1 Eine erklärungsbedürftige Diskrepanz

Der gesellschaftliche, politische und wissenschaftliche Diskurs um die Digitalisierung wird geprägt durch die Vorstellung eines disruptiven Technologieschubs. Demnach werden mit der Digitalisierung technologische Entwicklungen möglich, die bis vor kurzem undenkbar waren. Die Digitalisierung öffne etablierte Märkte für neue Geschäftsmodelle und neue technologiegetriebene Player, die mit ihrem technologischen Vorsprung ganze Traditionsbranchen existenziell bedrohen. Von einer disruptiven Entwicklung wird zudem gesprochen, weil der Digitalisierung und den damit möglichen neuen Automatisierungsschüben große Teile der heute bestehenden Arbeitsplätze und ganze Berufsfelder zum Opfer fallen könnten (siehe etwa Frey und Osborne 2013; Dengler und Matthes 2021).

Zu diesem Bild der Digitalisierung und ihrer prognostizierten Wirkungen steht das, was gegenwärtig in deutschen Unternehmen zu beobachten ist, freilich in starkem Kontrast: die realen Digitalisierungs- oder Transformationsprozesse weiter Teile der deutschen Wirtschaft bleiben auffällig hinter den hochfliegenden Digitalisierungserwartungen und -utopien, aber auch -dystopien zurück (Bitkom 2020a; BMWi 2020, Faust 2021). Doch wofür steht diese Diskrepanz? Ist sie, wie ein großer Teil der Literatur suggeriert, Ausdruck eines „Noch-nicht“-Digitalisiertseins? Verweist sie auf eine besorgniserregende technologische Rückständigkeit eines Großteils der etablierten Unternehmen hierzulande, die keine Kraft zur Realisierung neuer Innovationspotenziale aufbringen? Ist sie damit gar Vorbote eines anstehenden Niedergangs der hiesigen Volkswirtschaft?

Wir sind auf der Grundlage eigener empirischer Untersuchungen im Einzelhandel (Buss 2018a; Buss und Walker 2021), in der Logistik (Buss 2018b) und in den Finanz- und Versicherungsdienstleistungsbranchen (Tullius 88,89,a, b) zur Auffassung gelangt, dass wir es derzeit überwiegend nicht mit einem allgemeinen, technologiegetriebenen Umbruch zu tun haben, sondern mit branchenspezifischen Entwicklungen. Damit knüpfen wir an frühere Befunde zur Einführung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK) und darauf aufbauenden systemischen Rationalisierungsstrategien an. Der eigentliche Treiber der Digitalisierung und Einsatzzweck digitaler Technologien, so unsere These, ist der Versuch der Optimierung und Steuerung von Marktbeziehungen und Wettbewerbsprozessen, die zunächst von den Spezifika der jeweiligen Branchen bestimmt werden. Daran ändert sich auch durch die Corona-Pandemie nichts, auch wenn manch eine*r diese zum neuen Treiber der Digitalisierung erklärt (Bertschek 2020; Bitkom 2020b). Dies wollen wir am Beispiel der von uns untersuchten Dienstleistungsbranchen zeigen – drei Branchen, die allgemein als von der Digitalisierung besonders betroffen gelten.

In einem ersten Schritt werden wir kritisch auf einige gegenwärtige Deutungsangebote im Digitalisierungsdiskurs eingehen und daraus unseren eigenen Zugriff entwickeln (Abschn. 2). Im Anschluss werden wir auf der Grundlage von empirischen Befunden die Digitalisierungsentwicklung in den drei Dienstleistungsbranchen skizzieren (Abschn. 3). Abschließend werden wir unsere Befunde zu branchenübergreifenden Schlussfolgerungen zusammenführen.

2 Zur Kritik bisheriger Deutungsangebote

Bezogen auf die zu beobachtenden Ungleichzeitigkeiten der Digitalisierung lassen sich in der arbeits- und industriesoziologischen Literatur im Wesentlichen zwei Arten von (teils verknüpften) Deutungsangeboten unterscheiden.

Ein Teil der Literatur nimmt den verbreiteten Topos einer aufziehenden „Industrie 4.0“ zum Ausgang und betrachtet primär die betriebliche Umsetzung der Digitalisierung. Diese Literatur verweist insbesondere mit Blick auf die Industrie vielfach auf eine „generell schleppende Verbreitung“ der neuen Technologien (Hirsch-Kreinsen 2018a, S. 7), hinterfragt aber nicht die zugrundeliegenden Technisierungsentscheidungen der Unternehmen. Industrie 4.0 sei zwar, so Sabine Pfeiffer und Norbert Huchler in der Einführung zu einem von ihnen herausgegebenen Schwerpunktheft der WSI-Mitteilungen, „ein gut vermarktetes Leitbild“; die Antwort auf die Frage „Warum was aktuell umgesetzt wird – und vielleicht noch wichtiger: warum was nicht“ (2018, S. 170) suchen sie aber einzig auf der betrieblichen Ebene: Schlüsselanforderung für die Umsetzung von Industrie 4.0 sei die Integration der neuen Logik in bestehende betriebliche Strukturen.

Ähnlich argumentiert Hartmut Hirsch-Kreinsen, dass sich „mit der Digitalisierung von Arbeit und Industrie 4.0 im industriellen Sektor ein ausgeprägt pfadabhängiger Wandel von Arbeit verbindet“ (2018b, S. 239). Er hebt damit hervor, dass sich der Nutzen einer neuen Technologie vor allem dann schnell realisieren lässt, wenn diese an existierende Techniksysteme, eingespielte technisch-organisatorische Routinen und damit zusammenhängende Arbeitspraktiken anknüpft. Die betrieblichen Wechselwirkungen zwischen Technik und Arbeit und die damit einhergehende Pfadabhängigkeit der betrieblichen Entwicklung sind, so Hirsch-Kreinsen weiter, eine wesentliche Ursache für das nur moderate Voranschreiten der Digitalisierung in der Industrie, während er für Dienstleistungssektoren wie die Finanzdienstleistungen, die durch immaterielle Transaktionen und die Nutzung großer Datenmengen geprägt seien, von einer „absehbar disruptiven Entwicklung“ ausgeht (ebd., S. 240). Er begreift Digitalisierung, wie auch Pfeiffer und Huchler, als grundlegenden soziotechnischen Wandlungstrend, dem sich Unternehmen nur schwer entziehen können und der sich allenfalls an betrieblichen Einflussfaktoren bricht. Eine Befassung mit den Digitalisierungsstrategien der Unternehmen erscheint somit überflüssig: Digitalisierung geschieht als Technologieschub und bleibt akteursfrei.

Demgegenüber rücken Wolfgang Menz, Sarah Nies und Dieter Sauer (2019) mit Verweis auf die Gestaltung von Digitalisierung als sozialem Prozess den strategischen Charakter der Einführung neuer Rationalisierungs- und Restrukturierungsstrategien ins Zentrum. Sie unterscheiden im betrieblichen Einsatz digitaler Techniken zwischen arbeitskraftbezogenen Strategien, Strategien innerbetrieblicher und betriebsübergreifender Prozessrationalisierung bzw. der systemischen Rationalisierung sowie rationalisierungsunabhängigen Strategien (Kundenbindung, Marketing). Die Zweckbestimmung der digitalen Technologie leiten sie nicht aus den betrieblichen Anknüpfungs- und Nutzungsmöglichkeiten der Technologie, sondern aus ihrer strategischen Nutzung im spezifischen betrieblichen Verwertungskontext ab. Sie folgen damit dem im ISF München entwickelten Begriffsverständnis der systemischen Rationalisierung (Altmann et al. 1986), das bei aller Betonung strategischer Nutzungsoptionen primär auf Veränderungen betrieblicher Strukturen und Arbeitsprozesse gerichtet ist. Im Vordergrund steht für sie die Frage nach dem Konflikt um Leistung. Hierbei ist die von ihnen getroffene Unterscheidung der verschiedenen strategischen Ebenen zwar hilfreich. Doch sind auch die von ihnen diskutierten arbeitspolitischen Strategien Bestandteil von Geschäftsmodellen, mit denen die Unternehmen im Wettbewerb bestehen müssen. Die Frage, welche Bedeutung die Einbettung der Betriebs- und Unternehmensstrategien in übergeordnete, vernetzte Wertschöpfungsketten und Wettbewerbskontexte für die unterschiedliche Ausprägung von Digitalisierungsprozessen in den von ihnen betrachteten Branchen hat, bleibt auch hier offen.

Ein zweiter Strang der Diskussion verknüpft demgegenüber Digitalisierungs- und Kapitalismusanalyse und rückt so unternehmensübergreifende Prozesse ins Zentrum. Argumentiert wird hier mit einem radikalen gesellschaftlichen Umbruch, der durch die Digitalisierung hervorgerufen oder zumindest beschleunigt wird. Die fortschreitende Digitalisierung bringt danach neue Formen des Wettbewerbs hervor und stellt damit die hergebrachten Geschäftsmodelle in Frage. Entsprechend erscheinen die aufgezeigten Diskrepanzen in der Digitalisierung der Unternehmen vor allem als Ausdruck technologischer Rückständigkeit und ökonomischer Gefährdung.

Ein prominenter Vertreter ist etwa Philipp Staab (2019), der einen neuen „digitalen Kapitalismus“ heraufziehen sieht, der durch die Etablierung proprietärer Märkte charakterisiert ist. Mit diesen reagieren die „Leitunternehmen des kommerziellen Internet“ – insbesondere die bekannten GAFA-Unternehmen Google, Apple, Facebook, Amazon sowie der chinesische Internetgigant Alibaba – auf zwei zentrale Probleme des Gegenwartskapitalismus: die angebotsseitige „Unknappheit“ der im Internet gehandelten Güter (d.h. alles ist verfügbar) und die nachfrageseitige, bereits seit den 1970er-Jahren diagnostizierte MarktsaturierungFootnote 1. Durch die technologiegestützte soziale Kontrolle von Marktinformationen, Marktzugängen, Preisen und Bedingungen der Leistungserbringung festigen die Internetunternehmen im Rahmen von Plattformen und Ökosystemen ihre Marktmacht. In der Herausarbeitung der Marktstrategien der Internetunternehmen liegt sicherlich eine Stärke dieses Ansatzes, problematisch ist allerdings die daran geknüpfte Generalisierung: Auch wenn dem neuen „digitalen Produktionsmodell […] bisher wohl innerhalb keiner nationalen Ökonomie und auch nicht auf globaler Ebene eine herrschende Leitfunktion zugeschrieben werden“ kann (Nachtwey und Staab 2020, S. 299), ist der Digitalisierungsprozess ubiquitär, und die Leitunternehmen der Digitalisierung fungieren „als Schrittmacher der old economy“ (ebd., S. 286). Am Horizont sehen Staab und Nyckel (2019) ein Ausgreifen auch auf das industrielle Internet und eine mit der Verbreitung von Unternehmenssoftware drohende „Herrschaft der Betriebssysteme“. Digitalisierungsunterschiede sind vor diesem Hintergrund nur als Digitalisierungsrückstände zu erklären. Mögliche Gegenbewegungen sieht Staab (2019) lediglich (noch) auf der politischen Ebene, nicht aber im ökonomischen Wettbewerb. Dieser „tentativen Generalisierung [mit dem Ziel] der Verbindung von Digitalisierungsforschung und Kapitalismusanalyse“ (Nachtwey und Staab 2020, S. 287) fehlen unseres Erachtens jedoch die empirischen Evidenzen.

