1 Einleitung

Für das Jahr 2019 wird für Personen ohne Migrationshintergrund auf der Grundlage des Mikrozensus eine Armutsrisikoquote von 11,7 % ausgewiesenFootnote 1; Personen mit Migrationshintergrund im weiteren Sinne, also Zugewanderte mit eigener und ihre Nachkommen ohne eigene Migrationserfahrung, unabhängig vom Staatsbürgerstatus, sind mit 27,8 % weitaus stärker betroffen (Statistisches Bundesamt 2020). Diese beträchtliche Differenz besteht seit Jahrzehnten. Obwohl sich für Angehörige der zweiten Generation, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind und das deutsche Institutionensystem durchlaufen haben, die Bildungschancen und Arbeitsmarktintegration verbesserten, hat sich ihre relative Einkommensarmutsquote der der Vergleichsgruppe ohne Migrationshintergrund noch längst nicht angenähert.

Als Armutsursachen von Menschen mit Migrationshintergrund werden zumeist Merkmale angeführt, die auch das Armutsrisiko der autochthonen Bevölkerung bestimmen, etwa eine überdurchschnittlich schlechte Arbeitsmarktanbindung, hohe Arbeitslosigkeit oder geringere Bildung (Verwiebe 2010). Da das Aufwachsen unter Bedingungen von Armut aus sozialisationstheoretischer Sicht eine wesentliche Beeinträchtigung der Entwicklungschancen darstellt, halten sich Armutsrisiken häufig über Generationen hinweg. Das vergleichsweise hohe Armutsrisiko der Nachkommen von MigrantInnen wäre dann auf die benachteiligten Lebensverhältnisse der Elterngeneration zurückzuführen. Die aktuelle Forschung zeigt, dass die Migrationssituation weitere spezifische Armutsrisiken in sich birgt (Janßen und Bohr 2018) und die Armutserfahrung im Kindesalter bei Menschen mit Migrationshintergrund einen stärkeren und auch eigenständigen Effekt auf das Armutsrisiko im Erwachsenenalter ausübt (Böhnke und Heizmann 2014; Giesecke et al. 2017). Es stellt sich daher die Frage, welche Mechanismen zur intergenerationalen Transmission von Armutsrisiken spezifisch bei diesem Personenkreis beitragen und welche Rolle dabei der Migrationshintergrund und die daran gekoppelten Erfahrungen spielen. Mit Mechanismen sind „prinzipiell regelhafte und damit kausal wirksame Prozesse“ (Becker 2018, S. 293) gemeint, die zu bestimmten sozialen Phänomenen führen – in diesem Fall zur Transmission von Armutsrisiken. Es geht um die Herausarbeitung der einzelnen Bedingungen sowie deren Wirkungsweisen und Verkettung, durch die es zu dem jeweils untersuchten Phänomen kommt oder mit denen es ggf. auch verhindert werden kann.

Diese Fragestellung ist Gegenstand des DFG-Forschungsprojektes „Armut über Generationen“Footnote 2, das den Blick insbesondere auf die Rolle von Familienbeziehungen, sozialen Netzwerken und sozialräumlichen Kontexten richtet. Dabei konzentriert sich das qualitative Sample ausschließlich auf Personen ohne oder mit einem türkischen Migrationshintergrund. Dies ist dadurch begründet, dass diese MigrantInnengruppe in Deutschland am häufigsten von einem hohen Armutsrisiko betroffen ist (Sauer und Halm 2009, S. 50 f.). Zudem gehört sie historisch zu den frühen Einwanderergruppen, sodass vor allem von der Elterngeneration bereits längere biographische Abschnitte in Deutschland verbracht wurden und entsprechend mehr Erfahrungen mit dem deutschen Institutionensystem vorliegen und persönlichere Bezüge zu sozialräumlichen Verortungen (z.B. in Stadtvierteln) zu erwarten sind.

Anknüpfend an Kunz (2018, S. 290) ist davon auszugehen, dass mit der Dimension der Migration nicht schlicht eine weitere Dimension sozialer Ungleichheit hinzukommt, sondern auch das Themenpaar Migration/Armut als „Formation zweier sich überlagernder und gegenseitig verstärkender Ausgrenzungsdiskurse“ begriffen werden muss. Auch Hollstein et al. (2010a, S. 145) sprechen von einer „Verwobenheit von armuts- und migrationsbezogenen Faktoren“, die sich einer direkten Befragung der Betroffenen entziehe. Daher wurde ein qualitatives Forschungsdesign mit dem biographisch-narrativen Interview (Schütze 1983) als Erhebungsmethode gewählt, das es ermöglicht, die armuts- und migrationsspezifischen Erlebnisse und Erfahrungen in ihrer lebensgeschichtlichen Einbettung, ihrem Zusammenwirken miteinander sowie ihrer Wechselwirkung mit weiteren Dimensionen sozialer Ungleichheit zu erfassen. Um Mechanismen der intergenerationalen Transmission von Armutsrisiken aufzudecken, betrachten wir die Eltern- und Kindergeneration einer Familie (Mutter oder Vater und heute erwachsenes Kind) in ihrer Bezugnahme aufeinander. Darüber hinaus werden in dem Forschungsprojekt Familien mit und ohne Migrationsgeschichte miteinander verglichen (Böhnke und Zölch 2021).

Nachfolgend werden zunächst der theoretische Hintergrund und der Forschungsstand zum Thema Armut und Migration im Hinblick auf intergenerationale Transmissionsprozesse zusammengefasst (Abschnitt 2). Es werden Erklärungen für das unterschiedlich hohe Armutsrisiko von Personen mit und ohne Migrationshintergrund vorgestellt, übergreifende migrationsbedingte soziale Ungleichheiten in Zusammenhang mit Armut betrachtet und auf die Bedeutung der familialen Beziehungen und elterlichen Migrationserfahrungen eingegangen. Im Anschluss gehen wir auf unser methodisches Vorgehen bei der qualitativen intergenerationalen Erforschung der Armut im Kontext von Migration ein (Abschn. 3). Es folgt die exemplarische Darstellung des Porträts der Familie Yilmaz und ihrer Migrations- und Armutserfahrungen (Abschn. 4). Dabei richten wir unsere Aufmerksamkeit vor allem auf die Art und Weise, wie sich soziale Benachteiligungen spezifisch im Kontext von Migration auf die generationale Armutsweitergabe ausgewirkt haben. Nach der Einordnung der Ergebnisse aus der Fallanalyse im Hinblick auf spezifische Wechselwirkungen und Mechanismen der Armutstransmission, in die zusätzlich Erkenntnisse weiterer rekonstruierter Fälle des Samples einfließen (Abschn. 5), schließt der Beitrag mit einem Fazit zu den Haupterkenntnissen der Studie.

2 Theoretischer Hintergrund und Forschungsstand – Armut und Migration

Armut stellt eine der besonders folgenreichen sozialstrukturellen Benachteiligungen dar, die nicht allein durch einen ökonomischen Mangel gekennzeichnet ist, sondern sich multidimensional auf die Lebenslage der betroffenen Menschen auswirkt (Wagner 2017, S. 314; Böhnke et al. 2018). Befunde aus der Kinderarmutsforschung zeigen, dass die Sozialisation in Armut mit Risiken hinsichtlich der sozio-emotionalen, kognitiven und intellektuellen Entwicklung verbunden ist und häufig zu eingeschränkten Bildungschancen führt (Lauterbach et al. 2002; Kohlrausch 2018). Das Aufwachsen in einer von Armut betroffenen Familie erhöht zudem das Risiko für die Kinder, später selbst arm zu sein (Musick und Mare 2006; Böhnke und Heizmann 2018).

