Obwohl Altendorf medial sowie stadtpolitisch als Problemstadtteil und auch als gefährlich verhandelt wird, berichteten Interviewte auf unsere Frage nach persönlich erlebten Schwierigkeiten relativ selten über Konflikte mit anderen Bewohner*innen vor Ort. Vielmehr beschreiben sie häufig zuerst allgemeine Zuständen und beispielhafte Situationen, die als abweichend gedeutete Verhaltensweisen und „Mentalitäten“ spezifischer Bewohner*innengruppen illustrieren sollten. Häufig tauchten dabei rassifizierende bzw. ethnisierende Gruppenkonstruktionen wie „die Libanesen“, „die Bulgaren und Rumänen“, „die Roma“ oder „die Afrikaner“ in Verknüpfung mit „Müll“, „Lärm“, „Drogen“ oder „Gewalt“ auf. Die entsprechenden Aussagen blieben jedoch ganz überwiegend allgemein und wurden nicht mit selbst erlebten „Kriminalitätsereignissen“ illustriert. Zudem kursierten Stadtteilgeschichten, die im kollektiven Gedächtnis präsent sind, und die teilweise mit Beschreibungen eigener Unsicherheit verknüpft werden: darunter prominent eine Messerstecherei, eine Schießerei, bei der ein bekannter Boxer verletzt wurde, und ein nachfolgender „Angriff“ auf eine Pizzeria. Ergänzt wurden diese Geschichten mit Erzählungen über substrafrechtliche Devianzen wie abends lärmende Kinder, respektlose Jugendliche, „dicke Autos“ an zufahrtsbeschränkten Straßen oder liegengelassener Müll. Auf zugespitzte Weise scheinen sich hier die WAZ-Berichterstattung, allgemeine Problemdiskurse, wie sie seit den späten 2010er Jahren zirkulieren, und Erscheinungen zu vermischen, die in der Essener Stadtentwicklungspolitik problematisiert werden.
Abseits solcher, auch dramatisierender Schilderungen bemühen sich aber auch zahlreiche, sozial ganz unterschiedlich positionierte Bewohner*innen in den Interviews um eine „Normalisierung“ Altendorfs. Berichtet wird häufiger, dass hier jeder unter sich bleibe, aber auch von nachbarschaftlicher Solidarität und Engagement für den Stadtteil. Ein Bewohner Ende Zwanzig betont etwa, er sei „hier wirklich noch nie auf der Straße dumm angemacht“ worden, und auf die Erwähnung problematisierender Erzählungen anderer Bewohner*innen erklärt er diese als Eigenheit der „Älteren“: Er kenne das auch aus seiner Familie, das seien „halt so die Generationen, die noch nicht in so einem vielfältigen Umfeld aufgewachsen sind, weil für uns ist das ganz normal: jugendliche Gruppen, am See, ganz gemischt, mit Migrationshintergrund und deutsche“ (Bew_Adorf_D_13).
Gleichzeitig finden sich vor allem in Erzählungen von Bewohner*innen of Color zahlreiche Hinweise auf alltägliche „schwierige“ Begegnungen etwa mit Nachbar*innen, in denen rassistische Zuschreibungen eine deutliche Rolle spielen, ohne dass es zu wechselseitig konfrontativen Interaktionen – und insofern: zu Konfliktsituationen – käme (vgl. ausführlicher Rinn und Wiese 2020, für einen interaktionistisch orientierten Konfliktbegriff auch Mayer 2019). Überhaupt lässt sich festhalten, dass Bewohner*innen in Altendorf ihren Stadtteil als relativ konfliktarm erleben.Footnote 15 Eine bedeutende Rolle spielte in den Antworten jedoch die wahrgenommene Polizeipräsenz, die diverse Interviewte von sich aus zur Sprache brachten: Polizeisirenen, Verkehrskontrollen oder Polizeieinsätze gegen „Kriminelle“ oder „Drogendealer“ tauchten regelmäßig in den Schilderungen auf. Umgekehrt berichteten andere interviewte Bewohner*innen von der eigenen Betroffenheit von Polizeikontrollen oder problematisierten diese zumindest.
