1 Einführung: Jenseits der rechten Arbeiterklasse

Der folgende Beitrag kartiert Formen alltäglicher Gesellschaftskritik, wie sie deutsche ProduktionsarbeiterInnenFootnote 1 in informellen Interviewsettings äußern. Diese sogenannte Alltagskritik veranschaulicht zentrale Charakteristika jenes politischen Bewusstseins, das dominierte Gruppen unter den Bedingungen einer demobilisierten Klassengesellschaft entwickeln. Damit ist ein Zustand gemeint, in dem Klassenverhältnisse zwar für objektive Lagen und Alltagserleben prägend bleiben, kulturelle Ausdrucksformen kollektiver Klassenidentität und politische Repräsentationskanäle aber brüchig geworden sind oder gänzlich fehlen (Dörre 2019). Wie wir in Anknüpfung an Überlegungen Axel Honneths (1981) empirisch rekonstruieren, liegt der Kern der Arbeiterkritik unter diesen Umständen in einem Unrechtsbewusstsein, das negativ durch den Bezug auf Übertretungen impliziter Erwartungen und Moralökonomien bestimmt ist. Dieser Zugang erlaubt ein präziseres Verständnis der politischen Orientierungen von ArbeiterInnen – und ermöglicht es damit auch, das diskursive Bild einer zunehmend ins radikal rechte Lager abdriftenden Arbeiterschaft zu differenzieren.

Im Kontext von Diskussionen über das Erstarken des Rechtspopulismus rückte das politische Verhalten von ArbeiterInnen jüngst im Register neuer gesellschaftlicher Spaltungslinien und kulturell codierter Klassenkonflikte ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Insbesondere männliche Facharbeiter im produzierenden Gewerbe wurden in einer Vielzahl von Studien als zentrale Wählergruppe der radikalen Rechten identifiziert (Rydgren 2012; Oesch und Rennwald 2018; Bornschier 2018). Auch im medialen Diskurs werden den Ängsten, Frustrationen und Forderungen rechtsaffiner ArbeiterInnen viel Platz eingeräumt. Spätestens seit dem „Trump/Brexit-Moment“ von 2016 (Dodd et al. 2017) avancierte die „weiße Arbeiterklasse“ zu einer Kernfigur sowohl wissenschaftlicher Erkundungen rechter Tendenzen in Arbeitermilieus (Cramer 2016; Gest 2016; McDermott et al. 2019) als auch der politischen Ansprache vieler RechtspopulistInnen selbst (Mondon und Winter 2019). Strukturell als Symptom einer neuen Spaltungslinie zwischen Gewinnern und Verlierern des gesellschaftlichen Strukturwandels in Richtung globalisierter Wissensökonomien gedeutet (Kriesi et al. 2012; Oesch 2012; Merkel und Zürn 2019), wurde die Überrepräsentation von ArbeiterInnen in rechten Elektoraten von anderen als Backlash gegen die kulturelle Hegemonie einer hochqualifizierten, „kosmopolitisch“ orientierten neuen Mittelklasse interpretiert, die mit einer Abwertung traditionell-„kommunitaristischer“ Lebensführungsmuster einhergehe, wie sie auch von großen Teilen der (Fach‑)Arbeiterschaft gepflegt würden (Reckwitz 2017, 2019; Koppetsch 2018; s. a. Norris and Inglehart 2019).

Als Korrektur eines vorschnellen Abgesangs auf die Klassenfrage ab den 1980er-Jahren gab die Suche nach sozialen Basen der radikalen Rechten Anlass für aufschlussreiche Analysen. Zugleich fällt angesichts der Fixierung auf die Ängste, den Protest und die kulturelle Abgrenzung von Seiten rechter ArbeiterInnen das Fehlen ähnlich angeregter Diskussionen zu Bewusstseinsformen in der Arbeiterklasse als Ganzer ins Auge. Der Blick auf gegenwärtige Dynamiken von Klasse und Politik droht sich so zu verengen. Laut ALLBUS lag der Anteil der ProduktionsarbeiterInnen in Deutschland, die sich selbst als rechts einstuften, in den letzten dreißig Jahren konstant um 20 % (ALLBUS 2018);Footnote 2 14,7 % wählten nach GLES-Daten bei der Bundestagswahl von 2021 die rechtsradikale Alternative für Deutschland (GLES 2022).Footnote 3 Die große Mehrheit der deutschen ArbeiterInnen bleibt somit in einer Fokussierung auf die rechten Ränder außen vor (s. a. Abou-Chadi et al. 2021, S. 11 ff.). Zudem wird ein weitaus konturierterer Trend des politischen Verhaltens von ArbeiterInnen deutlich weniger thematisiert: ihre massenhafte Abwendung von einem System politischer Repräsentation, das ihren Einstellungen und Präferenzen nur mangelhaft Rechnung trägt (Elsässer et al. 2017).

Dabei hat der Grad der politischen Demobilisierung von ArbeiterInnen wichtige Konsequenzen dafür, ob und wie sich ihre sozialen Lagen und Werthaltungen überhaupt in politische Orientierungen übersetzen. Gerade weil ArbeiterInnen in erhöhtem Maße aus dem politischen Spiel ausgeschlossen sind (Evans und Tilley 2017), über vergleichsweise niedriges politisches Wissen und Interesse verfügen und sich selbst weit weniger als der Bevölkerungsdurchschnitt politische Wirksamkeit zuschreiben (siehe unten), lassen sich ihre Orientierungen nicht auf die ideologischen Gegensätze des Parteienwettbewerbs reduzieren. Wissenschaftliche Kategorien wie die von Kosmopolitismus und Kommunitarismus projizieren eine ideologische Kohärenz, die der deutlich fragmentierteren, ambivalenteren und widersprüchlicheren Eigenlogik politischer Orientierungen von ArbeiterInnen nicht gerecht wird (Graf 2019).Footnote 4

Um diese Verengungen zu vermeiden, entwickelt der Artikel eine theoretische und empirische Strategie, die darauf zielt, gegenwärtige Formen des politischen Arbeiterbewusstseins mit einem weiter gespannten Netz zu erfassen. Es geht uns darum, die Eigenlogik politischer Orientierungen unter Bedingungen von Demobilisierung zu beschreiben und in ihren spezifischen Kategorien und Repertoires zu rekonstruieren. Empirisch stützen wir uns auf Tiefeninterviews mit ProduktionsarbeiterInnen (Oesch 2006). Damit fokussieren wir jene Lohnabhängigenfraktion, die im Zentrum des Diskurses um den „Rechtsdrift“ der Arbeiterklasse steht (Oesch und Rennwald 2018). Wie unten erläutert, nähern wir uns dem politischen Bewusstsein über die von den Befragten herangezogenen Repertoires der Kritik sowie über die Analyse ihrer normativen Grundlagen. Wie, an was und mit Bezug auf welche Maßstäbe und Erwartungen üben ArbeiterInnen Kritik? Wie verarbeiten sie Ungleichheit und Konkurrenz, sozialen Wandel und politische Marginalisierung im Modus der Kritik? Wie gestaltet sich dabei das Verhältnis von Alltagskritik und politischer Ideologie? Theoretisch greifen wir Überlegungen aus Axel Honneths frühem Aufsatz „Moralbewusstsein und soziale Klassenherrschaft“ auf (Honneth 1981), in dem der normativen Kern der von dominierten Klassen geübten Kritik in einem reaktiven Unrechtsbewusstsein lokalisiert wird. Die Skandalisierung gebrochener Versprechen und verletzter Ansprüche – und nicht ideologische Positionierungen oder kulturelle Abgrenzung – stehen im Zentrum des politischen Bewusstseins von ArbeiterInnen.

Empirisch reiht sich unsere Studie in gegenwärtige Fortschritte der Arbeitssoziologie sowie der kulturellen Klassenanalyse Bourdieuscher Prägung ein. In der deutschen Arbeitssoziologie findet derzeit in Anlehnung an klassische Studien der Nachkriegszeit (Popitz et al. 2018 [1957]; Kern und Schumann 1985 [1977]; Kudera et al. 1979) eine Wiederbelebung der Arbeiterbewusstseinsforschung statt, bei der die Verarbeitungsformen wirtschaftlicher Krisen, Prekarisierung und Ungleichheit in den Blick genommen werden. Das Hauptinteresse dieser Beiträge sind die Deutungen betrieblicher Erfahrungen von Lohnabhängigen und ihre Wahrnehmung von Gesellschaft und Politik, etwa im Kontext der Verarbeitung von betrieblichen Krisenerfahrungen (Detje et al. 2011, 2013) und Prekarisierung (Goes 2015) oder von Ansprüchen an Arbeit und den ihnen zugrundeliegenden normativen Orientierungen (Hürtgen und Voswinkel 2014; Kratzer et al. 2015; Menz und Nies 2021). In direkter Anknüpfung an die klassische Studie von Popitz et al. (2018 [1957]) beschäftigt sich eine Reihe von Arbeiten außerdem mit den Gesellschaftsbildern von Beschäftigten, ihrer Verankerung in betrieblichen Erfahrungen sowie ihrer politischen Anschlussfähigkeit (Dörre et al. 2013; Köster und Lütten 2018; Lütten und Köster 2019).

Unsere Studie greift diesen Forschungsstrang auf und lehnt sich dabei insbesondere an die Untersuchung von Kratzer et al. (2015) an, die sich dem Arbeiterbewusstsein durch die Analyse moralischer Ansprüche nähert, die in Formen der Kritik sichtbar werden.Footnote 5 Ein weiterer Anknüpfungspunkt sind Studien aus der vornehmlich von Pierre Bourdieu inspirierten Tradition der kulturellen Klassenanalyse (Savage 2012). Diese Studien untersuchen, vermittels welcher gruppenspezifischen Repertoires der Kategorisierung und Grenzziehung Ungleichheiten im Alltag wahrgenommen und bewertet werden (Savage 2005, 2012; Sachweh 2012; Heuer et al. 2020; Lamont 2000; Altreiter et al. in diesem Heft). Im Fokus steht hier, wie objektive Verhältnisse qua symbolischer Distinktion und Relationierung markiert und verinnerlicht werden (Jarness et al. 2019).Footnote 6 Ein besonderes Augenmerk gilt den klassen- und gruppenspezifischen Verhältnissen zur Politik überhaupt (Gaxie 1978; Damhuis 2020). Dies basiert auf der Einsicht, dass der Zugang zum „Spielfeld“ der legitimen Politik einer ungleich verteilten sozialen Autorisierung unterliegt, die ideologischen Positionierungen zu Einzelthemen vorgelagert ist (Bourdieu 1989, S. 620 ff., 1991).

Beiden Paradigmen folgend rekonstruieren wir typische Formen des politischen Arbeitsbewusstseins anhand der kulturellen Repertoires, auf die ArbeiterInnen rekurrieren, wenn sie Kritik üben. Das Kerninteresse gilt der Form und den Kategorien der Arbeiterkritik sowie den moralischen Ökonomien und sozialen Konfliktkonstellationen, die sie explizit oder implizit aufgreift. Die empirische Analyse stützt sich auf problemzentrierte Tiefeninterviews mit 30 ProduktionsarbeiterInnen in Deutschland. Wir situieren unsere Analyse mit einer kurzen Skizze der Lage von ProduktionsarbeiterInnen in Deutschland (Abschnitt 2), präsentieren theoretischen Zugang (3) und Methoden (4) und rekonstruieren dann sieben typische Repertoires der Kritik entlang der Gerechtigkeitsdimensionen Verteilung (5.1), Anerkennung (5.2) und Repräsentation (5.3).