Familien transportieren schicht-, milieu- und sozialräumlich geprägte Überzeugungen und Selbstbilder und geben verinnerlichte Deutungs- und Handlungsmuster, Erziehungsstile und Aspekte von Beziehungsgestaltungen weiter (King 2017, S. 29). Der Fokus der qualitativen intergenerationalen Armutsforschung liegt vor allem darauf, die Orientierungsmuster zu erfassen, die sich in Familien von Generation zu Generation übertragen. Sparschuh hat anhand der Rekonstruktion von Interviews mit Familienangehörigen unterschiedlicher Generationen ein Muster herausgearbeitet, das sie als „Schicksalsrahmen“ bezeichnet hat (2013, S. 243). Diesem ist eine angenommene eigene Handlungsohnmacht inhärent. Indem dieser Orientierungsrahmen von Generation zu Generation tradiert werde, trage er zur Reproduktion der Ausgrenzungslage bei. Schiek und Ullrich (2017, S. 3) sprechen von Fatalismus und Gegenwartsorientierung „als Motoren eines intergenerationellen Teufelskreises der Armut“. Sie gehen davon aus, dass ein Entkommen aus dieser Situation nur „über entsprechende Kämpfe und Brüche“ (Schiek 2017, S. 13) zwischen den Generationen möglich sei. Arbeiten, die dies explizit für Familien mit Migrationshintergrund untersuchen, sind uns nicht bekannt.

Giesecke et al. (2017, S. 27, 43) haben untersucht, welches Armutsrisiko bei Menschen mit Migrationshintergrund vorliegen würde, wenn sie die gleiche Verteilungsstruktur bezüglich der zentralen Armutsrisikofaktoren Geschlecht, Alter, Gesundheit, Haushaltskomposition, Wohnregion, Bildung und Erwerbstätigkeit vorweisen wie Menschen ohne Migrationshintergrund. Ihren Berechnungen zufolge sind sie im Vergleich zu Personen ohne Migrationshintergrund immer noch von einer deutlich höheren Armutsgefährdungsquote betroffen (ebd., S. 5). Dieser eigenständige und mit herkömmlichen Variablen unerklärte Einfluss des Migrationshintergrundes auf das Armutsrisiko von MigrantInnennachkommen wirft die Frage nach den spezifischen Determinanten für die Armutstransmission von Generation zu Generation auf.

Daher gilt es zu untersuchen, welche spezifischen Armutsrisiken und welche eine Weitergabe dieser Risiken befördernde Mechanismen mit der Migrationssituation verbunden sind. Der detaillierte Zusammenhang von Armut und Migration im Generationenkontext steht in der Forschung bislang selten im Zentrum (Hollstein et al. 2010a, S. 38). In den vorliegenden Arbeiten (z.B. Butterwegge 2010; Butterwegge und Butterwegge 2016) wird die überproportionale Armutsbetroffenheit von MigrantInnengruppen u.a. durch niedrigere schulische Bildungsabschlüsse, die teilweise marginale Arbeitsmarktintegration, den Strukturwandel des Arbeitsmarktes oder Aspekte der Migrationsgesetzgebung erklärt (Butterwegge 2010, S. 540). Migrationsbedingte soziale Ungleichheiten im Allgemeinen ohne einen besonderen Bezug zum Thema Armut sind hingegen Gegenstand einer Vielzahl von Studien. Dabei werden als verstärkende Mechanismen für Benachteiligungen vornehmlich mangelndes oder nicht anerkanntes kulturelles Kapital (Nauck et al. 1998; Boos-Nünning 2010), fehlende Institutionenkenntnis (Kristen 2008), inter- und intraethnische Netzwerke und Sozialkapital (Esser 2001; Haug 2007; Lancee 2012), sozialräumliche Benachteiligungen und Segregation (Farwick 2009), (institutionelle) Diskriminierung (Gomolla und Radtke 2009; Beigang et al. 2017) und Arbeitsmarkteintrittsbarrieren (Aybek 2014; Diehl et al. 2009) sowie Rückwanderungsabsichten (Dustmann 2005) und Fertilitätsunterschiede (Becker 1993) angeführt. Im Folgenden sollen diese Faktoren kurz vorgestellt und in ihrem möglichen Zusammenhang mit Armut betrachtet werden.

Die entscheidende Weichenstellung für die Vermeidung eines späteren Armutsrisikos ist der Bildungserfolg. Eine gelingende schulische und berufliche Integration stellt die Basis für die Teilnahme am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben in Deutschland dar (Reich 2005, S. 244). Humankapitaltheoretische Ansätze erklären Bildungsnachteile von Migrantenfamilien vor allem durch die geringe Ausstattung an ökonomischem und kulturellem Kapital, das sie in die Bildung ihrer Kinder investieren können (Bourdieu 1983; Stanat und Edele 2015). Die durchschnittlich eher geringe Kapitalausstattung von Personen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland ist vor allem migrationshistorisch zu sehen. Ein entscheidendes Datum ist das Anwerbeabkommen mit der Türkei aus dem Jahr 1961. Das von den Angeworbenen mitgebrachte institutionalisierte kulturelle Kapital in Form von Bildungsabschlüssen war oftmals gering. Dies ist darin begründet, dass ArbeitsmigrantInnen explizit für gering qualifizierte Arbeitsplätze angeworben wurden, zumeist ohne Aussicht auf beruflichen Aufstieg selbst für höher Qualifizierte. Auch wenn in der Generationenfolge hohe Bildungs- und Aufstiegsaspirationen für die Kinder bestehen, können diese häufig nicht in entsprechende Bildungserfolge umgesetzt werden, weil es den zugewanderten Eltern mitunter an Kenntnissen über das deutsche Schulsystem fehlt und zudem die Unterstützungsmöglichkeiten durch sprachliche Schwierigkeiten eingeschränkt sein können (Kristen 2008).

Hollstein et al. (2010b, S. 108 ff.) weisen einerseits auf die besondere Notwendigkeit von unterstützenden sozialen Netzwerken – also Freundschaften, verwandtschaftlichen Beziehungen und dem weiteren sozialen Netzwerk wie z.B. Schule und religiöse Gemeinden – für die von Armut betroffenen MigrantInnen hin und andererseits auf die Problematik, diese unter Armuts- und Migrationsbedingungen bilden und aufrechterhalten zu können. Die milieuspezifische soziale Einbettung kann zu einer Verfestigung der sozialen Benachteiligung führen, weil armutsüberwindende Kontakte und Informationen fehlen und ein Verlassen des sozialen Milieus mit einem Verlust an sozialer Integration einhergehen kann.

Im Migrationskontext wird häufig zwischen dem intra- und dem interethnischen Sozialkapital unterschieden, wobei mit Letzterem üblicherweise Kontakte mit der Bevölkerung des Aufnahmelandes angesprochen werden. Der Rückzug in eine ethnische Community kann einerseits Halt geben und helfen, Fremdheitserfahrungen zu bearbeiten, sowie Bildungs- und Berufschancen eröffnen (Groh-Samberg et al. 2012). Andererseits werden eigenethnischen Beziehungen auch negative Auswirkungen attestiert (Günther 2009, S. 89), und der Kontakt zwischen Allochthonen und Autochthonen wird als wichtiger Indikator für eine gelungene Integration betrachtet. Heizmann und Böhnke (2016) zeigen, dass sowohl das intra- als auch das interethnische Sozialkapital in Abhängigkeit von der Sprachkompetenz armutsabfedernde Wirkungen entfalten können. Die niedrigste Armutsquote ist dort zu finden, wo Kontakte sowohl zu allochthonen als auch autochthonen Gruppen bestehen.