Ob die Bewohner*innen Zeitungen wie die WAZ überhaupt lesen und wie sie entsprechende Berichte deuten, haben wir nicht systematisch erhoben. In den Interviews und ethnographischen Gesprächen wird deutlich, dass das Image Altendorfs als „gefährliches Problemviertel“ den meisten Bewohner*innen zwar sehr wohl bewusst ist, jedoch unterschiedliche Lesarten der dortigen polizeilichen Aktivitäten zirkulieren. Neben zahlreichen affirmativen Aussagen trafen wir in einer geringeren Anzahl auf Bewohner*innen, die die Verbreitung des „schlechten Rufs“ Altendorfs explizit kritisierten oder auch Gegenerzählungen vorbrachten. Die Ambivalenz und Breite der Rezeption polizeilicher Aktivitäten in Altendorf zeigt sich nicht nur zwischen unterschiedlichen Bewohner*innen, sondern oft sogar in ein und demselben Interview, wie etwa in einem mit zwei Jugendlichen (Bew_Adorf_D_20), die selektive Polizeipraktiken zunächst normalisieren und sodann Ausweiskontrollen detailliert beschreiben und als „Racial Profiling“ interpretieren:
Person A: Die kontrollieren hier die Jugendlichen, die sagen, wegen Betäubungsmitteln, Falschgeld, Waffen und so.
Person B: Und zum Beispiel, wenn du so eine Bauchtasche hast, so eine Gucci-Tasche.
Interviewer: Echt, wieso das denn?
Person A: Weil die denken, du machst was mit Drogen. Neulich bin ich hier so langgegangen, habe in meine Bauchtasche reingefasst, wollte was rausholen, und dann hat die Polizei mich angehalten und wollten meinen Ausweis sehen. Ich so: „Warum kontrolliert ihr mich?“ Und die: „Weil in Altendorf so viel mit Betäubungsmittel gehandelt wird, und Falschgeld“ und so weiter.
Interviewer: Und wie war das, also du hast da auch was zu den Polizisten gesagt?
Person A: Ja, das erste Mal, wo mir das passiert ist, da habe ich das gefragt. Aber ehrlich, also die Deutschen werden nie kontrolliert, also ich habe nichts gegen die Deutschen, aber es werden immer nur die Ausländer kontrolliert. (Bew_Adorf_D_20, 179–190)
An verschiedenen Stellen des Interviews thematisierten die Jugendlichen das Zero-Tolerance-Policing, das sich Innenpolitik und Polizei NRW auf die Fahnen schreiben. Als Erscheinungen, die zu Kontrollen und Sanktionen führen, dominieren dabei „Müll“ und andere Disorder-Phänomene, die auch in der Stadtentwicklungspolitik problematisiert werden:
Interviewer: Und was passiert da so am See [Stadtentwicklungsprojekt Niederfeldsee, d. A.] unten?
Person A: Da gibt es auch Kontrollen von der Polizei. Aber vor allem vom Ordnungsamt. Jetzt in der letzten Zeit, das ist genauso wie da am Ehrenzeller Platz [weiteres Stadtentwicklungsprojekt, d. A.], da war es früher richtig dreckig, und jetzt ist es so, wenn du Pipa [geröstete Sonnenblumenkerne, d. A.] im Mund hast und dann wegwirfst, kommt das Ordnungsamt und du muss 30 bis 60 Euro zahlen. (Bew_Adorf_D_20, 258–262)
Zugleich bemerken sie jedoch auch:
Person A: Die Polizei hat Angst vor den Libanesen, deshalb machen die nichts, Angst vor den libanesischen Großfamilien. (Bew_Adorf_D_20, 77–78)
Polizeiliche Aktivitäten werden mithin einerseits als Diskriminierung erlebt. Andererseits wird polizeiliche Inaktivität über die Zuschreibung von „Angst“ rationalisiert und der Clan-Diskurs aufgegriffen. Zugleich verweisen die Interviewten auf zwei zentrale Projekte der Quartiersentwicklung als Orte der Kontrollen – den umgestalteten Ehrenzeller Platz und den neu angelegten Niederfeldsee mit seiner hochpreisigen Neubebauung am Ufer. Gegenden im Umfeld dieser Aufwertungsprojekte werden mit verschärfter Kontroll- und Ordnungspolitik in Verbindung gebracht.
Auch drei weitere männliche Bewohner zwischen 20 und 40 Jahren äußern in einem Interview ihre ambivalente Sicht auf die Polizei und positionieren sich in Abgrenzung zu anderen Bewohner*innen auf der Seite der Anständigen (und dabei implizit als „deutsch“). So erzählen sie davon, selbst grundlos kontrolliert, mit zur Wache genommen und rabiat behandelt worden zu sein, als sie am Niederfeldsee saßen. Zugleich äußern sie Beschwerden, die Polizei käme spät oder „mache nichts“, wenn man sie selbst riefe, wie etwa bei einer erlebten konflikthaften Situation mit Personen, die sie anti-romaistisch kategorisieren und von denen sie bedroht worden seien. Auch mangelndes polizeiliches Durchgreifen gegen „Afrikaner“ und Drogenhandel wird problematisiert (Bew_Adorf_D_02). Die eigene Betroffenheit von stadtteilbezogenen Kontrollpraktiken bestätigt so paradoxerweise rassistische Diskursstränge über Stadtteilprobleme und dafür verantwortlich gemachte Gruppen. Thematisierungen polizeilicher (In‑)Aktivitäten werden somit in den Interviews für rassistische Differenzmarkierungen und eigene Identitätsdarstellungen genutzt.
