Aktuell finden sich in westlichen Wohlfahrtsstaaten weitreichende Versuche, meist mithilfe identitätsbezogener Forderungen nach partikularen Grenzziehungen die in Rechten verfestigten Solidaritätsansprüche zu differenzieren. Dies führt in fast allen Wohlfahrtsstaatsgesellschaften zu mit steigender Heftigkeit geführten Auseinandersetzungen sowohl um die Anerkennung von Minoritäten als auch um die (durch Pluralisierung vermeintlich als notwendig erscheinende) Verteidigung der Vormachtstellung bestimmter Majoritäten. Dabei geht es nicht allein um die (Um‑)Verteilung von marktbedingten Einkommen, sondern auch um die Anerkennung und Gleichstellung des und der „Anderen“ (z. B. Fraser 1995), um die Definitionsmacht über Situationen und Machtverhältnisse und um weltanschauliche Auseinandersetzungen. Hier spitzt sich nicht zuletzt auch die Differenz zwischen dem kosmopolitischen Mainstream und den lokalen und nationalistischen Peripherien zu (Hampton 2011; Hamed Hosseini 2013; Beyer und Schnabel 2019).
Damit ist eine Sichtweise auf gesellschaftliche Entwicklung skizziert, welche impliziert, dass das Erstarken partikularer Positionen und damit auch von identitär-partikularen Solidaritäten zeitlich (und vielleicht sogar kausal) an die Etablierung einer auf Rechten und Pflichten und deren staatlicher Durchsetzung basierenden Solidarität anschließe. Die normative Politikwissenschaft, aber auch einer der wichtigsten Klassiker der Soziologie – Émile Durkheim (1977 [1893]) – sehen jedoch noch einen anderen Zusammenhang: Sie argumentieren, dass die Universalität von Rechten und deren Durchsetzbarkeit immer eine (identitär-)partikulare Basis benötige – nämlich in Form einer Einigung darüber, wen und was solche Rechte betreffen und einschließen mögen. Dabei gehe es vernehmlich um die vorvertraglichen Modi Vivendi, also um das Vertrauen, dass Verträge zustande kommen und auch eingehalten werden. Eine mächtige Ressource hierfür sei „Vertrautheit“ (z. B. Luhmann 1989, S. 22; Miller 1993, S. 9), also das Gefühl, sich mit etwas auszukennen. Vertrautheit entwickelt sich jedoch nicht zu allen Einheiten des Sozialen. Vertrautheit von Personenmerkmalen wie Herkunft, ethnische Zugehörigkeit, Klasse, Religion, auf denen sich „imagined communities“ im Sinne Andersons (1988, S. 17) aufbauen lassen, gilt als zuverlässiger Anzeiger für ähnliche Wertorientierungen und für die Überwindung individueller Interessen zugunsten der Orientierung am Gemeinwohl der durch diese Ähnlichkeiten beschriebenen Kollektive (Durkheim 1977 [1893]; Welch et al. 2004) und damit für eine Verpflichtung gegenüber den gemeinsamen Regeln und rechtlich fixierten Arrangements.
Solidarität – die normtheoretische Auslegung eines unscharfen Begriffs
Solidarität ist eine Form gemeinwohlorientierten prosozialen Handelns. Eine Möglichkeit, dieses Handeln theoretisch genauer zu fassen, wurde von Ulf Tranow (2012, 2013; Tranow und Schnabel 2019) vorgeschlagen. Demnach bestehen solidarische Handlungen in der Erfüllung normativer Erwartungen an „einen kompensationslosen Transfer privater Ressourcen zugunsten anderer Individuen oder einer Gemeinschaft“ (Tranow 2013, S. 398). Kompensationslos bedeutet jedoch nicht bedingungslos: Solidarischer Transfer ist auch an die „Transferwürdigkeit“ des oder der Anderen gekoppelt, sei es im Fall konkreter Notlagen (z. B. von Geflohenen) oder im Fall struktureller Ungerechtigkeiten (z. B. von Frauen). Solidarität ist – mit Tranow – also die Erfüllung von situationsspezifischen Solidaritätsnormen, die einen Kreis von Personen verpflichten und einen anderen Kreis von Personen begünstigen. Solidarnormen implizieren zweierlei:
(i) Solchen Normen sind immer Anreize inhärent, sie nicht zu befolgen. Diese Anreize bestehen darin, durch die Zurückhaltung eigener Leistungen auf Kosten der Gemeinschaft individuelle Vorteile zu realisieren. Während die vielbeschriebenen Strategien des Trittbrettfahrertums und der Ausnutzung der Allmende die Schädigung Anderer „nur“ billigend in Kauf nehmen (Olson 1985 [1965]; Hardin 1968; Hechter 1987) ist Exklusion eine Strategie, bei der der Kreis der Begünstigten absichtsvoll dadurch verkleinert wird, dass dem oder den Anderen (im Sinne eines „Otherings“) die „Transferwürdigkeit“ abgesprochen wird, um stattdessen die Sicherung derjenigen sicherzustellen, die man versorgt wissen will, und um die eigenen Kosten dieser Versorgung möglichst gering zu halten.