Mangelnde Anerkennung und eine prekäre Form der Zugehörigkeit (Mecheril 2003) betreffen oftmals auch Angehörige der zweiten und dritten Generation, wie z.B. die Nachkommen der ArbeitsmigrantInnen aus der Türkei. Obwohl diese in Deutschland sozialisiert wurden, werden sie von der Einwanderungsgesellschaft vielfach als fremd wahrgenommen, adressiert und diskriminiert (Beigang et al. 2017). Vor allem Bürger mit türkischem Migrationshintergrund sehen sich in verstärkter Weise Alltagsrassismen und anderen Formen der Diskriminierung ausgesetzt (Stecklina 2007, S. 74). Das Gefühl, nicht wirklich dazuzugehören, kann sich intergenerational fortsetzen und Handlungsmöglichkeiten für das Verlassen der Armutssituation beschränken. Hollstein et al. haben in der einzigen vorliegenden qualitativen Studie zum Thema Armut unter Migrationsbedingungen die zentrale Erkenntnis gewonnen, dass nicht die mangelnden finanziellen Mittel im Vordergrund des Bewältigungshandelns stehen, sondern „die zentralen Belastungsgegenstände aus Ausgrenzungsprozessen und mangelnder Anerkennung resultieren, die von Armut betroffene Menschen mit Migrationshintergrund erfahren“ (2010b, S. 107).

Für den schulischen Bereich wurden direkte und indirekte Formen von institutioneller Diskriminierung rekonstruiert (Gomolla und Radtke 2009), die einen erfolgreichen Weg erschweren können. Hinzu kommen Arbeitsmarkteintrittsbarrieren: Bei der Suche nach einer betrieblichen Berufsausbildung haben BewerberInnen ohne Migrationshintergrund eine deutlich höhere Chance, einen Ausbildungsplatz zu finden (Bundesinstitut für Berufsbildung 2018, S. 14). Und selbst wenn die Bildungs- und Ausbildungsgänge erfolgreich beendet werden, bedeutet das nicht automatisch eine entsprechende Arbeitsmarktplatzierung. Der Bildungserfolg bei Menschen mit Migrationshintergrund transformiert sich seltener in eine vorteilhaftere berufliche Situation als bei Personen ohne Migrationshintergrund, und es bestehen deutlich geringere Aufstiegschancen als für Einheimische (Aybek 2014; Diehl et al. 2009). Dies erschwert das Verlassen der Armutssituation.

Eine ethnische Segregation im Sinne von räumlich klar umgrenzten ethnischen Gemeinden ist in Deutschland weniger als in anderen Ländern zu beobachten (Schönwälder und Söhn 2009; Teltemann et al. 2015), dennoch konzentrieren sich Zugewanderte in sozial benachteiligten Gebieten und Stadtvierteln. Dies verweist auf sozialräumliche Benachteiligungen, die auch bei Einheimischen eine armutsverstärkende Wirkung entfalten können, wie beispielsweise eine hohe Arbeitslosigkeit im Wohnviertel oder eine fehlende Infrastruktur. Für Zugewanderte lässt sich eine hohe Wahrscheinlichkeit für einen Aufenthalt bzw. Verbleib in einem sozial benachteiligten Gebiet nachweisen. Der Wohnkontext beeinflusst die Mobilitätschancen als solche, aber auch die Wahrnehmung der Selbstwirksamkeit und die Wahl von Handlungsoptionen seitens der Betroffenen (Farwick 2009; Boos-Nünning 2010). Ein armutsgeprägter Sozialraum vermindert die Chancen von Kindern, soziales und kulturelles Kapital zu erwerben, da die sozialen Netzwerke von Armut betroffener Haushalte oft ressourcenschwach und lokal konzentriert sind (Friedrichs 2013).

Darüber hinaus scheint es uns relevant, die familialen Beziehungen und elterlichen Migrationserfahrungen in die Betrachtung mit einzubeziehen. So haben thematisch anders gelagerte Forschungen zum Thema Familie und Migration gezeigt, dass das elterliche Migrationsprojekt bzw. die Art der Bewältigung der Migrationserfahrungen durch die Eltern einen zentralen Faktor der Familiendynamik in Migrantenfamilien darstellt. Die Beschäftigung mit der Migration geschieht in Abhängigkeit davon, aufgrund welcher Motive sie erfolgte, wie sie sich gestaltete und welche Folgen sich aus der Wanderung für die soziale, ökonomische und gesellschaftliche Position der Familie ergaben (King und Koller 2015). Migration kann sehr Unterschiedliches beinhalten, „je nachdem, wer wann mit welchem Motiv aus welchem Land in welche Einwanderungsgesellschaft gewandert ist, und je nachdem, ob die Kinder der ‚ersten‘, ‚zweiten‘ oder folgenden Generation angehören“ (King und Koller 2009, S. 11). Der Arbeitsmigration liegt zumeist ein ökonomisches Motiv zugrunde, wobei zu berücksichtigen ist, ob die Entscheidung von der Person selbst getroffen wurde oder ob sie z.B. im Auftrag ihrer Herkunftsfamilie in ein fremdes Land geschickt wurde, um Geld zu verdienen. Eine vorübergehende Migration, wie sie ursprünglich auch für ArbeitsmigrantInnen in Deutschland geplant war („Rotationsprinzip“), kann mit dem Ziel einer Verbesserung des Lebensstandards nach der Remigration erfolgen, sodass dafür im Aufnahmeland eine Armutssituation in Kauf genommen wird (Janßen und Bohr 2018, S. 155). In Familien, deren Eltern oder Großeltern ArbeitsmigrantInnen waren, kam es häufig zu mehrfachen Trennungen der Familien. Es war üblich und oft unumgänglich, dass die Kinder bei einem Elternteil oder bei Verwandten im Herkunftsland verblieben. Erst im Zuge des Anwerbestopps von 1973 kam es in den kommenden Jahren zu einem verstärkten Nachzug der Kinder (Carnicer 2017, S. 93), die sich dann z.T. bereits in der Phase der Adoleszenz befanden. Eine weitere Form der Migration ist der Zuzug eines Partners bzw. einer Partnerin für eine Eheschließung. Auch in diesem Fall handelt es sich um eine Einreise im Erwachsenenalter, die oftmals mit strukturellen Schwierigkeiten beim Spracherwerb oder bei der Integration in den Arbeitsmarkt einhergeht. All dies ist für die Migrierenden mit vielfältigen Herausforderungen verbunden, wie der Auseinandersetzung mit Fremdheit, der (anfänglichen) Sprachlosigkeit oder den Erfahrungen von fehlender Anerkennung und von Diskriminierung. Es ist anzunehmen, dass sich die spezifischen Rahmenbedingungen der Migration auch auf die familialen Beziehungen auswirken, etwa durch längere Phasen der Trennung von Eltern und Kindern, durch unterschiedliche Tempi beim Spracherwerb oder durch den unterschiedlichen Umgang mit Benachteiligungserfahrungen. Es erscheint demnach unerlässlich, die Migrationsgeschichte der einzelnen Personen zu erfassen und diese in ihren individuellen Auswirkungen sowohl auf die eigene Lebensgeschichte als auch auf die familialen Beziehungen zu betrachten und auf dieser Grundlage Bezüge zu den Wahrnehmungs‑, Deutungs- und Handlungsmustern in Bezug auf die Armutssituation herzustellen. Unsere Perspektive auf das empirische Material richtet sich demnach auf die Suche nach spezifischen Wechselwirkungen zwischen armuts- und migrationsbedingten Erfahrungen und Risiken, die sich möglicherweise gegenseitig potenzieren und das Verlassen einer Armutslage erschweren. Die bisherigen Ausführungen legen nahe, dabei besonders auf fehlendes Kapital bei der Umsetzung von Bildungsaspirationen im Zusammenhang mit Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen zu achten, auf Spezifika der sozialen Netzwerke und sozialen Räume sowie auf die die Migrationserfahrungen reflektierenden familialen Beziehungsdynamiken.