2 ProduktionsarbeiterInnen heute: Ökonomischer Druck, politischer Ausschluss

Neben der Rückkehr der Arbeiterklasse als bête noire des Populismusdiskurses war es auch die Zunahme ökonomischer Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten, die lange totgesagte Klassenfragen ins öffentliche Bewusstsein zurückholte. Für Deutschland stellt eine Reihe aktueller Studien die zunehmende Virulenz von Klassenunterschieden heraus (Mayer-Ahuja und Nachtwey 2021; Holst et al. 2021; Graf et al. 2022). Zwar gilt Deutschlands Produktionsmodell dank seiner niedrigen Arbeitslosenquote und starker Exportwirtschaft im internationalen Vergleich als erfolgreich. Doch die wirtschaftliche Stabilisierung in verschärften internationalen Konkurrenzbeziehungen wurden nicht ohne Kosten für die arbeitende Bevölkerung erreicht. Die schleichende Erosion korporatistischer und branchenweiter Regulierungsformen war ein zentraler Faktor der Anpassung an die gewandelten ökonomischen Bedingungen (Dustmann et al. 2014; Nachtwey und Balhorn 2019). So ist der Anteil der in tarifgebundenen Unternehmen beschäftigten Personen seit den 1990ern stark gesunken.Footnote 7 Gewerkschaften akzeptierten unter der Prämisse der Arbeitsplatz- und Standortsicherung ab dieser Zeit zunehmend Öffnungsklauseln von Tarifverträgen, die Abweichungen von vereinbarten Arbeitszeiten und Löhnen erlaubten. Zugleich bildete sich ein sozialpolitisch geförderter Niedriglohnsektor heraus, in dem atypische Beschäftigungsformen vorherrschen und der bis in die gut integrierte Facharbeiterschaft disziplinierend und verunsichernd wirkt (Dribbusch und Birke 2014; Brinkmann et al. 2006).

Die Erosion flächendeckender Tarifverträge machte sich auch in den Einkommen bemerkbar (Nachtwey 2016). So stagnierte der preisbereinigte Bruttostundenverdienst in Deutschland zwischen 2000 und 2009. Seit 2010 ist zwar wieder ein moderater Anstieg zu verzeichnen (Seils und Emmler 2020),Footnote 8 doch lässt sich zugleich eine Polarisierung der Einkommen beobachten. Das verfügbare Haushaltseinkommen des obersten Dezils erhöhte sich zwischen 1999 und 2018 um mehr als 27 %, während das der unteren zwei Dezile stagnierte (Grabka 2021). Seit 2007 verfügt das oberste Einkommensdezil über einen größeren Anteil am Gesamteinkommen als die unteren fünf Einkommensdezile zusammen (WID 2022)Footnote 9. Die durchschnittlichen Einkommen von FacharbeiterInnen in der Produktion waren dabei in der Zeit von 2000 bis 2018 im Schnitt 14,5 % niedriger als die der restlichen Erwerbstätigen. Die Einkommen von un- und angelernten ProduktionsarbeiterInnen lagen sogar 22,3 % unter dem Durchschnitt (SOEP 2019, eigene Berechnung).Footnote 10

ArbeiterInnen sind zudem politisch zunehmend marginalisiert: Ein sinkender gewerkschaftlicher Organisationsgrad wird begleitet vom Versiegen traditioneller politischer Repräsentationskanäle, insbesondere vermittelt durch die Sozialdemokratie (Gingrich 2017; Hall 2020; Bartolini 2000). Sinnbildlich dafür steht das Verschwinden der Sozialkategorie „Arbeiter“ aus den im deutschen Bundestag gehaltenen Reden sowie dem Vokabular der größten deutschen Zeitungen (Abb. 1 und 2).

Abb. 1
figure 1

Erwähnungen von „Arbeiter“, „ArbeiterInnen“ und Komposita („Arbeiterschaft“, „Arbeiterbewegung“) in Reden des Deutschen Bundestages 1949–2019 pro 100.000 Wörtern (Quelle: Biermann et al. 2019)

Abb. 2
figure 2

Erwähnungen des Begriffs „Arbeiter“ in 45 großen deutschen Zeitungen 1949–2021 pro 1 Million Tokens (Quelle: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, https://www.dwds.de/r/plot/?xrange=1946:2021&window=3&slice=1&q=Arbeiter&corpus=zeitungenxl)

Diese Entwicklung lässt sich zum Teil durch einen deutlich sinkenden Anteil von ProduktionsarbeiterInnen an der erwerbstätigen Gesamtbevölkerung begründen.Footnote 11 Einher ging dies jedoch auch mit einer symbolischen Marginalisierung und Desartikulierung von klassenspezifischen Kulturen und Erfahrungsräumen, die die „kulturelle Hegemonie der Gegenseite in Grenzen [zu] halten“ vermochten (Beaud und Pialoux 2004, S. 321; Mooser 1983). Zugleich kann auf Seiten der ArbeiterInnen selbst nicht von einer Desidentifizierung mit dem Arbeiterstatus gesprochen werden: Auch 2018 kategorisierten sich mit 58 % eine Mehrheit der ProduktionsarbeiterInnen als „Arbeiterschicht“, nur 2 % weniger als 1992 (ALLBUS 2018, eigene Berechnung).

Umso deutlicher verweist die zunehmende Nichterwähnung von ArbeiterInnen in Parlament und Medien auf den Befund einer systematischen Unterrepräsentation dieser Gruppe im politischen Raum. Das gilt sowohl im deskriptiven Sinne (Elsässer und Schäfer 2022),Footnote 12 als auch hinsichtlich einer besonders niedrigen Responsivität des politischen Systems bezüglich ihrer Einstellungen und Präferenzen (Elsässer et al. 2017, 2018). ArbeiterInnen gehen mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit nicht zur Wahl (Elff und Rossteutscher 2016; Güllner 2013); der Anteil unter ihnen, der eine Neigung zu einer politischen Partei angab, fiel zwischen 1990 und 2018 von 69 % auf 46 % (s. Abb. 3). Lag der Anteil der parteilich „heimatlosen“ ArbeiterInnen damit 1982 nur 1,3 % über dem Durchschnitt, so wuchs diese Differenz bis 2018 auf über 17 %. Geoffrey Evans und James Tilley beschreiben ähnliche Trends im britischen Kontext als einen zwar nicht formal, wohl aber de facto vollzogenen „politischen Ausschluss“ der Arbeiterklasse (Evans und Tilley 2017; Heath 2016).

Abb. 3
figure 3

„Neigen Sie ganz allgemein einer Partei zu?“ Anteil „Ja“-Angaben ProduktionsarbeiterInnen und restliche Bevölkerung 1982–2018 (Quelle: ALLBUS, eigene Berechnung)

3 Theoretischer Zugang: Unrechtsbewusstsein, Alltagskritik und moralische Ökonomie

Während also Klassenunterschiede in Lebens- und Repräsentationschancen an Virulenz zunehmen, ist der Klassenkonflikt politisch tendenziell desartikuliert, die Klassenstruktur zunehmend „opak“ (Oesch 2006). Klaus Dörre bringt diese Gleichzeitigkeit als „demobilisierte Klassengesellschaft“ auf den Begriff (Dörre 2019; Candeias et al. 2019). Die Analyse des politischen Arbeiterbewusstseins sieht sich so vor besondere Herausforderungen gestellt: Von politisch repräsentieren und öffentlich ausgetragenen Konflikten kann nicht ohne Weiteres auf die Haltungen der ArbeiterInnen geschlossen werden, von der Demobilisierung des Klassenkonflikts nicht auf eine normative Zustimmung unter dominierten Gruppen. Wie Michael Mann beschreibt, stützt sich die Klassengesellschaft im Normalzustand nicht auf ideologische Legitimitätsüberzeugungen von Seiten dominierter Gruppen, sondern im Wesentlichen auf ihre „pragmatische Akzeptanz“ (Mann 1970, S. 436, 1973) der bestehenden Ordnung.Footnote 13 In direktem Anschluss hieran theoretisiert Axel Honneth, unter der Oberfläche dieser Akzeptanz verberge sich „ein Feld moralisch-praktischer Konflikte […], in denen sich die alten Klassenauseinandersetzungen in neuen – sei es sozial kontrollierten, sei es hoch individualisierten – Formen reproduzieren“ (Honneth 1981, S. 558). Diese, so Honneth, würden allerdings erst sichtbar, wenn man aufhöre, das Weltbild von ArbeiterInnen nach abstrakten Gesellschaftstheorien, vereinenden politischen Philosophien oder falschem Bewusstsein zu durchsuchen (vgl. auch Mann 1970; Savage 2005). Nur dominante Gruppen stünden unter dem Zwang, ihren normativen Horizont in Form verallgemeinerter Wert- und Begriffssysteme zu explizieren (Honneth 1981, S. 560 f.). Die Kritik dominierter Gruppen dagegen bestehe, mit Weber (1972 [1922], S. 533) gesprochen, typischerweise in einer „sittlichen Missbilligung“ – einer vom legitimen Standpunkt aus „sprachlosen“ Form von Moralität, die sich in negativer und anlassbezogener Weise auf Übertretungen von Ansprüchen fokussiert.

Unter Bedingungen der Demobilisierung werden Auseinandersetzungen um klassenspezifische Ungleichheiten dieser Perspektive zufolge vor allem in der Analyse des „Unrechtsbewusstseins“ subalterner Klassen sichtbar. Dieses beinhaltet nach Honneth (1981, S. 560) ein „hochempfindliches Sensorium für Verletzungen von als gerechtfertigt unterstellten Moralitätsansprüchen“. Im Unrechtsbewusstsein werden Moralvorstellungen unterdrückter Gruppen „indirekt aufbewahrt“ (ebd., S. 565). Die Kritik offenbart die ihr zugrundeliegenden Moralvorstellungen vor allem negativ, durch die kritische Markierung von Übertretungen (Durkheim 1994 [1912]; Jaeggi 2013, S. 139 f.). Eine Analyse des Unrechtsbewusstsein lässt so Brüche in der Legitimität herrschender Ordnungen erkennen (vgl. auch Kratzer et al. 2015), die einer Betrachtung verborgen bleiben, die allein auf politisch mobilisierte und öffentliche Diskurse rekurriert (Honneth 1981, S. 563 ff.).

Dem folgend nähern wir uns dem politischen Arbeiterbewusstsein anhand der von ArbeiterInnen artikulierten Alltagskritik, in der auch Luc Boltanski (2010; Boltanski und Thévenot 1999) und Wendy Bottero (2019) einen zentralen Ort eigensinniger Urteilskraft und sozialen Sinns für Ungleichheit ausmachen.Footnote 14 In Momenten der Kritik treten einerseits die Bewertungskriterien und „normativen Stützpunkte“ (Boltanski und Chiapello 2003) hervor, die für die Kritisierenden salient sind, andererseits die sozialen Konstellationen, im Kontext derer Ansprüche auf soziale Veränderung denkbar und legitim erscheinen. Die Kritik formuliert „Anliegen, die von denen, die sie hegen, als normativ legitimiert angesehen werden“ (Hürtgen und Voswinkel 2014, S. 41). E. P. Thompson (1971) bezeichnet die somit in der Kritik vorausgesetzte Ordnung legitimer Ansprüche als „moralische Ökonomie“: Sie umfasst ein geteiltes Gespür bezüglich der Modalitäten, Rechte und Pflichten, die den „impliziten Gesellschaftsvertrag“ zwischen gesellschaftlichen Gruppen, insbesondere zwischen Beherrschten und Herrschenden, organisieren (Moore 1978; Scheiring 2020). Wie von Thompson etwa am Beispiel von Brotpreisen, von Mau (2004) anhand von Reziprozitätserwartungen im Wohlfahrtsstaat oder von Fourcade et al. (2013) anhand von Moraldiskursen im Kontext der Finanz- und Eurokrise ausgeführt, definieren moralische Ökonomien legitime Ansprüche als moralische Kehrseite einer sozialen Beziehung (Sayer 2005). Typischerweise werden dabei traditionelle soziale Institutionen der Vergangenheit als Anspruch an die Gegenwart herangetragen – aber auch utopische Vorstellungen können Grundlage von Ansprüchen sein (Mayer-Ahuja und Birke 2019, S. 87).

