Der kybernetische Blick
Die Beobachtungen von Lash und Hörl zur Zeitgebundenheit der Systemtheorie sind überaus hilfreich, um das Verhältnis von Systemtheorie und Digitalisierung näher zu spezifizieren. Sie sind jedoch kaum geeignet, die Systemtheorie in einer naiv-ideologiekritischen Manier zu dekonstruieren. Denn es kann als eine der zentralen Lehren des im 20. Jahrhundert geführten „Streits um die Wissenssoziologie“ (Meja und Stehr 1982) festgehalten werden, dass der Nachweis der sozialen Positionalität von Denk- und Sprechweisen nicht deren Falschheit impliziert. Gerade im Fall der Systemtheorie würde der Versuch einer solchen Entlarvung das selbstreflexive Potenzial dieser Theorie verkennen. Sie ist – auch und gerade „ihrem Selbstverständnis nach“ – eine Theorie der modernen Gesellschaft, die sich ihres „spezifischen Modernitätsindex[es]“ bewusst ist, insofern sie die „gesellschaftshistorische Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit nicht in einem sozialtheoretisch begründeten Allgemeinen sieht, sondern vielmehr in der Strukturform der Moderne selbst, als deren Teil sie sich begreift“ (Göbel 2011, S. 153). Damit wird das Konstitutionsverhältnis von Gesellschafts- und Sozialtheorie umgedreht (ebd., S. 152). Das wiederum bedeutet, dass sich eine ahistorische Lesart der Systemtheorie eigentlich ihren eigenen Prämissen folgend verbietet. Werber (2004) führt somit zwar zu Recht an, dass die Systemtheorie Sozialität immer schon als digitale Informationsverarbeitung denkt, welche einer analogen Umwelt abgerungen wird. Doch reflektiert diese Theorie bereits, dass sie im Zuge der sozialtheoretischen Generalisierung ihre moderne Deutung auf vormoderne Epochen überträgt. Sie ist nach eigenem Verständnis als Theorie der Moderne eben auch eine Theorie der Moderne.
Dieser Gedanke kann fortentwickelt werden: Im Anschluss an Lash lässt sich so die Systemtheorie in der Tat nicht nur als Theorie des Digitalen, sondern auch und gerade als Theorie des Digitalen lesen, also als Theorie, die nicht das Soziale schlechthin beschreibt – was immer damit gemeint sein könnte –, sondern eine spezifische Form von Sozialität: digitale Sozialität. Das impliziert, dass man die bei Luhmann überaus scharfe Grenze von digitaler Kommunikation und analoger Nicht-Kommunikation nicht als immer schon gegebenen Ausgangspunkt der Analyse voraussetzt, sondern selbst als Produkt sozio-medialer Evolution betrachten kann.Footnote 8 Luhmann selbst gibt dazu Hinweise – nämlich dann, wenn er einräumt, dass „[d]ie Grenze des Kommunikationssystems zur Umwelt“ durch mediale Umbrüche immer „schärfer gezogen“ wird (Luhmann 1997, S. 283). Sprache, Schrift und Buchdruck erscheinen damit bei Luhmann bereits als medientechnologische Brüche, welche Kommunikation und Nicht-Kommunikation immer klarer voneinander unterscheiden und damit zur Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems selbst beitragen. Jeder weitere Medienumbruch schärft dann die Grenzen der Kommunikation auf wiederum spezifische Weise und rekonfiguriert, was zweifelsfrei als Kommunikation gelten kann. So gibt erst Sprache die Möglichkeit, die analoge Fülle von Interaktionszusammenhängen hinter sich zu lassen, und erst mit der Schrift entwickelt sich ein Zeichensystem, das Sinn symbolisiert und dessen Selektionsspielraum zugleich erweitert und einschränkt. Die Verbreitung von Schrift, die im Buchdruck einen vorläufigen Höhepunkt findet, bewirkt, dass nur noch diejenigen fraglos als soziale Akteure gelten, die auch potenzielle Autoren sein könnten – was Bäume, Tiere und Geister aus dem Bereich des Sozialen verbannt (Luhmann 1997, S. 249 ff.).