Im Gegensatz hierzu will Sabine Pfeiffer zwar „der Verführung, einen Kapitalismus in vermeintlich neuer Spielart auszurufen, […] nicht nachgeben“ (2019a, S. 156), entzieht sich dieser Versuchung aber letzten Endes auch nur knapp: Für sie ist die Digitalisierung zwar „ohne Frage ein zunehmend bestimmender Teil der aktuellen Produktivkraftentwicklung“ (Pfeiffer 2019b, S. 390), sie reicht in ihren Wirkungen aber darüber hinaus. Mit der global immer weiter steigenden Produktivität steige zugleich der Druck einer schnellen Realisierung der geschaffenen Werte. In der Folge komme es zu einem quantitativen Anstieg und einer qualitativen Bedeutungszunahme der institutionalisierten Prozesse des Verkaufs und der Verkaufsförderung, die darauf zielen, den in der Produktion generierten Mehrwert auf dem Markt zu realisieren, und die „mit der aktuellen Digitalisierung einen gesellschaftsverändernden und in diesem Sinne transformativen Charakter annehmen“ (ebd., S. 389). Die mit den neuen Technologien immer schneller vorangetriebene Entfaltung der Distributivkräfte (als der Gesamtheit der technologischen und organisatorischen Maßnahmen und Aktivitäten der Wertrealisierung) wird bei ihr zum Treiber eines letztlich zerstörerischen gesellschaftlichen Umbruchs, der – gleich dem Giddens’schen Dschagannath-Wagen (Giddens 1995) – durch die Digitalisierung immer mehr an Fahrt aufnimmt und kaum noch aufzuhalten und zu steuern ist. Aus der von Karl Polanyi in Bezug auf die Produktivkraftentwicklung beschriebenen „Great Transformation“ wird durch die digitale Transformation, so Pfeiffer, eine „Greater Transformation“ – „um das Risiko eines ‚tilt‘, eines katastrophalen ‚end of game‘“ (Pfeiffer 2019b, S. 396 f.). Zu Recht verweist sie auf die wachsende Bedeutung der Distributionssphäre für die Realisierung von Wertschöpfung als einen wichtigen und in der Forschung unterbeleuchteten Punkt. Stärker noch als bei Staab erscheint bei ihr aber die Digitalisierung als allumfassende, unausweichliche und geradlinige, einer Naturgewalt gleichende gesellschaftliche Umwälzung. Die in den zu beobachtenden Ungleichzeitigkeiten deutlich werdenden Brüche im Prozess der Digitalisierung rücken damit jedoch aus dem Blick.

Während auf der einen Seite also mit Verweis auf die inkrementelle Umsetzung der Digitalisierung vor allem in der Industrie mit betrieblich gebrochenen Digitalisierungsprozessen gerechnet wird (exemplarisch: Pfeiffer und Huchler 2018; Hirsch-Kreinsen 58,59,a, b; Menz et al. 2019), wird der Blick auf der anderen Seite insbesondere auf die Dienstleistungsbranchen gelenkt, in denen der Ausgangspunkt eines gesellschaftlichen Umbruchs ausgemacht wird (exemplarisch: Staab 2019; Staab und Nyckel 2019; Nachtwey und Staab 2020; Pfeiffer 74,75,a, b). In beiden Perspektiven erscheint die Digitalisierung aber als „gesetzte“ technologische Entwicklung. Im ersteren Fall wird sie umgesetzt und bricht sich dabei an den betrieblichen Gegebenheiten. Im letzteren wird sie zum Treiber sozioökonomischer Umbrüche. Ob und inwieweit statt des behaupteten technologischen Fortschritts nicht viel eher die Jagd nach Profit die Entwicklung der Digitalisierung prägt – diese Frage bleibt ungestellt. Unsere auf eigenen empirischen Fallstudien in bedeutsamen Branchen der „Distributionssphäre“ – dem Finanzdienstleistungssektor, dem Einzelhandel und der Logistik – beruhende These geht in eine andere Richtung: Wir gehen davon aus, dass die Digitalisierungsprozesse in den Unternehmen strategisch in Perspektiven von Profitgenerierung, Wettbewerbspositionierung und Kontrolle eingebettet sind. Der Prozess der Digitalisierung unterliegt damit branchenspezifischen Rahmenbedingungen der systemischen Rationalisierung, die den Einsatzzweck und die Nutzung digitaler Technologien in den Unternehmen prägen.

Indem wir hier auf den Begriff der systemischen Rationalisierung rekurrieren, wollen wir daran erinnern, dass der Einsatz von IuK-Technik und die daran gebundenen neuen Rationalisierungsmuster schon in den 1980er-Jahren auf die Steuerung von Marktprozessen und damit auf die Distributionssphäre abzielten. Bereits Martin Baethge und Herbert Oberbeck weisen darauf hin, dass sich durch den Einsatz elektronischer Datenverarbeitung die Rationalisierungsprinzipien und -dynamiken in den von ihnen untersuchten Branchen grundlegend wandeln und einen systemischen Charakter annehmen: „Systemische Rationalisierungsprozesse sind dadurch gekennzeichnet, daß unter Nutzung neuer, mikroelektronisch basierter Datenverarbeitungs- und Kommunikationstechnik der betriebliche und überbetriebliche Informationsfluß, die Kommunikation über und die Kombination von Daten, die Organisation der Betriebsabläufe und die Steuerung der unterschiedlichen Funktionsbereiche in einer Verwaltung bzw. in einem Unternehmen in einem Zug neu gestaltet werden.“ (Baethge und Oberbeck 1986, S. 21 f.; Hervorh. weggel.) Systemische Rationalisierung, so die Autoren weiter, mache zudem auch Kundenbeziehungen und Marktprozesse nunmehr selbst zum Gegenstand betrieblicher Rationalisierungs- und Optimierungsansätze, gehe es doch darum, die „begrenzte Durchschaubarkeit [von Markt- und Austauschprozessen; d. Verf.] besser in den Griff zu bekommen, Informationsvorteile herauszuschlagen, Kunden, Lieferanten, Klienten […] in ihren Verhaltensdispositionen und Interessen besser transparent zu machen, um sie dauerhafter ans Unternehmen zu binden oder rechtzeitig abzustoßen“ (ebd., S. 22). Diese Definition ist in hohem Maße anschlussfähig für die Analyse gegenwärtiger Digitalisierungs- und Rationalisierungsprozesse. Die technologisch fundierten Analyse- und Steuerungsprozesse im Verkauf von Produkten und Dienstleistungen sind zwar seitdem sicherlich kontinuierlich ausgebaut worden. Dies reicht jedoch nicht, wie wir im Folgenden auch anhand empirischer Beispiele zeigen werden, um eine völlig neue disruptive Qualität der Entwicklung auszurufen.

3 Empirische Befunde aus drei Branchen

Der Einzelhandel, die Logistik – bzw. genauer: die Containerlogistik – und der Finanzdienstleistungssektor gelten als digitale Vorreiterbranchen. Nicht umsonst waren Banken und Versicherungen, der Handel und logistiknahe Verwaltungsbereiche der Industrie bereits Gegenstand der Untersuchung von Baethge und Oberbeck (1986) zu den Auswirkungen der damals noch neuen IuK-Technologien. Auch heute verweisen Direkt- bzw. Onlinebanken und -versicherungen sowie Fin- bzw. Insurtechs im Finanzdienstleistungssektor, elektronisch verwaltete Containerverkehre, Hochautomation und Lieferkettenplattformen in der globalen Logistik oder Onlinehandel und Technisierung im Einzelhandel darauf, dass der Einsatz neuer digitaler Technologien und neuer Geschäftsmodelle besonders hier zum Tragen zu kommen scheinen (siehe auch Pfeiffer 2019b). Zu allen drei Branchen gibt es laufende oder kürzlich abgeschlossene SOFI-Projekte. Anhand dieser EmpirieFootnote 2, auf die wir hier nur sehr kursorisch eingehen können, wollen wir aufzeigen, welche unterschiedlichen Wege die Digitalisierungsentwicklung vor dem Hintergrund der je spezifischen Markt- und Wettbewerbsprozesse nimmt.

3.1 Der Einzelhandel – auf vielen Pfaden in die Digitalisierung

Der Einzelhandel ist mit rund 3,6 Millionen Beschäftigten und einem Umsatz von fast 580 Milliarden Euro (ca. 17 % des Bruttoinlandsprodukts) eine der größten Wirtschaftsbranchen der Republik (HDE 2020a; Zahlen für 2019, eigene Berechnung). Allgemein wird er als eine Branche betrachtet, in der die disruptiven Auswirkungen der Digitalisierung bereits besonders weit fortgeschritten sind. Das eigene Erleben von Geschäftsschließungen und zunehmenden Leerständen in den Innenstädten, die Klagen der Händler über den wachsenden Onlinehandel, Berichte über die Erfolge von Plattformunternehmen wie Amazon und Zalando und über die damit verbundene sichtbare Zunahme des innerstädtischen Paketverkehrs, aber auch zahllose Presseberichte und Studien zu neuen Technologien und neuen technologiebasierten Geschäftskonzepten, die oft zunächst in den fernen Metropolen Chinas oder der USA erprobt werden, verweisen, so scheint es, auf einen tiefgreifenden digitalisierungsgetriebenen Strukturwandel. Diesen, so die vielfach geäußerte Befürchtung, kann nur überleben, wer noch rechtzeitig auf den Digitalisierungszug aufspringt (Buss 2018a). Digitalisierungsrückstände werden dabei in beiden von der Literatur aufgegriffenen Dimensionen diagnostiziert.

Bezogen auf übergreifende Prozesse der Digitalisierung geht es um den scheinbar unaufhaltsamen Siegeszug des Onlinehandels, der die Kaufkraft ins Internet ableitet und dem regionalen stationären Handel die Kunden wegnimmt. Nach Angaben des Handelsverbandes stieg der Umsatz des Onlinehandels im Vergleich zur Jahrtausendwende, und mit zusätzlichem Schub durch die Corona-Pandemie, bis 2020 auf das 46-fache. Auf ihn entfiel damit knapp die Hälfte des Umsatzzuwachses des gesamten Einzelhandels in den letzten 20 Jahren (HDE 2021a; eigene Berechnungen). Der Handel, so die Befürchtung, verliert also sukzessive seine Ortsbindung, sodass sich stationäre Händler – zumindest auch – auf das Onlinegeschäft einlassen müssen. Vordergründig scheint sich hier Staabs These des digitalen Kapitalismus zu bestätigen.