Ist so die spezifische Form der Kritik gefasst, lassen sich mit Nancy Frasers (2003, 2005) Trias von „redistribution“, „recognition“ und „representation“ zuletzt typische Gegenstände der Kritik analytisch differenzieren. Diese benennen drei Gerechtigkeitsdimensionen, anhand derer Unrecht und verletzte Ansprüche artikuliert werden können. Fraser folgend kann von einer Kritik an Verteilungsdefiziten gesprochen werden, wenn die Missbilligung sich auf die ökonomische Ordnung bezieht; von Anerkennungsdefiziten, wenn die symbolisch und kulturell vermittelte Statusordnung im Zentrum steht; und von Repräsentationsdefiziten, wenn Ungleichheiten in den Chancen zur politischen Teilhabe Gegenstand der Kritik sind.

Diesen begrifflichen Einsichten folgend, nimmt unsere Analyse eine Kartierung der Alltagskritik von ProduktionsarbeiterInnen vor, die die zugrundeliegenden sozialen Bedingungen reflektiert: sowohl im Sinne der spezifischen Form reaktiver Kritik von Seiten derer, die gewöhnlich „nicht gefragt werden“, als auch im Sinne der sozialen Konstellationen und Gerechtigkeitsdimensionen, die die moralische Ökonomie der Kritik definieren. Wir rekonstruieren Gegenstände, Sozialkonstellationen und moralische Ökonomien der Arbeiterkritik dabei gebündelt in Form spezifischer kultureller „Repertoires“ (Lamont und Thévenot 2000; Steinberg 1995). Die Rede von Repertoires macht deutlich, dass die Einzelnen in ihren Positionierungen auf vorstrukturierte Argumentationsmuster zurückgreifen, die innerhalb sozialer Gruppen, Klassen und nationaler Öffentlichkeiten geteilt und von SprecherInnen als verständlich vorausgesetzt werden können.

4 Daten und Methode

Grundlage unsere Analyse bilden qualitative Interviews, die wir im Laufe des Jahres 2019 mit 30 ProduktionsarbeiterInnen führten. Die Befragten waren in unterschiedlichen Branchen beschäftigt, der Großteil arbeitete im Baugewerbe, der Industrie und sonstigen Handwerksbetrieben. Die Interviews entsprangen zwei separaten, aber von Beginn an eng koordinierten Forschungsprojekten zu klassenspezifischen symbolischen Grenzziehungen manueller ArbeiterInnen. Die große Mehrheit unserer Interviewten war männlich und deutscher Herkunft, arbeitete in ausführenden Funktionen in kleinen bis mittelständischen Betrieben und verfügte über eine Berufsausbildung (s. Materialverzeichnis).Footnote 15 Die Befragten waren zwischen 20 und 58 Jahre alt und lebten in urbanen wie auch ländlichen Gebieten in West- und Ostdeutschland, mit einem Schwerpunkt auf Berlin.

Der Zugang wurde durch die Vermittlung von Feld-InsiderInnen, durch Ausschreibungen und durch die persönliche Kontaktaufnahme auf Baustellen hergestellt. Bei der Interviewführung orientierten wir uns an der Methodik problemzentrierter Interviews (Witzel 1985), deren inhaltlicher Fokus durch theoretische Überlegungen und Fragestellungen vorstrukturiert war. Mithilfe von Leitfäden wurden der Arbeitsalltag der Interviewten, Selbstverständnisse und Wahrnehmungen ihrer Position in der Gesellschaft, Einstellungen zu unterschiedlichen sozialen Gruppen und politischen Themen sowie Zukunftsperspektiven fokussiert. In der Interviewführung wurden offen gehaltene Narrationsfragen mit Ad-hoc-Fragen, immanenten Nachfragen und der Präsentation von Problemen, zu denen Befragte Stellung beziehen sollten, kombiniert. Die Gespräche wurden am oder in der Nähe des Arbeitsplatzes der Befragten, bei ihnen zuhause oder an öffentlichen Orten geführt, aufgezeichnet und anonymisiert. Die durchschnittliche Länge der Gespräche lag bei etwa anderthalb Stunden.

Im ersten Analyseschritt erfassten wir zunächst alle Momente der Kritik in unserem Material, wobei wir uns an dem rhetorischen Muster „So oder so ist es“ und „Es sollte nicht so sein“ orientierten. Wir identifizierten 468 aussagekräftige Interviewsegmente in einer gesammelten Länge von mehreren Hundert Druckseiten. Nancy Frasers Gerechtigkeitsdimensionen dienten uns im zweiten Schritt als explorative Heuristik zur inhaltlichen Ordnung der Segmente nach den hauptsächlichen Gegenständen der Kritik. Der dokumentarischen Methode folgend (Bohnsack et al. 2013; Nohl 2006) analysierten wir das so aufbereitete Material im dritten Schritt anhand der Rekonstruktion individueller Fälle und Kritikformen sowie im vierten Schritt durch das Kontrastieren zwischen Fällen und Formen. Im Fokus unserer Analyse standen die sinnbezogenen Orientierungsrahmen, innerhalb derer die Befragten Kritik und Ansprüche artikulierten, und insbesondere die moralische Ökonomie, die die Kritik voraussetzt, um verständlich zu sein. Im fünften und letzten Schritt vertieften wir das Verständnis dieser Orientierungsrahmen, indem wir genauer betrachteten, anhand welcher Referenzgruppen und sozialen Konstellationen Kritikgegenstände interpretiert und Ansprüche abgesteckt wurden.

Aus der Vielzahl von Kritikformen, die sich in einzelnen Fällen und Fallgruppen kristallisierten, wählten wir sieben Formen aus, die sich durch ihre besondere Häufigkeit, ihre interne Homogenität und externe Heterogenität als eigenständige Repertoires rekonstruieren ließen (vgl. zum Vorgehen Braun und Clarke 2006). Die hier dargestellten Repertoires sind die im Material prominentesten, wobei wir mit wenigen Ausnahmen davon Abstand nehmen, dies durch Quantifizierungen zu belegen. Wie C. Wright Mills (2016, S. 317) schreibt, können „qualitative Analysen keine Häufigkeiten oder Mengen liefern. [Sie] können und sollen das Spektrum der möglichen Typen aufzeigen“. Die rekonstruierten Typen sind dabei nicht als einander ausschließende Bewusstseinsformen zu verstehen, denen einzelne Fälle zugeordnet werden können. ArbeiterInnen bedienten sich üblicherweise einer Reihe unterschiedlicher Repertoires. Eine Kontextualisierung der Kritiktypen in den sozialen Lagen und Laufbahnen der Kritisierenden müssen wir aus Platzgründen auf eine spätere Untersuchung verschieben. Ebenso kann diese Studie in Ermangelung einer Vergleichsgruppe nur aufzeigen, inwiefern die hier rekonstruierten Repertoires klassentypisch, nicht aber, inwiefern sie klassenspezifisch sind.

5 Ergebnisse

In den Gesprächen mit ArbeiterInnen war Kritik allgegenwärtig und wurde oft energisch und mit einer demonstrativ unehrerbietigen Skepsis gegenüber gesellschaftlich dominanten Erzählungen vorgetragen. Zugleich mündete die Empörung oft im selben Atemzug in eine Art abwinkende „Was-soll’s“-Haltung, im Zuge derer die Befragten die Konsequenzlosigkeit der eigenen Meinung betonten.Footnote 16 Die Alltagskritik der ArbeiterInnen hatte somit oft den eigentümlichen Charakter einer gleichzeitigen Infragestellung und Anerkennung der Verhältnisse. Skepsis und das Beharren auf die eigene unabhängige Urteilskraft vermischten sich mit einem illusionslosen (sowie möglicherweise entlastenden) Zurschaustellen der eigenen Subalternität. Gerade angesichts dessen waren die Bandbreite der von den Befragten kritisierten gesellschaftlichen Probleme wie auch die Komplexität der in der Kritik herangezogenen moralischen Ökonomien beachtlich.

Die Befragten bedienten sich einer Vielzahl von Repertoires, um Kritik an thematisch ähnlichen Gegenständen zu üben. Im Folgenden stellen wir sieben dieser Kritikrepertoires vor, die wir vor allem zu Zwecken der Übersichtlichkeit den drei Fraserschen Gerechtigkeitsdimensionen von Verteilung, Anerkennung und Repräsentation zuordnen.Footnote 17 Wir rekonstruieren dabei drei Repertoires der Kritik an Verteilungsungerechtigkeiten sowie je zwei zu Anerkennungs- und Repräsentationsdefiziten.

5.1 Materielle Ungleichgewichte: Kritik an Verteilungsungerechtigkeit

Im Zentrum der Arbeiterkritik standen Missverhältnisse hinsichtlich materieller Verteilung. Alle Befragten kritisierten die gesellschaftlich ungleiche Verfügung über Einkommen und persönlichen Besitz. Fast die Hälfte aller codierten Segmente (220 von 468) widmete sich der Kritikdimension der Verteilungsungerechtigkeiten, wobei diese regelmäßig mit Fragen der Anerkennung und politischen Repräsentation verwoben war. Die allgemeine Einkommensentwicklung, aber auch individuelle Flexibilisierung- und Prekarisierungserfahrungen waren Gegenstand der Kritik. Insgesamt konnten wir in unserem Material drei eigenständige Repertoires der Kritik an Verteilungsungerechtigkeiten identifizieren, die jeweils eine spezifische Akzentuierung von Gegenständen und Verantwortlichkeiten vornehmen.

5.1.1 „Die höheren Leute lassen’s am unteren Ende raus“: Kritik an sozialer Polarisierung

Entsprechend der beschriebenen Polarisierung von Einkommen greifen fast alle Befragten auf ein Kritikmuster zurück, das zunehmende Verteilungskonflikte zwischen „unten“ und „oben“ problematisiert. Stein des Anstoßes sind insbesondere auseinanderklaffende Einkommen zwischen einer kleinen Oberschicht, zu der InhaberInnen von industriellen Großkonzernen, ManagerInnen, BankerInnen oder auch PolitikerInnen gezählt werden, und der „normalen“ Bevölkerung. Beispielhaft zeigt sich diese Wahrnehmung einer gespaltenen Gesellschaft in einer Äußerung des gelernten Elektrikers Marc, der von einem Arbeitseinsatz als Zeitarbeiter auf der Gala eines Großkonzerns berichtet. In Marcs Erzählung wird die Tür zwischen der „Vorderbühne“ der Gala und der „Hinterbühne“ der Küche und Anrichte zu einer scharfen Metapher für ein ungerechtes Gesellschaftssystem:

Auf der linken Seite dieser Tür hast du Leute, die für 12, 13 Euro die Stunde arbeiten, du gehst raus aus der Tür und hast plötzlich Leute, die 12, 13 Tausend am Tag verdienen. Weißt du? Wo du dir denkst so: „Alter! [ruft] Wer in Gottes Namen hat bestimmt, dass das, was die machen, so viel besser ist als das, was die machen?“ Wo ich denke: „Nein Alter, das ist nicht besser was die machen, [...]“- Nur weil ich in dem System lebe, heißt das nicht, dass ich das gut finde. (I02)

Der Reichtum der Anderen wird hier dem eigenen begrenzten Einkommen entgegengestellt und der Differenz die Legitimität abgesprochen. Zwar wird ein höherer Verdienst durch besondere Anstrengungen von vielen Befragten als gerechtfertigt angesehen, jedoch zeigt sich in diversen Bemerkungen, dass sie die Leistungen der Oberschicht als nicht ausreichend wahrnehmen, um das Ausmaß sozialer Ungleichheit zu legitimieren. Die Oberschicht wird als eine geschlossene Gruppe beschrieben, die der Lebensrealität der NormalbürgerInnen fern ist. Ihre exzessiv hohen Einkommen werden nicht nur als unverdient problematisiert, sondern auch als irrational insofern sie den Bedarf weit überschreiten:

Würde Amazon nicht 300 Milliarden besitzen, sondern vielleicht nur 5 Millionen... Könnt der sich immer noch alles kaufen und könnte trotzdem.. ganz... Afrika aufbauen, oder irgendwelche... Probleme lösen. [...] Also wenn Geld irgendwo an einer Stelle steht, dann ist ja irgendwas im Ungleichgewicht. (I03)

Der Überfluss der einen wird mit dem Mangel der anderen in Relation gesetzt. Eine solche Rechnung, die eine zu hohe Konzentration von Reichtum als Ursache von Deprivation an anderer Stelle ausmacht, kann, wie im obigen Beispiel, aus globaler Perspektive formuliert werden. Teilweise wird die Kritik aber auch ausgehend von der eigenen sozialen Lage formuliert:

Die höheren Leute, die lassens am unteren Ende raus. Verdienen sagen wa ma Unmengen an Jeld, gehen mit einer Rente na’hause davon träumt jeder normale Mensch. Und die Rentner kriegen gar nichts. Und dis is dis was ich absolut gar nicht verstehe. Dis geht nich rein in mein Kopf. Wenn ick dann so an meine Rente später denke- Ick werd keine mehr haben. (I04)

In der hier zitierten Kritik kommt ein dichotomes, zwischen „unten“ und „oben“ polarisiertes Gesellschaftsbild zum Tragen, das seit langem in Arbeiterbewusstseinsstudien beschrieben wird (Dörre und Matuschek 2013; Kudera et al. 1979; Popitz et al. 2018 [1957]). Die Ursachen für wachsende Einkommensunterschiede bleiben in diesem Repertoire meist unbenannt, der Reichtum der höheren Leute wird zwar mit der eigenen Lebensrealität kontrastiert, beide werden aber weitgehend unverbundenen Sphären zugeordnet. Zwar geht der Reichtum der einen insofern auf Kosten der anderen, als der begrenzte Wohlstand nicht bedarfs- und leistungsgerecht verteilt ist – nicht aber, weil sich der Reichtum der einen aus der Arbeit der Anderen speist.

Dementsprechend wird der reichen Oberschicht meist nicht die „Arbeiterschaft“ gegenübergestellt, sondern die durch ihren gewöhnlichen, maßvollen und durchschnittlichen Lebensstil identifizierbaren „normalen Leute“ einer „Mittelschicht“, zu der man sich selbst zählt (Dörre et al. 2018; Sachweh und Lenz 2018; Savage 2005). Auch richtet sich die Kritik nicht in erster Linie gegen Ungleichheiten per se, sondern gegen eine zu starke und ungerechte Polarisierung von Einkommen. Der zugrundeliegenden moralischen Ökonomie nach ist auch großer Wohlstand durchaus legitim, solange er selbst erarbeitet, bzw. „erwirtschaftet“ wurde. Gegenbild einer exzessiv reichen Oberschicht sind auch „self-made“-Reiche und EigentümerInnen kleiner und mittelständischer Betriebe, die in maßvollem Luxus leben.

5.1.2 „Gewinn, Gewinn, Gewinn“: Kritik am exzessiven Profitstreben

Daneben findet sich eine Kritikform nach „oben“, die sich stärker aus betrieblichen Erfahrungen nährt und sich gegen FirmeninhaberInnen richtet, die ihre Profite auf Kosten von Beschäftigten maximieren. Niedrige Löhne, Arbeitsverdichtungen und prekäre Arbeitsverhältnisse werden in diesem Repertoire als direkte Folgen des Handelns der ArbeitgeberInnen problematisiert. So klagt der Bauarbeiter Torsten: „Wir sind zwei Angestellte, aber Arbeit haben wir für zwanzig. [...] Die Chefs [...] werden zu Millionären, während die zwei Angestellten arbeiten wie die Hunde.“ (I05) Die hohen Einkommen der FirmeninhaberInnen erscheinen hier als Resultat einer intensivierten Ausbeutung ihrer Angestellten durch erhöhten Druck und prekäre Arbeitsverhältnisse („und dann wird das mit den Leiharbeitern gemacht“, ebd.). Neben eigenen Erfahrungen gesteigerter Ausbeutung speist sich die Kritik dabei auch aus der Empathie für besonders prekäre KollegInnen. So fährt Torsten, angesprochen auf die Lohnkonkurrenz durch migrantische ArbeiterInnen, fort:

Man regt sich schnell über andere auf, aber man muss mal ein bisschen weiter hinterblicken. Letztendlich sind es die Firmen, die die Leute ranholen, die verdienen sich ein Vermögen. Die ganzen Bauleiter, Architekten, Großbaufirmen, das sind alles Millionäre. [...] Und diese Leute [die migrantischen ArbeiterInnen, d. A.] zu Hause trinken nur Tee und Weißbrot. (I05)

Das Bewusstsein für den Interessengegensatz zwischen FirmeninhaberInnen und ArbeiterInnen rückt in diesem Fall die Lohnkonkurrenz zwischen einheimischen und migrantischen ArbeiterInnen in den Hintergrund (Hürtgen 2019; Bonacich 1972). Die Erfahrung mit Firmenchefs, die überzogene Gewinnansprüche auf Kosten von Beschäftigten durchsetzen, wird in einigen Fällen auch über die eigene Branche hinaus generalisiert und als neuartiger Trend in der deutschen Arbeitswelt charakterisiert:

Wir nennen das das amerikanische System. Das ist ja, [was] sich hier so ausbreitet. Das heißt, Gewinn, Gewinn, Gewinn. Und Löhne immer niedriger, Gewinne immer höher. Und die Politik schürt dieses System. […] Der Gewinn geht vor dem Mitarbeiter. (I06)

Wie im ersten Kritikrepertoire werden auch hier steigende Ungleichheiten und Polarisierungen zwischen „oben“ und „unten“ problematisiert. Trotz dieser Ähnlichkeiten lässt sich die hier analysierte Kritik aber als eigenes Repertoire abgrenzen: Im Unterschied zur Kritik an gesellschaftlich vorgefundenen Verteilungsungleicheiten wird das exzessive Gewinnstreben von FirmeninhaberInnen als Mechanismus klarer benannt. Dieses wird auf eine zunehmende „Habgier“ der Chefs und Eigentümer zurückgeführt, aber auch auf politisch geförderte Instrumente, wie etwa Leiharbeit oder den Niedriglohnsektor, die es ermöglichen, Profite auf Kosten der ArbeiterInnen zu steigern.

Das Verhältnis zwischen „oben“ und „unten“ ist demnach nicht wie im ersten Repertoire durch die Einkommenskonkurrenz sozialer Gruppen – wie etwa der Mittel- und Oberschicht – um den begrenzten gesellschaftlichen Wohlstand gekennzeichnet, sondern wird als unmittelbare antagonistische Beziehung zwischen ArbeiterInnen und Firmenchefs verhandelt.Footnote 18 Von letzteren wird erwartet, dass sie Standards der Fairness, der Arbeitsplatz- und Einkommenssicherheit sowie der Arbeitsbelastung wahren. Die in diesem Repertoire enthaltene moralische Ökonomie ist nicht die eines umfassenden gesellschaftlichen Klassenkampfes, wohl aber die eines systemisch angelegten Interessengegensatzes, der nur durch wechselseitigen Ausgleich und vor allem die Moderierung der Profitinteressen zu befrieden sei. So reflektiert der Schuhmacher-Azubi Oliver: „Das Vermögen, das für die Besitzer von Kapital oder Besitz rausspringt und die, die ihre Arbeitskraft dafür, die sich dafür prostituieren [lacht], ... wenn beide Seiten ordentlich was davon haben, dann ist es gerecht.“ (I07)

5.1.3 „Das System“: Kritik an der marktgetriebenen Steigerungslogik

Neben diesen Repertoires konnten wir eine weitere interessante Form der Kritik identifizieren, deren Rekonstruktion eine stärkere Deutung erforderte. Ausgangspunkt ist hier die Beobachtung, dass diverse Befragte – über die beschriebene Zurechnung von Verteilungsungerechtigkeiten auf soziale Referenzgruppen „oben“ hinaus – auch subjektlose systemische Mechanismen als Quelle von Unrecht adressierten. Aufhänger dieser Kritik sind Wahrnehmungen einer Beschleunigung des Lebens, eines erhöhten Drucks sowie eines generellen Unsicherheitsgefühls, die auf einen allgemeinen sozialen Wandel und auf die Steigerungslogiken kapitalistischer Konkurrenz zurückgeführt werden. Diese Prozesse machen sich zunächst in der Arbeitswelt bemerkbar:

[Die] Firmen, die holet sich... hundert Leut, wenn se viele Aufträgeeingang hänt, [...] dass se schnell das G’schäft rauskriege. Und dann wenns jetzt wieder nachlässt: „Alles raus, was rausgeht!“. [...] Anstatt, wenn i jetzt zum Beispiel n Daimler [will] und die sagen, ich muss n halbes Jahr warte. Naja, dann muss ich halt warte! [...] [Aber] der Kunde braucht halt irgendwas pünktlich [...]. (I01)

Ähnlich wie im obigen Kritikrepertoire werden auch hier unsichere Arbeitsverhältnisse thematisiert. Jedoch zeigt der Industriearbeiter Sebastian Verständnis für das Agieren der Firma, die sich im Wettbewerb um Kundschaft und Verkäufe behaupten muss. Während in der zuvor beschriebenen Kritik profitorientierte FirmeninhaberInnen für flexibilisierte Arbeitsverhältnisse und intensivierte Ausbeutung verantwortlich gemacht werden, liegt ihr Ursprung hier in den Konkurrenzverhältnissen der just-in-time-Produktion. Skandalisiert werden dabei vor allem die wachsenden Konsumansprüche der Bevölkerung. Firmen reagieren aus dieser Perspektive lediglich auf immer neue Konsumwünsche, die auf sofortige Befriedigung drängen.

Im Ergebnis kommt es so quasi von selbst zu einer zunehmenden „Schnellebigkeit“ des Lebens, wie der Schweißer Andre mit Hinblick auf entgrenzte Arbeitszeiten im Einzelhandel beschreibt: „Und des find i halt immer a bissle-, immer des ‚noch mehr, noch mehr!‘. Wenn man sieht, dass wenn Rewe hier oder Netto dann Heiligabend bis um 21 Uhr auf ist, des muss doch net sein.“ (I08)Footnote 19 Insbesondere Beschäftigte im Baugewerbe beschreiben darüber hinaus einen Preiswettbewerb, der zuungunsten der Arbeitslöhne ausgetragen wird.Footnote 20 Diese Lohnabwärtsspirale wird in der Wahrnehmung einiger Interviewter durch die Beschäftigung von migrantischen ArbeiterInnen, die für geringere Löhne arbeiten, zusätzlich verschärft.

Die Darstellung einer sich verschärfenden Wettbewerbs- und Steigerungslogik wird von manchen Befragten über die Sphäre der Arbeit und Produktion hinaus auf das gesellschaftliche Zusammenleben überhaupt verallgemeinert. In diesen Fällen nimmt die Kritik oft katastrophistische Züge an. So beschreibt der Landschaftsbauer Lukas ein instabiles „System“, in dem sich Zwang, Konkurrenz und Besitzstreben zu einer dystopischen Form der Heteronomie verbinden:

[Ich] find, dass man halt irgendwo ne Marionette [ist]. Man muss halt eben funktionieren. [Und] dass halt eben nicht wirklich der einzelne Individuum die Möglichkeit hat, sich zu entwickeln. [...] Es wird halt immer kontrollierter und deswegen immer mehr Druck auf die Leute, [...] ’n Sozialdruck und ’n allgemeiner Leistungsdruck.

Interviewende: Und warum ist das so?