(ii) Solidaritätsnormen umfassen einen Gültigkeitsbereich, der sowohl die erwartete Leistung als auch die Leistungsnehmer- und -geber*innen spezifiziert. Damit sind immer auch die sozialen Grenzen der Normverpflichtung umrissen; nicht jeder und jedem wird gleichermaßen Solidarität zuteil. Die Kriterien des Ausschlusses limitieren oft den Geltungsbereich des Einschlusses: Verwandtschaftliche Solidaritätsnormen schließen Personen aus, die nicht zur Verwandtschaft gezählt werden und/oder diese Zugehörigkeit durch inadäquates Verhalten verwirkt haben (vgl. Bühler-Niederberger, in diesem Heft). Ebenso verhält es sich mit den nachbarschaftlichen Solidaritätsnormen, in die auch askriptive Grenzziehungsmerkmale wie ethnische Stereotype eingezogen werden können (vgl. die Stadtteilstudie von Gruner 2010). Auch die „Zugehörigkeit“ zur „Menschheit“, welche eine allgemein-menschliche Solidarität – z. B. in Form von Nächstenliebe – begründen sollte, wird faktisch meist eingehegt durch weitere Qualifizierungen von Mitgliedschaften. Da die Universal Declaration of Human Rights (UDHR) selbst keine Rechtsansprüche begründet und erst in nationalstaatliche Rechtsnormen übersetzt werden muss, ist auch diese Form der universellen Solidarität an weitere Bedingungen – nicht zuletzt die der Staatszugehörigkeit – geknüpft, damit sie wirkmächtig werden kann (Benhabib 2016). Wenn dann noch Solidaritäten gegenüber Tieren und anderen nicht-menschlichen Entitäten eingefordert werden, entsteht darüber hinaus ein weitreichender gesonderter Begrenzungs- und Legitimationsbedarf für die Überschreitung der quasi-natürlichen Grenzziehungen (Nussbaum 2006), denn nicht alle Tiere und Entitäten werden als gleichermaßen solidarwürdig angesehen.
Solidaritätsnormen und ihr Problemlösungspotenzial – zur weiteren Schärfung eines unscharfen Begriffs
Der Begriff der Solidarität lässt sich also schärfen, wenn er als Erfüllung von sozial geteilten Solidaritätsnormen verstanden wird. Diese wiederum lassen sich als mögliche Lösungen für in allen Sozietäten auftretende Probleme auffassen. Solche Probleme ergeben sich immer dann, wenn Eigeninteresse und Gemeinwohl nicht deckungsgleich sind.Footnote 7 Die Nicht-Übereinstimmungen können – hier streng einem Vorschlag von Tranow folgend (2013, S. 406 ff., 2012; Tranow und Schnabel 2019) – in vier Formen (oder Problem-Dimensionen) unterteilt werden. Diese Unterscheidung soll für den vorliegenden Beitrag untersuchungsleitend sein.
(i) Kollektivgutprobleme entstehen, wenn die besonderen Eigenschaften von Gütern (Nicht-Rivalität im Konsum und Nicht-Ausschließbarkeit) zu Trittbrettfahrertum motivieren: In einer solchen Problemkonstellation fallen Eigeninteresse und Gemeinwohl klassischerweise auseinander. Sie ist am prominentesten im Rahmen des Gefangenendilemmas als soziale Konstellation beschrieben worden.Footnote 8 Solidarnormen beschränken durch sozial geteilte und sanktionsbewährte Erwartungen die Handlungsautonomie der Akteure soweit, dass auf die Realisierung von individuellen Gewinnen durch die Zurückhaltung des eigenen Beitrags zum Kollektivgut verzichtet wird.