Bezogen auf betriebliche Prozesse der Digitalisierung geht es um die Technologienutzung im stationären Handel. Digitalisierung steht hier für die verschiedensten Rationalisierungstechnologien zur Prozessautomatisierung und Prozessoptimierung, die gerade von kleinen und mittleren Handelsunternehmen im harten Wettbewerbsumfeld der Branche, so die verbreitete Einschätzung, nur unzureichend genutzt würden. Ungleichzeitigkeiten in der Umsetzung der neuen Technologien sind hier sicherlich auch auf betriebliche Pfadabhängigkeiten im Sinne von Hirsch-Kreinsen zurückzuführen. Unterstrichen wird der Eindruck verbreiteter Digitalisierungsrückstände durch vielfältige „Best Practice“-Berichte und Leitfäden zur Technisierung am „Point of Sale“ (siehe hierzu Buss und Walker 2021; sowie exemplarisch e‑tailment 2017; Mittelstand 4.0-Agentur Handel 2016; Röding et al. 2019). Auch wenn es sich hierbei oftmals um Berichte über Entwicklungsarbeiten, Prototypen und erste Anwendungsversuche handelt, extrapoliert eine Vielzahl an korrespondierenden Studien von Beratungsunternehmen und Technologieanbietern diese zu Trends und entwirft unter Bezugnahme darauf das Bild einer durchtechnisierten Welt des Handels von morgen (vgl. auch Buss 2018a; Buss und Walker 2021).

Doch lässt sich, dies zeigen unsere Erhebungen deutlich, aus der Nutzung oder Nichtnutzung digitaler Technologien nicht auf den Erfolg oder Nichterfolg eines Unternehmens schließen. Zum einen werden vielfach reale Umbruchprozesse im Handel oft vorschnell alleine auf die Digitalisierung und das Wachstum des Onlinehandels zurückgeführt, ohne ihre Wechselwirkungen mit anderen, längerfristigen Marktverschiebungen und Umbruchprozessen zu berücksichtigen. Zum anderen wird zu wenig zwischen den verschiedenen Vertriebsformen und Geschäftsmodellen des Handels unterschieden, mit denen sich ganz unterschiedliche Anforderungen an Digitalisierung und Personaleinsatz verknüpfen. Kurz: Die Digitalisierung schlägt nicht ungebrochen auf den Einzelhandel durch. Digitalisierung im Handel ist nicht ein Prozess, sondern erfolgt auf vielen Pfaden – online wie stationär.Footnote 3

3.1.1 Strukturwandel im Handel – eine lange Geschichte

Auch wenn die rasante Entwicklung des Onlinehandels sicherlich eine der für den Einzelhandel wesentlichsten Entwicklungen der letzten 20 Jahre ist, überdeckt dies leicht, dass sich dieser Prozess in einen umfassenderen und bereits seit langem laufenden Strukturwandel einbettet. Nur zu leicht werden die Probleme, mit denen insbesondere der klein- und mittelbetriebliche, vornehmlich inhabergeführte Handel zu kämpfen hat, auf die Erfolge der großen Onlinehändler zurückgeführt. Dabei ist der zugrundeliegende tiefgreifende strukturelle Wandel keine neue Entwicklung, sondern wird in der Literatur seit mindestens einem halben Jahrhundert thematisiert, und die dort bereits beschriebenen Trends lassen sich vielfach fortschreiben (siehe etwa Baethge und Oberbeck 1986; Dörge 1980; Glaubitz 2001; 2011, 2018; Gühlert 1990; Jahn 2017; Nitt-Drießelmann 2013; Wortmann 2003).

Bereits in der Nachkriegszeit setzt eine bis heute fortschreitende Ausdifferenzierung der bis dahin stark durch den inhabergeführten Fachhandel geprägten Vertriebsformen ein, die vor allem zu Lasten des klein- und mittelbetrieblichen Handels geht.Footnote 4 Zugleich hat sich der Anteil des Einzelhandels an den privaten Konsumausgaben deutlich reduziert (allein in den letzten 30 Jahren um 10 % auf 32 % im Jahr 2019) (Glaubitz 2001; HDE 2020a). Entsprechend ist die Entwicklung des Einzelhandels bereits seit langem durch einen harten Wettbewerb geprägt. Zum einen verschärft sich – insbesondere auch angetrieben durch die Discounter – der Preiswettbewerb zwischen den Unternehmen, die versuchen, durch Rabatte die Nachfrage zu beleben und ihre Marktanteile auszuweiten. Zum anderen kommt es einhergehend mit der Ausdifferenzierung der Vertriebsformen zu einer sukzessiven De-Spezialisierung und Ausweitung der Sortimente in Tiefe und Breite und einer bis heute anhaltenden Expansion der Verkaufsflächen (Glaubitz 2011; HDE 2020a).Footnote 5 Mit der Flächenexpansion gewinnen Standorte auf der „grünen Wiese“ an Bedeutung, die die immer größeren Geschäfte überhaupt erst ermöglichen, und der Handel verlagert sich räumlich zunehmend aus den Innenstädten an die Stadtränder und vom Land und den kleineren Städten in die größeren Zentren. Die hier nur angerissenen Entwicklungen und der damit in den letzten Jahrzehnten einhergehende harte Verdrängungswettbewerb gehen mit massiven Verschiebungen der Marktanteile zwischen den verschiedenen Vertriebsformen und entsprechenden Konzentrations- und KonsolidierungsprozessenFootnote 6 einher (dazu bereits Baethge und Oberbeck 1986).

Die Entwicklung des Onlinehandels findet also in einem hochkompetitiven, bereits seit langem durch tiefgreifende strukturelle Verwerfungen gekennzeichneten Umfeld statt. Der Anteil des Onlinehandels am gesamten Einzelhandel (einschließlich Versandhandel und Marktplätze) lag 2019 bei 11 % (Non-Food: 16 %) und wuchs im Pandemiejahr 2020 um 23 % auf 13 % (Non-Food: 18 %) (HDE 2020b, 2021a). Auch durch den von der Pandemie ausgehenden Online-Schub hat sich – zumindest bislang (Stand Herbst 2021) – das Verhältnis zwischen Onlinehandel und stationärem Handel also nicht grundlegend verändert: noch immer werden fast 90 % der Einzelhandelsumsätze (Non-Food: 82 %) stationär erwirtschaftet (HDE 2021a). In den letzten 20 Jahren finden sich in der Summe deutlich höhere Marktanteilsgewinne bei Discountern, Filialisten des Fachhandels und Fachmärkten, die ihren Marktanteil von einem Drittel auf fast die Hälfte der Einzelhandelsumsätze steigern konnten. Über fünf Sechstel der in diesem Zeitraum anfallenden Marktanteilsverluste entfallen dabei auf den nicht-filialisierten, in der Regel inhabergeführten klein- und mittelbetrieblichen Fachhandel, dessen Marktanteil sich allein seit der Jahrtausendwende auf heute knapp 16 % (2019) halbiert hat (HDE 2020a). Es ist davon auszugehen, dass diese Entwicklung durch die Corona-Pandemie eine Beschleunigung erfährt, da gerade der stationäre Fachhandel durch die Lockdown-Phasen besonders betroffen war, während der Lebensmittel führende Einzelhandel ein deutliches Wachstum verzeichnen konnte und sich Teile der Non-Food-Nachfrage nicht nur in den Onlinehandel, sondern auch zu Discountern, Verbraucher- und Supermärkten verschoben haben (HDE 2021b).

Entsprechend segregiert sind auch die Wettbewerbsstrukturen im Einzelhandel. Am einen Ende des Spektrums finden sich werte- bzw. qualitätsorientierte Geschäftsmodelle, wie sie vor allem noch im klein- und mittelbetrieblichen Fachhandel verfolgt werden. Im Zentrum stehen hier eine kundenorientierte Sortimentsvorauswahl sowie die direkte Kundenkommunikation und -beratung, die mitunter auch höhere Preise rechtfertigen. Dem stehen im stationären Handel die Geschäftsmodelle insbesondere von Discountern und Verbrauchermärkten gegenüber, die vor allem auf Kostensenkung und Sortimentsausweitung setzen. Deren Wettbewerbsstrategien profitieren gerade auch von der Größe und Einkaufsmacht der dahinterstehenden Konzerne und sind durch die Übertragung von Dienstleistungsfunktionen auf die Käufer*innen und eine systematische Ausdünnung von Beratungsleistungen gekennzeichnet. Daran knüpfen auch die Strategien des Onlinehandels an: Sieht man einmal von eher qualitätsorientierten Nischenstrategien ab, setzen Onlineshops vielfach darauf, den stationären Handel letztendlich mit denselben Instrumenten zu attackieren, mit denen große Unternehmen und Konzerne bereits seit den 1960er-Jahren den traditionellen Facheinzelhandel unter Druck setzen: einer noch höheren Angebotsbreite und -tiefe und einer aggressiven Preisgestaltung. Damit und mit seinen Marktanteilsgewinnen trägt der Onlinehandel sicherlich zu einer weiteren Verschärfung des Wettbewerbs im Handel bei (Buss und Walker 2021).

3.1.2 Grenzen des Wachstums im Onlinehandel

Beim Onlinehandel handelt es sich um eine mittlerweile gereifte Vertriebsform, die sich als fester Bestandteil des Einzelhandelswettbewerbs etabliert hat. Mit seinem steten Wachstum und einem Gesamtumsatzvolumen von mittlerweile fast 73 Milliarden Euro (2020) hat er sich zu einem wesentlichen Treiber des Einzelhandelswachstums entwickelt. Allerdings werden die anfänglich sehr hohen Wachstumsraten schon lange nicht mehr erreicht und Grenzen des Wachstums trotz des Online-Schubs in der Pandemie erkennbar (HDE 2021a; Jahn 2017).Footnote 7 Seriöse Schätzungen, so die befragten Experten des Handelsverbandes, sähen den Onlineanteil am Einzelhandel perspektivisch bei maximal einem Viertel des Gesamtumsatzes, den bei weitem größeren Umsatzanteil also auch auf absehbare Zeit im stationären Handel.Footnote 8 Unterstrichen wird dies auch durch Konsument*innenbefragungen des Handelsverbandes während der Corona-Pandemie, die zwar auf einen Wandel der Wert- und Preisüberlegungen der Konsument*innen und ihrer Ansprüche an den stationären Handel verweisen, aber mitnichten als ein Abgesang auf den stationären Handel zu lesen sind (HDE 2021b). Auch die Wettbewerbsstrukturen des Onlinehandels haben sich schon längst verfestigt. Fast zwei Drittel des Onlinehandels entfallen auf Internetunternehmen und Versandhändler, deren Umsatzzuwächse über dem Umsatzwachstum der Online-Branche liegen. Unangefochtener Platzhirsch ist Amazon – als Vollsortimenter einer der Hauptgewinner des pandemiebedingten Onlinewachstums 2020 – mit einem Marktanteil von 53 % des deutschen Onlinehandels (2020; inklusive Amazon Marketplace), mit Abstand gefolgt von der Otto Group und Zalando (EHI Retail Institute 2019d; HDE 2021a).

