1 Auftakt

Mit weit über 1300 Teilnehmer*innen und mehr als 200 Veranstaltungen in 5 Tagen war die Jenaer Doppelkonferenz „Great Transformation: Die Zukunft moderner Gesellschaften“ (GTJ) – die gleichzeitig Abschlusskonferenz des DFG-Kollegs „Landnahme, Beschleunigung, Aktivierung. Zur (De‑)Stabilisierung moderner Wachstumsgesellschaften“ und die zweite Regionalkonferenz der Deutschen Gesellschaft für Soziologie war – ein großer Erfolg und zugleich Beleg für die Dringlichkeit ihrer eigenen, doppelten Diagnose: Die wachstumsgetriebenen modernen Gesellschaften befinden sich im Umbruch, etwas muss sich ändern.

Der Ausdruck „Postwachstum“ war noch nicht in aller Munde, als Klaus Dörre, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa 2011 das „Postwachstumskolleg“ initiierten und moderne Gesellschaften als dynamische Wachstumsgesellschaften in den Blick nahmen. Im Mittelpunkt stand die These, dass die Steigerungslogik fortwährender Landnahmen, die Beschleunigung sozialer Prozesse und die Aktivierung von Subjekten einen kritischen Schwellenwert überschritten habe, an dem die Dynamisierungsimperative moderner Gesellschaften selbst zur Disposition stehen – und dass im Zuge dessen die Wohlstandsversprechen, die institutionelle Stabilität und damit die gesellschaftliche Integration insgesamt in eine Krise geraten sind.

Die Verortung der gesellschaftlichen Situation am Anfang eines großen gesellschaftlichen Umwälzungsprozesses bildete den Ausgangspunkt für das vielfältige Angebot im herbstlichen Jena. Dabei lässt sich die inhaltliche Ausrichtung auf die Zukunft moderner Gesellschaften durchaus als Eingeständnis der politischen Brisanz des Themas lesen: Hier geht es ums Ganze. Im Verlauf der Tagung zeigten sich einige besonders markante Konfliktlinien, entlang derer die Debatten geführt wurden und in welchen sich gesellschaftliche Spannungen widerspiegeln. Erstens vollzieht sich entlang der Linie Universalismus/Pluralismus ein symbolischer Kampf um Macht-Wissens-Ordnungen. Dieser beginnt bei der Wahrnehmung, was überhaupt als Krise für wen gilt und reicht bis zu den Kriterien, die eine gute Transformation anleiten sollten. Zweitens geht es bei der Kontroverse um Freiheit und Verzicht um die Bewahrung beziehungsweise Infragestellung von Privilegien und die daran geknüpften Chancen von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Wer ist in welchem Ausmaß betroffen und kann Einfluss auf die Transformation nehmen? Doch es geht nicht nur um die politische Aushandlung konfligierender Interessen, sondern um die sozialtheoretische Frage nach dem Status des Subjekts als solchem. Ein drittes Spannungsfeld entfaltet sich dementsprechend um die moralische (De‑)Legitimierung moderner Subjektformen und Lebensweisen, auch in ästhetischer und affektiver Hinsicht. Wie ändert sich, was als gut und erstrebenswert betrachtet wird, und was folgt daraus für die Identitäten und alltäglichen Praktiken? Diese drei Konfliktlinien sind Ausdruck von globalen Kämpfen um die kulturelle Hegemonie, die Modalitäten und die Visionen der Transformation und sollen als solche in diesem Beitrag diskutiert werden.