3 Methodisches Vorgehen

Um das Zusammenwirken der beiden Ungleichheitsdimensionen Armut und Migration differenziert in den Blick nehmen zu können, wurden biographisch-narrative Interviews (nach Schütze 1983) mit 16 erwachsenen Personen geführt, die in Armut aufgewachsen sind. Zudem wurde jeweils ein Elternteil interviewt, um die intergenerationalen Prozesse erfassen zu können. Ausgehend von der aus der Grounded Theory stammenden Methode des Theoretical Samplings (Glaser und Strauss 1967) haben wir acht Familien ohne Migrationserfahrungen und acht Familien mit türkischem Migrationshintergrund ins Sample aufgenommen und darauf geachtet, dass unterschiedliche Migrations- und Armutsgeschichten vorliegen, die jeweils die Erkenntnismöglichkeit der Studie erweitern können. Die Durchführung von Interviews mit Angehörigen unterschiedlicher Generationen einer Familie, zudem im oftmals schambehafteten Kontext von Armut, stellt eine Herausforderung dar. Daher haben wir eine Kombination von unterschiedlichen Kontaktwegen gewählt: die direkte Ansprache von BesucherInnen sozialer Hilfs- und Beratungsstellen (z.B. Tafeln, Sozialberatungen), die MitarbeiterInnen dieser Einrichtungen zur Vermittlung geeigneter Personen (Gatekeeper-Methode), Anzeigen in sozialen Medien (z.B. Facebook, eBay-Kleinanzeigen) sowie Flyer und Aushänge u.a. in Geschäften in Stadtteilen mit einem hohen Migrationsanteil. Für die Suche nach Teilnehmenden mit türkischem Migrationshintergrund hat es sich zudem als förderlich erwiesen, eine studentische Hilfskraft im Team zu haben, die den Hintergrund und die Sprache teilt.

So sind unter den Eltern männliche und weibliche Personen, die um 1970 als ArbeitsmigrantInnen nach Deutschland gekommen sind und nach Jahren den bzw. die EhepartnerIn und die gemeinsamen Kinder nachgeholt haben oder dann in den Folgejahren Kinder in Deutschland bekommen haben. Ebenso befinden sich unter den von uns ausgewählten Angehörigen der Elterngeneration Frauen und Männer, die im Jugendalter von ihren Eltern nachgeholt worden waren. Die InterviewpartnerInnen der Kindergeneration wurden in Deutschland geboren oder sind im Säuglingsalter zusammen mit ihren Eltern migriert.

Im Gesamtprojekt werden die Interviews je für sich rekonstruktiv ausgewertet und im Anschluss auf verschiedenen Ebenen miteinander in Bezug gesetzt (Böhnke und Zölch 2018). Vor der eigentlichen Interpretation der Interviews erfolgt eine Analyse der szenischen Konstellation. Es wird ausgeführt, wie die Kontaktaufnahme und die jeweiligen Interviewsituationen verlaufen sind, da davon auszugehen ist, dass auch die Art und Weise, wie Elternteil und Kind in der Forschungssituation auftreten und interagieren, Aufschluss über die Fallspezifik gibt. Im Anschluss werden die Interviews einzeln mit der „biographischen Fallrekonstruktion“ nach Rosenthal (1995) erschlossen und mögliche Verschränkungen zwischen Individuum, Familie und Gesellschaft in den Blick genommen (Rosenthal 2008, S. 61). In Bezug auf unsere Fragestellung heißt das, dass ein besonderes Augenmerk auf dem Zusammenspiel der Mikro‑, Meso- und Makroebene liegt.

Nach der Herausarbeitung der grundlegenden Strukturen werden die Wahrnehmungs‑, Deutungs- und Handlungsmuster der Eltern und der Kinder in Bezug auf die Armutssituation betrachtet. Es wird rekonstruiert, auf welche Weise Eltern und Kinder die Armut wahrgenommen haben, welche Umgangsweisen mit der prekären Situation und Bewältigungsmuster sich jeweils zeigen sowie mit welchen familiendynamischen Implikationen die jeweilige Verarbeitung der Armut einhergeht. Bei der Kindergeneration interessiert u.a., welche Folgen die jeweilige Verarbeitungsweise der Eltern für die Einstellungen und Deutungsmuster der Kinder hat. Bedeutsam ist in diesem Kontext auch das Bild, das die Familienmitglieder wechselseitig voneinander zeichnen. Darüber hinaus wird der Einfluss der sozialen Netzwerke und des Sozialraumes für die Lebenswege und intergenerationalen Beziehungen betrachtet (Böhnke und Zölch 2018). Im weiteren Projektverlauf werden die Auswertungsergebnisse in Familienporträts verdichtet und über Vergleiche mit Familien mit und ohne Migrationsgeschichte eine Typologie zur Armutsweitergabe bzw. Unterbrechung der Armutstransmission zwischen den Generationen erstellt (Böhnke und Zölch 2021).

Die gewählte Erhebungs- und Auswertungsmethode ermöglicht es, entsprechende Wechselwirkungen, gegenseitige Bezugnahmen und individuelle Reaktionen sowohl auf die innerfamilialen Beziehungen als auch auf die strukturellen Rahmenbedingungen zu erfassen und somit auf eventuell typische Mechanismen der Armutsweitergabe rückzuschließen: Welchen Einfluss hat die migrationsspezifische Beziehungsdynamik innerhalb einer Familie auf armutsreproduzierende Lebenswege? In welchem Verhältnis stehen dazu soziale Netzwerke und Institutionen? Handelt es sich bei ihnen um ermöglichende oder die Armut verstärkende Rahmenbedingungen, und wie werden diese in die eigene biographische Erzählung des erwachsenen Kindes eingeflochten?

4 Fallbeispiel Familie Yilmaz

Anhand des folgenden Fallbeispiels sollen die (Migrations‑)Geschichte einer Familie mit türkischem Migrationshintergrund sowie deren Armutssituation und der Umgang damit rekonstruiert werden. In unserer übergreifenden Typologie zur Armutsweitergabe bzw. -unterbrechung zwischen den Generationen konnten wir fünf Typen bestimmen (Böhnke und Zölch 2021). Zwei davon haben sich nur für Familien mit Migrationshintergrund gezeigt. Typus I hingegen, zu dem auch das Fallbeispiel der Familie YilmazFootnote 3 gehört, besteht sowohl aus Familien mit als auch ohne Migrationshintergrund. Allen Fällen liegt das Muster der reproduzierten Handlungsohnmacht trotz Wunsch nach Veränderung zugrunde. Gerade durch den Vergleich zwischen Familien mit und Familien ohne Migrationshintergrund ließ sich jedoch herausarbeiten, dass in den Familien mit Migrationshintergrund zusätzliche Benachteiligungserfahrungen hinzukommen und diese mit der Armutssituation interagieren. Zudem ist deutlich geworden, wie folgenreich die Migrationserfahrungen der Eltern für die Weitergabe von Armut im Generationenverlauf sind. Anhand der Rekonstruktion der Lebensgeschichten und der Generationendynamik der Familie Yilmaz können die Verknüpfung, Wechselwirkung und Interaktion der Armuts- und Migrationserfahrungen anschaulich gezeigt werden. Unsere Ergebnisse beanspruchen allerdings nicht, in einem statistischen Sinne repräsentativ und verallgemeinerbar zu sein. Grundgedanke der theoretischen Verallgemeinerung in der qualitativen Sozialforschung ist, dass jeder Fall immer sowohl Besonderes als auch Allgemeines enthält (Schulze 2010, S. 578). Daher „kann die rekonstruierte Struktur als allgemein gültige betrachtet werden, unabhängig von der Frage ihrer statistischen Häufigkeit“ (Wohlrab-Sahr 1993, S. 107).

Interviewt wurden die 54-jährige Mutter, Melek Yilmaz, sowie ihr 33-jähriger Sohn Engin. Zunächst wird die szenische Konstellation der Interviews mit der Mutter und dem Sohn dargestellt und die familiale Ausgangslage geschildert. Wir präsentieren dann die Wahrnehmungs‑, Deutungs- und Handlungsmuster in Bezug auf die Armutssituation und führen schließlich explizit die Benachteiligungsmechanismen im Kontext von Migration sowie die Folgen der familialen Migrationserfahrungen für den Umgang mit der Armutssituation aus.