Bei näherer Betrachtung der großen Onlinehändler wird allerdings deutlich, dass die Goldgräberstimmung der Anfangsjahre vorbei ist: Selbst die Gewinne der großen Onlinehändler entsprechen bei weitem nicht dem Wachstum ihrer Umsätze, sondern bleiben, wie Brendel (2020) am Beispiel von Amazon, Otto und Zalando aufzeigt, deutlich dahinter zurück. Noch 2019 machte Amazon im internationalen Onlinehandel rund 1,7 Milliarden US-Dollar Verlust (Amazon 2020). Durch den von den Anti-Corona-Maßnahmen ausgehenden Schub für den Onlinehandel konnte das Unternehmen ab dem zweiten Quartal 2020 überhaupt erstmals Gewinne und für das Gesamtjahr 2020 bei einem Nettoumsatz von über 104 Milliarden Dollar schließlich einen Ertrag von 717 Millionen Dollar vermelden.Footnote 9 Die Quartals- und Jahresabschlüsse des Konzerns zeigen dabei deutlich, in welch engem Korridor sich die Umsätze und Kosten des internationalen Onlinegeschäfts entwickeln (Amazon 2021; Amazon Quartalsberichte 2020, 2021). Die Gründe für die hohen Kosten liegen vor allem in den hohen und steigenden Logistikaufwänden und Retourenkosten, die insbesondere die Kosten der auf Groß- und Vollsortimente ausgerichteten großen Onlinehändler wie Amazon in die Höhe treiben (Brendel 2020; EHI Retail Institute 2019a; ver.di 2019). Vor diesem Hintergrund entfaltet sich im Onlinehandel ein harter, stark preisgetriebener Wettbewerb (siehe auch Buss und Walker 2021).

Aufgrund des Wettbewerbsdrucks und der anhaltenden Konzentrationsprozesse bestehen gerade für kleinere und mittlere Anbieter jenseits von kleineren Marktnischen mittlerweile hohe Zugangsbarrieren zu den Online-Märkten. In Bezug auf Onlineshops sehen kleine und mittlere Einzelhändler den Markt als weitgehend von den großen Konzernen besetzt an. Zugleich sind eigene Onlinestrategien gerade für KMU, wie unsere Untersuchungen zeigen, mitunter sehr anforderungsvoll (Buss 2018a). Vor allem die Einrichtung und die operativen Kosten des Onlinegeschäfts können KMU leicht überfordern. Entsprechend ist der Anteil der Einzelhändler mit eigenem Onlineshop zwischen 2010 und 2020 um 15 % zurückgegangen (HDE 2021a).

Stattdessen orientieren sich gerade Einzelhandels-KMU verstärkt auf die z.B. von Amazon, Otto, Zalando, ebay oder auch der Verbrauchermarktkette Kaufland angebotenen Online-Marktplätze, die inzwischen 44 % des gesamten deutschen Online-Einzelhandels ausmachen. Allein der Amazon Marketplace umfasst 34 % des gesamten deutschen Onlinehandels (HDE 2021a). Die Marktplatzstrategie stellt eine Antwort sowohl auf die Kostenprobleme der großen Onlinehändler wie auf die Überforderung kleinerer stationärer Händler dar. Online-Marktplätze wie der Amazon Marketplace sind Verkaufsplattformen, die die Angebote einer Vielzahl von Händlern in marktplatzeigenen Kategorien und in suchmaschinenoptimierter Weise zu einem umfassenden Marktplatzsortiment zusammenfassen. Diese Infrastruktur entlastet kleinere Händler nicht nur vom Aufbau eines eigenen Onlineshops. Vor allem bietet sie ihnen die Möglichkeit, mit geringem Aufwand auch mit kleinen Sortimenten Onlinehandel zu betreiben: Fast 80 % der Multi-Channel-Händler realisieren weniger als 10 % ihres Umsatzes im Onlinehandel, 26 % sogar nur unter einem Prozent (HDE 2019b). Die Plattformbetreiber verdienen hingegen nicht nur an den Aktivitäten der dort agierenden Händler mit. Für Amazon z. B. erweitern die Angebote dieser Händler das nach außen als Amazon vertretene Warenangebot, während die dabei gesammelten Daten dem Unternehmen bei der Steigerung der eigenen Umsätze helfen (Engels 2019). Die Dritthändler stehen so als Teil der Plattform nicht nur im Preiswettbewerb mit anderen Händlern und dem Plattformbetreiber, sondern müssen sich wie im Fall des Amazon Marketplace auch die Fulfillment-Bedingungen diktieren lassen. Die Online-Marktplätze werden für sie immer stärker zum unumgänglichen Gatekeeper im Kundenzugang, für den sich die Plattformbetreiber von den Händlern bezahlen lassen – Gründe, die so manchen der befragten Händler insbesondere aus dem Fachhandel abschrecken. Insoweit ist Staabs (2019) Beschreibung einer Privatisierung von Märkten durch die großen Plattformbetreiber durchaus zutreffend. Allerdings handelt es sich nur um einen sehr begrenzten, wenngleich schnell wachsenden Ausschnitt des Einzelhandels: 2020 betrug der Marktanteil der Online-Marktplätze am gesamten deutschen Einzelhandel 7 % (2019: 4 %; eigene Berechnungen nach HDE 52,53,a, b, 2021a). Für den Großteil der Einzelhandelsunternehmen steht beim Thema Digitalisierung vielmehr noch immer der Wettbewerb im stationären Handel im Zentrum.

3.1.3 Geschäftsmodelle und Digitalisierung im stationären Handel

Ein Digitalisierungsthema mit besonderer öffentlicher Aufmerksamkeit ist im stationären Handel der Technologieeinsatz im Verkauf (siehe auch Buss und Walker 2021). Vielfältige Technologieentwicklungen legen hier für die nächsten Jahre eine drastische Veränderung der Verkaufsprozesse im stationären Handel nahe (siehe etwa Bitkom 2017; Knoppe 2018; Krüger und Kahl 2017). Hinter den entsprechenden Prognosen steht allerdings vielfach die Vorstellung, dass das, was technologisch möglich ist, auch praktisch realisiert wird. Auch in den von uns befragten Unternehmen wird die technologische Entwicklung aufmerksam beobachtet. In den Gesprächen wurde aber auch deutlich, dass die Unternehmen Innovationen sehr kritisch auf ihre Kosten und ihren Nutzen für die bestehenden Prozesse hin prüfen und dass sich digitale Innovationen oftmals am Geschäftsmodell brechen.

Dies gilt besonders für die befragten klein- und mittelbetrieblichen inhabergeführten Geschäfte des Facheinzelhandels. In ihrem Geschäftsmodell steht die direkte Kommunikation mit den Kund*innen, das Verkaufs- und Beratungsgespräch im Zentrum. Während die Unternehmen einer Digitalisierung der Backoffice-Prozesse oft sehr aufgeschlossen gegenüberstehen (Buss 2018a), werden Digitalisierungsprozesse im Verkauf sehr argwöhnisch betrachtet, weil sie leicht das eigene Geschäftsmodell konterkarieren können.

Eine in der Presse immer wieder Aufmerksamkeit erregende Innovation sind beispielsweise sogenannte „intelligente“ Umkleidekabinen und interaktive smarte Spiegel („Magic Mirror“) für den Bekleidungseinzelhandel. Diese können je nach Auslegung Kleidungsstücke erfassen, auf das virtuelle Spiegelbild der Kundin bzw. des Kunden projizieren, Produktinformationen anzeigen und diese um Informationen zu Accessoires ergänzen, Styling-Vorschläge machen oder es ermöglichen, virtuell im Ladensortiment zu stöbern, Artikel in anderen Größen anzufordern, alternative und ergänzende Warenvorschläge abzurufen und möglicherweise gleich aus der Umkleidekabine heraus online zu bestellen (siehe etwa ZDE 2018). In den befragten kleinen und mittelständischen Bekleidungsfachgeschäften sieht man diese Innovation jedoch aus zwei Gründen, die eng mit dem von diesen Unternehmen verfolgten Geschäftsmodell zusammenhängen, eher skeptisch (siehe auch Buss 2018a): Erstens passen solche Geräte nicht zur Sortimentsstruktur des Facheinzelhandels, da die einzelnen Kleidungsstücke mit RFID-Chips ausgestattet sein müssen. Dies kann in herstellergetriebenen Geschäftsmodellen („Vertikale“), in denen Einzelhandelssortiment und Produktion eng aufeinander abgestimmt sind, leicht ab Fabrik sichergestellt werden. Demgegenüber ist im Facheinzelhandel aber gerade die Vielfalt und Einzigartigkeit des Sortiments ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal. Daher beziehen die Geschäfte ihre Ware oftmals von einer Vielzahl von teils auch kleinen Herstellern, die eine solche Ausstattung mit RFID-Chips nicht gewährleisten. Hier müsste der einzelne Händler also jedes einzelne Kleidungsstück selber mit einem solchen Chip versehen – „das wäre ein Rückfall in die Steinzeit“ (Interview Händler 08). Noch viel stärker wiegt allerdings, dass ein solches Gerät das im Geschäftsmodell des Facheinzelhandels essentielle Verkaufsgespräch auszuhebeln droht. Im Zweifelsfall, darauf verweisen gleich mehrere Händler, habe das Verkaufspersonal nicht nur „ein besseres Auge“ dafür, ob ein Kleidungsstück gut sitzt, sondern vor allem auch, ob es zum Kunden oder zur Kundin passt. Gute Verkäufer*innen kennen das vorhandene Sortiment und können entsprechende Warenalternativen und ergänzende Artikel vorschlagen. Demgegenüber folgen die „Vorschläge“ eines smarten Spiegels vorab festgelegten Kriterien und nicht den individuellen Kund*innenbedürfnissen.Footnote 10

Ähnliche Einwände werden in den befragten Facheinzelhandelsgeschäften auch in Bezug auf den Einsatz von Tablets und Smartphones geäußert. Der Einsatz dieser Geräte als mobile Assistenten im Verkauf gilt der vom Bundeswirtschaftsministerium finanzierten „Mittelstand 4.0-Agentur Handel“ als wichtiges Element in der Digitalisierung des Einzelhandels, da er durch eine zielgerichtete und flexible Warenpräsentation und zusätzliche Informationen und Servicefunktionen die direkte Interaktion zwischen Mitarbeiter*innen und Kund*innen unterstütze (Mittelstand 4.0-Agentur Handel 2016, 2017). Auch in den von uns untersuchten Einzelhandels-KMU ist die Nutzung von Tablets und iPads relativ verbreitet. Gerade in Bezug auf die Interaktion zwischen Mitarbeiter*innen und Kund*innen sehen die interviewten Geschäftsführer*innen dies allerdings eher als Störfaktor. Genutzt werden die Geräte vor allem zur Prozessrationalisierung etwa in der Lieferantenkommunikation.

