Zu den Grundbegriffen der Gesellschaftsbeobachtung im frühen 21. Jahrhundert gehört, neben etwa „Prekarität“ oder „Populismus“, ohne Zweifel auch „Systemrelevanz“ – nicht zuletzt deshalb ist er Gegenstand des Aufmachertextes von David Kaldewey im vorliegenden Heft. Die Karriere dieses Begriffs ist auffallend jung: Noch vor zwei Jahrzehnten war der Wortgebrauch selbst in den Sozialwissenschaften unüblich. Erst seit der Begriff als Rechtfertigungsformel für die öffentlichen Bail-out-Programme der Finanz- und Eurokrise nach 2008 auftauchte, hat sich das geändert. Seinerzeit verwies die Rede von Systemrelevanz auf den Umstand, dass in diesem Fall die üblichen Regeln der Marktgerechtigkeit nicht mehr galten. Zwar mochten große Investmentbanken für ihre Misere verantwortlich sein, bankrottgehen durften sie nicht: Der Fall Lehman Brothers stand als warnendes Beispiel vor Augen. Das Beharren auf Systemrelevanz erhielt so eine beinahe ohnmächtige Note – wobei sich der technische Klang des Wortes wie auch die Evokation von „Alternativlosigkeit“ nur allzu gut in die expertokratische Sachzwangrhetorik der neoliberalen Ära fügten (Séville 2017).

Mit Beginn der Covid-Pandemie vor gut zwei Jahren nahm der Wortgebrauch dann eine ganz neue Wendung. Der erste Lockdown im Frühjahr 2020 rückte schlagartig die elementare Bedeutung „einfacher“ Berufe für die alltägliche Grundversorgung in den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit. Beschäftigte in der Pflege, bei der Polizei, der Müllabfuhr oder im Einzelhandel waren vom Lockdown ausgenommen und mussten sich einem hohen Ansteckungsrisiko aussetzen. Dafür wurden sie mit Worten und Gesten der öffentlichen Anerkennung bedacht, bis hin zum Ritual des abendlichen Balkonapplauses der Zuhausegebliebenen. Im diametralen Kontrast zur Finanz- und Eurokrise war die Rede von Systemrelevanz in diesem Fall unmittelbar evident, ging es doch um die Gewährleistung der Daseinsvorsorge für alle Mitglieder einer letztlich globalen Solidargemeinschaft, nicht um die Rettung von Investmentbanken und Finanzdienstleistern.

Das Bild, das sich in der Gegenüberstellung ergibt, könnte kaum plastischer sein. Hier Investmentbanker, unbekümmert um ihren gesellschaftlichen Ruf, denen es aufgrund ihrer schieren Marktmacht gelang, im Moment einer selbst verursachten Existenzkrise ihrer Unternehmen genau jene staatlichen Regulierungsambitionen in Anspruch zu nehmen, die ihre Wortführer ehedem als Ursprung allen Übels bekämpft hatten. Dort Care-Arbeiter:innen und „einfache“ Angestellte, die seit Jahrzehnten unter Sparpolitiken und Prekarisierung leiden, denen nun jedoch der selbstlose, ja selbstgefährdende Dienst am Gemeinwohl abverlangt wurde – ohne unmittelbare monetäre Entschädigung. Mit Richard Münch (1994) gesprochen fällt das Verhältnis von Zahlung und Achtung im jeweiligen Fall auseinander: Der gesellschaftliche Nutzen einer Tätigkeit und die damit verbundene Anerkennung sind, so zeigt sich, schwerlich übersetzbar in ökonomisch-soziale Macht. Umgekehrt hat sich herausgestellt, dass der neue Wortgebrauch eine Möglichkeit bietet, den Wert der eigenen Leistung gerade dort zu thematisieren, wo sich die meritokratische Fiktion nicht hinreichend einlöst. In diesem Sinne nutzen inzwischen auch Berufsverbände und Gewerkschaften den Begriff für die Interessenvertretung – und ist beinahe jede(r) versucht, die neue Semantik auf sich selbst anzuwenden. Wo es bis vor Kurzem vor allem darum ging, die eigene „Leistung“ hervorzuheben, geht es nun nicht selten um die eigene Systemrelevanz.

