkludiert (Stross 2006). Auch eine solche posthumane Gesellschaft würde die Systemtheorie Luhmanns wohl immer noch problemlos beschreiben können. Darin liegt ihre Stärke. Doch kann diese Stärke, wie gezeigt, zugleich auch eine Schwäche sein, wenn es nicht darum gehen soll, Digitalität in ihrer Immanenz, sondern Digitalisierung als Prozessform zu beschreiben. Dazu müssen auch die kulturellen und infrastrukturellen Voraussetzungen erschlossen werden, welche es erst möglich machen, die „pralle Körperlichkeit“ des Menschen weitgehend auszublenden. Festhalten lässt sich daher, dass mit der Systemtheorie eine Theorie digitaler Sozialität vorliegt, die ihre eigene Verflechtung mit dem Digitalen gerade in Zeiten technischer Digitalisierung reflektieren sollte. Dies dient nicht nur der theoretischen Selbstaufklärung, sondern macht zugleich darauf aufmerksam, wo eine Theorie gerade aufgrund ihres eigenen neokybernetisch geprägten Sinnhorizonts blinde Flecken aufweist. Das Programm einer solchen Selbstaufklärung über kybernetisch-digitale Semantiken hat Erich Hörl wie folgt zusammengefasst:

The epoché called for today involves the bracketing of cybernetic presumptions and their uncritically accepted basic terms. […] Be it as theory or technology, the spreading „cybernetic hypothesis“ has a firm grip on our conceptual politics and self-descriptions […]. It may be necessary to bracket (though not eliminate, avoid or delete), among others, terms like complexity, emergence, autopoiesis, coupling and recursions, all of which characterize the form of non-trivial rationality. (Hörl 2012, S. 117)

Ein theoretisch-selbstreflexiver Umgang mit der Zeitgebundenheit der Systemtheorie könnte somit darin bestehen, ihren Begriffsapparat nicht aufzugeben, sondern einzuklammern. Wie beschrieben lautet mein Vorschlag vor diesem Hintergrund, die Interfaces, an denen Analoges in Digitales technisch und symbolisch umgeformt und übersetzt wird, verstärkt in den Blick zu nehmen. Denn so lässt sich beobachten, wie System und Umwelt durch Digitalisierung spezifiziert werden: eben als digitales System und dessen analoge Umwelt. Was hierbei an Sozialität möglich wird, was verschwindet, was an den Rand gedrängt oder in neuer Weise respezifiziert wird – darin liegt ein zentrales medientheoretisches Desiderat für zeitgenössische Sozial- und Gesellschaftstheorien. Darauf aufbauend lässt sich dann fragen, inwiefern das zeitgenössische Selbstverständnis des Sozialen sich tatsächlich dem Verständnis des Sozialen in der Systemtheorie anschmiegt, inwiefern also die These Nassehis zutrifft, dass nicht nur die Systemtheorie Gesellschaft kybernetisch sieht, sondern diese sich auch ganz unabhängig von soziologischen Deutungsangeboten selbst zunehmend neokybernetisch begreift und entwirft. Eine systemtheoretische Soziologie der Digitalisierung muss zukünftig also zeigen können, ob und wie digitale Purifizierungen eine Gesellschaft hervorbringen, die den Beschreibungen der Systemtheorie entspricht – eine Gesellschaft nämlich, in der anschlussfähige Sozialität sich immer weiter von der Realfiktion des Akteurs aus Fleisch und Blut entkoppelt. Eine Gesellschaft, die ihre analoge Umwelt digital vergessen kann.