Die Initiatoren des Postwachstumskollegs haben im Laufe der Jahre eine ganze Reihe von Konzepten und Begriffen geprägt, die auf der Abschlusskonferenz prominent diskutiert wurden. Dass es, allein um den Status quo aufrecht zu erhalten, einer permanenten Steigerung bedarf, hat Hartmut Rosa auf den Begriff der „dynamischen Stabilisierung“ gebracht. Das betrifft in erster Linie die Wirtschaft, die stetig wachsen muss, aber auch die Politik, die eine fortwährende Verbesserung der Lebensverhältnisse verspricht, oder die Wissenschaft, die ebenfalls auf Überbietung und einen beständigen Wissenszuwachs setzt. Die so charakterisierten Industriegesellschaften befinden sich in einer „ökonomisch-ökologischen Zangenkrise“ (Klaus Dörre): Einerseits ist das Wirtschaftswachstum zur Stabilisierung der Gesellschaften unerlässlich, andererseits wird durch die Zerstörung der ökologischen Lebensgrundlagen die politische und ökonomische Stabilisierung der Wohlstandsgesellschaften unterlaufen. Hierbei fallen die Hauptverursacher und die primär Betroffenen allerdings nicht in eins. Im Gegenteil: der Wohlstand der einen wird durch die Auslagerung der sozialen und ökologischen Kosten aufrechterhalten, wofür Stephan Lessenich den Begriff der „Externalisierungsgesellschaft“ geprägt hat.

Diese zeitdiagnostischen Betrachtungen kumulieren im von Karl Polanyi entliehenen Begriff der „Great Transformation“, womit ausgedrückt werden soll – wie es im Programmheft der Tagung lautete –, „dass insbesondere die frühindustrialisierten Länder […] eine Periode tiefgreifender Umbrüche durchlaufen werden, die voraussichtlich eine Abkehr von den über Jahrzehnte hinweg dominanten Wachstumsmustern, Produktionsformen und Lebensweisen beinhalten wird“. Angesichts der ökonomisch-ökologischen Zangenkrise, erläuterten Klaus Dörre und Hartmut Rosa in ihren Eröffnungsvorträgen, stünden wir vor der Wahl zwischen einer sozial verträglich gestalteten und demokratisch kontrollierten Transformation „by design“ oder einem als unkontrollierte Katastrophe hereinbrechenden Wandel „by desaster“.

Das Jenaer Postwachstumskolleg hatte sich die Aufgabe gestellt, diese Transformationsprozesse zu erforschen und zugleich mögliche Szenarien und Strategien für den Übergang in eine Postwachstumsgesellschaft aufzuzeigen. Diese beiden Anliegen spiegelten sich in den Veranstaltungsformaten der GTJ-Konferenz, mit der das Postwachstumskolleg nach acht Jahren zum Abschluss kam. Zwar gab es auch einige der bei DGS-Kongressen üblichen Sektionsveranstaltungen, aber die überwiegende Mehrzahl der Veranstaltungen bestand in etwa einhundert „Foren“ genannten Diskussionsworkshops, die in zwei Themenstränge unterteilt waren.

Die Foren „Felder der Transformation“ gruppierten sich um den Fragenkomplex, inwiefern und wie sich Transformationen in ganz verschiedenen Bereichen vollziehen. Das reichte vom Wandel der Naturbeziehungen über die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und die Entwicklung globaler Ungleichheiten bis zum Aufkommen neuer Subjektformen. Von der Globalisierung über Digitalisierung, Bildung, Geschlechterverhältnisse, Fürsorge und Reproduktion, Gesundheitssystem, Mobilität, Finanzmärkte bis hin zur Wissenschaft selbst wurde kaum ein gesellschaftlicher Bereich ausgelassen, der nicht auf sein transformatives Geschehen hin abgeklopft wurde. Ebenfalls vertreten waren mehrere Veranstaltungen zur Entwicklung der neuen Bundesländer und zum Strukturwandel in Kohleregionen, anhand dessen die Transformationsforschung die Auswirkung politischer und ökonomischer Umbrüche auf ganze Regionen untersuchen kann.