Weil wahrscheinlich die Konkurrenz auf der ganzen Welt da ist. [seufzt] [Ich glaub] dass es irgendwo einfach aus dem Ruder gelaufen ist. [...] [Ich] hab da eher so mein kleines Weltbild vor Augen, wie ich das so für mich und meine Familie machen würde, ohne dass mir da jetzt irgendjemand reinredet und sagt, [...], „du hast zwei Mieten nicht gezahlt, deshalb musst du jetzt raus“ und [...] auf einmal bricht die ganze Welt für einen zusammen. (I03)

Lukas’ Äußerungen sind durchzogen von einem abstrakten Unsicherheitsgefühl angesichts der Abhängigkeit von einer unberechenbaren und konkurrenzgetriebenen Außenwelt. Klagen über einen steigenden Leistungsdruck und einem fehlenden gesellschaftlichen Zusammenhalt vermischen sich mit der persönlichen Befürchtung, die eigene Wohnung nicht halten zu können. Vielleicht als Konsequenz der Akteurslosigkeit der kritisierten Trends verbleibt in Lukas’ Narrativ der Rückzug auf eine „kleine Welt“ des persönlichen und familiären Fortkommens als einzige Handlungsoption angesichts des verallgemeinerten Drucks. An anderer Stelle kontrastiert er die Zwänge des Systems mit einem von ihm erträumten autarken Selbstversorgerhaus auf dem Land. Hauptfokus der Kritik ist ein Verlust der Kontrolle über gefährliche systemische Prozesse – wobei auch Bilder des ökologischen Kollaps immer wieder als Beleg für die Instabilität einer als systemisch beschriebenen Steigerungslogik dienen: „Es wird einen Kollaps geben, ganz klar. [Wenn] immer noch weiter und immer nur auf Wachstum geguckt wird [...], das liegt doch in der Natur der Sache, dass irgendwann Ende ist.“ (I11)

Die in diesem Repertoire rekonstruierten Kritiken erscheinen zunächst als recht heterogenes Ensemble von Kritikformen, die sich auf Bereiche wie die Arbeitswelt, das gesellschaftliche Zusammenlebens oder ökologische Krisen beziehen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Folgen markt-getriebener Konkurrenz sowie eine Logik des „noch mehr“ auf der Ebene systemischer Zwänge problematisieren. Damit weisen sie starke Ähnlichkeiten zu der von Dörre et al. (2013, S. 215 ff.; Dörre 2016) beschriebenen Gesellschaftskritik von IndustriearbeiterInnen auf. Auch von diesen wurde Kritik an einer wettbewerbsgetriebenen Steigerungslogik geäußert, die die unterschiedlichsten Lebensbereiche erfasst und unter anderem zur Deutung der ökologischen Krise herangezogen wurde. Jene Prozesse der Kommodifizierung von Arbeitskraft, ihre Abhängigkeit von Angebot und Nachfrage, die marktgetriebene Einverleibung der Umwelt und die Steigerungslogik kapitalistischer Konkurrenz erscheinen in diesem Repertoire oft als akteurslose Automatismen. Sie stehen im Widerspruch zu den Bedürfnissen von Natur und Mensch, die im Zentrum der impliziten moralischen Ökonomie dieses Kritikrepertoires stehen.

5.2 Gestörte Anspruchshierarchien: Kritik an Leistungs- und Anerkennungsungerechtigkeiten

Eine weitere Form der Arbeiterkritik, in der Anerkennungs- mit Umverteilungssforderungen verschmelzen, bezieht sich auf komparative Leistungsungerechtigkeiten und den sozialen Vergleich mehr und weniger legitimer Ansprüche. Ausgangspunkt dieser Kritik ist die Beobachtung, dass bestimmte soziale Gruppen – inklusive die eigene – über weniger Wohlstand, Anerkennung und staatliche Unterstützung verfügen als sie verdienen, während es sich bei anderen illegitimerweise umgekehrt verhält. Im Kontext des in Abschnitt 2 erwähnten relativen Bedeutungsverlusts von Industrie und Kleinhandwerk, der ökonomischen Polarisierung, die ArbeiterInnen näher an die abgewertete Unterschicht rückt sowie der vergleichsweise niedrigen Einkommen vieler ArbeiterInnen, ermöglichen die Kritik illegitimer Ansprüche und die Betonung der eigenen Leistung die Verteidigung der eigenen Statusposition (Dörre et al. 2018; Hochschild 2016). Wir unterscheiden im Folgenden zwei Kritikrepertoires, die im Wesentlichen auf die Statusordnung abzielen. Während das erste auf unverdiente Ansprüche anderer abstellt, rückt das zweite die mangelnde Anerkennung manueller Arbeit insgesamt in den Fokus.

5.2.1 „Die kriegen ja allet“: Kritik an der gestörten Hierarchie von Ansprüchen

Ein häufig wiederkehrendes Repertoire bemüht die moralische Unterscheidung zwischen würdigen und unwürdigen EmpfängerInnen von Einkommen und staatlicher Unterstützung, die im Englischen als „Deservingness“-Unterscheidung benannt wird.Footnote 21 Diese wird anhand einer ganzen Bandbreite von Sozialfiguren durchgespielt. So wird, wie schon erwähnt, der Anspruch von Millionären, Superreichen und PolitikerInnen auf ihren Wohlstand mit dem Hinweis verneint, dieser übersteige ihre Bedürfnisse (Prasad et al. 2009). Auf der anderen Seite wird kritisiert, dass eine Reihe sozialer Akteure unterhalb der „Schwelle der Respektabilität“ (Rehbein et al. 2015) staatliche Solidarleistungen auf Kosten der „Einzahlenden“ über ihre Grundbedürfnisse hinaus in Anspruch nehmen und sich unwillig zeigen, im Gegenzug durch eigene Anstrengungen einen Beitrag für die Solidargemeinschaft zu erbringen. Besonders MigrantInnen, denen nachgesagt wird, dass sie staatliche Unterstützung beziehen, ohne Leistungen zu erbringen, treten dabei als Verkörperungen eines gestörten Verhältnisses von Beitrag und Anspruch auf. Ihnen wird die Bedürftigkeit abgesprochen,Footnote 22 tatsächliche oder vermeintliche Unterstützungsleistungen werden als exzessiv kritisiert oder es wird unterstellt, sie verweigerten durch sozial schädliches Verhalten die Rückleistung für das Erhaltene. Die Form dieser Kritik ist der Vergleich, in dem eine Konkurrenz um knappe Ressourcen zum Ausdruck kommt, die als Nullsummenspiel zwischen Einzahlenden einerseits und verschiedenen konkurrierenden EmpfängerInnengruppen andererseits erscheint. So formuliert die Berliner Industrielackiererin Lisa eine Kritik an der Bundesregierung, in der die Unterstützung für Flüchtlinge der Vernachlässigung deutscher RentnerInnen gegenübergestellt wird:

Die könnten mehr für unsere Rentner machen, oder für unsere Obdachlosen. Paar bessere Häuser bauen oder irgendwas anderet. Ne, da geben se lieber den Leuten… n Smartphone und weiß Gott was, die grad ma n Vierteljahr hier sind [...], obwohl’s denen nicht wirklich schlecht geht. Die kriegen ja allet. Aber klauen hier, klauen da – nicht alle, um Jottes Willen! Ick will nicht alle über’n Kamm scheren. Es gibs auch Asylanten, die wollen wirklich, die lernen Deutsch, machen und tun, gar keine Frage. Aber es gibs halt och Idioten. Aber gibs Deutsche genauso. Also fifty-fifty. Bloß, mir tun halt diese ganzen Rentner extrem doll leid, die jahrelang arbeiten, haben gemacht und getan, Mauer mit aufjebaut, wieder abjebaut, und und und. Und dafür kriegense bloß 600 nochwas. Find ich traurig. Dass se dann Flaschen sammeln… tut weh. (I04)

Die Deservingness-Kritik stützt sich hier auf das Gerechtigkeitsprinzip des Vorrechts von InländerInnen („unsere Rentner“).Footnote 23 Durchweg wird in der Arbeiterkritik der durch produktive Arbeit vermehrte „Kuchen“, dessen Verteilung Gegenstand moralischer Reziprozitätserwartungen wird, nationalstaatlich gerahmt. Zugleich ist das zentrale Kriterium jenes des „Machens und Tuns“, demzufolge Würdigkeit unabhängig von Herkunft nach Arbeitswilligkeit, Einsatz und Reziprozität dekliniert wird. Dass dieses Prinzip fundamentaler als die nationale oder ethnische Unterscheidung ist, zeigt sich daran, dass es sich auch in der Kritik an der Unterstützung für arbeitsunwillige Erwerbslose wiederfindet. Der autoritäre Unterton dieser Kritik tritt im folgenden Segment zutage:

Wenn ich das immer seh im Fernseher, „Stempeln, Abwarten“... Manche Leute haben zwei Jobs und kommen grade über die Runde. Und ein Arbeitsloser, der hat gar kei Bock, weil er sagt „Ah, für des Geld geh ich net arbeite.“ Das ist der Hammer! Die Leute gehöret... ja... Wasser und Brot! Kei Kohle, da gibts gar kei... Frage ob ich arbeite gang oder net, der muss einfach, sonst gibts kei Kohle. Fertig. Dass, wenn einer 50 Jahr scho g’schafft hat, für des soll des da sein. Aber net, [dass] einer, der nie g’schafft hat... Arbeitslosegeld kriege. Der tät von mir n Schuh in’n Arsch kriege. (I01)

Arbeitslose, SozialhilfeempfängerInnen, AusländerInnen und AsylbewerberInnen werden anhand ein und desselben moralischen Kriteriums gemessen: dem der zugeschriebenen Arbeitswilligkeit und -leistung. So werden andere am „disziplinierten Selbst“ der ArbeiterInnen selbst gemessen, das durch Arbeit und Pflichterfüllung imstande ist, die moralische Ordnung der Welt zu bewahren (Lamont 2000). Offen für ethnisierte Zuschreibungen von Leistungsbereitschaft (vgl. auch Grasmeier und Beck 2021) trifft die Kritik alle möglichen Sozialkategorien, denen abgesprochen wird, den disziplinierenden Anforderungen der Arbeit – und damit eines verantwortungsvollen, erwachsenen Lebens – zu genügen.Footnote 24 Im Hintergrund steht der Zwang zur Erwerbsarbeit, der selbst explizit als Disziplinierung empfunden und auf andere übertragen wird. So sagt der Lackierer Hans mit Bezug auf Geflüchtete, die nicht zu Arbeitseingliederungsmaßnahmen erscheinen:

Wer nicht kommt, wird Geld gestrichen. Da sollte man wirklich konsequenter sein. [...] Wir müssen ja genauso arbeiten. Wenn ich jetzt nichts leiste, wenn mir mein Chef erzählen würde „Ja Hans, [...] du hast doch zu arbeiten“, [und ich] sage „Ja ich muss mich kurz unterhalten“. [...] Wer was leistet, der soll bezahlt kriegen. Und wer gar nichts leistet... Das ist dasselbe mit Hartz IV. Eine Zeit lang ok, aber irgendwann- Weil wir haben selber im Dorf [Leute], die arbeiten seit der Wende nicht mehr. [...] Die können arbeiten, brauchen sie aber nicht. Das ist ungerecht. (I13, unsere Hervorhebung)

In der Deservingness-Kritik überlagert sich somit eine Gleichheitssemantik – alle müssen arbeiten – mit dem Gebrauch sozialer Gruppenunterscheidungen. Die Vorstellung, dass andere ein Auskommen haben, das sie sich nicht erarbeiten mussten, verletzt eine zentrale Klausel des impliziten Gesellschaftsvertrags: die „Reziprozitätserwartung“, der zufolge die eigenen Ansprüche durch eine Vorleistung begründbar sind, die man durch die eigene Arbeit erbracht hat (Lefkofridi und Michel 2014; Mewes und Mau 2012). Die vermeintliche Bevorzugung unwürdiger Sozialkategorien erscheint dabei als offensichtlichster Ausdruck gestörter Reziprozitätsverhältnisse.