Aus einer solchen Perspektive erscheint es dann folgerichtig, dass die von Lash diagnostizierte „Reduktion“ des Sozialen auf Kommunikation in der sogenannten Informationsgesellschaft einen neuen Höhepunkt erreicht hat, der sich wie folgt zuspitzen ließe: Nur noch das, was sich digitalisieren lässt, gilt im Paradigma dieser spezifischen soziokulturellen Formation als zweifelsfrei sozial. Wenn Luhmann (1996, S. 9) in der Blütezeit der analogen Massenmedien die These aufstellte, dass fast alles, was die Gesellschaft über sich weiß, aus den Massenmedien stammt, dann könnten wir heute sagen: fast alles, was Gesellschaft heute (für sich) ist, ist das, was digital erfasst, mitgeteilt und abrufbar gemacht werden kann.Footnote 9 Digital mediatisierte Kommunikation wird zum Regelfall, wodurch Interaktionen unter körperlich Anwesenden genauso einen neuen Sinn erlangen wie alternative Modi medialer Vermittlung – wie etwa der handschriftliche Brief. Die digitale Gesellschaft, so daher meine These, zeichnet sich also nicht allein dadurch aus, dass immer mehr Menschen immer digitaler kommunizieren. Vielmehr ist es dann legitim von einer digitalen Gesellschaft zu sprechen, wenn in einer spezifischen Gesellschaftsformation Sozialität selbst von einem digitalen Paradigma her verstanden wird, wie von Udo Thiedeke beschrieben:
Begriffe aus der Computertechnik und Informatik [haben sich] ganz selbstverständlich als Beschreibung alltäglicher Lebenszusammenhänge etabliert. Sie sind anscheinend auch unverzichtbar geworden, um uns einander unsere Definitionen der Welt und der sozialen Beziehungen in dieser Welt zu vermitteln. Phänomene und Effekte des Umgangs mit Computern beeinflussen auf diese Weise unsere Beschreibungen der Wirklichkeit und somit alle Bereiche des gesellschaftlichen Diskurses. (Thiedeke 2018, S. 67)
Solche Überlegungen betten sich nicht nur in die Beobachtungen von Lash und Hörl ein, sondern verweisen wesentlich allgemeiner auf die Notwendigkeit einer Medienarchäologie von Kybernetik, Digitalität und Information (Hagner und Hörl 2008; Hayles 1999; Weber 2012). Dabei lässt sich durchaus an Nassehis (2019, S. 82 ff.) Interpretation der Heidegger’schen Techniktheorie anschließen: Das von Heidegger (2000) als Gefahr beschworene „Gestell“, das die Welt und den Menschen rekonfiguriert, entspricht einer Gesellschaft, die sich und ihre Umwelt technologisch, genauer: „informationsförmig“, beschreibt. „Wir sehen“, so Nassehi (2019, S. 88), „heute kybernetisch – ob wir wollen oder nicht“. Das von Shannon und Weaver (1949) am Fall analoger Sachtechnik entworfene Modell von Kommunikation, welche sich für die Kommunikationstheorie insgesamt – und nicht zuletzt eben für die soziologische Systemtheorie – als außerordentlich prägend erwiesen hat, kann Nassehi zufolge als normalisiertes Modell moderner Sozialität gelten. Als digitalisierte Kommunikation könne diese Sozialität analoge Störungen als Rauschen ausschließen. Die Ordnungsbildung erfolge zwar auf dem „Realitätsunterbau“ (Luhmann 1984, S. 43) dieses Rauschens, aber der (auch symbolische) Technisierungsgrad von Sozialität kann dieses Rauschen sukzessiv operativ vergessen. Da der Mensch in der modernen Gesellschaft hauptsächlich als Rollenträger, und nicht als „ganzes Wesen“ auftrete, sei das Rauschen seiner „analogen Fülle“ in den meisten gesellschaftlichen Zusammenhängen von vornherein irrelevant. Wichtig sei in den meisten Kontexten allein seine rollenbedingte funktionale Informationsträgerschaft. Insofern agiere der Mensch in der modernen Gesellschaft in rein formaler Hinsicht immer schon vornehmlich „digital, also als Informationswert“ (Nassehi 2019, S. 94) – ganz unabhängig von der Ubiquität digitaler Technologien in seiner Umwelt.