Darüber, wie sich die gesellschaftlichen Transformationen nicht nur auf den Begriff bringen, sondern auch empirisch erforschen lassen, wurde im Verlauf der Konferenz engagiert debattiert. So auch auf dem Podium, bei dem Christine Wimbauer, Kathrin Leuze und Sylka Scholz unter dem Titel „Wider den Methodenstreit“ verschiedene Forschungstraditionen am Gegenstand orientiert ins Gespräch zu bringen suchten, wobei es sich beim Gegenstand in diesem Fall um die Transformation von Geschlechterverhältnissen und Reproduktionsarbeit handelte. Der durch die Gründung der Akademie für Soziologie neu entfachte (Methoden‑)Streit war zwar ein wiederholt angesprochenes, aber kein dominierendes Thema. Immerhin für Hartmut Esser war die Frage: „Welche Soziologie benötigt eine Gesellschaft im Umbruch?“ eine ausgemachte Sache: Er präsentierte das Modell der Situationslogik, welches als forschungsparadigmatischer Minimalkonsens der Soziologie im Allgemeinen und der soziologischen Transformationsforschung im Besonderen geeignet sei. Im Schnelldurchlauf demonstrierte Esser, wie sich mit der Situationslogik das Forschungsprogramm von Dörre, Rosa und Lessenich im Kern abbilden lasse.

Der zweite Themenstrang behandelte die „Konturen der Postwachstumsgesellschaft“. Debattiert wurde unter anderem über postfossile Wirtschaft, geldlose Gesellschaften, Arbeitszeitverkürzung, Genossenschaftsmodelle, Paarbeziehungen, solidarische Lebensweise, Wohnformen, über die Rolle kommunaler Sozialplanung und die Bedeutung von Fantasie und Kunst. Ebenfalls Thema war, welche Einsichten sich aus der ostdeutschen Transformationserfahrung und dem „(Über‑)Leben in einer Niedrigwachstumsgesellschaft“, wie ein Forum titulierte, gewinnen lassen.

Angesichts der Fülle an Transformationsfeldern ist zunächst festzuhalten, dass wir es mit einer Vielzahl einzelner Transformationen zu tun haben. Ob sich diese auf den gemeinsamen Nenner der „Great Transformation“ bringen lassen, ist jedoch keineswegs so offensichtlich, wie es der Konferenztitel nahelegt. Da ist es nur konsequent, dass der ergänzend zur Konferenz erschienene umfangreiche Sonderband, anhand dessen bemerkenswert kontroversen Beiträgen sich die breitgefächerte Diskussion ein Stück weit rekonstruieren lässt (Dörre et al. 2019), die Angelegenheit mit einem Fragezeichen versieht: Große Transformation? Fraglich ist auch, inwiefern die verschiedenen Stränge in einem Paradigma des Postwachstums zusammenlaufen können. Der inhaltliche Zusammenhang ergibt sich mehr noch aus den Fragen, die schon im Antrag des Postwachstumskollegs formuliert wurden und die weit über die GTJ hinausweisen, als aus den Befunden: „Lassen sich systemische Wachstumsimperative und soziales Wohlergehen voneinander entkoppeln? Kann Nicht-Wachstum mit einem Zugewinn an Lebensqualität für gesellschaftliche Mehrheiten einhergehen?“ (Dörre et al. 2011, S. 11)

Deutlich spürbar war die politisierte Stimmung, die vor allem im begleitenden Festivalprogramm „Von Spuren und Träumen einer besseren Welt“ bedient wurde. Hier boten sich ein „Übungsraum für Kritik“, Exkursionen in den Jenaer Stadtwald und zur Wertstoffanlage, aber auch Lesungen, Filmvorführungen, Partys und Konzerte. Die Trennung zwischen Aktivismus und Akademie dagegen wurde in einigen der Konferenzveranstaltungen zwar unterlaufen, blieb aber weitgehend intakt. Den Students for Future, die mit ihren Positionen und Forderungen insgesamt recht präsent waren, wurde zwar durchaus kritisch, aber insgesamt wohlwollend begegnet. Die bevorstehende Landtagswahl in Thüringen war indessen wiederholt Anlass für sorgenvolle tagespolitische Bezugnahmen, die sich im Nachhinein als nicht ganz unbegründet erwiesen haben.

Im Gegensatz zu den diskutierten Inhalten präsentierte sich die Konferenz in ihren Produktionsbedingungen weniger als Teil der Transformation. Die Bereiche, in denen die Konferenz möglich gemacht wurde – die Versorgung mit Essen und Unterkünften, die Reinigung der Örtlichkeiten, die Kinderbetreuung – ließen noch kaum Konturen der Transformation ersichtlich werden.