(ii) Re-Distributions- bzw. Verteilungsprobleme entstehen, weil Gemeinschaften nicht nur die Produktion gemeinschaftlicher Güter regeln, sondern auch eine als gerecht angesehene Verteilung von Gewinnen und Lasten erwirken müssen. Die Verteilung von ökonomischen, politischen, aber auch rechtlichen Ressourcen kann nach unterschiedlichen Regeln erfolgen. Diese Regeln sollen nicht nur die ökonomische Verteilungsgerechtigkeit sichern, sondern auch eine Gleichstellung durch soziale und politische Anerkennung. Auch sie bieten Anreize, eigene Belastungen zugunsten Anderer zu umgehen, insbesondere dann, wenn der Kreis der Bezieher*innen von Solidarleistungen als nicht transferwürdig oder die zu leistenden Abgaben als zu hoch und die (Vor‑)Rechte als zu umfänglich angesehen werden. Solidaritätsnormen sollen auf die Einhaltung der Umverteilungsregeln verpflichten.
(iii) Unterstützungsprobleme liegen vor, wenn Bedarfsprobleme nicht individuell gelöst werden können. Es geht in diesem Fall um die Verpflichtung einer Gemeinschaft, die Grundbedarfe ihrer Mitglieder zu sichern. Diese Absicherung kann Krisensituationen ebenso betreffen wie alltägliche Bedarfe. Gemeinschaften müssen bestimmen, was ein solcher gemeinschaftlich abzusichernder Bedarf ist. Hier bestehen Anreize, sich aus dem gemeinschaftlichen Absicherungsprojekt zurückzuziehen, wenn individuell an der Grundbedarfssicherung (oft anonym bleibender) Anderer kein Interesse besteht, wenn die eigene Vorstellung über Art und Umfang der Grundbedarfe von der des Kollektivs abweicht oder wenn die Gemeinschaft als zu groß und in ihrer Zusammensetzung als zu (bedarfs-)heterogen empfunden wird.
(iv) Loyalitätsprobleme müssen dann gelöst werden, wenn Anreize bestehen, eine Gemeinschaft gänzlich zu verlassen. Loyalität ist das Versprechen, auch in Zukunft Teil einer Gemeinschaft zu bleiben, selbst wenn dies mit dem Verzicht auf alternative und gewinnbringendere Zugehörigkeiten einhergeht. Diesbezügliche Solidaritätsnormen verpflichten dazu, auch bei Unzufriedenheit „voice“ statt „exit“ als Option zu wählen (Hirschman 1970).
Diese vier idealtypischen Problem-Dimensionen der Inkongruenz von Eigeninteresse und Gemeinwohl werden durch Solidaritätsnormen adressiert. Sie lassen sich also auch als „Dimensionen von Solidarität“ auffassen. Als Problem-Dimensionen sind sie in der sozialen Realität oft miteinander verflochten; entsprechend interagieren auch Solidaritätsnormen als deren Lösungen miteinander. Eine spezifische Solidaritätsnorm kann mehrere Probleme adressieren, sie kann aber auch die Lösung eines Problems erschweren, obwohl sie ein anderes zu lösen vermag. Die Unterscheidung in die Solidaritätsdimensionen der Kollektivgütererstellung, der Umverteilung, der Absicherung und der Loyalität ermöglicht einen differenzierteren analytischen Blick auf Solidarität. Damit werden auch Differenzen ihrer Akzeptanz und die mit ihnen verbundenen Grenzziehungen und deren Mechanismen systematisch sicht- und analysierbar: Für die nachfolgende Untersuchung können wir vermuten, dass die Unterstützung der vier Dimensionen von Solidarität nicht unbedingt von denselben Faktoren abhängt und diese Dimensionen nicht in derselben Art und Weise mit identitär-partikularen Solidaritäten zusammenhängen.