Wohlgemerkt: Das Argument Nassehis lautet, dass es sich hierbei nicht ausschließlich um eine kontingente theoretische Beschreibung handelt, sondern zugleich um ein implizites Selbstverständnis der Sozialform der Gegenwartsgesellschaft. Nicht nur die Systemtheorie interessiere sich wenig für das individuelle Innenleben ihrer Blackboxes, sondern die moderne Form des Sozialen funktioniere auf derselben Grundlage: Man bezahlt an der Supermarktkasse, folgt dem Hinweis der Verkehrspolizistin und zitiert den wissenschaftlichen Autor, ohne über das „Innenleben“ dieser Akteure einen weiteren Gedanken verschwenden zu müssen. Man schließt an Informationen an, ohne die Person, welche als Zurechnungspunkt dieser Information fungiert, in ihrer „analogen“ Komplexität rekonstruieren zu müssen.
Für Nassehi (2019) ist nun das Argument zentral, dass dieser Prozess gerade nicht erst durch die Computertechnologie hervorgebracht, sondern durch sie „lediglich“ verstärkt, erweitert und verfestigt wird. Hörl und Lash würden hier dagegenhalten, dass dies freilich die Beobachtung einer partikularen Theorie in einer historisierbaren Epoche ist, die sich bereits auf einen kybernetischen Beobachtungsstandpunkt begeben hat. Die Systemtheorie ist damit ein Ausdruck eines semantischen Apparats, der sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts und bis hinein ins 21. Jahrhundert digital umgeschrieben hat und weiterhin fortlaufend umschreibt. Mit Lash und Hörl lässt sich dann, wie bereits oben ausgeführt, der Verdacht formulieren, dass diese Theorie gerade aufgrund ihrer digitalen Verstrickung Beschreibungsdefizite aufweist: Für Lash ist Luhmann derjenige, der die Reduktion des Sozialen auf Kommunikation im Informationszeitalter auf den Punkt gebracht hat. Damit ist aus dieser Perspektive aber auch klar, dass es Sozialitäten geben kann, die mit dem systemtheoretischen Vokabular nicht angemessen zu beschreiben wären. Hörl wiederum erblickt in der Systemtheorie eine Theorie, die das Technoimaginäre unserer Epoche wie keine andere zum Ausdruck bringt, dabei aber so tief mit der Semantik des Digitalen verwoben ist, dass ihr die technologische Umformung der analogen Umwelt entgeht.
Diese kritischen Diagnosen gebrauche ich im Folgenden als Irritationen, um selbst einen blinden Fleck der Systemtheorie auszuleuchten und ein Desiderat für eine Sozialtheorie der Digitalisierung zu explizieren. Dabei begreife ich Digitalisierung zunächst erstens im basalen Sinne einer Transformation des Analogen in etwas Digitales sowie zweitens im Sinne der Bedingungen und Folgen dieser Transformation. Die Rückbesinnung auf den technischen Begriffskern von Digitalisierung ermöglicht dabei eine Distanz zu der gegenwärtig ubiquitären Verwendung des Begriffs und seiner unspezifischen Ausweitung. Zugleich gilt es freilich, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Einführung der Unterscheidung digital/analog einen Unterschied macht für vielfältige gesellschaftliche Phänomene. Die Unterscheidung bildet daher einen plausiblen Ausgangspunkt, aber freilich keinen Schlusspunkt soziologischer Analytik.Footnote 10
Interfaces: analog/digital
Wenn Digitalisierung zunächst bedeuten soll, dass Analoges digital wird, müsste eine Theorie der Digitalisierung auch gerade beschreiben können, wie es zu einer solchen Umformung analoger in digitale Verhältnisse kommt (Schröter 2004). Sie sollte daher gerade nicht (wie von Roth et al. vorgeschlagen) in Eigenregie analoge Beschreibungen in digitale Unterscheidungen transformieren. Vielmehr müsste sie die Umformung von Analogem in Digitales selbst zum Gegenstand der Analyse machen. Dies leisten systemtheoretische Beschreibungsangebote bislang nur unzureichend. Als Theorie digitaler Sozialität versteht sich die gegenwärtige Systemtheorie spätestens seit Nassehis Buch Muster auch als eine „Theorie der digitalen Gesellschaft“ und reflektiert damit gewissermaßen bruchlos die Immanenz und Geschlossenheit ihres Gegenstandes. Schon aufgrund dieser fehlenden Objektdistanz kann sie jedoch keine Theorie sein, mit der sich die Transformation von analog zu digital – und ggf. zurück – umstandslos rekonstruieren ließe.