Dieser Bericht vertritt nicht den Anspruch, die Konferenz in ihrer Vielfalt an Themen und Diskursen wiederzugeben. Eine ausführliche Dokumentation befindet sich auf der Website der Konferenz. Mit deutlicher thematischer Schwerpunktsetzung werfen wir hingegen einige Schlaglichter auf Debattenbeiträge entlang der drei eingangs gezeichneten Konfliktlinien.

2 Von uns für alle

„Nach dem raschen Wachstum“, wie der erste volle Konferenztag überschrieben war, kommen nicht nur kapitalistische Ökonomien in ungeahnte Krisen, sondern auch die damit einhergehenden normativen Kriterien wie Wohlstand und Wohlfahrt werden fragwürdig. Wer entwickelt sich in welcher Hinsicht und wohin und wer legt die Kriterien dafür fest? Im Zuge einschneidender Krisen, aber auch im Rahmen postkolonialer Theorien geraten zudem die Genese und die globalen Bedingungen für Wachstumsökonomien in den Fokus.

Gurminder K. Bhambra kritisierte in ihrer Keynote, dass Kolonialismus und Kapitalismus viel zu selten als untrennbar zusammenhängende Entwicklung untersucht werden. Das sei jedoch unabdingbar, um die gegenwärtigen sozialen Verwerfungen zu verstehen, denn der europäische Kolonialismus sei die „Great Transformation“, mit der die globale Krise erklärt werden könne. Westliche Staaten neigten dazu, das Vermögen ihrer Bürger*innen zu schützen, ohne die Frage nach der kolonialen Herkunft desselben zu stellen. Sie beschrieb damit ein Verhältnis der globalen Ungleichheit, die nicht zuletzt darauf basiert, dass der westliche Reichtum durch Ausbeutung der Arbeit und durch Extraktion der Ressourcen von rassifizierten Anderen erbeutet wird. Bhambras These lautete, dass die Dekolonialisierung, die zu einem Rückgang der Wertabschöpfung durch die imperialen Staaten führte, eine historische Bedingung für das neoliberale Projekt des Sozialstaatrückbaus war, welchen sie wiederum mit der Regression der westlichen Demokratie in Verbindung brachte.

Welche Wege es zu solidarischen Nord-Süd-Beziehungen geben könnte, war Thema eines von Miriam Lang und Ulrich Brand organisierten Diskussionsforums. Die von Bhambra geschilderte koloniale Logik spiegelt sich in den Macht-Wissens-Ordnungen wider. Es sei eine epistemische Frage, nach welchen Kriterien „Entwicklung“ gemessen werde und wer sie festlegt, wenn etwa die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung die Darstellung verbreitet, die globale Armut wäre rückläufig: In der Tat wäre, wenn man als Grenze für extreme Armut 1,90 US$ am Tag anlegt, die Armutsrate gesunken. Allerdings handelt es sich dabei auch um einen extrem niedrigen Schwellenwert. Legt man hingegen 7,40 US$ an, dann ist die Armutsrate gestiegen. Ein weiteres Problem bestehe darin, dass die komplexen Bedingungen für ein gutes Leben auf monetäre Indikatoren reduziert würden. Unberücksichtigt blieben Dimensionen wie Landbesitz für Subsistenzwirtschaft, Zugang zu Wasser und eine funktionierende Gemeinschaft. Dieser kolonialen Hierarchisierung des Wissens stellte Miriam Lang in ihrem Beitrag ein Pluriversum gegenüber, das eine Vielfalt der Sichtweisen zulässt. Als Beispiel führte sie die Praxis des Buen Vivir aus ländlichen Kommunen in den Anden an; nach herkömmlichen Maßstäben haben sich die Gemeinden dort kaum „entwickelt“, schätzen sich jedoch selbst als weitgehend hochzufrieden ein, was die Befragten vornehmlich auf ein gut funktionierendes Gemeinschaftsleben, faire Institutionen und Sinnerfüllung zurückführen. Die Probleme einer an Wachstum orientierten Entwicklungszusammenarbeit treten hier unverblümt ans Licht. Eine auf Postwachstum ausgerichtete Analyse muss sich demzufolge daran messen lassen, ob sie in der Lage ist, die der Kolonialisierung anhaftende epistemische Gewalt zu reflektieren. Wie die von Lang geforderte kognitive Gerechtigkeit im Einzelnen einzulösen wäre, blieb jedoch weitgehend offen. Stellt man hingegen in Rechnung, dass sich die transnationale Wertschöpfung nicht aufkündigen lässt, könnte das von Raul Zelik im selben Forum ins Gespräch gebrachte Lieferkettengesetz ein Lösungsansatz sein. Eine solche Regelung würde allerdings voraussetzen, dass man sich auf global gültige Mindeststandards einigen kann.