Nicht ganz leicht zu verorten ist hier unsere Berufsgruppe. Zwar wird die Systemrelevanz der Wissenschaft als solche selten bezweifelt – auf die Sozial- und Geisteswissenschaften aber trifft das wohl nur bedingt zu. Trotz zunehmender „Versozialwissenschaftlichung“Footnote 1 der deutschen Politik, partieller öffentlicher Aufmerksamkeit für die soziologische Forschung und Bemühungen um eine Public Sociology gilt unser Fach, nicht zuletzt ob des ihm zugeschriebenen Jargons, nicht wenigen als sozialfunktional opak. Dementsprechend unzuverlässig gestaltet sich bekanntlich auch hier das Verhältnis von Zahlung und Achtung. Dabei gäbe es, wie Kaldewey in seinem Text zeigt, durchaus Grund für ein selbstbewussteres Auftreten der Soziologie, insofern sie mit der Debatte um Systemrelevanz zwar nicht auf ein ihr vertrautes Konzept, aber durchaus auf ihre ureigene Semantik trifft: Im inflationären Wortgebrauch seit Beginn der Pandemie popularisiert sich die soziologische Grundeinsicht, dass Gesellschaft ein interdependentes Ganzes darstellt – denn nichts anderes meint ja der Systembegriff (Riedel 1990) –, das sich nur durch andauernde Versorgungs- und Schutzleistungen erhalten kann. So gesehen beruht die Systemrelevanz der Soziologie auf ihrer „Systemrelevanzkompetenz“. Nicht zuletzt die von Kaldewey aufgeworfene, ihm zufolge aber viel zu selten gestellte und reflektierte Frage, „wie lange die Gesellschaft bestimmte Institutionen auf Eis legen kann, ohne dass diese nachhaltig Schaden nehmen“, fällt in den Kernbereich soziologischer Zuständigkeit. Zudem steigern gerade Transformationsperioden die Nachfrage nach Gesellschaftsbeobachtung und beleben die Übersetzungsverhältnisse zwischen Sozialwissenschaften, überfachlicher Öffentlichkeit und Staat (dazu historisch: Wagner 1990).

Auch im Berliner Journal für Soziologie macht sich das in der zunehmenden Zahl an Einreichungen bemerkbar, die sich drängenden Fragen der Gegenwart widmen und in früheren Heften angestoßene Debatten aufgreifen. Gleichzeitig haben die insbesondere von der Digitalisierung ausgelösten Umbruchsprozesse im wissenschaftlichen Publikationswesen einiges verändert: Die Funktion einer Fachzeitschrift lässt sich nicht mehr allein mit der Tatsache begründen, dass keine Wissenschaftler:in in der Lage wäre, ihre Texte in Eigenregie tausendfach zu drucken und zu versenden. Wie die schiere Zunahme wissenschaftlicher Publikationen in der ganzen Vielgestaltigkeit ihrer digitalen Formate belegt, ist das bloße Zur-Diskussion-Stellen der eigenen Ideen nichts, was heute noch einen allen Beteiligten evidenten logistischen Aufwand erfordern würde.

Mit dem Wegfall des Publikationsmonopols, so lässt sich vermuten, beruht die Rolle tradierter Zeitschriften im System Wissenschaft mehr denn je auf ihrer qualitätssichernden Funktion, die sich wiederum auf drei Faktoren gründet: dem Peer Review, der Auswahl der Artikel durch ein Herausgeber:innengremium und der redaktionellen Textbetreuung. Es sind diese Komponenten, die die Qualität, die Wichtigkeit, aber auch die Verständlichkeit der Texte gewährleisten, um zugleich reputationsbildend zu wirken. Der institutionalisierte Auswahlprozess selektiert im Modus standardisierter Verfahren, die sich an den Kriterien wissenschaftliche Qualität und Erkenntnisgewinn orientieren. Auf dieser Grundlage beanspruchen sie ihre Legitimität. Die Verfahren der Binneninstitution Zeitschrift legitimieren wiederum die meritokratische Selbstbeschreibung des wissenschaftlichen Systems insgesamt (Schendzielorz und Reinhart 2020) – und helfen, mit Hirschauer (2004) gesprochen, dabei, die knappe Ressource „Lesezeit“ zu kalibrieren.

Der Verantwortung, die daraus erwächst, versuchen Zeitschriften wie diese täglich gerecht zu werden mit einem aufwändigen doppelblinden Peer-Review-Verfahren, mit dem Engagement zahlloser Beteiligter und mit der gewissenhaften Bearbeitung angenommener Manuskripte. Gleichzeitig sind die oben beschriebenen Widersinnigkeiten im Umgang mit systemrelevanter Arbeit auch hier zu beobachten, ist die Einsicht in die Bedeutung wissenschaftlicher Redaktionsarbeit doch nicht gerade wissenschaftspolitischer common sense. So sehen sich nicht wenige Kolleg:innen in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Zeitschriftenredaktionen, trotz der Wichtigkeit und Güte ihrer Arbeit, beständig mit der organisatorischen Herausforderung konfrontiert, die elementaren Ressourcen für ihre Arbeit zu sichern – auch für die Betreuung von Manuskripten gilt, dass sich Systemrelevanz und Prekarität zwar beißen, aber nicht wechselseitig ausschließen. Dazu tragen die nicht restlos geklärte Arbeitsteilung zwischen privaten Verlagen und staatlichen Akteuren ebenso bei wie die eingespielte wie fragwürdige Ausrichtung der Wissenschaftsförderung auf eine Projektlogik, die vielversprechende Anfänge belohnt, aber mühevolle Daueraufgaben nur bedingt honoriert. Vor allem aber fehlt es an einer breiteren Diskussion über die Ansprüche an wissenschaftliches Publizieren und die Voraussetzungen, die dafür erfüllt sein müssen. Auch die Systemrelevanz wissenschaftlicher Zeitschriften ist eine Entdeckung, aus der die Konsequenzen noch zu ziehen sind, – und Teil jenes Fragekomplexes, den Kaldewey in den Blick nimmt und dem wir als sozialwissenschaftliches Fachjournal ein Forum bieten wollen.