Szenische Konstellation der Interviews mit der Mutter und mit dem Sohn

Das Interview mit dem Sohn fand zuerst statt. Engin betont, wie wichtig es ihm sei, dass er allein interviewt werde, weil seine Mutter seine Heldin sei und er ihr gegenüber verheimlichen wolle, dass trotz ihrer Mühen manche Erlebnisse der Vergangenheit nicht gut für ihn gewesen seien. In dem Interview werden dann auch seine schwierigen Lebensumstände und die enge Bindung zur Mutter deutlich. Mit diesen Eindrücken fährt die Interviewerin etwa eine Woche später zum Termin mit der Mutter. Melek Yilmaz empfängt sie herzlich, beginnt aber bereits vor dem eigentlichen Interview zu weinen und berichtet, dass sie sich von einem Kollegen schlecht behandelt fühle. An dieser Stelle wie auch im folgenden Interview möchte sie von der Interviewerin wissen, ob ihre Empfindungen und Reaktionen richtig seien. Auch im eigentlichen Interview fließen mehrfach Tränen, dennoch möchte Frau Yilmaz dieses fortsetzen. Charakteristisch für den Termin mit der Mutter sind ihre große Fürsorge und Herzlichkeit der Interviewerin gegenüber gepaart mit der Konfrontation ihres Schmerzes, was zu einem Gefühl gleichzeitiger Nähe und Belastung führt. Dadurch wird die im Interview mit dem Sohn geschilderte Beziehungssituation für die Interviewerin unmittelbar nachvollziehbar. Bereits vor der eigentlichen Rekonstruktion der Interviews spiegelt sich so die Dynamik der familialen Beziehung durch die szenische Konstellation wider.

Die familiale Ausgangslage

Der Vater von Melek Yilmaz ist als Arbeitsmigrant nach Deutschland gekommen. 1977 folgen ihm die 14-jährige Melek, ihre Mutter und die jüngere Schwester. Strukturelle Integrationsangebote sind in der mittelgroßen Stadt nicht vorhanden. Melek wird zur Berufsschule geschickt, wo sie keinen Anschluss findet. Im Interview beschreibt sie ihre Einsamkeit. Später beginnt sie eine Ausbildung in einer Änderungsschneiderei, die sie jedoch nicht abschließt. Mit 17 Jahren lernt sie über die Familie einen jungen Mann aus der Türkei mit kurdischem Hintergrund kennen, den sie kurz darauf – ohne eigene Ambitionen – heiratet. 1984 wird ihr erster Sohn Engin geboren. Wenig später stirbt ihre jüngere Schwester in Deutschland. In der Folge remigrieren die Eltern in die Türkei, und Melek Yilmaz ist fortan das einzige Mitglied der Herkunftsfamilie in Deutschland: „Ich bin richtich alleine gewesen, wirklich wahr“, kommentiert sie dies.Footnote 4 1987 kommt das zweite Kind, Taifun, zur Welt. Bereits zu diesem Zeitpunkt ist die Bindung zwischen der Mutter und Engin sehr eng. Beide beschreiben, dass der ältere Sohn den Kummer der Mutter miterlebt; die Mutter erinnert sich, wie Engin wiederholt gebeten habe: „Mama bitte nich weinen //Mhm// nich weinen Mama, bitte heute mal nich weinen“. Der Vater wird als eher abwesend beschrieben. Engin kann sich an keine gemeinsamen Unternehmungen erinnern. Der Vater arbeitet „mal [und] mal nicht“ und entwickelt eine Wettsucht, die viel Geld verschlingt.

Obgleich die Eltern Engin in der deutschen Sprache nicht fördern können, lernt er selbstständig bereits vor Schulbeginn lesen und gewinnt in der Grundschule einen Lesewettbewerb. In der Folge erhält er eine Empfehlung für das Gymnasium. Dennoch ist es keine Erfolgsgeschichte, die Engin im Interview präsentiert, im Mittelpunkt seiner Erzählung stehen vielmehr die Schwierigkeiten auf seinem Lebensweg. In der Jugend kommt er außerhalb der Schule mit einer problematischen Clique in Kontakt, der er sich infolge fehlender Anerkennung in anderen Kontexten anschließt. Er bezeichnet diese als seine „Kanaken-Freunde“, mit denen er die Schule schwänzt und Drogen konsumiert. Engin muss die 11. Klasse wiederholen. Im anschließenden Schuljahr wird er, so beschreibt er es, von den Lehrern zum Schulabgang gedrängt. Es folgt eine Phase von Nichtstun und Praktika. Drei Jahre nach dem Verlassen der Schule beginnt Engin eine Ausbildung im kaufmännischen Bereich und holt im Anschluss sein Fachabitur nach. Darauf heiratet er und zieht mit seiner Frau in eine andere Stadt, wo auch er mit Wettspielen beginnt. 2010 fängt Engin ein geisteswissenschaftliches Studium an. Nebenbei hat er parallel verschiedene Jobs und aufgrund seiner finanziellen Situation Schwierigkeiten, sich auf das Studium zu konzentrieren. Er bezeichnet dies als „Zwänge des Lebens“, die ihn überforderten. Seine Frau studiert ebenfalls, und sie haben sehr wenig Geld zur Verfügung. Ämter und Behörden, bei denen sie Unterstützung suchen, werden als sehr negativ und nicht zugewandt erlebt. 2016 trennt sich seine Partnerin von ihm. 2017, zum Zeitpunkt des Interviews, studiert der 33-Jährige weiterhin, ein Abschluss ist nicht in Sicht und konkrete Lebenspläne fehlen. Engin bezeichnet sich selbst mit dem Neologismus „Ewigkeitsstudent“. Nebenbei jobbt er, hat aber monatlich weniger als 900 Euro zur Verfügung, sodass seine Eltern ihm regelmäßig finanziell aushelfen müssen. Die Mutter arbeitet heute in Teilzeit und geht zusätzlich einer geringfügigen Beschäftigung nach. Der Vater war eine Zeit lang selbstständig im Dienstleistungsbereich, musste vor Kurzem jedoch Insolvenz anmelden. Der jüngere Bruder ist nach seinem Studium beruflich erfolgreich.

Wahrnehmungs‑, Deutungs- und Handlungsmuster in Bezug auf die Armutssituation

In Engins Kindheit und Jugend übernimmt der Vater wenig Verantwortung für die finanzielle Situation der Familie, er geht unregelmäßig beruflichen Tätigkeiten nach, verwettet hohe Summen und macht den Kindern finanzielle Versprechungen, die er nicht einhält. Die Mutter versucht das finanziell zu kompensieren, indem sie mehrere (geringqualifizierte) Jobs parallel ausübt. Teilweise muss sie die noch jungen Kinder dafür alleine zuhause lassen oder mit zur Arbeit nehmen, was sie eine Stelle im Reinigungsbereich kostet. Insgesamt ist die ökonomische Ressourcenausstattung der Familie gering. Bis Engin 17 Jahre alt ist, lebt die Familie in einer kleinen Sozialwohnung. Die Brüder teilen sich ein Zimmer; über mehrere Jahre wohnt in diesem auch noch ein Verwandter der Familie. Engin fühlt sich deswegen „mi:nderwertig“ – ein Wort, das im Interview wiederholt fällt –, er empfindet Scham und lädt keine Freunde zu sich ein. Außer Verwandtenbesuche gibt es keine Urlaube, und gemeinsame Ausflüge finden nicht statt. Das soziale Netzwerk der Familie ist klein. Die Mutter hat nach der Remigration ihrer Eltern keine Familienmitglieder mehr in Deutschland. Von Seiten des Vaters gibt es zwar Verwandte, doch diese verweigern ihre Unterstützung, wenn sie dafür keine finanzielle Gegenleistung erhalten. Von Hilfe durch Außenstehende oder Institutionen wird nicht berichtet. Die Wahrnehmung der Mutter lässt sich anhand eines Zitats verdeutlichen:

Es es is wirklich für mich //Ja// (schnauft) in meine Leben is nich, glauben Sie mir, nich einfach //Nich einfach nein// ehrlich nicht. //Nein// Ich musste jeden Groschen sammeln … Normal arbeit ich //Mhm// und dann nochmal privat gegang zum Putzen. Ich kenn mich nur arbeiten. //Ja// Ich ich beschwere nicht, Gott, aber is nich einfach Leben gehabt. //Ja// … Meine Leben is nur Pech gehabt. //Viel Pech ja// Ne? Und diese Krankheit is wirklich schlimm ne? //Mhm// von meine Mann (schluchzt).