Etwas anders gelagert sind die Digitalisierungsstrategien in den eher preisgetriebenen großflächigen und auf Selbstbedienung ausgerichteten Vertriebsformen des Einzelhandels wie Supermärkten und großen Verbrauchermärkten. Hier spielen Beratungsprozesse keine vergleichbare Rolle; den Rationalisierungseffekten der Digitalisierung kommt hingegen in der Verwaltung der Sortimente eine deutlich größere Bedeutung zu. Trotzdem stößt die Digitalisierung auch hier auf Grenzen. Ein Beispiel ist die Rationalisierung der Kassenprozesse durch Ausweitung des Selbstbedienungsprinzips mittels Selbstbedienungs‑, Self-Checkout- oder Self-Scanning-Kassen. Obwohl die Technologie vorhanden ist, breiten sich solche Lösungen nur langsam aus. Die Gründe liegen dabei weniger, wie zu vermuten wäre, in betrieblichen Pfadabhängigkeiten, wie sie Hirsch-Kreinsen (58,59,a, b) für die Industrie herausarbeitet, sondern in den unterschiedlichen Geschäftsmodellen der Einzelhändler: Einer aktuellen Erhebung des Kölner Einzelhandelsinstituts (EHI Retail Institute 33,34,b, c) zufolge verfügen bundesweit mittlerweile gerade einmal rund 900 Geschäfte über Selbstbedienungs- oder Self-Scanning-Kassen. Rund zwei Drittel der bundesweit insgesamt rund 4760 SB-Kassen finden sich im Lebensmitteleinzelhandel, der sich, so das EHI, offensichtlich aufgrund von Kundenstruktur, Kundenfrequenz und Einkaufskorbgröße besonders gut für den Self-Checkout eigne. Aber selbst hier stellen SB-Kassen nur einen verschwindenden Anteil der Gesamtkassenzahl. Als Gründe hierfür nennt das EHI die nach wie vor von den Kund*innen präferierte Barzahlung sowie die hohe Störanfälligkeit der Geräte. Von den von uns befragten Unternehmen wird ein weiterer Grund angeführt, der die Begrenztheit der Rationalisierungseffekte verdeutlicht: Die SB-Kassen erfordern nicht nur nach wie vor Personal zur Kontrolle und Unterstützung der Kund*innen. Vor allem sind die Kassen gar nicht auf die zumeist größeren Einkäufe der Hauptzielgruppe dieser Märkte ausgelegt. Diese lassen sich noch immer bequemer und für alle Seiten schneller an den traditionellen Kassen mit ihrem trainierten Personal abwickeln, was insbesondere die Lebensmitteldiscounter bislang eher von SB-Kassen absehen lässt. Stattdessen dienen die SB-Kassen in den befragten Märkten vor allem zur Beschleunigung von Kleineinkäufen etwa von Jugendlichen.

3.2 Seehandel und maritime Containerlogistik

Eine weitere Branche, in der die Digitalisierung bereits sehr früh einsetzte, ist die Logistik und insbesondere die Containerlogistik. Der wichtigste Bereich sind hier maritime, insbesondere transkontinentale Transporte: Über die Hälfte des europäischen Außenhandels wird über die Seehäfen der EU-Staaten abgewickelt. Ein großer Teil dieser Transporte im transkontinentalen Güterverkehr erfolgt in Containern. Etwa die Hälfte des containerisierten Außenhandels der EU entfällt dabei auf die sogenannte Nordrange mit den Häfen Rotterdam, Antwerpen, Bremerhaven und Hamburg (siehe auch Buss 2018b). Gerade in der Containerlogistik stehen die Entwicklung von Transport und Computerisierung/Informatisierung/Digitalisierung von Beginn an in einem engen Wechselverhältnis. Seit seiner Einführung in den 1960er-Jahren hat der Container die gesamte Logistik revolutioniert und stellt eine wesentliche Voraussetzung der seitdem ausgreifenden Globalisierung der Produktion dar. Im Mittelpunkt steht dabei die Standardisierung der Art und Weise, wie Fracht verpackt und bewegt wird. Durch die globale Normierung der Stahlboxen und der für ihren Transport benötigten Infrastrukturen konnten die Prozesse entlang der Transportkette weitgehend vereinfacht werden. Die Transportdienstleistung löste sich vom Charakter des zu transportierenden Gutes: „One doesn’t need to know what’s in the box, just where it needs to go.“ (Posner 2018; vgl. auch Buss 2020) Durch Verladung der Güter in identische Stahlboxen wurde es möglich, die bis dahin bestehenden Brüche in der Lieferkette zu überwinden und das Zusammenspiel der verschiedenen Verkehrsarten als systemischen Verbund zu denken und „rechenbar“ zu machen (Klose 2009; Levinson 2006, 2020; Posner 2018). Die Entwicklung der Transport- und Kommunikationsnetzwerke ist in der Logistik entsprechend eng miteinander verwoben – „Containerterminals und die Organisation logistischer Ketten gehören zu den frühesten zivilen Anwendungen von Computern“ (Klose 2009, S. 197). Dies legt nahe, dass die Digitalisierung in der Branche auch heute besonders schnell voranschreitet und transportkettenweite plattformbasierte Geschäftsmodelle hier besonders leicht zum Durchbruch kommen. Allerdings sind die Digitalisierungsprozesse auch in diesem Fall stark durch die branchenspezifischen Wettbewerbsstrukturen und -dynamiken geprägt.

3.2.1 Entwicklung des Wettbewerbs in der maritimen Wirtschaft

War die maritime Wirtschaft – Seetransport und Seehafenumschlag – lange Zeit von hohen Wachstumsraten und ausgelasteten Kapazitäten gekennzeichnet, die teils auch eine engere Kooperation nötig machten, um die zu transportierenden Gütermengen zu bewältigen, setzte mit der Wirtschaftskrise 2008 in der maritimen Containerlogistik eine tiefe und anhaltende Krise ein. Nach zwei Jahrzehnten mit hohen Wachstumsraten brachen die Transportmengen abrupt ein und pendeln sich in den 2010er-Jahren dann in etwa auf dem Vorkrisenniveau ein. Vor der Krise georderte neue größere Schiffe und begonnene große Hafenausbauprojekte verschärfen in dieser Phase die Auslastungsprobleme von Reedereien und Hafenwirtschaft. Gerade in den Nordrange-Häfen steigt zunächst der Kostendruck. Die Häfen sind in den 2010er-Jahren durch hohe Überkapazitäten gekennzeichnet, während gleichzeitig Seehäfen im Mittelmeer und in der Ostsee im Wettbewerb an Bedeutung gewinnen. Auf See entwickelt sich zugleich ein harter Verdrängungswettbewerb. Die großen Reedereien versuchen mit immer größeren Schiffen Kostenvorteile zu erzielen, verschärfen so aber auch ihr Überkapazitätsproblem. Auch große Reedereien können dem Wettbewerbsdruck zum Teil nicht mehr standhalten, und es kommt zu massiven Konzentrations- und Konsolidierungsprozessen. In der Folge beherrschen heute etwa ein Dutzend Großreedereien, die sich in drei Allianzen zusammengeschlossen haben, 90 % des Marktes und verfügen somit auch über eine hohe Verhandlungsmacht gegenüber den Hafenwirtschaftsunternehmen, die sie regional gut gegeneinander ausspielen können (Buss 2018b; Hapag-Lloyd 2021). Für die Häfen, die immer weniger alleine um Umschlagmengen und immer stärker um einen Platz in den Liniennetzwerken der drei Allianzen konkurrieren, steigt damit neben dem Kostendruck zugleich auch der Qualitätsdruck in Bezug auf Umschlag und Hinterlandanbindung.

Diese Dynamik erfährt durch die Corona-Pandemie eine deutliche Verschärfung. Nach dem globalen wirtschaftlichen Einbruch im ersten Halbjahr 2020 steigt die Nachfrage insbesondere nach in Asien produzierten Waren im zweiten Halbjahr 2020 vor allem in Nordamerika und Europa abrupt und deutlich an. Ab Ende 2020 führt das Wechselspiel von globalen Fabrik- und Hafenschließungen, weltweit hoher Güter- und Transportnachfrage, immer größeren Schiffen mit mehr umzuschlagenden Containern, Verzögerungen im Umschlag, steigenden Lagerzeiten in den Terminals, allmählich verstopfenden Häfen, überlasteten Hinterlandinfrastrukturen, steigenden Wartezeiten der Schiffe vor den Häfen, hohen Verspätungen in den transkontinentalen Linienverkehren sowie unvorhergesehenen Transportkettenstörungen wie etwa der zeitweiligen Blockade des Suezkanals im März 2021 oder verschiedenen Naturereignissen (Stürme, Hochwasser) die globalen Lieferketten an den Rand ihres Zusammenbruchs. In der maritimen Wirtschaft kommt es aufgrund der deutlich gestiegenen Wartezeiten der Schiffe und Umlaufzeiten des Transportequipments (Container, Paletten) zu einer zunehmenden Verknappung der Transportkapazitäten und in der Folge zu einer Explosion der Frachtraten auf See, von der vor allem die großen Containerreedereien mit noch nie gesehenen Rekordgewinnen profitieren. Mit einer Auflösung der Situation rechnen die beteiligten Akteure frühestens in der zweiten Jahreshälfte 2022. Als vorläufiges Resümee der Pandemie (Stand Herbst 2021) lässt sich vor diesem Hintergrund festhalten, dass sich die Machtverhältnisse in der maritimen Wirtschaft weiter zugunsten der großen Reedereien und Allianzen verschieben. Diese können den anderen Akteuren (Versender, Spediteure, Häfen) nicht nur die Bedingungen diktieren, sondern verfügen nun auch über große Ressourcen, um sich in Hafenterminals und Hinterlandtransportdienste einzukaufen. Diese Entwicklungen prägen auch die Digitalisierungsprozesse der Branche.

3.2.2 Wettbewerb und Digitalisierung in der maritimen Containerlogistik

Wie im Einzelhandel sind auch in der Containerlogistik zwei Ebenen der Digitalisierung zu unterscheiden. Zum einen geht es um die Automatisierung und Digitalisierung der internen Prozesse. Bereits für einen einzelnen Akteur wie ein Hafenterminal oder eine Reederei ist ein reibungsloser Ablauf ohne elektronische Datenverarbeitung undenkbar: Die größten Containerfrachter transportieren inzwischen bis zu 24.000 Standardcontainer (TEU), von denen in jedem Hafen mehrere tausend gelöscht oder geladen werden. Allein in den vier Containerterminals des Hamburger Hafens wurden nach Angaben des Hafens im Jahr 2019 über neun Millionen TEU (2020 8,5 Millionen TEU) umgeschlagen, für die jeweils Umschlag‑, Transport- und Lagerprozesse zwischen Seeschiffen, Containerlagern und den verschiedenen Hinterlandtransportmitteln zu koordinieren waren. In der durch die Pandemie ausgelösten Transportkettenkrise beschleunigt sich der bereits seit langem zu beobachtende Trend zu immer größeren Schiffen weiter. Es wächst nicht nur die durchschnittliche Schiffsgröße und Umschlagmenge der Hafenanläufe, sondern es werden auch eine ganze Reihe neuer Megafrachter bei den Werften geordert. Mit dem Einsatz immer größerer Frachter konzentrieren sich die früher auf mehrere Schiffe verteilten Umschlagmengen räumlich und zeitlich, und damit steigen die Anforderungen an die Terminals, die internen Prozesse möglichst reibungsfrei zu gewährleisten.

Die Standardisierung der Container und der sie umgebenden Technologien ermöglicht ein hohes Maß an Automatisierung, die seit Einführung des Containers auf immer mehr Prozesse ausgreift. Bereits zur Jahrtausendwende wurden in einem damals neuen Hamburger Containerterminal Formen der Vollautomatisierung der landseitigen terminalinternen Transport- und Lagerprozesse verwirklicht, die das Terminal heute noch zu einem der modernsten der Welt machen. Aufgrund der wenig stabilen seeseitigen Rahmenbedingungen (Tidenhub, Wind, Wellengang etc.) erweist sich hingegen eine Automatisierung der Containerbrücken zur Be- und Entladung der Frachter nach wie vor als schwierig, sodass sich manuell gesteuerte Brücken trotz der Kostenvorteile einer Automation oftmals als produktiver erweisen. Wie im Einzelhandel findet entsprechend auch in der Hafenwirtschaft eine genaue Abwägung zwischen Automationsvorteilen, hohen Investitionskosten und Wettbewerbssituation statt, auch wenn an eine Automatisierung teils hohe Technologieerwartungen (Faust 2021) geknüpft werden und in den landseitigen Prozessen derzeit teils umfangreiche Automatisierungsprojekte in Planung sind.