Es wäre theoretisch zu kurz gegriffen, das Analoge als eine ursprüngliche Natürlichkeit zu begreifen, vom dem das Digitale sich nun künstlich abhebt, oder als eine irgendwie „eigentlichere“ Realität, die dann digital virtualisiert wird. Vielmehr ist die Unterscheidung analog/digital als eine Unterscheidung ernst zu nehmen, bei der die analoge Seite erst durch ihr digitales Gegenüber spezifiziert wird – und vice versa. Die Besonderheiten dessen, was analog genannt werden kann, treten also vereinfacht gesagt erst durch Digitalität hervor. So kann man etwa bei nunmehr als „analog“ erscheinenden Elementen von Sozialität – wie etwa der Körpersprache – einen Verweisungsreichtum beobachten, der als solcher überhaupt erst auffällig wird in Differenz zu jener spezifischen Negationsfähigkeit, wie sie zunächst durch die Sprache hergestellt, dann durch die Schrift konkretisiert und schließlich durch die digitaltechnisch-binäre Differenz von 0 und 1 auf radikal zugespitzt formalisierte Weise geleistet wird (Baecker 2017, S. 4). Der Formalisierungsimperativ, der mit jeder Art von Codierungssystem, von der verschriftlichten Lautsprache bis zum Computerprogramm, verbunden ist, macht also erst ex negativo weniger formalisierte (oder auch formalisierbare) Weisen von Kommunikation unterscheidend intelligibel.
Um die Unterscheidung von analog und digital selbst in den Fokus dessen zu rücken, was als Digitalisierung zu beschreiben ist, lässt sich auf den kultur- und medienwissenschaftlich breit diskutierten Begriff des Interfaces zurückgreifen (Galloway 2012; Hookway 2014; Karafillidis 2018; Scolari 2012). Mit Interfaces werden Beziehungen zwischen Menschen und Artefakten sowie Menschen und Artefakten untereinander in besonderer Weise materiell gebaut und symbolisch gedeutet: Interfaces bilden Orte der Übersetzung vom Analogen ins Digitale – und vice versa. Interfaces schaffen a) Grenzen zwischen Entitäten, spezifizieren dabei b) die Entitäten auf den beiden Seiten der Grenze und definieren c) Übergangs‑, Zutritts- und Interaktionswege, mit denen Kontakte möglich werden. Interfaces machen Blackboxes füreinander kompatibel und disponibel (Lipp und Dickel 2022). Der Begriff kann zunächst verschiedene Ebenen von Medialität bezeichnen. So können z. B. einerseits die Input- und Output-Möglichkeiten von Geräten wie Smartphones (visuelle Darstellungen, Touchscreens, Töne) als Interfaces begriffen werden. Anderseits fungieren mediale Artefakte wie Smartphones selbst als Interfaces, die einen spezifischen Zugang zur digitalen Welt ermöglichen und sich in dieser Hinsicht von anderen Technologien wie dem Laptop unterscheiden. Interfaces sind aber nicht nur als Artefakte relevant. Im Begriff des Interface kommt vielmehr eine kybernetische Neubestimmung des Verhältnisses von Mensch und Technik selbst zum Ausdruck: Der Gebrauch von Technik verwandelt sich mit der Ausbreitung der Computertechnik zunehmend in eine Bedienung von Interfaces (Hookway 2014, S. 1). Dass nichtdigitale Technologien im Zuge des digitalen Paradigmas erst als analoge Technologien sichtbar werden, eröffnet zugleich die Möglichkeiten, sie per Interface digital anschlussfähig oder durch rundheraus neue digitale Technologien ersetzbar zu machen. Ein Alltagsbeispiel für Ersteres sind Plattenspieler, die über eine App angesteuert werden können, eines für Letzteres die digitale Verfügbarmachung eines ehemals nur auf Vinyl verfügbaren Musikstücks durch eine Server-App-Infrastruktur.