In diesen Zeilen kommen das Leid und die Überforderung der Mutter zum Ausdruck. Sie verdeutlicht, wie sehr sie sich darum bemüht hat, Geld zu verdienen. Dabei sagt sie in diesem Zitat nicht, dass sie dies auch tun musste, da ihr Mann das Geld verspielt hat. Statt ihn in die Verantwortung zu nehmen, verteufelt sie die „Krankheit“. Übergreifend spricht sie von „Pech“, sodass weder ein Schuldiger noch eine Handlungsmacht benannt werden. Dies erinnert an den von Sparschuh beschriebenen „Schicksalsrahmen“ (2013, S. 243). Die Mutter nimmt zusätzliche Belastungen auf sich und leidet an der Situation (sowie unter der Einsamkeit infolge der Migration). Es kommt jedoch nicht zu einer grundsätzlichen Veränderung der Lebensumstände. Sie verbleibt in der Beziehung und akzeptiert die Sucht ihres Mannes als Krankheit. Um dies ertragen zu können, bezieht sie früh ihren älteren Sohn Engin mit ein. Sie teilt ihr Leid mit ihm und bittet ihn z.B., den Vater aus dem Wettbüro zu holen (Engin: „Und was’n fürchterliches Erlebnis war, dass ich irgendwann mit meiner Mutter heulend zu einem Wettbüro gefahren bin und ich als Kind meinen Vater rausholen sollte //Mhh//“).

Engin hat sowohl Handlungsmuster des Vaters als auch der Mutter übernommen und befindet sich aktuell in einer Armutslage. Wie der Vater geht er „verantwortungslos“, so sagt er selbst, mit Geld um und entwickelt eine Wettsucht. Wie die Mutter übernimmt er parallel verschiedene Jobs, überlastet sich, thematisiert sein Leiden im Interview ausführlich, kann aber keine grundsätzliche Änderung der Situation vornehmen oder weitere Unterstützung in Anspruch nehmen. Er thematisiert sich vorwiegend als Opfer und nimmt eine rechtfertigende Position ein. Die Wörter „müssen“ und „man“, die Zwang und Passivität ausdrücken, sind auffällig dominant in seiner Erzählung. Zwar reflektiert er im Interview partiell sein Verhalten und die möglichen Hintergründe, doch erscheint er überwiegend der Situation ausgeliefert und mit den bisherigen Bewältigungsmustern schon stark belastet; es mangelt an Lösungsansätzen und Strategien, die bestehenden Muster aufzubrechen. Sowohl institutionelle als auch private Hilfsangebote geben dafür nicht ausreichend Anstoß oder werden nicht eigeninitiativ in Anspruch genommen.

Benachteiligungen im Kontext von Migration

In der dargestellten Armutssituation finden sich Aspekte, die ebenso in vielen autochthonen finanziell schwachen Familien zu finden sind, darüber hinaus lassen sich aber spezifische Bezüge zur Migration herstellen. So sind die prekären Arbeitsverhältnisse der Mutter mit geringem Verdienst dadurch mitbestimmt, dass sie über geringe Sprachkenntnisse verfügt und keinen deutschen Schulabschluss hat. Das geringe kulturelle Kapital ist auch Folge der strukturellen Bedingungen der Migration zur damaligen Zeit, denn weder Mutter noch Vater haben Integrationsangebote erhalten.

Das Fehlen eines verwandtschaftlichen Netzwerks auf der mütterlichen Seite ist bedingt durch den Kontext der Arbeitsmigration. Darüber hinaus erfolgen keine Unterstützungsangebote von außen, soziale Sicherungssysteme greifen offenbar nicht ausreichend. Auch wenn es vielzählige Gründe für das Auftreten einer Wettsucht gibt, ist ein kausaler Zusammenhang mit der Migration denkbar. So wurde aktuell eine Überrepräsentanz von Personen mit (türkischem) Migrationshintergrund unter Spielsüchtigen belegt. Dies wird unter anderem auf „gravierende migrationsspezifische Risikofaktoren (insb. defizitäre soziale Teilhabe, niedriger sozialer Status, schlechte Sprachkenntnisse) sowie kulturspezifische soziale Problemkonstellationen (insb. Normenkonflikte innerhalb der Familie)“ (Milin et al. 2017, S. III) zurückgeführt.

Engin schildert Erfahrungen von (institutioneller) Diskriminierung. Er ist als Frühleser in die Schule gestartet und war zunächst sehr erfolgreich. Auf dem Gymnasium habe er sich später jedoch als „südländisches männliches Kind“ unfair behandelt gefühlt. Er erklärt: „Wir [seine Freund mit Migrationshintergrund und er; J.Z., P.B.] haben alle dort kein Abi geschafft, weil wir vorher schon irgendwann abgesägt //Ja// wurden.“ Er sei von den Lehrern bewusst sitzen gelassen und zum Schulabgang gedrängt worden. Aus intersektionaler Perspektive führt das nicht nur zu einer Addition der Diskriminierungsformen, sondern zu neuen, sich verschränkenden Benachteiligungserfahrungen.

Ein herausforderndes Thema stellt für Engin zudem die Auseinandersetzung mit seiner Zugehörigkeit dar. Er erlebt nicht nur generell Diskriminierung aufgrund seines Migrationshintergrundes, sondern es kommt hinzu, dass sein Vater Kurde ist, sodass er sich selbst als „Mischling“ bezeichnet. Obgleich er sich nicht kurdisch gefühlt und auch die Sprache nicht gelernt habe, sei er von außen oftmals darauf reduziert worden. Dies stelle für ihn bis heute ein belastendes „Trauma“ dar, durch das er sich ebenso „minderwertig“ fühle wie durch die Armutssituation. In der Folge ist die Herausbildung einer eigenen, positiven Identität für ihn problematisch. Phasenweise erfolgt eine Kompensation durch die intraethnische Jugendclique, in der er sich gleich und nicht minderwertig fühlt. Die Verbindung führt jedoch zu problematischen Verhaltensweisen wie Schulverweigerung oder Drogenkonsum, mit denen er sich wiederum von der Mehrheitsgesellschaft entfernt. Aus dem Gefühl heraus, minderwertig und machtlos zu sein, das er in Bezug auf die Armutssituation verspürt, sucht er einen Ausgleich in allerdings nur kurzfristig diesen Mangel kompensierenden sozialen Netzwerken und potenziert so die erfahrene Benachteiligung, was die Entwicklung alternativer Handlungsmuster zusätzlich erschwert.

Folgen der familialen Migrationserfahrungen

Engins Mutter hatte nicht eigenverantwortlich entschieden zu migrieren, sondern wurde von ihrem Vater nachgeholt. Sie war glücklich in der Türkei. In Deutschland fühlt sie sich einsam und konnte bis heute, auch aufgrund der geringen Sprachkompetenz, kaum neue Kontakte knüpfen. Traumatisch ist für sie der Tod der damals erst 18-jährigen Schwester, in dessen Folge die Eltern wieder in die Türkei ziehen und sie allein mit einem teils problematischen Ehemann und einer schwierigen finanziellen Situation zurückbleibt. Die Migrationsgeschichte der Mutter zeichnet sich somit durch eine spezifische Handlungs- und Entscheidungsohnmacht, durch Fremdbestimmung und Schicksalsschläge aus. Die erzählte Lebensgeschichte folgt dem Narrativ des „Schicksalsrahmens“, der auch den Umgang mit der Armutssituation geprägt hat. Auch der Vater begegnet der Situation ähnlich ergeben und ausgeliefert, indem er seiner Wettsucht über Jahrzehnte nachgeht. Engin übernimmt dieses Wahrnehmungs‑, Deutungs- und Orientierungsmuster als Folge seiner Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen an wichtigen Schaltstellen, insbesondere in der Schule. Obgleich er Zwischenerfolge wie das Fachabitur erzielt, bleibt eine Orientierungslosigkeit in der Lebensgestaltung dominant bestehen, und die Armutssituation kann nicht dauerhaft verlassen werden.