Polizeiliche Interventionen und die damit assoziierte Entwicklung des Stadtteils werden in anderen Interviews prinzipiell begrüßt. So bemerkt etwa eine ca. 50-jährige Bewohnerin, die seit 30 Jahren im Stadtteil wohnt, dass es „ruhiger geworden“ sei. Dass die Polizei viele Razzien durchführt, hält sie für begrüßenswert (Bew_Adorf_B_08, 25–29). Diese polizeilichen Aktivitäten deutet sie als Bestandteil der aufwertungsorientierten Stadtentwicklungspolitik:
Person C: Die machen das wegen Essen 51 [ein auf einer Brachfläche am Rand von Altendorf neu entstehender Stadtteil; d. A.], die räumen auf, die wollen hier ein anderes Publikum. Es muss sich auch verändern, damit die anderen Leute sich hier sicher fühlen. Das wird hier in den nächsten zwei, drei Jahren alles anders. (Bew_Adorf_B_08, 30–33)
Ähnliche Deutungen zeigen sich in den Aussagen eines Bewohners Anfang Zwanzig. Auch er interpretiert die zunehmenden Polizeikontrollen explizit im Zusammenhang mit eben jenem Stadtentwicklungsprojekt „Essen 51“ und deutet sie als Teil einer intentionalen Verdrängungspolitik, die insbesondere „Schwarzköpfe“ wie ihn betreffe, die besonders häufig „einfach so“, d.h. anlasslos kontrolliert würden:
Person D: In Altendorf ist eigentlich nur der Ruf schlecht, also Altendorf hat einen schlechten Ruf, ist aber nicht so schlecht wie dieser Ruf, das wird alles in der Zeitung und im Internet verbreitet, das wird aufgebauscht, um Altendorf runterzuziehen, dass das hier alles kriminell ist, aber hier ist alles in Ordnung, hier passiert dir nichts, […] das einzige was hier besonders ist in Altendorf ist die Polizeipräsenz, und die bauen da hinten ja auch einen neuen Stadtteil, wie heißt der?
Interviewer: Da hinten die Helenenstraße runter? Sie meinen bestimmt Essen 51.
Person D: Ja Essen 61 oder 51 oder wie das heißt. Ist doch klar, was die wollen, die wollen uns hier alle weghaben, rausschmeißen irgendwann, die sind ja nicht dumm, erst machen sie Altendorf runter, machen Altendorf einen schlechten Ruf, dann schicken sie viel Polizei rein, Polizeipräsenz, und nachher machen sie das hier alles platt, die wollen das hier ja alles vom Krupp-Gelände da aus neu machen hier. (Erhebungsprotokoll Anbahnung narrativ-episodale Interviews Altendorf, 18.4.2019_D)
Ein weiterer Bewohner, ebenfalls Anfang Zwanzig, den der Interviewer denjenigen zuordnet, die potenziell am ehesten polizeilich kontrolliert werden, schaltet sich während eines Interviewanbahnungsgesprächs spontan ein und weist dabei das von ihm antizipierte Thema des Interviews scharf zurück:
Person E: „Sie können hier alle fragen, fragen sie die Leute hier, es ist alles ganz normal hier, hier ist nicht mehr Kriminalität als in anderen Stadtteilen auch. (Er deutet rüber zur Kreuzung Helenenstraße/Altendorfer Straße): Sehen Sie hier Kriminalität? Schauen sie sich um, sehen sie etwas?“
Interviewer: „Nee. Aber ich bin auch gar nicht wegen Kriminalität oder sowas hier, mich interessieren die persönlichen Erfahrungen der Menschen, hier in Altendorf zu wohnen, also was sie hier so täglich erleben, wie das Zusammenleben ist, und sowas.“