Mit der Idee von Interfaces verbindet sich einerseits die Vision einer generellen Übersetzbarkeit heterogener Elemente, andererseits eine Deutung dieser Elemente als intransparente Blackboxes, die qua Design in ein Kommunikationsverhältnis gebracht werden (Karafillidis 2018; Baecker 2020). Es handelt sich bei Interfaces also um eine spezifische Form der Medientechnologie, die die Unterscheidung digital/analog nutzt, aber zugleich paradoxerweise unsichtbar macht – nämlich dann, wenn das Interface tatsächlich die Komplexität des technologischen Unterbaus erfolgreich auf Distanz hält. Das Smartphone stellt die gegenwärtig wohl markanteste Entwicklungsstufe zeitgenössischer Interfaces hin zu anschmiegsamer Intuitivität und Intimität dar (Kaerlein 2018). Das Design von Hard- und Softwareinterfaces ist dabei stets der Versuch einer Reduktion von technologischer Komplexität. Jedoch konstituiert die komplexitätsreduzierende Verbindung, die durch Interfaces geschaffen wird, zugleich eine Trennung: Interfaces machen einerseits die technische Komplexität von Hard- und Software für Menschen unsichtbar und sorgen andererseits dafür, dass technische Apparate nicht die volle Komplexität der menschlichen Entitäten berücksichtigen müssen, sondern nur das, was das Interface als Input erscheinen lässt (Nake 2019 [1984], S. 39 f.). Interfaces eröffnen somit selektive Wege des Miteinander-in-Kontakt-Tretens, etwa durch Laute, Vibrationen, Wischgesten, Fingerabdrücke oder Texteingaben (Karafillidis 2018).
Über Beispiele wie das Smartphone hinaus wird der Interfacebegriff jedoch auch als Metapher gebraucht, die nicht nur Maschine-zu-Maschine- und Mensch-zu-Maschine-Kopplungen beschreibt, sondern, im Zuge einer kybernetischen Deutung des Sozialen, auch Mensch-zu-Mensch-Kopplungen. Interfaces sind in diesem Sinn dann allgemein „Simulationen von Situationen des menschlichen Umgangs mit Systemen“, ob sozialen und/oder technischen, also „Pragmatiken im Wortsinn“ (Schanze 2004, S. 77). Mit dem Begriff des Interfaces lässt sich somit präziser beschreiben, was in die Systemtheorie unter dem Begriff der strukturellen Kopplung firmiert. Diese leistet – ich zitiere erneut Luhmann – jene „Umformung analoger (gleichzeitiger, kontinuierlicher) Verhältnisse in digitale, die nach einem entweder/oder-Schema behandelt werden können“. Dadurch erfolgt eine „Intensivierung bestimmter Bahnen wechselseitiger Irritation bei hoher Indifferenz gegenüber der Umwelt im übrigen“ (Luhmann 1997, S. 779). Werbers (2004) oben paraphrasierte Kritik, dass Luhmann Sozialität immer schon digital begreife und die Systemtheorie daher medienhistorisch unsensibel sei, lässt sich konstruktiv bearbeiten, wenn man das, was Luhmann beschreibt, wiederum historisiert – als Purifizierung (Latour 2008), die sich sozial folgenreich in einer spezifischen kulturellen Praxis unter dem Paradigma digitaler Sozialität vollzieht.Footnote 11 Purifizierung meint hier ein Absehen von analoger Komplexität durch seine digitale Übersetzung und eine dadurch erwirkte Steigerung der Indifferenz gegenüber der Umwelt. Das „Analoge“ wird damit zu einem latenten Restbestand, der sich potenziell in Folgeoperationen selektiv nutzen lässt.
Auch und gerade zwischenmenschliche Sozialität wird in der Systemtheorie gedeutet als autopoietischer Kommunikationsprozess, der seine durch Interfaces gekoppelten Teilnehmer:innen latent als Blackboxes behandelt. Das ist nur dann nicht der Fall, wenn diese selbst Thema „intimer“ Kommunikation werden, die der Großteil sozialer Systeme als irrelevant behandelt. Im Anschluss an Lash lässt sich vermuten, dass es sich hierbei nicht um eine idiosynkratische Deutung handelt, sondern um die theoretische Widerspiegelung eines breiteren kulturellen Selbstverständnisses der digitalen Gesellschaft, die sich technisch und symbolisch am Paradigma des Interface orientiert. Vom Interface in dieser Form zu sprechen, bedeutet nicht, dass hier eine technisierte Sozialität nur als Semantik existiert und dass diese Semantik eine irgendwie eigentliche, natürliche, echte oder authentische Form der Verbindung lediglich verdecken würde. Medientheoretisch interessant ist vielmehr, wie eine Sozialwelt funktioniert, die ihre Kontaktzonen – symbolisch und technisch – als Schnittstellen konstruiert. Erst eine so konturierte Installation und Deutung von Sozialität erlaubt es nämlich, analoge Komplexität digital zu vergessen und auszublenden. Und eben dies ermöglicht jene „Symmetrisierungen von Mensch und Maschine“, welche bereits Heidegger (1983) der Kybernetik zugeschrieben hatte.