Die Einsamkeit infolge der Migration führt bei der Mutter zu einer sehr engen Bindung an den älteren Sohn. Dabei ist ihr retrospektiv bewusst, dass sie ihn mit ihren Sorgen überfordert hat. So sagt sie dazu: „Engin war nie Kind gewesen. //Mhm// Er war immer erwachsen gewesen.“ Engin reagiert darauf mit einer Glorifizierung der Mutter. Er bezeichnet sie u.a. als „Engel“, „Heldin“ oder „Viermannarmee“. Zugleich ist er belastet durch ihr Leiden, was er ihr jedoch nicht zeigen möchte, um sie zu schonen. Es ist ein im Kontext von Migration oftmals gefundenes Muster, dass die Kinder ihre eigenen psychischen Belastungen verheimlichen und „(unbewusst) stattdessen stellvertretend für die Eltern deren Traumata verarbeiten“ (Zimmermann 2012, S. 67) möchten, da sie diese aufgrund der Migrationsbedingungen als stark schutzbedürftig empfinden. Aussagekräftig ist der folgende Satz Engins: „Ich muss ganz ehrlich sagen bei meiner eigenen Lebensgeschichte, so ist meine Mutter immer die, die mir am meisten leid tut.“ Darin verdeutlicht sich eine enge Bindung und letztlich auch Verantwortlichkeit, was die Entwicklung eigener Handlungsmuster jedoch beschränkt.

Zusammenfassend lässt sich auf folgende Spezifika dieses Falles hinweisen: Die enge Bindung zwischen Mutter und Sohn und Engins Beschützerhaltung und Verantwortungsübernahme für das Wohlergehen der Mutter blockieren seine Ablösung aus dem Herkunftskontext. Scham und Minderwertigkeitsgefühle aufgrund des Mangels, fehlende unterstützende soziale Netzwerke sowie Diskriminierungserfahrungen, auch durch Institutionen, erschweren den Umgang mit der Armutssituation. Sowohl das Bemühen der Mutter als auch Engins eigene Ambitionen und Erfolge entfalten in dieser Konstellation keine nachhaltige Wirkung. Die Migrationssituation der Familie hat einen verstärkenden Charakter: Die strukturellen Rahmenbedingungen der Migration und fehlende Integrationsangebote befördern den Verbleib in Armut, ebenso die Sucht als Bewältigungsmodus in Reaktion auf Ausgrenzungserfahrungen. Der von Engin hergestellte eigenethnische Gruppenbezug ist ebenfalls nur kurzfristig stabilisierend. Es verschränken und potenzieren sich hier Armuts- und Migrationserfahrungen auf eine eigene Art und Weise, die den Verbleib in Armut befördern.

5 Einordnung der Ergebnisse

Anhand des Fallbeispiels der Familie Yilmaz konnte ein Blick in die „Blackbox Migrationshintergrund“ im Kontext von Armut geworfen werden. Im Folgenden sollen die Ergebnisse durch zusätzliche Erkenntnisse aus den anderen rekonstruierten Fällen des Samples erweitert und der Bezug zum oben formulierten theoretischen Rahmen hergestellt werden.

Bedeutung der Migrationsentscheidung und -erfahrungen

Frau Yilmaz’ Einwanderungsgeschichte ist gekennzeichnet durch eine Schicksalhaftigkeit sowie durch eine Handlungs- und Entscheidungsohnmacht mit starken Konsequenzen für das Armutsrisiko sowie den Umgang mit der Armutssituation. Engins Bewältigungsstrategie ist von ganz ähnlichen Wahrnehmungs‑, Deutungs- und Orientierungsmustern geprägt. Trotz mehrerer Aufstiegsversuche und auch Erfolge ist seine Perspektive und seine Lebensgestaltung durch eine gewisse Orientierungslosigkeit und Resignation bestimmt. Interessant ist an dieser Stelle der Vergleich zu anderen Familien des Samples mit türkischem Migrationshintergrund, in denen die Migration anders besetzt ist. Es zeigt sich beispielsweise ein Muster, bei dem die Arbeitsmigration als eigene Entscheidung der Interviewten der Elterngeneration erzählt wird, die zwar über Jahre mit sehr schwierigen Lebensbedingungen verbunden gewesen ist, welche jedoch in Kauf genommen wurden, um eine bessere Zukunft zu erreichen (vgl. auch Janßen und Bohr 2018, S. 155). In den Interviews zeichnen die Väter von sich das Bild eines mutigen jungen Mannes, der aufbricht, um die finanzielle Lage für die Familie zu verbessern. Durch unermüdlichen Einsatz (z.B. beim eigenorganisierten Deutschlernen) und oftmals durch eine unterstützende Person von außen gelang ihnen dies über die Jahre. Auch diese Eltern lebten im Herkunftsland unter schwierigen finanziellen Bedingungen, was sich in Deutschland zunächst fortgesetzt hat; sie zeigen jedoch nicht das Muster der Schicksalsergebenheit und des persönlichen Scheiterns. Sie erleben sich trotz der Umstände als Entscheider und handlungsmächtig und haben aus dem Wunsch heraus, dass es die eigenen Kinder besser und einfacher haben sollen, durchgängig hohe Bildungsaspirationen. In der Kindergeneration erfüllen sich diese überwiegend, sodass die Interviewten der jüngeren Generation heute nicht von Armut betroffen sind. Ein Aufstieg ist in diesen Fällen geradezu erwünscht.

Das Sample überblickend zeigt sich, dass die Migrationsentscheidung, also die Frage, ob diese selbst getroffen oder von außen verfügt wurde, sowie die Bewältigung der Migrationserfahrungen von großer Relevanz sind. Insbesondere eine unfreiwillige Migration während der Adoleszenz, wie bei Melek Yilmaz, scheint sich negativ auf die Wahrnehmung der eigenen Handlungsmacht auszuwirken. Die Migration kann also selbst ein Grund für die Entstehung eines „Schicksalsrahmens“ sein und über Generationen zur Reproduktion der Ausgrenzungslage beitragen. Des Weiteren konnten sowohl das ausgeführte Fallbeispiel als auch die anderen Rekonstruktionen zeigen, dass die Migrationserfahrungen der Eltern Einfluss auf die Familiendynamik und die Beziehung zu ihren Kindern nehmen (King und Koller 2015), was sich u.a. auch auf deren Gestaltungsmöglichkeiten auswirkt. Es erscheint daher gewinnbringend, Migrationserfahrungen und daran geknüpfte familiale Beziehungsdynamiken auch im Kontext von Armut zukünftig detaillierter zu betrachten.

Kulturelles Kapital und soziale Unterstützung

Der oftmals festgestellte Benachteiligungsmechanismus des geringen (einsetzbaren) kulturellen Kapitals in der Elterngeneration zeigt sich auch in unserem Sample. Dies hängt mit den beschriebenen zeitlichen Umständen der Einwanderung zusammen und mit den damals fehlenden strukturellen Integrationsangeboten. In der Folge weisen viele der Eltern (vor allem die Frauen) eine geringe oder kaum vorhandene deutsche Sprachkompetenz auf. Über Jahre waren sie in Jobs im Niedriglohnsektor mit schlechten Arbeitsbedingungen tätig, was wiederum zu einem geringen schulischen Unterstützungspotenzial und fehlender Institutionenkenntnis führte. Auch die autochthonen Familien im Sample verfügen oftmals nur über ein geringes kulturelles Kapital, jedoch beherrschen diese Eltern durch ihr Aufwachsen in Deutschland die Sprache und kennen das deutsche Bildungssystem.