Zum anderen geht es aber auch um die übergreifende Koordination der Transportabläufe. Die maritime Transportkette zergliedert sich in Vor‑, Haupt- und Nachlauf. Vor- und Nachlauf bezeichnen den Transport der Güter (in der Regel per LKW und Bahn) vom Entsender zum Hafen bzw. vom Hafen zum Empfänger. Der Hauptlauf bezeichnet den Seetransport. An Knotenpunkten wie Bahnterminals und insbesondere den Containerterminals der großen Seehäfen treffen die verschiedenen Transportketten zusammen, und die Transporte werden neu geordnet. Dabei werden die Güter im Vorlauf zu immer größeren Einheiten (z.B. Palette, Container) und Transporten (z.B. LKW mit zwei Containern, Güterzug mit max. 100 Containern, Containerfrachter mit bis zu 24.000 Containern) zusammengefasst und im Nachlauf wieder schrittweise vereinzelt. An den vielfachen Umschlag- und Lagervorgängen ist eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Akteure beteiligt, deren Aktivitäten entlang der entsprechend fragilen und komplexen transkontinentalen Transportketten über die unterschiedlichen Verkehrsträger und Transportmittel hinweg aufeinander abzustimmen sind. Aus einer Logistikperspektive würde sich so eine Koordination idealerweise über die gesamte Transportkette erstrecken und auch die terminalinternen Prozesse umfassen. Die Branche bietet sich damit, so scheint es, für Lösungen an, wie sie Staab (2019) als aufziehenden digitalen Kapitalismus diskutiert. Die Digitalisierung verspricht hier neue Lösungen von einem verbesserten Informationsaustausch und einer höheren Transparenz zwischen den Transportkettenakteuren bis hin zu neuen Plattformlösungen zur Koordination der gesamten Kette (BMVI 2018; BVL 2017). In Teilen findet eine solche Abstimmung auch statt. So koordiniert beispielsweise das Hamburg Vessel Coordination Center (HVCC) als neutrale, überbetriebliche Koordinationsstelle die Schiffsverkehre im Hamburger Hafen und entlang der Elbe und tauscht dazu auch Informationen mit Vor- und Folgehäfen aus.

Umfassendere Umsetzungsversuche einer digital gestützten überbetrieblichen Koordination stoßen jedoch – zumindest bislang – eher auf Hindernisse. Überregional stehen dem zum einen regionale Pfadabhängigkeiten wie etwa die Verbreitung unterschiedlicher, miteinander inkompatibler Terminal-Operating-Systeme in Asien, Europa und den USA entgegen (Neilson et al. 2018). Und auch die verschiedenen Nordseehäfen betreiben eigene, dem HVCC vergleichbare Koordinationsplattformen, auch wenn die Konsequenzen nicht so drastisch sind. Zum anderen und vor allem aber bricht sich die Digitalisierung der Transportkettenprozesse auch hier an den Wettbewerbsstrukturen und an den Geschäftsmodellen der beteiligten Akteure. Ihre Umsetzung bedürfte zunächst, so (vorsichtig formulierend) der wissenschaftliche Beirat des Bundesverkehrsministeriums, eines „Überdenkens der Kommunikations‑, Koordinations- und Kooperationspolitiken der Akteure der deutschen Seehäfen sowie der maritimen Wirtschaft und Logistik“ (BMVI 2018, S. 3). Die Akteurskonstellationen in den Transportketten sind nicht nur durch ein hohes Maß an Heterogenität geprägt, sondern auch durch einen allgemeinen Trend zur vertikalen Expansion und eine damit wachsende Konkurrenzhaftigkeit der Beziehungen entlang der Transportkette, die sich auch auf die Digitalisierungsprozesse auswirkt.

Zwar steigt der Druck auf die Akteure, systemische Antworten zu finden. Gerade im auf der materiellen Ebene weitgehend standardisierten Containertransport stehen Informationsgewinnung und -verarbeitung im Zentrum der Logistikprozesse. Wesentliche Rationalisierungspotenziale liegen in einer besseren Transportkettenkoordination und im Abbau von Friktionen im Lieferfluss, die gerade auch auf der informationellen Ebene liegen. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich nun aber in der Vertikalen ein Machtkampf in der Transportkette. Große Reedereien wie der dänische Weltmarktführer Maersk versuchen, ihren Einfluss auf die komplette Transportkette auszubauen, um ihren Kunden „Tür-zu-Tür“-Angebote machen zu können, und stellen damit die bestehende Governance der Transportkette in Frage. Zum einen übernehmen sie zunehmend Containerterminals, wofür ihnen die aktuelle Situation am pandemiegeprägten Containertransportmarkt die notwendigen Mittel verschafftFootnote 11, zum anderen aber ist ihr Verhältnis gegenüber den von ihnen nicht beherrschten Akteuren zunehmend auch durch einen Machtkampf um die Hoheit über die Daten geprägt. „Die Reeder sagen, wenn wir alle Daten haben und das organisieren, dann können wir das doch einfach ausrollen“ (Vorstandsmitglied Hafenwirtschaftsunternehmen).

Die Hafenwirtschaftsunternehmen sehen sich damit aber in ihrer Autonomie bedroht und verstärken ihrerseits die Bemühungen zur stärkeren Koordination und Steuerung der an den Hafenumschlag anschließenden Prozesse. Insbesondere bauen sie sowohl ihre Aktivitäten im Hinterlandtransport als auch ihre Bemühungen um eine stärkere Digitalisierung vor- und nachgelagerter Prozesse aus, „um nicht in die Rolle eines reinen Betriebsumschlagsplatzes zu kommen“ (Vorstandsmitglied Hafenwirtschaftsunternehmen). Die Beispiele reichen von der digitalen Koordination der landseitigen Hafen- und Hinterlandverkehre bis zu neuen Formen der Auftrags- und Zahlungsabwicklung über Blockchain und digitale Währungen. Zwar klingt hier vieles noch nach „Zukunftsmusik“; wichtig seien solche Projekte aber, so ein Manager, um lernen und mögliche neue Entwicklungen antizipieren zu können.

Aber auch wenn sich die Hafenwirtschaftsunternehmen um die Optimierung übergreifender Prozesse bemühen, ist das primäre Ziel die frühzeitige Absicherung der eigenen Geschäftsfelder. Die gerne mit dem Container verknüpfte Vorstellung linearer Transportketten und fließender Güterströme von der Produktion bis zum Einzelhandel muss hier vielmehr ergänzt werden um die oft ausgeblendete Akteursperspektive: Konstituiert wird die Transportkette durch eine Vielzahl konkurrierender und miteinander oft auch kollidierender logistischer Akteure, deren Blickfeld durch die eigene Reichweite begrenzt wird und bei weitem nicht die gesamte Logistikkette erfasst (Gregson et al. 2017; Tsing 2009). Digitalisierungsprozesse orientieren sich damit auch in der Logistik immer an den Interessen des einzelnen Unternehmens, für das nicht unbedingt die ungestörte Gesamt-Transportkette im Zentrum steht. In der Umsetzung von Digitalisierungsprojekten streben die Unternehmen immer danach, EDV-Systeme in ihrem Sinne auszulegen, auch wenn sie dadurch Probleme an anderer Stelle und für andere Akteure erzeugen und somit neue Friktionen für den Gesamtprozess verursachen.Footnote 12 Genauso, dies zeigen unsere Expertengespräche, werden die Unternehmen, sobald es um die Koordination und den Datenaustausch mit anderen Unternehmen geht, vorsichtig, da mit der eigenen Informationshoheit zugleich auch die Claims des eigenen Geschäftsmodells abgesteckt werden. Entsprechend habe mit der Digitalisierung, so ein Hafenmanager, die Kommunikation zwischen den Unternehmen eher abgenommen. Projekte zum Aufbau einer übergreifenden vertikalen Kooperation sind vor diesem Hintergrund oftmals dadurch gekennzeichnet, dass sie Wettbewerber ausschließen. Digitalisierung trägt hier also nur begrenzt zu einer besseren Koordination und Steuerung der gesamten Transportkette bei. Stattdessen entsteht im Ergebnis, so Gregson et al. (2017), ein Flickenteppich von Dateninformationssystemen, der durch konkurrierende Unternehmensinteressen geprägt ist.

3.3 Finanz- und Versicherungsdienstleistungen – Entstehung hybrider Ökosysteme

Die „digitale Mobilmachung“ erfasst seit einigen Jahren auch Banken und Versicherungen. Sie trifft dabei auf bereits hochgradig automatisierte, informatisierte und digitalisierte Geschäftsprozesse (BMWi 2018; Bitkom 2020a). Hierzu trägt wesentlich bei, dass Bank- und Versicherungsprodukte selbst nahezu vollständig informationsbasiert sind (Stobbe 2006; Alt und Puschmann 2016). Bereits in den 1970er-Jahren fand auf der Grundlage einer breitflächigen Einführung von IuK-Technologien ein Wandel von Geschäftsmodellen und Rationalisierungsstrategien statt, der mit dem Begriff „systemische Rationalisierung“ gefasst wurde (Baethge und Oberbeck 1986).Footnote 13

Gleichwohl propagieren vor allem externe Promotoren des aktuellen Digitalisierungsdiskurses auch für die Finanzdienstleistungsbranche die unabdingbare Notwendigkeit neuer technisch basierter Branchenleitbilder; als Orientierungspunkte werden dabei die datengetriebenen, plattformbasierten Geschäftsmodelle und „Produkte“ sogenannter Fin- bzw. Insurtech-FirmenFootnote 14, von Vermittlungsportalen wie z.B. „Check24“ oder von „Big Tech“-Firmen wie Apple, Google, Amazon oder Facebook empfohlen. „Plattform werden oder sterben“ (Heinemann und Kannen 2020), lautet sowohl in der interessierten Wirtschaftspresse wie bei einschlägig tätigen Beratungsfirmen die dramatische Diagnose für die Banken. Und auch Versicherungsvorständen wird ins Stammbuch geschrieben, sie hätten ihre Unternehmen und Geschäftsmodelle grundlegend „neu zu denken“ bzw. diese „neu zu erfinden“ (vgl. exemplarisch: McKinsey 2017). Zweifelsohne setzen die von Big-Data-Konzernen und Beratungsfirmen propagierten Zukunftsszenarien die etablierten Unternehmen der Finanzdienstleistungsbranche unter Druck – mit den sogenannten Plattformenleitbildern kann jedoch den tatsächlichen Herausforderungen dieser Branche nur begrenzt begegnet werden. Diese Herausforderungen sind in erster Linie nicht einer veralteten IT-Struktur geschuldet, sondern gehen zurück auf die Folgen der Finanz- und Staatsschuldenkrise von 2008, und werden in jüngerer Zeit befeuert durch die Niedrig- bzw. Negativ-Zinspolitik der Europäischen Zentralbank, das Aufkommen neuer Wettbewerber bzw. Konkurrenten und durch ein verändertes Konsumverhalten von (potenziellen) Bank- oder Versicherungskund*innen.