Kommunikative Symmetrisierung von Mensch und Maschine
Ein empirischer Fall, an dem sich dies konkretisieren lässt, ist die Kommunikation mit „Künstlicher Intelligenz“. Esposito (2017) und Baecker (2011) weisen, wie oben beschrieben, zurecht darauf hin, dass sich die Gesellschaft offenbar zunehmend daran gewöhnt, dass maschinelle Entitäten am Sozialen teilnehmen. Die Diskussion um den Einfluss von Algorithmen auf die Strukturierung sozialer Beziehungen und der Filterung der gesellschaftlichen Welt zeigen, dass der immer weitgehendere Einbau solcher Systeme in die Gesellschaft dieser mitunter unheimlich erscheint (Beer 2017). Eine noch größere Irritation des Sozialen stellt sich freilich ein, wenn Software nicht nur in Sozialität eingreift (etwa als Algorithmus in Social Media und Dating-Apps), sondern sich selbst als soziales Gegenüber anbietet – sprich: wenn sie als künstliche Kommunikationsteilnehmer:in konfiguriert und als solche wahrgenommen wird.
Dass man technischen Objekten mitunter Kommunikations- und Handlungsfähigkeit zuschreibt, ist zunächst nichts Außergewöhnliches und kein Phänomen, das sich erst seit der Erfindung des Computers beobachten ließe. Sozio-technische Delegationen von Handlungen an Technologien sind in der Moderne, dem Zeitalter der Maschinen, im Gegenteil üblich. Solche Delegationen konnten stets auch mit einer „anthropomorphe[n] Deutung technischer Abläufe“ (Schulz-Schaeffer 2008, S. 3139) einhergehen. Auch sprechende Apparate faszinierten die Gesellschaft bereits vor ihrer weiträumigen Implementierung, nicht zuletzt seit der Verbreitung von Telefonen, Radios und Tonträgern. Real- und Gedankenexperimente mit Computern, welche als „interaktive Artefakte“ (Suchman 2007) fungieren, haben die gesellschaftliche Vorstellung einer Kommunikation mit Maschinen allerdings seit Mitte des 20. Jahrhundert enorm katalysiert, was sich nicht zuletzt im Begriff der „Künstlichen Intelligenz“ manifestierte, die sich Alan Turing (1950) zufolge durch eine nicht mehr vom Menschen zu unterscheidende Kommunikationsfähigkeit auszeichnet. Aufsehenerregenden Beispielfällen wie Weizenbaums Programm „Eliza“, die als Symbole der Hoffnung oder Mahnung fungierten, zum Trotz blieb die Gesellschaft jedoch bis ins frühe 21. Jahrhundert insgesamt von kommunizierenden Maschinen weitgehend unbehelligt.
Das beginnt sich nun offenbar zu ändern: Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz, die auf Kommunikation angelegt ist, hat in den vergangenen Jahren rapide zugenommen. Der Unterschied zu früheren anthropomorphen Deutungen technischer Prozesse besteht darin, dass die computertechnischen Trägerobjekte von KI nicht nur okkasionell wie ein Mensch behandelt werden können, sondern explizit daraufhin konstruiert sind, in einen kommunikativen Austausch mit Menschen zu treten. In der Science Fiction wurden solche Sozialverhältnisse bereits in zahlreichen Varianten portraitiert,Footnote 12 in Computerspielen wurden sie in der gesellschaftlichen Breite eingeübt; aber erst seit Kurzem sind Interaktionen mit künstlichen Agenten zur möglichen Alltagserfahrung geworden, die über den Cyberspace spezifischer Spielwelten hinausgeht. Digitale Assistentinnen wie Siri und Alexa wandern in private Haushalte, Chatbots bevölkern Service-Hotlines, elektronische Reporter:innen verfassen Beiträge für journalistische Medien. Social Bots verbreiten Nachrichten in sozialen Medien, und Apps wie „Replika“ bieten sich als Gesprächspartner an, mit denen man persönliche Dinge besprechen kann und soll (Guzman und Lewis 2019).