Die Kinder aus den Familien mit Migrationshintergrund müssen früh Verantwortung übernehmen, etwa indem sie als Übersetzer für die Eltern fungieren oder statt ihrer Elternabende der Geschwister besuchen. Eine solche Parentifizierung kann bei ausreichenden Ressourcen als selbstwertstärkend erlebt werden (Walter und Adam 2008, S. 231 f.), aber auch zu „Gefühlen der Verlassenheit und Hilflosigkeit“ (Zimmermann 2012, S. 67) führen. Trotz des geringen kulturellen Kapitals in der Elterngeneration weisen einige der Kinder erfolgreiche Schul- und Berufswege auf. Als hilfreich können die Bildungsaspirationen der Eltern sowie die Unterstützung von außen betrachtet werden. Beides konnten wir im Fall Yilmaz nicht rekonstruieren. So werden z.B. vereinzelt Lehrpersonen geschildert, die die Heranwachsenden durch den Glauben an ihr Können gestärkt und zudem gezielt unterstützt haben. Für Engin Yilmaz hingegen verbindet sich mit der Institution Schule nicht nur, aber im späteren Verlauf doch verstärkt Diskriminierung und Ausgrenzung. Übergreifend hat sich ein erschwerter Zugang zu sozialen Unterstützungsmöglichkeiten gezeigt. Gründe sind u.a. fehlendes Wissen über hilfreiche Optionen, eingeschränkte Kontaktmöglichkeiten aufgrund der oben beschriebenen Sprachbarrieren, aber auch eine geringere Ansprache von außen (im Vergleich zu den autochthonen Familien im Sample). Unsere Ergebnisse bestätigen die von Hollstein et al. festgestellte Schwierigkeit, soziale Netzwerke unter Armuts- und Migrationsbedingungen zu bilden und aufrechtzuerhalten (2010b, S. 108 ff.). Das Ausweichen auf intraethnische Jugendcliquen hat zumindest im Fall von Engin Yilmaz langfristig eher eine ausgrenzungsverstärkende Wirkung.

(Institutionelle) Diskriminierungserfahrungen

Diskriminierungserfahrungen spielen in vielen unserer Interviews eine große Rolle. Besonders markant sind die Schilderungen der Elterngeneration zu den Umständen der Arbeitsmigration. Die Arbeitsbedingungen sind teils erniedrigend, unfair (im Vergleich zu denen der KollegInnen ohne Migrationshintergrund) oder sogar gefährlich. Des Weiteren werden Vorfälle aus dem Alltag (z.B. Belästigungen durch Nachbarn) und in Institutionen (Schule, Arbeitsplatzsuche) geschildert. Teilweise kommt es, wie bei Engin, zu einer Verknüpfung der Ungleichheitsdimensionen Migrationshintergrund und Geschlecht, wobei, je nachdem, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt, andere Vorurteilsbilder transportiert werden. Die Erfahrung von Diskriminierung und mangelnder Anerkennung begünstigt den Rückzug in die eigene ethnische Community. Wie oben beim Forschungsstand beschrieben, kann dies negative Folgen mit sich bringen, vor allem in Bezug auf problematische (männliche) Peergroups im Jugendalter. Daneben hat es sich ebenfalls als relevant erwiesen, die Auseinandersetzung mit der eigenen Zugehörigkeit zu betrachten, die oftmals als schwierig beschrieben wird. Vor allem wenn Fremd- und Selbstzuschreibungen nicht übereinstimmen, kann das ein Gefühl von Handlungsohnmacht verstärken.

Potenzierung der Benachteiligungserfahrungen

Übergreifend zeigt sich, dass sich viele Aspekte der Armutslage in Familien mit und ohne Migrationshintergrund gleichen. So wird fast durchgängig z.B. von beschränkten Wohnverhältnissen, geringen Freizeitmöglichkeiten oder fehlenden Urlauben gesprochen. Zudem kommen in zahlreichen Familien weitere belastende Faktoren wie eine Spiel- oder Drogensucht oder problematische Beziehungen zwischen den Eltern hinzu. Hollstein et al. (2010b, S. 108) haben für die von Armut betroffenen Menschen mit Migrationshintergrund die Belastung aufgrund von Ausgrenzungsprozessen und mangelnder Anerkennung als größte Herausforderung benannt. Durch den direkten Vergleich mit Familien ohne Migrationshintergrund konnten wir feststellen, dass Anerkennungsdefizite und Ausgrenzungsprozesse übergreifend eine bedeutsame Rolle spielen. Auch in Familien ohne Migrationshintergrund berichten Eltern und Kinder, sich als Außenseiter in ihrem Umfeld zu fühlen und Erfahrungen fehlender Anerkennung bis hin zu Mobbing gemacht zu haben. Ein entscheidender Unterschied ist jedoch, dass die migrierten Familien solche negativen Erfahrungen vor einem anderen Hintergrund machen: Die Benachteiligungserfahrungen aus der Armuts- und Migrationssituation wirken je für sich beschränkend, und sie potenzieren sich. Dies belastet die Entwicklung alternativer Handlungsmuster, um die Armutssituation zu verlassen, umso mehr.

6 Fazit

Unsere Analyse hatte zum Ziel, Prozesse der Armutstransmission von Generation zu Generation im Hinblick auf mögliche Besonderheiten, die sich an Migrationserfahrungen knüpfen, transparenter zu machen. Wir konnten anhand eines exemplarischen Einzelfalles und ergänzenden Beispielen aus einem größeren Sample einige verallgemeinerbare Besonderheiten im Hinblick auf die Verschränkung von Armuts- und Migrationserfahrungen herausarbeiten. Die Migrationserfahrungen der Eltern sowie ihr Umgang mit der Migrationsentscheidung haben sich als besonders relevant für die Weitergabe von Armut im Generationenverlauf erwiesen. Aufgezwungene Migration und schwierige Integrationsverläufe ohne ausreichendes kulturelles und soziales Kapital prägen die familiale Beziehungsdynamik und die Bedingungen, unter denen die nachfolgende Generation aufwächst, in besonderer Art und Weise. Wenn eine davon abgeleitete Handlungsohnmacht und ein Orientierungsverlust von Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen begleitet werden, private und institutionalisierte Unterstützungsangebote fehlen und Sucht und Schicksalsergebenheit zu typischen Bewältigungsmodi werden, wird die Armutsreproduktion wahrscheinlich.

Unsere Rekonstruktionen zeigen somit, dass die Heranwachsenden mit Migrationshintergrund zusätzliche Benachteiligungserfahrungen machen, denen Kinder autochthoner Deutscher nicht ausgesetzt sind (z.B. eine Ausgrenzung nicht nur aufgrund finanzieller Unterschiede, sondern zudem aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit). Diese addieren sich nicht nur, sondern sie verschränken sich und prägen grundlegende Einstellungs- und Wahrnehmungsmuster. Diese an die Migrationssituation geknüpften Erfahrungen beeinflussen über die Familien- und Sozialisationsdynamik die Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf die Armutssituation. Dies ist nicht im Sinne einer Zuschreibung von Verantwortlichkeit und Schuld zu verstehen, wie der Diskurs um eine „Kultur der Armut“ es nahelegen möchte (Lewis 1966), im Gegenteil: die strukturellen Rahmenbedingungen der Migrations- und Armutssituation prägen maßgeblich die Einstellungen und Werthaltungen der benachteiligten Menschen und nicht umgekehrt.

Unser Beitrag verdeutlicht somit, dass es zum einen wichtig ist, die allgemeinen migrationsbedingten Benachteiligungen dezidiert in Zusammenhang mit Armut zu betrachten, und dass zum anderen die familialen Beziehungen und elterlichen Migrationserfahrungen einen fruchtbaren Analysefokus darstellen, den es in künftigen Forschungen noch stärker einzunehmen gilt.