Zugleich wird im Kontrastieren dieser Gruppen mit „würdigen“ Bedürftigen wie flaschensammelnden RentnerInnen, alleinerziehenden Müttern, ArbeiterInnen im Niedriglohnsektor oder deutschstämmigen Obdachlosen deutlich, dass die vermeintlich voraussetzungslose Unterstützung von „Leistungsunwilligen“ und MigrantInnen ihre volle Kritikwürdigkeit erst vor dem Hintergrund unerfüllter Ansprüche nach sozialer Sicherung durch den Staat entfaltet. Nicht nur erhalten vermeintlich Leistungsunwillige eine unverdiente Unterstützung, der Staat verwehrt zugleich den Leistenden seine Unterstützung. Folglich mischen sich in dieser Kritik Forderungen nach Verteilungsgerechtigkeit mit restriktiven Haltungen gegenüber „Freeridern“. Die gestörte Anspruchshierarchie muss durch die Disziplinierung sowie Ausschluss der unberechtigten LeistungsempfängerInnen auf der einen Seite und die staatliche Fürsorge für die Leistenden auf der anderen Seite wiederhergestellt werden.

5.2.2 „Buckeln“: Kritik an der Abwertung manueller Arbeit

Ein verwandtes Kritikrepertoire, das vorwiegend auf Anerkennung abstellt, bezieht sich auf die Abwertung manueller Arbeit in Produktion und Handwerk. Hier werden nicht arbeitende LeistungsträgerInnen im Allgemeinen, sondern manuelle ProduzentInnen im Besonderen hervorgehoben und die fehlende Anerkennung für ihre physisch belastende und gesellschaftlich nützliche Arbeit kritisiert. Auch in dieser Kritikform sind Einkommen und Wohlstand zentrale Gradmesser gesellschaftlicher Hierarchien. Doch stehen sie hier vor allem für Anerkennungsunterschiede zwischen verschiedenen Tätigkeiten in einer stratifizierten Arbeitsteilung. Kern dieser Kritik ist die gesellschaftliche Stigmatisierung manueller Berufe, dem die Befragten einen selbstbehauptenden „Produzentenstolz“ entgegengestellen. Dieser ist gegenüber vermeintlich unproduktiver Büroarbeit und dem „nur theoretischen“ Wissen leitender Angestellter profiliert. Bilder der harten und erschöpfenden Arbeit auf der Baustelle, in der Fabrik oder der Werkstatt werden mobilisiert, um die Privilegien der „klimatisierten Büros“ (I14) zu kritisieren:

Also ich muss sagen, da finde ich’s schon unfair, [dass] jemand, der hier körperlich Knochenarbeit macht, der nur, so jetzt mal grob gesagt, 1,5 verdient und dann jemand im Büro auf einmal 3,6 verdient, nur weil der ein bisschen auf der Maus rum tippt. [...] Ich sehe das selber bei meinem Opa, der geht nur noch verkrüppelt und einfach noch Knieschmerzen und beide schon operiert wurden, an der Hüfte, der hat in seinem Leben nicht viel verdient. (I16)Footnote 25

Die dem Produzentenstolz zugrundeliegende Arbeit zeichnet sich nicht nur durch ihre Körperlichkeit aus, sondern auch durch ihre spezifische Funktion, gesellschaftlichen Gebrauchswert zu schaffen:

Die, die unten sind, ist das Fundament in der Gesellschaft. Ganz einfach. Und das sind die [mit] den normalen Berufen. [...] Also, sei es nun der Bäcker, sei es der Friseur, die Müllabfuhr, die Straßenreinigung, der Busfahrer, der LKW-Fahrer. [...] Ohne die geht’s nicht. Und dann kommen die, die mit dem Kopf denken, frisch von der Uni, sind der Meinung, sie müssen irgendwie Hunderttausende aufwärts verdienen, nur weil sie 5 Jahre länger gelernt haben. [...] Und [die handwerklichen Berufe] wollen halt einfach viel zu wenige machen, weil es einfach ungerecht entlohnt wird. (I12)

„Das Fundament der Gesellschaft“, zu dem die ProduktionsarbeiterInnen, aber auch die einfachen Dienstleistungsberufe gezählt werden, schafft konkreten, unmittelbar augenscheinlichen gesellschaftlichen Nutzen (Hürtgen 2020): Die ArbeiterInnen machen das selbstverständliche Alltagsleben erst möglich und „halten den Karren am Laufen“ (I12; vgl. Mayer-Ahuja und Nachtwey 2021). Doch dieser Gebrauchswert wird nicht anerkannt, physische Arbeit abgewertet oder gar offen stigmatisiert – etwa durch das Personal von Cafés, in denen die Bauarbeiter ihre Mittagspause verbringen:

Die finden einen einfach nur dreckig, mistig. Teilweise ist man in deren Augen ein Assi, weil man ist mehr mit Männern unterwegs [...], man redet halt auch anders, als wenn man in einem Büro wäre. Und da kriegt man ganz schnell mit, dass man unterste Schublade ist. (I14)

Neben der Abwertung „dreckiger“ Arbeit kritisieren die Befragten eine Anerkennungsordnung, die durch die Höhe des Einkommens und der Zurschaustellung von Wohlstand (zentral durch teure Autos) strukturiert ist. So beklagt der Elektriker Eric die Entstehung einer „Leistungsgesellschaft: viel erreichen, viel Geld verdienen und dann ist man ein besserer Mensch“ (I17). Und Simon kritisiert: „Der Mensch kategorisiert sich mit dem Gehalt [...]. Ich finde das halt behindert. Ich muss sagen: Ein Obdachloser kann genauso klug sein, wie jemand mit Millionen auf dem Konto“ (I16). Neben der materiellen und symbolischen Aufwertung manueller Arbeit wird auch das universelle „Menschsein“ als positives Gegenbild zur einkommensbasierten Statusordnung entwickelt. So bemerkt Torsten: „Ja, wenn ich einen Fiat fahre und der da oben fährt einen Mercedes, wenn wir beerdigt werden, kommen wir beide ins gleiche Loch, da nützt dem sein Geld auch nichts.“ (I05). Durch die Verteidigung des gesellschaftlichen Wertes manueller Arbeit stellen die ArbeiterInnen jene klassifikatorischen „Schubladen“ der Statusordnung in Frage, die sie in eine benachteiligte Position bringen (Tyler 2015; Savage et al. 2015, S. 389 ff.). Der kritisch gewendete Produzentenstolz steht für den Versuch, die durch eine stratifizierte Arbeitsteilung bedingte strukturelle Benachteiligung der ArbeiterInnen symbolisch umzukehren.

5.3 Politischer Ausschluss: Kritik am politischen System

Neben Verteilungsungerechtigkeiten und gestörten Anspruchshierarchien ist die fehlende Repräsentation durch PolitikerInnen ein typischer Gegenstand der Arbeiterkritik, auch wenn Politik üblicherweise erst auf Nachfrage angesprochen und sofort auf Abstand gehalten wird.Footnote 26 Dieser Kritik entspricht ein Gefühl politischer Ohnmacht, das in vielen Gesprächen explizit benannt wird. Der eingangs beschriebene politische Ausschluss der ArbeiterInnen ist dabei sowohl Bedingung als auch – in unterschiedlicher Akzentuierung – Gegenstand der Kritik. Entsprechend des Musters „unzufriedener Demokraten“ (Klingemann 2014; Weisskircher und Hutter 2019) fungiert „die Politik“ sowohl als Adressatin der Kritik als auch als zentrale Verantwortliche für gesellschaftliche Missstände. In der Arbeiterkritik am politischen System drückt sich so eine Spannung zwischen weitreichenden Ansprüchen an Staat und Politik einerseits und einer oft tiefen politischen Entfremdung andererseits aus.Footnote 27 Im Folgenden rekonstruieren wir zwei weitverbreitete Kritikrepertoires, die man schematisch als Defizite in der Output- und Input-Repräsentation des repräsentativen Systems verstehen könnte: die Kritik an einer Bevorteilung der Reichen und Mächtigen durch die Politik und jene an der fehlenden Responsivität politischer Eliten.

5.3.1 „Nur noch ’ne Lobby“: Kritik politischer Ungleichheit

Ein von zahlreichen Befragten verwendetes Repertoire lässt sich in der direkt an die Verteilungskritik anknüpfenden Klage erkennen, dass die Politik die Partikularinteressen ressourcenstarker Gruppen bevorzuge. Dem ökonomischen Verteilungsungleichgewicht entspricht demzufolge ein Machtungleichgewicht zwischen dem „kleinen Mann“ und der Mittelschicht auf der einen Seite und der reichen Oberschicht und der Industrie auf der anderen. Ressourcen und Macht konstituieren sich dabei gegenseitig: „Wer Geld hat, der hat nun mal Macht. [...] Das ist eigentlich ein normales Ding“ (I13). Dabei werden unterschiedliche Wege der Bevorzugung thematisiert und kritisiert.

Einerseits werden PolitikerInnen selbst als Teil einer Oberschicht verstanden, der aufgrund ihrer privilegierten materiellen Lage der Sinn für die Belange und Lebensrealitäten des „kleinen Manns“ verloren gegangen ist. Der Tiefbauer Robin illustriert dies mit Rückgriff auf das Bild der „dreckigen“ Arbeit:

Die Leute, die was zu sagen haben, sehen die Oberschicht. Wenn es dir gut geht, [Name der Interviewerin], dann machst du dir doch keine Gedanken um mich kleinen Furz, oder? Ganz ehrlich, [...] ich wäre vielleicht genauso. Würde man diese Leute, die da oben sitzen und regieren [...] human bezahlen, dann würden die ganz anders denken. Und ich denke mir dadurch, dass [...] entschieden wird von der sogenannten Oberklasse, ich sage mal einfach von reichen Leuten- Ich glaube eine Merkel macht sich nicht die Hände dreckig, ein Gysi damals auch nicht. Und wie die alle heißen. Die, die grabbeln in der Erde rum, wenn sie vielleicht wirklich mal Bock haben auf eine Biomöhre in ihrem Schrebergarten. Ja? Aber ansonsten machen die sich nie im Leben die Hände dreckig. Weil es denen gut geht. (I14)

PolitikerInnen werden selbst als Reiche oder Teil der Oberschicht beschrieben, deren privilegierter Lebenswandel sie vom prosaischen Arbeitsalltag der normalen Bevölkerung entfremdet. Repräsentationsansprüche werden schon auf der deskriptiven Ebene enttäuscht: „Ich glaube, in der Politik fehlt immer, ja sage ich mal Handwerker, [...] so Leute, die im Leben stehen. Die, sage ich mal, wissen, was wichtig ist, und was viele Leute bewegt.“ (I17) Die fehlende Bodenhaftung der PolitikerInnen – als denjenigen „oben“, die etwas zu sagen haben – erscheint dabei auch als eine Erklärung des Anerkennungsverlust der „buckelnden“ ProduzentInnen „unten“ (Noordzij et al. 2021).Footnote 28 Andererseits wird PolitikerInnen eine Abhängigkeit von Wirtschafts- und Lobbyinteressen attestiert. Wirtschaftlich Starke und PolitikerInnen konstituieren dabei zwar verschiedene Gruppen, doch handeln Letztere als Agenten der Ersteren: „Für viele von uns ist der Gedanke, die Lobbyisten, die Industrie, machen die Politik. Nicht die Politik macht die Politik.“ (I06) Die Interessen der Industrie und Wirtschaft weichen dabei von den Interessen der „normalen Bürger“ ab oder stehen sogar mit diesen im Widerspruch:

Also ich finde in den letzten Jahren, wenn man dann auch hört, wie viele Manager mitfliegen bei den Politikern, wenn die Auslandsbesuche machen, ist das nur noch ’ne Lobby. Sind das Lobbyisten, die halt eben dafür sorgen, dass im Ausland, was weiß ich, die großen Firmen VW oder sonst irgendwas, noch eine Firma hinstellen können, damit sie noch billiger irgendwo ihre, ihre Arbeitslöhne haben. [...] Die sollten mal wirklich mehr auf den normalen Bürger hören, [...] als nur [auf] die großen Firmen. (I10)

PolitikerInnen werden in dieser Wahrnehmung selbst zu Lobbyisten, die im Dienste der großen Industriekonzerne neue Quellen von billigen Arbeitskräften im Ausland erschließen. Letztlicher Beweggrund sind dabei neben den persönlichen Profitinteressen der PolitikerInnen auch die ökonomische Macht der Konzerne im nationalen Rahmen, wie Andre herausstellt:

I denk der Spalt zwischen dem Bürger und der [...] Regierung, zwischen Berlin und dem Bürger allgemein, der is zu groß, ja. Der nähere Kontakt isch wie i vorhin gesoagt hab, zwischen der Regierung und dem Daimler in den große Induschtriebetriebe, Thyssen oder sonstwas, wo mitunter schon a bissle machtergreifend sind. Doa isch die Kommunikation relativ gut, aber zum kleinen Bürger isch sie ne mehr vorhanden.