Durch die Teilnahme von Software als Kommunikationsakteur werden allerdings nicht nur soziale Situationen „synthetisch“ (Knorr-Cetina 2012): Teilnehmer:innen am Sozialen können mittels digitaler Infrastrukturen nun selbst als synthetische Akteure in Erscheinung treten. Die sozialtheoretische Relevanz dieser Entwicklung ist enorm, ließ sich doch die moderne Gesellschaft bislang als kulturelle Ordnung beschreiben, die zwar einerseits komplexe Operationsketten an Technik delegiert, nicht-menschliche Entitäten aber andererseits nicht (mehr) als Gesellschaftsmitglieder akzeptiert (Lindemann 2011a; Luckmann 1980). Mit dem Aufkommen von digitalen Entitäten, denen nicht nur in der akademischen Fremdbeschreibung, sondern auch in der gesellschaftlichen Alltagspraxis – zumindest situativ – Handlungsträgerschaft, Autonomie, Kommunikations- und Beziehungsfähigkeit zugesprochen wird, erscheint das humanistische „Grenzregime“ (Lindemann 2009) der Moderne (wieder) problematisch.
Der systemtheoretische Kommunikationsbegriff, der dezidiert auf eine Wesensbestimmung der Kommunikationsteilnehmer:innen verzichtet, hat grundsätzlich kein Problem damit, auch Maschinen als Entitäten zu qualifizieren, denen Kommunikation zugerechnet werden kann (Baecker 2011; Esposito 2017). Um den Wandel einer kommunikativen Ordnung zu erklären, die solche künstlichen Entitäten normalisiert, reicht freilich der Verweis auf kontingente kommunikative Zurechnungsmodi kaum aus. Hierzu ist vielmehr der medientechnologische Wandel zu berücksichtigen: An der Sozialität mit Programmen, die schriftlich oder mündlich kommunizieren und dabei menschliche Rollen einnehmen, zeigt sich, dass elektronische Medien die Gesellschaft bereits darauf sozialisiert haben, mit einem Gegenüber zu kommunizieren, das ihnen als körperlose Stimme oder Textrepräsentation begegnet. Das Design der Interfaces, sei es ein Bildschirm oder ein Lautsprecher, macht es technisch irrelevant, ob „hinter“ dem Interface ein analoger Körper steht oder „nur“ technische Hard- und Software. Das Interface schafft ein soziales Spielfeld, durch das Mensch und Maschine in dieser Hinsicht symmetrisiert werden. Chatbots funktionieren nur in einer Gesellschaft, in der man Chatten bereits gewohnt ist, also bereit ist, sowohl sich durch maschinell vermittelten Text als Person repräsentieren zu lassen als auch andere Texte dieser Art ebenfalls als Äußerungen von Personen zu interpretieren.
Freilich kann man einräumen, dass die meisten Maschinen nur unter sehr voraussetzungsreichen Laborbedingungen einen „Turing-Test“ bestehen würden, also nicht mehr von Menschen unterscheidbar wären. Auf die bislang unzureichenden Kapazitäten der Maschinen kommt es an dieser Stelle nicht an, sondern nur auf die Form der Kommunikation, die sich über Bildschirme und Apparate vollzieht und die ohne ein körperlich ko-präsentes Gegenüber auskommt.Footnote 13 Entscheidend ist, dass die Gesellschaft sich daraufhin trainiert hat, solche medial „ausgedünnten“ – in den Worten Lashs: auf Kommunikation reduzierten – Relationen zwischen Entitäten überhaupt als Sozialität zu begreifen, an die angeschlossen werden kann, die Entitäten adressierbar macht, die digital gespeichert und sozial erinnert werden kann.