Ob sich nicht doch universelle Bedürfnisse ausmachen lassen, wie es Antonietta Di Giulio und Rico Defila im interkulturellen Dialog versuchen, war Thema des Forums „Geschützte Bedürfnisse, nachhaltige Teilhabe“. Der sozialwissenschaftliche Beitrag könnte darin bestehen, „geschützte Bedürfnisse“, die universell gültig und staatlich verpflichtend sind, von anderen zu unterscheiden, die nicht zu gewährleisten sind. Davon ausgehend ließen sich „Konsumkorridore“ mit einer Unter- und Obergrenze bestimmen. Die empirische Forschung, wie sie etwa Irene Becker vorgelegt hat, kann dann eine Datengrundlage dafür liefern, wem man welche Verzichtsleistung abverlangen kann.

3 Müssen, Sollen, Können, Dürfen, Wollen

Die Frage nach der politischen Gestaltung der Transformation ist akut und brisant. Auf den ersten Blick scheint die Lage klar zu sein: Wer, wenn nicht demokratisch legitimierte Institutionen entscheiden über die Umsetzung konkreter Politiken der Transformation?

Zum Problem wird das Festhalten an bislang institutionalisierter Entscheidungsfindung an mindestens zwei Punkten: Erstens, wenn sich die entsprechend nötigen Mehrheiten nicht in den Wahlergebnissen wiederfinden, und zweitens, wenn die Brisanz der Lage eine Radikalität erfordert, die die Geschwindigkeit und Handlungsfähigkeit demokratischer Prozesse prinzipiell übersteigt. Aus dieser Perspektive erscheint die polarisierende Frage danach, ob das Desaster unaufhaltsam ist oder sich noch Möglichkeiten der Gestaltung und Aushandlung finden, durchaus angebracht.

Dieses Dilemma zog sich durch viele Debattenbeiträge. Besonders pointiert kam das auf einer äußerst angeregten Podiumsdiskussion „Postwachstumsgesellschaften – Design, Desaster, Deliberation“ zwischen Adelheid Biesecker, Ingolfur Blühdorn und Barbara Muraca heraus. Einigkeit bestand auf dem Panel in der Ablehnung des Status quo. Das größte Desaster wäre ein schlichtes „Weiter so“. An der Fortschreibung kapitalistischer Ausbeutung würde, so die Befürchtung, auch eine „grünere“ oder „sozialere“ Ausrichtung des Kapitalismus nichts ändern. Insofern müsse man auch fragen, für wen ein Zusammenbruch des globalen Wachstumsregimes ein „Desaster“ wäre.

Die Frage nach der Verteilung von Nutzen und Lasten ist zugleich eine nach dem angemessenen Freiheitsverständnis. Eine „Nachhaltigkeitsrevolution“ sei, so das inhaltliche Resümee Dörres auf der Abschlussveranstaltung, ohne eine weitergehende Einschränkung von Freiheiten nicht zu haben. Dass eine solche Einschränkung durchaus möglich sei, wo Freiheit zu Lasten anderer und des Gemeinwohls geht, habe nicht zuletzt das zunächst unbeliebte Rauchverbot gezeigt. Es wäre also erneut danach zu fragen, welche und wessen Freiheit eigentlich gemeint ist, wann die Freiheit der einen zu enden hat und wann die der anderen verletzt wird. Welche Freiheit steht auf dem Spiel, und ist es tatsächlich die hedonistische Freiheit der konsumistischen Bedürfnisstruktur, zu deren Verteidigung gerufen werden soll? Wie wäre hingegen eine verantwortungsethische Freiheit zu bestimmen, die die Konsequenzen der eigenen Lebensweise nicht permanent ausblendet – ohne zugleich in eine massive Bevormundung zu kippen? Die Richtung einer möglichen Antwort wies Joan Tronto in ihrer Keynote „The Future of Caring Democracies“, in der sie Demokratie als fürsorgliche Praxis der konstitutiven Angewiesenheit neu bestimmte.