Interviewende: Woran liegt das, wie ist das passiert?

Weil sie mit Sicherheit merken, dass Deutschland mehr verdient mit der Induschtrie. Und schneller wachse kann. (I08)

Die Ergebenheit der Politik gegenüber der Großindustrie wird hier mit deren Wachstumspotenzial erklärt, wobei der Verdienst „Deutschlands“ durch die Industrie nicht umstandslos im Interesse der „kleinen Bürger“ ist. Implizit wird es als Aufgabe der Regierung dargestellt, das eine in das andere zu übersetzen. Immer wieder werden Großindustrie- und Allgemeininteressen gegenübergestellt, etwa wenn an der Produktion von umweltschädlichen Waren festgehalten werde, weil die Industrie „sich bestimmt nicht die Butter vom Brot nehmen [lässt]“ (I13).Footnote 29 ALLBUS-Daten von 2018 zeigen, dass die hier beschriebene Kritik weit verbreitet ist: 50 % der ProduktionsarbeiterInnen stimmen der Aussage zu, dass „die Politiker sich nur um die Interessen der Reichen und Mächtigen kümmern“.Footnote 30 Und auch qualitativ angelegte arbeitssoziologische Forschungsarbeiten dokumentieren die Wahrnehmung, dass sich vor allem die Interessen der wirtschaftlich Starken in der Politik durchsetzen (Detje et al. 2013, S. 103 ff.; Kudera et al. 1979; Lütten und Köster 2019, S. 312 ff.).

Die historische Folie der moralischen Ökonomie, die dieser Kritik zugrunde liegt, lässt sich mit Robert Castel (2008) als die des europäischen „Wachstumsstaats“ bestimmen, dem es oblag, durch Umverteilung und Regulierung zwischen den Interessen der Lohnarbeiterschaft und denen des Kapitals zu vermitteln. Entgegen dieses Ideals des Ausgleichs äußert sich im Lobbyismus und der „Vetterlewirtschaft“ (I08) von Politik und Großindustrie ein Klassencharakter des Staates (Offe 1975), den die Arbeiterkritik skandalisiert. Zugleich bleibt dieses Repertoire von einer starken, wenn auch enttäuschten, Identifikation mit dem Staat bestimmt, an den extensive Erwartungen sozialen Ausgleichs gestellt werden. War der Wachstumsstaat ein zentraler Mechanismus der Befriedung des Klassen-Cleavage, so werden in der Kritik an der selektiven Durchsetzung der Interessen wirtschaftlich mächtiger Akteure gegen die Interessen der einfachen BürgerInnen die Brüche in diesem Legitimationsmodell sichtbar. Die Kritik bleibt dabei defensiv auf einen impliziten Gesellschaftsvertrag staatlichen Ausgleichs bezogen, der „heutzutage“ nichts mehr gelte.

5.3.2 „Hinter verschlossenen Türen“: Kritik der fehlenden Responsivität

Das letzte hier behandelte Repertoire umfasst kritische Bemerkungen zur Verschlossenheit und Eigenbezüglichkeit der politischen Sphäre. Entsprechend der eingangs zitierten Befunde zur geringen Responsivität politischer Eliten für die Präferenzen von ArbeiterInnen und GeringverdienerInnen werden politischen Institutionen als eine selbstbezügliche, von der restlichen Gesellschaft abgetrennte und undurchsichtige Sphäre beschrieben:

Als Normalsterblicher hast du ja gar keine Ahnung von Politik. Du kommst ja auch nicht ran an Politik, ist ja alles hinter verschlossenen Türen. Ist ja nicht mehr so, dass das wie früher, dass man sich früher auf dem Platz hier getroffen hat und der Typ Kürbiskisten bekommen hat, damit er n bisschen höher steht. So läuft es ja nicht mehr und das vermiss ich, dass dein Stadtpolitiker mal zu dir kommt. [...] Und das bietet halt die AfD für viele Leute. (I02)

Was in dieser Kritik zum Ausdruck kommt, ist das Fehlen eines politischen Erfahrungsraums im Nahen, der politische Wirksamkeit ermöglichen würde: „[Politik] das ist für mich so in zu weiter Ferne. [...] Da fühl ich mich zu klein für.“ (I03) Institutionelle Politik wird als kompliziert, intransparent, und unzugänglich beschrieben:

Der Bundestag, der macht eh, was er will und da habe ich eh nichts mehr mit zu tun. [...] Ich glaube nicht, dass ich all zu viel Einfluss darauf habe. Ich glaube in der heutigen Welt, mit unserer Technologie und allem, ist das sowieso alles gefaket. [...] Ich denke mal, die da oben entscheiden letztendlich sowieso, wie es läuft. (I05)Footnote 31

PolitikerInnen wird eine Ignoranz gegenüber den durch politische Partizipation zum Ausdruck gebrachten Forderungen attestiert. Stattdessen wollen die politischen RepräsentantInnen nur „ihre eigene Meinung“ oder Agenda durchsetzen: „Es geht immer nur ums Eigene.“ (I02)Footnote 32 Immer wieder wird der Wunsch nach „frischem Wind“ in der ansonsten durch Stagnation geprägten politischen Sphäre geäußert. Dieser wird von einigen Befragten selbst dann als Erklärung für den Erfolg der rechtsradikaler Parteien herangezogen, wenn sie sich selbst von ihnen distanzieren. So vermutet der Mechaniker Anton, dass die AfD punkten kann, „weil die regierenden Parteien ja auch schon länger dabei sind. Und sich vielleicht zu sehr mit sich selbst beschäftigen.“ (I20)

Wie in Marcs Bild des Politikers auf der Kürbiskiste scheint als Gegenbild der verschlossenen politischen Sphäre eine Vorstellung eines nahen, kümmernden Verhältnisses von PolitikerInnen und Regierten durch. Bezog sich im vorangegangenen Repertoire die Kritik auf die Gleichheitsnorm eines impliziten Gesellschaftsvertrags bezüglich politischer Regulierung und Umverteilung, so bildet hier ein Ideal der Inputlegitimierung durch demokratische politische Wirksamkeit den Horizont der Kritik. Dieses wird einerseits im Sinne einer plebiszitären Demokratisierung – etwa durch Volksentscheide und eine Aufwertung von „Volkes Stimme“ – entwickelt, andererseits im Sinne eines funktionierenden Paternalismus, demzufolge die Regierenden den Erwartungen der BürgerInnen ein offenes Ohr schenken sollten, ohne dass letztere selber zu Akteuren werden. Die häufigste Schlussfolgerung dieser Kritik ist jedoch die Abwendung von der politischen Sphäre überhaupt, die von unseren Befragten mehrheitlich formuliert wird: „Ich halte nichts mehr von unserer Politik. [...] Ich lebe eigentlich lieber für mich.“ (I16) Oder: „Für mich ist Politik so: ‚Macht euer Ding doch alleine.‘“ (I02)

6 Fazit: Arbeiterkritik in der demobilisierten Klassengesellschaft

Ziel dieser Studie war es, zu einem umfassenderen und nuancierteren Verständnis der politischen Orientierungen von ArbeiterInnen in Deutschland beizutragen, als es sich aus der Verengung auf rechtsradikal mobilisierte Klassenfraktionen ergibt. In diesem Sinne zeichnen die sieben hier rekonstruierten Repertoires der Alltagskritik von Produktionsarbeiterinnen und -arbeitern ein Bild, das sich einerseits in Form und Gegenständen von dem einer eindimensionalen, ideologisch regressiven und in „kommunitaristischer“ kultureller Abgrenzung begriffenen „weißen Arbeiterklasse“ unterscheidet. Andererseits machen die Interviewaussagen jedoch auch greifbar, an welchen Stellen Wahlverwandtschaften zwischen Repertoires der Arbeiterkritik und rechtsradikalen Ansprachen bestehen.

Heuristisch geordnet entlang der Gerechtigkeitsdimensionen von Verteilung, Anerkennung und politischer Repräsentation, kartieren unsere sieben Kritikrepertoires somit zum einen zentrale Gegenstände, an denen sich die Alltagskritik deutscher ArbeiterInnen entzündet (Tab. 1). Im theoretisch sensibilisierten Nachvollzug der Form der Arbeiterkritik als Unrechtsbewusstsein scheint zum anderen ein zentraler Modus Operandi des demobilisierten politischen Bewusstseins durch: die reaktive Skandalisierung gebrochener Versprechen und verletzter Ansprüche. Viel stärker als die ideologische Positionierung im politischen Raum (z.B. als links oder rechts) oder die kulturelle Abgrenzung auf der Basis milieuspezifischer Lebensstile (z.B. als bodenständig und traditionell) stehen die defensive Markierung moralischer Ökonomien von Leistung, Reziprozität und Anerkennung sowie die tiefe Skepsis gegen das Handeln der „höheren Leute“ im Zentrum der Arbeiterkritik. Anstelle einer Nacherzählung des bereits Gesagten heben wir in dieser abschließenden Betrachtung drei allgemeinere Aspekte hervor, die sich aus unseren Befunden ergeben: Es handelt sich erstens (6.1) um den stark „materialistischen“ Einschlag der Arbeiterkritik, zweitens (6.2) den nicht-ideologischen, reaktiven Charakter der Kritik, der auf die Bedingungen soziopolitischer Demobilisierung verweist, sowie drittens (6.3) um die politische Offenheit des politischen Arbeiterbewusstseins.