Person E: „Was ist denn an Altendorf so besonders? Warum gehen Sie nicht in jeden anderen Stadtteil, immer Altendorf, was ist denn das Besondere an Altendorf, hier ist alles ganz normal, ganz normal, außer hier die Polizei, die macht hier Stress. Was soll das, warum gehen Sie nicht woanders hin? Warum machen Sie das nicht da, wo Sie wohnen? […]. Immer Altendorf. Hier gibt’s keine Familien-Clans! In der Innenstadt, da sitzen die, da haben die ihre Häuser, in der Innenstadt, aber nicht hier in Altendorf, gehen sie doch da hin!“ (Erhebungsprotokoll Anbahnung narrativ-episodale Interviews Altendorf, 18.4.2019_D)
Diese rigorose Ablehnung der Beforschung Altendorfs deutet darauf hin, dass der Bewohner sich geradezu genötigt fühlt, seinen Stadtteil gegen den dominierenden Problemvierteldiskurs zu verteidigen. Naheliegenderweise nimmt er an, die Stigmatisierungen und insbesondere der Clan-Diskurs hätten uns nicht nur nach Altendorf geführt, sondern würden durch uns sozialwissenschaftlich oder journalistisch reproduziert. Kontrastierend zum hegemonialen Image sieht er das Problem nicht in der Kriminalität, sondern in der Polizei. Ohne diese wäre Altendorf ein ganz normaler Stadtteil. Aber, und das macht die Dringlichkeit seiner Zurückweisung deutlich, auch der einseitige problematisierende Fokus, der selektive öffentliche Blick auf Altendorf ist eine Zumutung und belastend. Und so zeigen sich in dieser Erhebungssituation auch die grundlegenden Ambivalenzen von Sozialforschung unter Bedingungen territorialer Stigmatisierung, deren Reproduktion, trotz möglicherweise gegensätzlicher forschungspolitischer Anliegen, nicht ausgeschlossen werden kann.
Entsprechend deutliche Zurückweisungen des medialen Problemimages Altendorfs zeigten sich auch in anderen Forschungsinteraktionen. Ein weiterer männlicher Interviewpartner beschreibt zudem Eskalationsdynamiken, die er unter anderem anhand der repressiven Polizeipraktiken während eines größeren Einsatzes verdeutlicht:
Person F: [erzählt, er sei kein „Bullenfreund“: Was er von denen schon alles für Gewalt erlebt habe, wenn man mal betrunken sei und jemanden beleidigt.] Dann ziehen die einem sofort einen über, und anzeigen kann man sie auch nicht, da hat man sofort Widerstand […]. Und heute benutzen die ja auch sofort ihre Schusswaffe, hat einer ein Messer, ziehen die sofort ihre Pistole, ich meine, die haben Knüppel, die haben Gas, da müssen sie doch nicht gleich die Pistole ziehen. Aber hier in Altendorf, da trauen die sich nicht, […] die kommen dann wenn nur noch vermummt, ganz in Schwarz, mit Maschinenpistolen und so. (Bew_Adorf_D_10, 163–174)
Die hier aufgerufene typisierte eskalative Konstellation wurde etwa ein Dreivierteljahr nach diesem Interview gewissermaßen Realität: Am 18. Juni 2019 erschoss ein Polizist den Altendorfer Bewohner Adel B. im Eingangsbereich seines Wohnhauses (vgl. Rinn et al. 2020). Dieser hatte zuvor wegen suizidaler Absichten selbst die Polizei gerufen und trug ein Messer bei sich. Die Berichterstattung und die polizeiliche Positionierung zum Geschehen bestätigte nun einerseits das Image des „gefährlichen Problemviertels“ – „Polizist erschießt Messer-Mann in Essen“ schrieb die BILD-Zeitung (Weuster 2019). Andererseits provozierte der Fall verstärkt ab 2020 eine öffentliche Kontroverse zu institutionellem Rassismus und Polizeigewalt in Essen und Altendorf.