Der von kapitalistischer Logik angetriebene technologische Fortschritt brachte nicht etwa die erhoffte Reduzierung der Arbeitszeit, sondern ließ die Lohnabhängigen nur von einer Tretmühle in die nächste wechseln. Dass sich dieses Modell einer profit- und wachstumsabhängigen Wirtschaft perpetuiert, beruht, wie Wolfgang Streeck während einer Podiumsdiskussion mit Verweis auf Marx bemerkte, auf der erfolgreichen Bekämpfung der Subsistenzversuchung. Hartnäckig hält sich die Bedürfnisstruktur einer Konsumentin, die nach immer mehr und immer Neuem verlangt. Ulrich Brand nennt das im globalen Zusammenhang die „imperiale Lebensweise“. Eine Überwindung dieser auf Ausbeutung basierenden Lebensweise nicht-nachhaltiger Vernutzung dürfte demnach maßgeblich davon abhängen, ob und wie es gelingt, die Bedürfnisstrukturen zu transformieren. Brand stellte im Forum zu „Wege zu solidarischen, transformatorischen Nord-Süd-Beziehungen im 21. Jahrhundert“ die solidarische Lebensweise als globale Herausforderung vor, und das I.L.A. Kollektiv hatte einen Workshop zu den Potenzialen von Lebens- und Produktionsweisen für die Postwachstumsgesellschaft im Angebot. Spätestens an dieser Stelle kommt die kleinteilige Lebensführung als mögliche Keimzelle utopischer Entwürfe ins Spiel.

4 Ende gut, alles gut?

„Das gute Leben für alle“ – auf diese Formel ließen sich die auf der GTJ viel debattierten Visionen bringen; eine Art kleinster gemeinsamer Nenner, so unspezifisch wie harmonisierend. Komplizierter wird es, so haben wir bisher argumentiert, sobald sich Fragen nach den Vorherrschaften und den Modalitäten verdichten. Damit haben wir die schwierigste Frage bisher gezielt umschifft: die nach dem guten Leben selbst. Die Ökonomin Adelheid Biesecker, die sich nicht erst seit der letzten Finanzkrise mit sozial-ökologischen Alternativen beschäftigt, verweigerte sich auf dem Panel „Design, Desaster, Deliberation“ einer positiven Antwort, indem sie darauf verwies, dass Hoffnung nicht der naive Glaube daran sei, dass alles gut wird, sondern der Glaube daran, dass etwas Sinn macht, auch wenn man noch nicht weiß, wie es ausgeht. Utopische Vorstellungen davon, wie dieses Andere aussehen könnte, sind die maßgeblichen Träger solcher Hoffnungen. Der Titel der Konferenz kann in diesem Sinn auch als Versuch einer selbsterfüllenden Prophezeiung gelesen werden: Great Transformation, hoffentlich.

Ob ein bedingungsloses Grundeinkommen hinsichtlich des „Human Flourishing Beyond Growth“, dem sich ein Diskussionsforum widmete, einen Beitrag zu leisten vermag, beantwortete Hanna Ketterer mit einem verhalten optimistischen Fazit. Beate Rössler machte sich im selben Forum für eine strikt verantwortungsbasierte Autonomie stark, ohne die ein sinnerfülltes Leben nicht denkbar sei. Widerspruch kam von Hartmut Rosa, der die Betonung der Subjektautonomie als Teil des problematischen Programms der instrumentellen Weltreichweitenvergrößerung sieht. Zwar möchte er Autonomieansprüche keinesfalls gänzlich aufgeben, aber doch in einem umfassenderen Konzept der Resonanz aufgehoben wissen. Resonanzbeziehungen, so Rosa, gehen insofern über klassische Autonomie hinaus, als dass sie auf ein Dazwischen abzielen, auf eine „mediopassive“ Weltbeziehung zwischen aktiv und passiv.