Nach dem Beitrag von David Kaldewey nehmen Klaus-Peter Buss, Herbert Oberbeck und Knut Tullius mit der Digitalisierung von Industriearbeit eine Entwicklung in den Blick, deren systemische Bedeutung über jeden Zweifel erhaben sein dürfte. Allerdings zeigen sie, dass sich dahinter bei weitem kein monolithischer Block verbirgt, der die traditionellen Verhältnisse lawinenartig niederwalzt. Statt als Push-Effekt eines technologiegetriebenen Umbruchs verstehen die Autoren den Wandel als branchenspezifischen Pull-Effekt systemischer Rationalisierung. Damit setzen sie zugleich eine Diskussion um ein differenziertes Verständnis industrieller Digitalisierung, ihrer Erscheinungsformen und Treiber fort, wie es bereits Sarah Nies in ihrem Beitrag in Ausgabe 3–4/2021 des Berliner Journals eingefordert hat.

Der Status von Intellektuellen – auch soziologischen – wird seit Jahrzehnten als krisenhaft charakterisiert. Im deutschen Diskurs geschieht das immer wieder im Kontrast zu den intellektuellen „trente glorieuses“ der bundesdeutschen Nachkriegszeit, die kaum ein Name mehr repräsentiert als der von Theodor W. Adorno. Susanne Martin betrachtet in ihrem Beitrag die intellektuelle Selbstpositionierung Adornos und fragt nach deren historisch-strukturellen wie auch biografischen Hintergründen, insbesondere hinsichtlich der Rolle des Exils. Gründe dafür, dass die für Adorno charakteristische intellektuelle Selbstverortung im „Dazwischen“ zunehmend schwierig geworden ist, entdeckt sie in Prozessen der „Vereindeutigung“, wie sie im medialen und akademischen Kontext seit den 1970er-Jahren zu beobachten seien. Diese Prozesse, so Martins Vermutung, werden sich durch plattformkapitalistische Entwicklungen weiter verstärken.

In der flächendeckenden Schließung von Schulen während der Corona-Pandemie hat sich die Komplexität der Systemrelevanzfrage auf besonders lebensnahe Weise offenbart. Kaldewey stellt mit Blick auf das Bildungssystem die Frage nach der zeitlichen Dauer einer Systemkrise und deren langfristigen Folgen für die Kinder, aber auch für die Gesellschaft allgemein. Gänzlich unzweifelhaft dürfte aber sein, dass die Schulen für die personelle Reproduktion aller Berufe von elementarer Bedeutung sind. Mit der Digitalisierung der Berufswelt gewinnt der Einsatz digitaler Technologien daher in sämtlichen Bereichen der schulischen Ausbildung an Gewicht. In ihrem Beitrag nehmen Torsten Cress und Herbert Kalthoff die kollaborative Entwicklung und Einführung digitaler Lernmaterialien in der Zusammenarbeit zwischen Schulen und Unternehmen in den Blick. Wie die Auswertung ihres Fallbeispiels zeigt, folgt diese Zusammenarbeit einer offenen Kooperationsform, in der sich die technische und pädagogische Expertise gegenseitig beeinflussen.

Die von Kaldewey angesprochene Frage nach der Zeitlichkeit der Corona-Pandemie ist auch das zentrale Thema des Beitrags von Lisa Suckert, mit dem wir die in Heft 2/2020 angestoßene Corona-Debatte fortführen. Den Hintergrund ihrer Ausführungen bilden die Thesen Hartmut Rosas zu einer Veränderung des kapitalistischen Zeitregimes im Zeichen der Pandemiepolitik. Zwar teilt Suckert dessen Beobachtung, dass jene pandemiepolitisch bedingten staatlichen Interventionen, die auf eine Einschränkung und Verlangsamung ökonomischer Abläufe zielten, diesem Regime entgegenlaufen – jedoch lasse sich daraus nicht auf einen grundsätzlichen Wandel temporaler Verhältnisse schließen. Vielmehr habe sich dieses Regime gerade durch die oktroyierte „Verlangsamung“ vielen erst als attraktivere Alternative gezeigt. An zeitbezogenen Ungleichheiten habe die Interventionspolitik zudem im Kern nichts geändert. Eine Kritik an den kapitalistischen Zeitverhältnissen könne nach diesen Erfahrungen nicht bloß auf die Forderung nach „Entschleunigung“ hinauslaufen: Stattdessen gelte es, diese Ungleichheiten genauer zu analysieren und auf eine Umverteilung der Zeitressourcen hinzuwirken.

Das Heft beschließt eine Replik von Walter Otto Ösch, Katrin Hirte und Stephan Pühringer auf die Kritik von Nico Sonntag an ihrem Buch Netzwerke des Marktes. Ordoliberalismus als Politische Ökonomie und der dort praktizierten Methode der Netzwerkforschung, die in Heft 1–2/2019 erschienen war.