Auch eine 22-jährige in Altendorf aufgewachsene Bewohnerin betont in einem der narrativen Interviews das repressive, aus ihrer Perspektive überzogene polizeiliche Vorgehen im Stadtteil und verdeutlicht dies an einer erlebten Situation:
Person G: Mein Sohn kommt hochgerannt, der sagt: „Mama, die Polizei ist da auf dem Spielplatz“ […]. Sie müssen sich jetzt vorstellen: Da stehen zwei Transporter, da stehen zwei Transporter, da steht ein Transporter, da stehen drei normale Wagen, zwei Motorräder. Sie müssen sich jetzt vorstellen, also hier waren bestimmt locker hundert bis zweihundert Polizisten. Wegen drei Jugendlichen. Die haben die Waffe gezogen. Haben die festgenommen. Weil am Essen-West [Bahnhof, d. A.] wurde da irgendwie ein Security-Mann angegriffen von drei Jugendlichen. Aber es waren die ja nicht. Allein, wie die damit umgegangen sind. Da denk ich mir so: Für drei Jugendliche brauch man doch keine zweihundert Polizisten […]. (Na_Adorf_05_D, 51–58)
In der Suche nach einer Anschlussfähigkeit an Alltagserfahrungen lassen sich also Aneignungen und Reartikulationen dominanter Diskurse über Altendorf und damit verbundene polizeiliche Aktivitäten unterscheiden. Die verschiedenen Lesarten korrespondieren mit dem sozialen Status der Interviewten, mit ihren Klassenpositionen bzw. -erfahrungen, erlebtem Rassismus und Erfahrungen mit der Polizei (auch wenn sie sich nicht auf diese reduzieren lassen). Dabei bieten die Lesarten unterschiedliche „Gebrauchswerte“: Während die hegemoniale Erzählung des „gefährlichen Problemviertels“ von vielen Interviewten überwiegend kritiklos und ohne Rekurs auf eigene Erfahrungen mit Konflikten mit anderen Stadtteilbewohner*innen aufgegriffen wird, bieten das territoriale Stigma und vor allem die Polizeipraktiken sowohl Chancen zur Distinktion gegenüber anderen Personengruppen als auch zur Kritik an der Polizei. So dient die Thematisierung der Stadtentwicklungspolitik wie gesehen im einen Fall der Legitimation, im anderen der Kritik an polizeilichen Aktivitäten.
Zusammenfassend lassen sich drei Varianten des Stigmamanagements unterscheiden. In der ersten Variante wird die Problematisierung Altendorfs insgesamt reproduziert, inklusive innerer Differenzierungen, indem das territoriale Stigma und Probleme auf spezifische konstruierte Gruppen zurückgeführt und somit Distinktionsgewinne erzielt werden. Erzählungen über eigene Erfahrungen mit Konflikten im Stadtteil, die dieses Bild untermauern würden, fehlen in dieser Variante allerdings weitgehend. Mitunter zeigt sich dieser Widerspruch zugespitzt in der Aussage, in Altendorf werde es immer schlimmer, aber selbst habe man hier noch nie etwas Schlimmes erlebt. Daneben zeigen sich zwei Varianten, die als Gegenerzählungen zum hegemonialen Diskurs begriffen werden können: Einerseits wird Altendorf als „ganz normaler“ und unproblematischer Stadtteil beschrieben. Statt Distinktion als Stigmaabwehr wird der Stadtteil an sich positiv dargestellt. Andererseits wird eine Gegenerzählung sichtbar, in der Altendorf nicht entproblematisiert wird. Statt in „Kriminalität“ wird das Problem und damit auch die Ursache der territorialen Stigmatisierung jedoch in der Polizei und im Rassismus gesehen und dies teilweise mit ausführlichen Schilderungen polizeilicher Aktivitäten illustriert.
Wacquants Diagnose der „verstellten“ Repräsentation scheint im Angesicht dieser Ergebnisse durchaus plausibel. Sie wirkt aber offenbar nicht ubiquitär, denn es werden Gegendiskurse sichtbar, in denen andere Repräsentationen sozialer Beziehungen im Stadtteil aufscheinen als jene, die den Problemviertel-Diskurs dominieren. Zugleich hat medial, politisch-administrativ und polizeilich prozessierte territoriale Stigmatisierung, so unsere Vermutung, deutliche Effekte auf den Raum des Denk- und Sagbaren. Auch wenn wir letztlich keine Aussagen über die unmittelbaren Wirkungen des medialen Diskurses der WAZ und der über ihre Selektivität spezifische Be-deutungen nahelegenden Polizeipraktiken auf die Situationsdeutungen von Bewohner*innen machen können, so wurde in den Interviews doch eines deutlich: Der „schlechte Ruf“ und dessen Elemente, also die mit Altendorf verknüpften negativen Attribute, Phänomene, Personengruppen und Verhaltensweisen, werden von den Interviewpartner*innen gekannt. Korrespondenzen zwischen dem encoding und decoding der medialen Berichterstattung liegen hier somit ebenso nahe wie sich Interviewaussagen in den hegemonialen Stadtteildiskurs und entsprechend begründete stadtentwicklungs- und kriminalpolitische Programmatiken fügen respektive darauf (indirekt) beziehen. Allerdings determiniert der „schlechte Ruf“, wie im Folgenden gezeigt wird, weder die Positionierung dazu noch die Interpretationen polizeilicher Aktivitäten.