Unbekannte Infrastruktur
Die Voraussetzungen der Inklusion von Maschinen bleiben gerade dann unsichtbar, wenn diese Inklusion geradezu geräuschlos gelingt. Wenn ich etwa die Sprachassistentin Alexa in der heimischen Küche etwas frage und eine Antwort erhalte, in der das System mich mit meinem Namen anspricht, dann basiert diese Situation auf sozio-technischen Operationsketten, die räumlich weit entfernte Datenzentren involvieren.Footnote 14 Auf der Vorderbühne agieren die Nutzer:innen mit einer ansprechbaren, namentragenden Entität, die mit Mikrofonen „hört“ und mit Lautsprechern „spricht“. Auf der Hinterbühne der Interaktion mit dem System steht eine komplexe Infrastruktur. Gerade das, was hier als Sozialität aktualisiert wird, erfordert ein kompliziertes „Akteur-Netzwerk“ (Latour 2005), das in der spezifischen Situation unsichtbar und untergründig bleibt bzw., mit Luhmann gesprochen, als nicht weiter beachteter „Realitätsunterbau“ (Luhmann 1984, S. 43) fungiert. Eben hier zeigt sich aber nicht nur der blinde Fleck einer so installierten Sozialität, sondern zugleich ein blinder Fleck der systemtheoretischen Kommunikationstheorie. Die Inklusion maschineller Agenten basiert auf einer fundamentalen Veränderung der Infrastrukturen der Gesellschaft – oder mit Hörl (2011, S. 21) gesagt: ihres „ökotechnologischen“ Hintergrunds, eben ihres „Realitätsunterbaus“, der – Nigel Thrift zufolge – immer mehr selbst durch technologische Systeme gebildet wird:
All human activity depends upon an imputed background whose content is rarely questioned: it is there because it is there. It is the surface on which life floats. At one time, the bulk of this background would have consisted of entities which existed in a “natural order” [...]. But over time, this background has been filled with more and more “artificial” components until, at the present conjuncture, much of the background of life is “second nature”, the artificial equivalent of breathing. Roads, lighting, pipes, paper, screws and similar […] constituted the first wave of artificiality. Now a second wave of second nature is appearing, extending its fugitive presence though object frames as diverse as cables, formulae, wireless signals, screens, software, artificial fibres and so on. (Thrift 2004a, S. 584 f.)
Die Naturalisierung des Gebrauchs von Infrastrukturen bedeutet nun gerade nicht, dass das Wissen um die detaillierten Funktionsweisen von Infrastrukturen jedem Gesellschaftsmitglied verfügbar wäre. Vielmehr ist das genaue Gegenteil impliziert. Wenn Technik Infrastruktur geworden ist, dann ist sie so selbstverständlich geworden, dass sie im Alltag nicht mehr umfassend verstanden werden muss (Star 1999). Letztlich vertraut die Moderne der Funktionsfähigkeit der technischen Artefakte, die sie in die Welt setzt. Und sie tut dies auch und gerade dann, wenn ihr Funktionieren von den meisten Menschen nicht mehr nachvollzogen werden kann, wie Latour beobachtet:
[S]cientific and technical work is made invisible by its own success. When a machine runs efficiently, when a matter of fact is settled, one need focus only on its inputs and outputs and not on its internal complexity. Thus, paradoxically, the more science and technology succeed, the more opaque and obscure they become. (Latour 1999, S. 304)
Die Folge dieser Entwicklung ist laut Thrift ein „technologisches Unbewusstes“ (Thrift 2004b), eine Nicht-Reflexion der technologischen Bedingungen von Sozialität. Das praktische Nicht-Reflektieren der Bedingungen einer Praxis ist an sich nichts Neues für eine Soziologie, die davon ausgeht, dass Sozialität sich schlichtweg praktisch vollzieht, ohne ihre Vollzugsbedingungen in der Regel mitreflektieren zu müssen (Nassehi 2006). Doch macht es eben einen womöglich entscheidenden Unterschied, wenn die Bedingungen dieses Vollzugs nicht „natürlich“ sind, sondern es sich vielmehr um konstruierte Infrastrukturen handelt. Der zentrale Aspekt der von Thrift so genannten „second wave of second nature“ ist, dass der Hintergrund von Sozialität selbst operativ wird. Dies erst erlaubt überhaupt die Emergenz von Entitäten, die sich auf Basis eben dieses artifiziellen Hintergrunds selbst als soziale artifizielle Entitäten präsentieren.
Damit zeigt sich, dass „Interfacing“ (Lipp und Dickel 2022) und „Infrastructuration“ (Edwards 2019) bei der Verbreitung und Veralltäglichung der Computertechnologie als komplementäre Prozesse zu verstehen sind: Sie ermöglichen das soziale Vergessen des Analogen im operativen Vollzug.Footnote 15 Durch Interfaces wird die Computertechnologie zur Blackbox und kann gerade dadurch als selbstverständliche, aber unverstandene Infrastruktur fungieren. Ebenso können im Paradigma digitalisierter Sozialität menschliche Körper analog zur technischen Infrastruktur betrachtet werden. Auch sie können Blackbox werden und bleiben.