So sind die Erträge aus dem Zinsgeschäft, aus dem etwa zwei Drittel bis drei Viertel der operativen Erträge von Universalbanken stammen, im Gefolge der Zinspolitik der EZB massiv zurückgegangen (Schuster und Hastenteufel 2019, S. 37). Dies belastet auch die Versicherungsunternehmen, insbesondere die Lebensversicherungen (BaFin 2021, S. 32). Zugleich sind die aufsichtsrechtlichen Anforderungen („Basel III“ für die Banken, „Solvency II“ für die Versicherungen) und die damit verbundenen Aufwendungen für IT-Infrastrukturen und Berichtssysteme sowie für Fachpersonal erheblich gestiegen.Footnote 15 Und trotz anhaltender Konzentrationsprozesse und des massiven Abbaus von Bankfilialen und Vertriebseinheiten bei den VersicherungenFootnote 16, sind die mit den technisch-organisatorischen Strukturen verbundenen Kosten vergleichsweise hoch. Unter dem Strich ist die Aufwands-Ertrags-Relation traditioneller Universalbanken (vor allem der Geschäftsbanken, aber auch der Sparkassen und Genossenschaftsbanken) überdurchschnittlich hoch, sowohl im internationalen Vergleich wie auch im Vergleich zu Online- bzw. Direktbanken (Alt und Puschmann 2016; BaFin 2021, S. 32).Footnote 17

Finanzdienstleister sind nach verbreiteter Auffassung zudem mit veränderten Ansprüchen oder Anforderungen ihrer (potenziellen) Kund*innen bzw. mit veränderten „kulturellen Standards“ in Bezug auf die Dienstleistungsbeziehung konfrontiert (vgl. Schuster und Hastenteufel 2019, S. 79 f.): Einfachheit, Geschwindigkeit und eine „Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit“ von digitalen wie analogen Interaktions- und Abwicklungskanälen werden von wachsenden Teilen der jeweiligen Kund*innengruppen im Zusammenhang mit den seit längerem veränderten „Medienpraktiken“ (Gießmann 2015) gewünscht oder gefordert.Footnote 18

Vor diesem Hintergrund stoßen wir mit unseren empirischen Erhebungen zur Digitalisierung im Finanzdienstleistungssektor auf erkennbar verunsicherte Unternehmensmanager und keineswegs einheitlich ausgerichtete Strategien. Es gibt einige Stimmen, die fordern, den aktuellen Herausforderungen mit radikalen Veränderungen bisheriger Geschäftsmodelle, so beispielsweise der Aufgabe lokaler Präsenz, zu begegnen; aber diese Positionen dominieren nicht. Mehrheitlich wollen die von uns befragten Managementvertreter an den bisherigen Geschäftsmodellen und Dienstleistungsverbindungen, das heißt auch an lokaler Präsenz vor Ort, im Grundsatz festhalten und darauf aufbauend Erweiterungspotenziale der jeweiligen Dienstleistungsportfolios durch Einbeziehung von bisher branchenfremden Dienstleistungsangeboten ausloten und umsetzen.

Für diese mehrheitlich zu beobachtende pragmatische Ausrichtung sprechen unter anderem Zweifel, ob die propagierten finanztechnischen Innovationen – zu denen insbesondere verschiedene Anwendungsformen maschinellen Lernens an den Kundenschnittstellen (Chat Bots, Robo Advisor bzw. Advanced Robotics) auf der Grundlage der Verfügbarkeit großer Datenmengen (Big Data) zählen (BaFin 2018) – tatsächlich nachweisbare Auswirkungen auf die Erträge von Finanz- und Versicherungsdienstleistern haben werden; hinterfragt wird zudem, ob sich die Produktivität von Dienstleistungsprozessen – wie vielfach behauptet (etwa: McKinsey 2018) – durch einen weiteren IT-Einsatz oder neue technologische Potenziale wirklich erhöht (Acemoglu et al. 2014; Bundesregierung 2018).

Wie unsere Fallstudienergebnisse zeigen, kommt es nicht zu einem Bruch mit etablierten Geschäftsmodellen oder einer breitflächigen Anwendung grundlegender technischer Neuerungen. Das bedeutet keineswegs, dass sich nichts oder wenig verändert, aber die Veränderungen sind eher evolutionärer Art und weisen zudem Pfadabhängigkeiten auf. Erkennbar ist eine Erweiterung bestehender Geschäftsmodelle und (Allfinanz‑)Dienstleistungsangebote um plattformbasierte Produkte. Dies geht einher mit dem Aufbau von Kooperationen mit Fin- bzw. Insurtech-Firmen und Plattformanbietern, aber auch mit branchenfremden Dienstleistungsunternehmen. Alle untersuchten Versicherungen und Banken betreiben und/oder beteiligen sich beispielsweise an sogenannten Innovations- oder „Digitalisierungslaboratorien“, in denen man sich mit Fin- oder Insurtechs sowie anderen Finanzdienstleistungsunternehmen über neue Technologien und über Anwendungserfahrungen austauscht. Aus mehreren Gesprächen mit an solchen „Laboren“ Beteiligten wurde deutlich, dass sich die betrieblichen Akteure davon Impulse für die eigene „Innovationskultur“ versprechen, ein „besseres Gespür“ für neue Entwicklungen bekommen wollen und auch bereit sind, dafür „ein bisschen Geld in die Hand [zu] nehmen“ (Digitalisierungsexperte Bank). Nahezu alle Unternehmen versuchen, die Markt- bzw. Kundenbeziehungen und Kundenschnittstellen neu zu konzipieren und zu organisieren. Dies beinhaltet auch, dass etwa die Kundenschnittstellen verstärkt zum Gegenstand von Rationalisierungs- und Automatisierungsprozessen werden, etwa durch die intensivierte Verlagerung von Dienstleistungsaufgaben, die zuvor Teil des Dienstleistungsangebots waren, an die Kunden (via Kundenportale oder Apps). Schließlich wird das Outsourcing bestimmter Funktionen wie etwa die Zahlungsabwicklung oder IT-Services in den von uns untersuchten Fällen verstärkt.

Bedeutsam ist der Versuch auch dieser mittelgroßen Unternehmen, sogenannte „Ökosysteme“Footnote 19 aufzubauen bzw. sich an solchen zu beteiligen; dabei handelt es sich um Unternehmens- und teilweise Branchengrenzen überschreitende Netzwerke, in denen Kunden erweiterte Dienstleistungsangebote gemacht werden. Jedoch zielen die Ökosysteme nicht allein auf informationstechnische und datengetriebene Marktbearbeitungs- und Austauschprozesse, wie sie etwa Staab (2019) im Auge hat, sondern versuchen teilweise, analoge mit digitalen Dienstleistungsangeboten zu verbinden. Eine von uns untersuchte Bank betreibt eine eigene Plattform zur Vermittlung sehr heterogener Dienstleistungen und Produkte von kooperierenden Unternehmen an bestehende Bankkunden. In einem anderen Fall geht es um die Vermittlung ärztlicher Beratungsangebote für Kund*innen eines Krankenversicherers. Ein weiteres, wenn auch nicht eingehender untersuchtes Beispiel ist der Fall eines Versicherungsunternehmens, das nicht mehr nur Kooperationsvereinbarungen mit „Partner-KFZ-Reparaturwerkstätten“ abschließt, sondern selbst als Betreiber von Werkstätten in Erscheinung tritt. Im einen wie im anderen Fall sollen nicht nur Schadenaufwendungen sinken, sondern im Zusammenhang mit weiteren daran gekoppelten Dienstleistungsangeboten auch die Kundenbindung erhöht und zusätzliche Informationen über die Kund*innen gewonnen oder neue Ertragsquellen erschlossen werden. Mit solchen hybriden Netzwerken werden die bestehenden Branchengrenzen systematisch überschritten. Offen scheint, ob solcherlei Ökosysteme von den dominierenden Akteuren strukturell auf Schließung ausgerichtet sind oder eher offengehalten werden. Letzteres scheint in unseren Fallstudien der Fall, etwa wenn es um die Frage der Art der Integration von finanztechnologischen Innovationen bzw. Know-how geht: Die untersuchten Versicherungen und Banken ziehen Kooperationen mit Fin- oder Insurtechs (z. B. in Bezug auf Plattform‑, Roboterisierungs- oder Automatisierungslösungen) einer Übernahme solcher Anbieter vor. Dies hat teilweise mit der Größe und Finanzkraft der Unternehmen zu tun, aber auch damit, dass man sich über Kooperationen eine technologische und strategische Offenheit bewahren möchte. Technologieanbieter wiederum reagieren darauf z. B. mit dem Angebot von „White Label“-Plattformlösungen, die von verschiedenen Banken bzw. Versicherungen auf Provisionsbasis und dann unter ihrer eigenen „Marke“ genutzt werden können.

Mit Blick auf die Informationstechnologie lässt sich für unsere Fallunternehmen festhalten, dass alles in allem eine (nur) schrittweise Modernisierung und Erweiterung bestehender Systeme stattfindet. Dabei geht es vorrangig um die Herstellung von Anschlussfähigkeit der existierenden Groß-IT-SystemeFootnote 20 an neue Technologie- oder Produktanbieter, wobei die Sicherung und Kontrolle der (eigenen) Kundenschnittstellen und Daten für die Unternehmen im Vordergrund steht. In diesem Zusammenhang finden technische Neuerungen in den untersuchten Firmen insbesondere im Bereich des Auf- und Ausbaus von Big-Data-InfrastrukturenFootnote 21 und der „Customer-Relationship-Management“-Systeme (CRM) statt, um strukturierte und möglichst auch unstrukturierte Kundendaten sowie Hinweise auf das Konsumverhalten zu sammeln und monetarisieren zu können. Schließlich setzen sich – gewissermaßen nach innen – langjährige Trends der Standardisierung von Produkten und Prozessen und die Automatisierung im Back Office verstärkt fort.

Unsere Befunde zu den von uns beobachteten Veränderungsprozessen in deutschen Banken und Versicherungen lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass das betriebliche Managementhandeln in den Unternehmen im Kern durch eine schrittweise Modernisierung und Erweiterung der vorhandenen Geschäftsmodelle und der eingesetzten Technologien sowie durch den Versuch einer unternehmens- und branchenübergreifenden Netzwerkbildung gekennzeichnet ist. Die von uns untersuchten Finanzdienstleistungsunternehmen halten dabei an den bestehenden Formen der Marktbearbeitung fest – d.h. ganz überwiegend: mit personenbezogener, „ganzheitlicher“ Beratung ein möglichst breites Spektrum von Finanz‑, Vorsorge- und Versicherungsdienstleistungen an den Mann oder an die Frau in privaten Haushalten beziehungsweise in Unternehmen zu bringen. Damit setzen sich die schon in den 1970er-Jahren begonnenen Prozesse systemischer Rationalisierung nun auf einem höheren Automatisierungs- und Technisierungsniveau und mit größerer Reichweite fort. Ob und inwieweit es den Banken und Versicherungen gelingt, sich innerhalb der entstehenden hybriden Ökosysteme als „fokale“, kontrollierende und steuernde Akteure zu etablieren und zu halten, dürfte für die Gestalt der zukünftigen Markt- und Machtverhältnisse im Finanzdienstleistungssektor wesentlich seinFootnote 22.