Tab. 1 Zusammenfassung: zentrale Kritikrepertoires, soziale Referenzgruppen und moralische Ökonomien

6.1 Der Materialismus der ArbeiterInnen

Wie oben gezeigt, kam der Kritik an Ungerechtigkeiten in materiellen Verteilungen und sozioökonomischen Hierarchien eine besonders hervorgehobene Rolle in der Arbeiterkritik zu. Obwohl als Klassenkonflikt im klassischen Sinne weitgehend desartikuliert, zieht sich eine „materialistische“ Kritik an ungleicher Macht- und Ressourcenverfügung als roter Faden durch die Aussagen der Befragten. Sie äußert sich in der Skandalisierung der sozialen Polarisierung durch eine davonziehende Oberschicht sowie des exzessiven Profitstrebens von EigentümerInnen und Management, in der Kritik einer inhumanen Steigerungslogik kapitalistischer Märkte, in der durch niedrige Löhne versinnbildlichten Abwertung manueller ProduzentInnen sowie in Beschwerden über die politische Ungleichheit, die daraus resultiert, dass der Staat die Interessen der einfachen Leute gegenüber denen der „Großen“ nicht ausreichend zur Geltung bringt. Geld ist das zentrale Medium, anhand dessen alle drei Dimensionen der Ungerechtigkeit – materielle Verhältnisse, Status und Macht – im ArbeiterInnendiskurs wahrgenommen und kritisiert werden, auch wenn sich die Repertoires in den aufgerufenen sozialen Konstellationen und Referenzgruppen sowie den zugrundeliegenden moralischen Ökonomien unterscheiden. So wurde auch für Kritikformen, die auf Anerkennungsdefizite durch gestörte Anspruchshierarchien sowie auf Repräsentationslücken durch fehlende Responsivität der PolitikerInnen abhoben, rekonstruiert, dass diese von wahrgenommenen Missverhältnissen in der Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen ihren Ausgang nimmt (s. unten), bzw. PolitikerInnen selbst einem abgehobenen „Oben“ zuordnet. Ein gemeinsames Leitthema ist die Wahrnehmung einer in Oben und Unten dichotomisierten Gesellschaft sowie der eigenen Positioniertheit am unteren – wenn auch nicht untersten – Pol der gesellschaftlichen Hierarchie.Footnote 33

Die starke Prominenz materieller Verteilungsfragen und ökonomisch vermittelter Hierarchie ist mit Blick auf einen vielbeschworenen „Kulturkampf“ aufschlussreich, demzufolge eine alte oder „traditionelle Mittelschicht“ der HandwerkerInnen und FacharbeiterInnen um die „Wiederherstellung [ihres] kulturellen Alleinvertretungsanspruchs“ ringt und „die eigenen Werte [...] gegen die hegemoniale Kultur der postindustriell-akademischen Mittelklasse und die Kultur des Fremden (Außenseiter) verteidigt“ (Koppetsch 2018, S. 388). In unseren Interviews nahmen weder die kulturelle Verdrängung traditioneller, konservativer oder konventioneller Lebensstile, noch die Abgrenzung von der „postmodernen“ neuen Mittelklasse eine wichtige Stellung ein. Zumindest im begrenzten Rahmen unserer Erhebung ergibt sich der Eindruck, die neue Mittelklasse sei im Alltagsbewusstsein der ArbeiterInnen weit weniger präsent, als ihre Selbstthematisierung in den Feuilletons suggeriert.Footnote 34 Wo sich Befragte von der Mittelklasse abgrenzten, geschah dies eher weniger mit Bezug auf kulturelle Lebensstil-Distinktionen, denn als Behauptung der eigenen „Knochenarbeit“ im Vergleich mit der als relativ nutzlos betrachteten Büro- und Kopfarbeit jener, „die ab und zu mal eine Maus klicken“ und damit hohe Einkommen erzielen (Biskamp 2020).

6.2 Unrechtsbewusstsein: Der Modus der Kritik

Die Kritikrepertoires geben des Weiteren Auskunft über die spezifische Form der von ArbeiterInnen geäußerten Alltagskritik. Fokussiert durch Axel Honneths Beobachtung, dass das Fehlen eines kohärenten Systems ideologischer Überzeugungen eine Grundcharakteristik des Bewusstseins beherrschter Gruppen ausmacht, wurde rekonstruiert, dass die Kritik der ArbeiterInnen sich in erster Linie negativ, durch die Ad-hoc-Benennung von Unrechtsmomenten bestimmt. Die Arbeiterkritik präsentiert sich weder als gesellschaftlicher Gegenentwurf, noch als kohärentes Bündel von Einstellungen oder Positionierung im politischen Raum, sondern in erster Linie in der Form eines reaktiven Unrechtsbewusstseins, das Übertretungen impliziter Erwartungen und Ansprüche ausflaggt. Das Unrechtsbewusstsein der ArbeiterInnen regt sich, wo missachtet wird, was von Menschen in ihrer Position legitimerweise erwartet werden kann. Grundlage der Bestimmung legitimer Erwartungen und Ansprüche sind moralische Ökonomien der Leistungsgerechtigkeit, des Interessensausgleichs und einer durch Zugehörigkeit und Respektabilität vermittelten Anerkennungshierarchie, die sich aus der spezifischen Stellung der ArbeiterInnen im gesellschaftlichen Gefüge ergeben.

Im Pochen auf die so bestimmten moralischen Ökonomien drückt sich zugleich eine defensive Grundhaltung der Befragten aus. Wenngleich in der Kritik vereinzelt utopische Vorstellungen über eine andere Gesellschaft durchschimmern,Footnote 35 zielt der bei weitem überwiegende Teil der Kritik auf die Wiederherstellung einer einstmals intakten, heute aber aus dem Gleichgewicht geratenen normativen Ordnung ab. Sowohl die Mächtigen als auch die „Leistungsunwilligen“ werden zur Einhaltung des impliziten Gesellschaftsvertrags aufgefordert. Ebenso wurde beobachtet, wie die Befragten die Kritik des ungerechten Status Quo mit seiner resignativen Anerkennung verbanden. Als Handlungsorientierungen überwogen die machtlose Kritik „von der Seitenlinie“ oder individualisierte Strategien des Ausstiegs („macht euer Ding doch alleine“) bzw. der Alltagsbewältigung („ich schaue eher auf meine kleine Welt“). Wir deuten diese Form des politischen Bewusstseins als Reflexion einer demobilisierten Klassengesellschaft, also als bedingt durch die politische Desartikulation kollektiver Klassenerfahrungen und Formen des politischen Ausschlusses, wie sie auch von den ArbeiterInnen selbst kritisiert werden. Gerade weil die eigenen Unrechtserfahrungen keinen Eingang in die öffentlichen oder politischen Debatten finden, besteht kein Zwang zu ihrer systematischen Explikation oder Übersetzung in positive Forderungen (vgl. auch Honneth 1981, S. 563). Im Zuge der Schwächung klassischer Repräsentationskanäle und Organisationen von Arbeitenden schwinden nicht nur die Machtressourcen und Teilhabechancen von ArbeiterInnen, sondern auch Instanzen, die Deutungen für gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge und Gegenentwürfe als gemeinsame kulturelle Repertoires zur Verfügung stellen könnten (vgl. Dörre 2019 sowie bereits Kern und Schumann 1985, S. 305). Dies hat wichtige Konsequenzen für die Analyse des politischen Verhaltens von ArbeiterInnen.

6.3 Die politische Offenheit der Arbeiterkritik

Diese Destrukturierung der Kritik führt zugleich zu einem dritten Befund: dem der politischen Offenheit der Arbeiterkritik. Die hier rekonstruierte Kritik an wachsender Ungleichheit, an ökonomisch-politischen Eliten und den Zwängen von Markt und Konkurrenz, betrieblicher Hierarchie und Machtdisparitäten, sowie die hohen Ansprüche an staatliche Intervention, Regulierung und Umverteilung eröffnen eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten für progressive Politik und Mobilisierungen. Auch unter der Oberfläche eines politisch stillgelegten Klassenkonflikts hält die „moralisch-praktische“ Auseinandersetzung um soziale Ungleichheit an (Honneth 1981, S. 558). Blockiert ist diese zum jetzigen Zeitpunkt vor allem durch den politischen Ausschluss der ArbeiterInnen, der mit einem tiefgreifenden Selbstausschluss beantwortet wird. Zugleich signalisiert das Fehlen einer kohärenten politisch-ideologischen Rahmung keineswegs die Unmöglichkeit einer zukünftigen (Re‑)Mobilisierung. Wie u.a. Vivek Chibber (2022, S. 74) herausstellt, ist politisches Klassenbewusstsein weniger Bedingung als Ergebnis kollektiver Organisierung (vgl. auch Fantasia 1989).Footnote 36

Auf der anderen Seite werden in den zahlreichen exkludierenden Momenten der Arbeiterkritik auch Anknüpfungspunkte des Unrechtsbewusstseins für die radikale Rechte greifbar. Formen einer exklusiven Solidarität (Dörre et al. 2018) treten in Äußerungen zu MigrantInnen und gesellschaftlich Stigmatisierten, insbesondere Hartz IV-EmpfängerInnen, deutlich zum Vorschein.Footnote 37 Als EmpfängerInnen staatlicher Leistungen fungieren diese Gruppen immer wieder als Abgrenzungsfolie der arbeits- und leistungsorientierten Selbstverständnisse der respektablen ProduzentInnen (Rathgeb 2021; Hochschild 2016). Der vergleichenden Anerkennungskritik liegt die Vorstellung eines Pools knapper Güter zugrunde, der rechtmäßiges Eigentum einer nationalen Gemeinschaft produktiv Arbeitender ist, und den der Staat verteilt.Footnote 38 MigrantInnen und Erwerbslose verkörpern in dieser Vorstellung die Konkurrenz um staatliche Fürsorge und begrenzten gesellschaftlichen Reichtum. Ihre vermeintlich leistungslose Privilegierung wird kontrastierend zur Vernachlässigung der eigenen Ansprüche in Stellung gebracht; der eigene, zur moralischen Erwartung generalisierte Leistungswille dient der Abgrenzung zu ausländischen wie inländischen „Freeridern“.

Diese vergleichende Deservingness-Kritik ist das Einfallstor par excellence für die radikale Rechte, deren sozialpolitische Positionen immer weniger von Fragen des Aus- oder Abbaus sozialstaatlicher Leistungen bestimmt ist und stattdessen eine autoritär und ethnisch codierte Gegenüberstellung von „makers“ und „takers“ mobilisiert (Attewell 2020; Rathgeb 2021). Es lässt sich vermuten, dass solche exkludierenden Elemente des Arbeiterbewusstseins an Bedeutung gewinnen, wenn die organisatorische und diskursive Destrukturierung des Klassenkonflikts ein Kernelement der Arbeiterkritik – die Kritik an den Reichen und Besitzenden – politisch heimatlos werden lässt (Dörre et al. 2018), und zudem die Hoffnung auf eine Expansion des gesellschaftlichen Reichtums als Ganzem versiegt (Reitz und Jörke 2021). Verdammt zu einer defensiven Position, in der der Bereich dessen, was legitimerweise erhofft werden darf, schrumpft, wird die Verteidigung des eigenen Kuchenstücks gegenüber vermeintlich unwürdigen Gruppen zur rationalen Strategie.

Das Fehlen einer ideologischen Festlegung der Arbeiterkritik macht dabei plausibel, wie exkludierende und teils stark autoritäre Haltungen gegenüber den Ansprüchen anderer mit umfangreichen normativen Erwartungen an soziale Gerechtigkeit und einen Interessenausgleich zwischen „oben“ und „unten“ nebeneinander existieren können. Für die Forschung und die öffentliche Debatte zur politischen Orientierung von ArbeiterInnen bietet der Begriff des Unrechtsbewusstseins somit ein wichtiges Korrektiv, insofern er die Widersprüchlichkeit und Fragmentierung des gegenwärtigen Arbeiterbewusstseins konzeptuell und empirisch aufschließt. Zeitdiagnosen, die ArbeiterInnen als ideologisch motivierte Trägerschicht eines vermeintlichen Rechtsrucks beschreiben oder ihnen politische Philosophien wie die des Kommunitarismus zuschreiben, überschätzen die Kohärenz und Geschlossenheit politisch-gesellschaftlicher Weltbilder in dieser Klasse. Umgekehrt kann die z. B. in der Umfrageforschung regelmäßig gefundene Ambivalenz und Uneinheitlichkeit von Antwortmustern unter dominierten Gruppen mit einer empirischen Betrachtung der Konturen eines „vorpolitischen“ Unrechtsbewusstseins positiv gefüllt und ausgedeutet werden.

Die Rekonstruktion der Alltagskritik macht politische und proto-politische Bewusstseinsformen sichtbar, die sich unterhalb gefestigter Ideologien und politischer Präferenzen bewegen. Sie legt die alltägliche Urteilskraft politisch passivierter Gruppen frei und identifiziert so auch Ansatzpunkte für kollektive Organisierung, die allein der Kritik Wirksamkeit verschaffen könnten. Denn im „Unrechtsbewußtsein sozialer Gruppen“, so Axel Honneth (1981, S. 562 f.), „ist ein Potential an Gerechtigkeitserwartungen, Bedürfnisansprüchen und Glücksvorstellungen negativ aufbewahrt, das zwar aus sozialstrukturellen Gründen die Schwelle von Entwürfen einer gerechten Gesellschaft nicht erreicht, aber gleichwohl unausgeschöpfte Wege moralischen Fortschritts anzuzeigen vermag“.