In Visionen eines guten Lebens wird die affektive Dimension von Konsum, Rausch und Ekstase häufig vernachlässigt. Gemeint sind jene Praktiken, die „leider geil“ sind, obwohl sie gegen ethische Grundsätze verstoßen, möglicherweise sogar, weil sie gegen diese Grundsätze verstoßen. Im Forum für Transformation „Gutes Leben, geiles Leben. Zur Attraktivität und Dialektik (nicht)nachhaltiger Lebensweisen“ wurden diese Dynamiken diskutiert. Beobachten lässt sich die Eigenlogik der Überschreitung nicht nur beim exzessiven Konsum, sondern auch da, wo gezielt Empörung provoziert und etwa der Klimawandel geleugnet wird. Damit ist die Frage aufgeworfen, welche Formen der Intensität im Rahmen einer sozial-ökologischen Transformation denkbar sind. Ein Blick auf die Aktionsformen derzeitiger sozialer Bewegungen mag hier einen gewissen Aufschluss geben. Spektakuläre Aktionen zivilen Ungehorsams zielen auch auf die lustbetonte Seite einer ansonsten eher mit Askese und Suffizienz assoziierten Degrowth-Bewegung.

Auf dem Panel „Design, Desaster, Deliberation“ stand es indes ungewiss um die Frage der politischen Steuerung – die Aufgabe bleibe, so Muraca, „Räume der Lebbarkeit“ zu schaffen. Diese „Werkstätten der Befreiung“ seien zwar notwendig parasitär, denn sie könnten nur in den Zwischenräumen der bestehenden Gesellschaft errichtet werden, aber entfalteten womöglich überschüssiges Potenzial. Sie schüfen so im Butler’schen Sinne Räume der Lebbarkeit vor allem für jene, deren Sterben sonst nicht stört. Daher sei es auch keine Option, auf Hoffnungsnarrative gänzlich zu verzichten. Auf der anderen Seite, gab Ingolfur Blühdorn zu bedenken, könne ein allzu optimistischer Glaube an Lösungen wie eine politisch lähmende Beruhigungspille wirken, wenn dadurch die Tragweite der gesellschaftlichen Transformationen aus dem Blick gerate. Tatsächlich stoßen wir hier an die Grenzen des Gesellschaftsvertrags westlicher Wohlfahrtsstaaten: Denn nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Demokratie, so Blühdorn, sei auf Wirtschaftswachstum angewiesen. Der soziale Frieden und der parlamentarische Machterhalt beruhten in erheblichem Maße auf der Verteilung von Wohlstandsgewinnen. Damit ist das Dilemma beschrieben, dass einerseits zwar viel über eine ökologische Wende debattiert wird, wir de facto aber eine „Politik der Nicht-Nachhaltigkeit“ beobachten können. Blühdorn, dessen These der nachhaltigen Nicht-Nachhaltigkeit wenig Raum für Hoffnung bietet, provozierte anwesende „Students for Future“-Aktivist*innen mit dem Vorwurf, hinter der Floskel „für alle“ vor allem sich selbst aus der misslichen Lage der folgenschweren Klimaszenarien retten zu wollen, ohne dabei grundlegendere Herrschaftsverhältnisse infrage zu stellen. Wenn das Wirtschaftswachstum ausbleibt, dann gibt es weniger zu verteilen, und es sei fraglich, wer sich dann noch für die Degrowth-Losung „Weniger ist mehr“ zu begeistern vermag. Blühdorn brachte es mit dem saloppen Spruch „Weniger ist weniger“ auf den Punkt. So droht sich manche Transformationsbestrebung in ein Potemkinsches Dorf zu verwandeln. Es geht nicht zuletzt darum, sich selbst zu entprivilegisieren; Schritt für Schritt, Ausgang unbekannt.