Die Corona-Pandemie bzw. die zu deren Eindämmung getroffenen Maßnahmen und die damit einhergehende Wirtschaftskrise werden vielfach als Beschleuniger und Verstärker des seit Jahren zu beobachtenden Strukturwandels (Marktkonsolidierung und Konzentration, Rückbau von Vertriebs- bzw. Filialstrukturen) sowie einer Digitalisierung von Geschäftsprozessen im Finanzdienstleistungssektor interpretiert (Schwartz und Gerstenberger 2021; Freiberger 2020). Eine für die etablierten Banken und Versicherungen und deren Wettbewerbsstrategien, Markt- und Dienstleistungsbeziehungen sicherlich zentrale Frage ist, inwieweit es zu weiteren Verschiebungen hin zu rein technisch vermittelten, auf persönliche Interaktion und Beratung verzichtende Dienstleistungsbeziehungen kommt. Die seit 2020 nochmals verstärkte Nutzung von Online- und auch Mobile-Banking spricht dafür, dass sich die bereits vor Corona beobachteten Veränderungen in den Kommunikations- und Konsumpraktiken (Gießmann 2015) fortsetzen könnten. Zugleich verdeutlichen Konsument*innenbefragungen aber auch die anhaltend hohe Bedeutung persönlicher Kontakte und physischer Nähe (vgl. Handelsblatt 2020). Die längerfristigen Wirkungen der Corona-Pandemie auf Geschäftsmodelle und Rationalisierungsstrategien bei Banken und Versicherungen sind daher ungewiss.

4 Systemische Rationalisierung 4.0

Was lässt sich nach diesem Parforceritt durch empirische Befunde aus drei Branchen in Bezug auf die Frage nach dem Zusammenhang von Digitalisierung und Geschäftsmodellen festhalten?

Erstens: Die Beispiele aus den drei Branchen zeigen, dass sich die eingangs thematisierte Diskrepanz zwischen Digitalisierungserwartungen und Digitalisierungsrealität in den Unternehmen kaum als Diagnose von Digitalisierungsdefiziten verallgemeinern lässt. Vielmehr ist der Prozess der Digitalisierung systematisch von Ungleichzeitigkeiten geprägt und wird es auch bleiben. Digitalisierung findet in allen drei Branchen statt, doch in keiner sehen wir – zumindest bislang – eine disruptive Transformation von Geschäftsmodellen und Techniknutzungsstrategien. Zwar finden sich in allen drei Branchen Plattformunternehmen oder Ansätze von Plattformgründungen. Doch auch diese folgen jeweils einer branchenspezifischen Logik. In der Logistik sind die Unternehmen z.B. eher zurückhaltend. Auch die Rolle der großen Internetkonzerne im Einzelhandel ist begrenzt. Gerade das Beispiel des Handels zeigt, dass auch für Amazon die Bäume vermutlich nicht in den Himmel wachsen. Im Finanzdienstleistungssektor erfolgt die Bildung von Ökosystemen zumindest nicht ausschließlich auf Basis digitaler Plattformen, sondern es zeichnet sich eine Hybridisierung ab.

Zweitens: Sabine Pfeiffer verweist zu Recht auf die besondere Entwicklungsdynamik in der Distributionssphäre. Auch unsere Untersuchungsbranchen sind von deutlichen Veränderungen in dieser Sphäre gekennzeichnet. Doch spielt Digitalisierung als Beschleunigungsfaktor in den untersuchten Branchen eine sehr unterschiedliche Rolle. Wesentlicher Treiber der beobachtbaren Transformationen sind vielmehr die branchenspezifischen Wettbewerbs- und Marktkonstellationen. Statt eines digitalen Distributivkraftsprungs beobachten wir Konzentrations- und Konsolidierungsprozesse, vor allem aber Vernetzungsprozesse, in denen die etablierten Unternehmen sich strategisch zu behaupten suchen. Für Netzwerkbildung und Marktsteuerung stellen neue technologische Potenziale ein bedeutendes Mittel zum Zweck dar, nicht mehr und nicht weniger.

Drittens: Der Technologieeinsatz bleibt damit den Unternehmensstrategien im jeweiligen Wettbewerbsumfeld untergeordnet. Ob und in welcher Form Digitalisierung stattfindet, hängt wesentlich von den Erwartungen der Unternehmen ab, wie sich diese auf ihre Positionierung im Wettbewerb auswirkt. Insofern erfolgen Einsatz und Nutzung der neuen digitalen Technologien in den Unternehmen tendenziell auch pfadabhängig. Und diese Pfadabhängigkeit gründet ganz wesentlich auf den je branchenspezifischen Wettbewerbskonstellationen, in die die Digitalisierungsprozesse eingebettet sind und die den Unternehmen nur begrenzte strategische Optionen eröffnen.

Viertens: Branchenübergreifende Geschäftsmodelle werden nur durch die Integration bisher gegeneinander abgeschotteter Wissens- und Kompetenzgebiete möglich, d.h. hier sind auch völlig neue Formen der Kombination von Innovations- und Prozess-Know-how erforderlich. So wenig ein Autokonzern allein mit der Entwicklungskompetenz von Maschinenbauingenieuren zu einem Dienstleistungsanbieter für Mobilität wird, so wenig wird es Banken, Versicherungen, Handelsunternehmen und Logistikern gelingen, mit ihren bisher tragenden Handels- und Verkaufskompetenzen eine Ausweitung der Geschäftsmodelle in ein bisher vom Know-how her unbekanntes Terrain zu bewältigen. Die hier in der Tat großen Anforderungen an einen neuen Mix von Netzwerken und von Innovationskompetenzen gehen in der Literatur unter, sie scheinen am ehesten noch bei der Auseinandersetzung mit den Strategien der Big-Tech-Unternehmen auf. Deren Findigkeit bei der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle quer zu traditionellen Branchengrenzen ist auf qualifizierte Arbeitskräfte hauptsächlich mit akademischer Ausbildung angewiesen. Dieser Aspekt wird hierzulande derzeit noch kaum thematisiert, wird aber absehbar an Bedeutung gewinnen. Auf Mitarbeiter*innenseite wird ein neuer Mix von Kompetenzen erforderlich, der durch traditionelle (akademisch basierte) Berufsbilder beziehungsweise Ausbildungsgänge nicht per se abgedeckt wird.

Fünftens: Vielfach wird davon ausgegangen, dass Digitalisierung eine Antwort auf die Probleme der Coronakrise darstellt und ein Unterlassen der weiteren Digitalisierung auf strukturelle Probleme der Unternehmen verweise. Unsere Empirie legt hier eine etwas komplexere Sichtweise nahe: Sowohl durch die Digitalisierung wie durch die Coronakrise verstärken sich bestehende längerfristige Trends des Strukturwandels und des Wettbewerbs in den untersuchten Branchen. Der Einsatz neuer Technologien ist damit eingebettet in die je spezifischen Wettbewerbskonstellationen der Branche und dem strategischen Handeln der daran orientierten Unternehmen untergeordnet.

Was besagen unsere Befunde und Thesen zusammenfassend für die Digitalisierungsdebatte? Festzuhalten bleibt zunächst: Es gibt nicht den einen Fluchtpunkt digitaler Transformation. Zweifellos kann Digitalisierung zu einer neuen Qualität in der Analyse, Gestaltung und Kontrolle von Märkten und Austauschprozessen führen, und das scheint genau das, woran die untersuchten Unternehmen gegenwärtig wesentlich arbeiten. Wichtig ist dabei, dass sich die Digitalisierungsprozesse nicht alleine und nicht vorrangig technologiegetrieben vollziehen, sondern für die Unternehmen vor allem auch strategisch in Perspektiven von Profitgenerierung, Wettbewerbspositionierung und Kontrolle eingebettet sind. Zentral für Digitalisierungsprozesse (und damit auch für die Analyse von Unterschieden) sind entsprechend branchenspezifische Bedingungen und Herausforderungen: die Optimierung und Kontrolle von Marktbeziehungen und die Positionierung in Wettbewerbsprozessen.

Der Digitalisierungsdiskurs fokussiert oftmals einseitig auf neue technologische Potenziale, blendet aber, wie eingangs gezeigt, die strategischen Wahlentscheidungen und Interessen der Unternehmen im Prozess der Digitalisierung aus. Die empirischen Beispiele verweisen darauf, dass in diesen strategischen Entscheidungen wichtige Erklärungsmomente sowohl für die Ungleichzeitigkeiten der Digitalisierung als auch für den Verlauf der betrieblichen Umsetzung liegen. Um aber die Digitalisierungsstrategien von Unternehmen zu entschlüsseln, ist es wesentlich, diese in eine systemische Perspektive zu rücken. An dieser Stelle war die industriesoziologische Diskussion schon einmal weiter. Mit der Bezugnahme auf das Konzept der systemischen Rationalisierung wollen wir diesen Faden wieder aufnehmen.

Mit diesem Konzept bewegten sich Dienstleistungsunternehmen zwei, drei Jahrzehnte im Rahmen bekannter und d.h. branchenmäßig abgesteckter Marktprozesse. Dies bricht spätestens seit Beginn der 2010er-Jahre auf. Der Onlinehandel etablierte sich seitdem als wichtiger neuer Player im Einzelhandel, die Arbeitsteilung in der Containerlogistik geriet durch den von der Finanzkrise angestoßenen Wandel der Globalisierung ins Rutschen, die Ertragseinbrüche im Finanzdienstleistungssektor beförderten die Entstehung hybrider Ökosysteme. Die Unternehmen in den von uns untersuchten Dienstleistungsbranchen, aber auch in Industrien wie der Automobilwirtschaft, suchen heute nach neuen Geschäftsmodellen, die bisherige (Teil‑)Branchengrenzen überschreiten. Umgekehrt versuchen neue technologiegetriebene Akteure wie Onlinehändler oder Fintechs, sich Marktanteile zu erobern. Wichtig ist: Big Data und andere Digitalisierungsinstrumente sind für beide Seiten dabei hilfreiche Werkzeuge, aber sie liefern nicht automatisch Ideen für neue Geschäftsmodelle. Anders formuliert: Es sind nicht (allein) die IT-Entwickler, die mit erweiterten und neuen Digitalisierungsinstrumenten eine radikale Beschleunigung bekannter Rationalisierungsmuster in Produktions- und Distributionssektor herbeizuführen vermögen. Die arbeits- und industriesoziologische Digitalisierungsforschung sieht in der Digitalisierung vielfach eine „gesetzte“ technologische Entwicklung. Sie verbaut sich mit dieser Vorannahme aber den Blick auf wesentliche, die Digitalisierungsentwicklung prägende ökonomische Prozesse. Wir sind der Auffassung, dass vieles von dem, was heute unter den Labels „Industrie 4.0“ oder „Digitalisierung“ untersucht wird, als Ausdruck einer „systemischen Rationalisierung 4.0“ zu deuten ist, in deren Rahmen die Unternehmen in ihrem Streben nach Profitgenerierung, Wettbewerbspositionierung und Kontrolle versuchen, sich die neuen digitalen Technologien als Mittel zunutze zu machen. Mit dieser Begriffswahl betonen wir also einerseits die Kontinuitäten gegenwärtiger Veränderungsprozesse, soweit sie auf die Verfeinerung der Steuerung von Distributionskonzepten zielen, wollen mit dem Appendix „4.0“ indes auf beobachtbare Neuerungen insbesondere hinsichtlich der Reichweite systemischer Transformationen auch über bisher übliche Branchengrenzen hinweg hinweisen.