Administrative Solidarität als besonderer Modus der Solidarität
Praxen der Erfüllung von Solidarnormen lassen sich dahingehend unterschieden, ob sie Gnadenakte im Modus impliziter Verpflichtungen eines auf Zusammengehörigkeitsgefühlen basierenden Kollektivs darstellen oder vertraglich bindende Rechte und Pflichten jenseits emotionaler und identitärer Bindungen umfassen. In den Nationalstaaten westlicher Prägung findet sich ein Spezialfall dieses letztgenannten, formal-rechtsförmigen Modus: Sozialstaaten verwalten und organisieren Solidarität als „administrative Solidarität“ (Schuyt 1998, S. 300 ff.) mittels sozial- und wohlfahrtsstaatlicher Policies. Der Geltungsbereich dieser Policies ist an den Staat und seine Territorialität gekoppelt: Wenn Staatsbürgerschaft und Wohnsitz auseinanderfallen, muss die Geltung der Policies neu verhandelt und bestimmt werden. Dies gilt sowohl für den Fall der Emigration als auch den der Immigration (Barry 2006). Administrative Solidarität umfasst nicht nur die wohlfahrtsstaatliche Umverteilung und Absicherung gegen Notfälle, sondern auch die Sicherstellung eines bestimmten Versorgungsniveaus beispielsweise mit Bildung, medizinischer Versorgung und Infrastruktur. Sie verwandelt emotionale Verbundenheit, Barmherzigkeit, Wohltätigkeit, Gnadenakte und informellen Gabentausch in verbrieftes, formales und kodifiziertes Recht, in administrative Verwaltung und professionelle Unterstützung: „Many relief programmes enjoyed legislative protection, citizens became more emancipated, and an extensive network arose consisting of agencies and services that were run by professional service personnel who had discovered a ‚market for welfare and happiness‘, their own services“ (Schuyt 1998, S. 300).
Administrative Solidarität stellt einen formal-rechtlichen Solidaritätsmodus der besonderen Art dar, in dem Solidarität eine rechtsförmige, justiziable Form annimmt, die darüber hinaus administrativ durchgesetzt und deren Durchsetzung einer Professionalisierung unterzogen wird.Footnote 9 Rechtsförmigkeit, administrative Durchsetzung sowie Professionalisierung sind eng an den (National‑)Staat mit seinen gouvernementalen Strukturen gebunden und variieren mit dessen jeweiligem Entwicklungspfad.
Die verrechtlichten Normen wohlfahrtsstaatlicher Policies und mit ihnen die bürokratische Institutionalisierung administrativer Solidarität sind damit aber keineswegs bar jedweder Form gemeinschafts- und identitätsbezogener Momente: In der umfangreichen Debatte zu Entstehung und Dynamik von Wohlfahrtsstaaten findet sich verschiedentlich das Argument, dass wohlfahrtsstaatliche Policies eine Form von Einigung und Vertrauen in die Bereitschaft aller voraussetze, zu dem Kollektivgut einer gerechten Gesellschaft beizutragen. Diese Grundüberlegung vereint sowohl historische Erklärungen, die Wohlfahrtsstaatlichkeit als gouvernementale Reaktion auf Probleme des sozialen Wandels während der Etablierung des modernen Kapitalismus verstehen (z. B. Manow und van Kersbergen 2009, S. 11; ähnlich Pierson 2000, S. 792), Verfassungstheoretiker*innen, die argumentieren, dass staatsgenerierende Verfassungen immer eine Gründungsgemeinschaft voraussetzen (z. B. Tushnet 2012), als auch Vertreter*innen der Politischen Philosophie (z. B. King und Waldron 1988; Miller 1993), die davon ausgehen, dass Staatlichkeit, und damit auch administrative Solidarität, weder ausschließlich vertraglich abgesichert und legitimiert werden könne noch allein auf der Basis der Realisierung individueller Interessen Bestand habe.
Im Folgenden sollen nun zwei Solidaritätsmodi unterschieden werden: ein administrativer – immer formal-rechtsförmiger – ModusFootnote 10, der der organischen Solidarität von Durkheim bzw. der zivilbürgerlichen Solidarität nahekommt und dessen Zurechnungsbasis das moderne, staatsbürgerlich verortete Individuum ist, und ein identitär-partikularer – an kollektive Identitäten gekoppelter – Modus, der der mechanischen bzw. „brüderlichen“ Solidarität nahekommt und dessen Zurechnungsbasis die Zugehörigkeit zu einem Identitäten markierenden Kollektiv ist. Denkt man die vier Dimensionen von Solidarität und diese beiden Modi zusammen, so lassen sich acht idealtypische Solidaritätskonfigurationen charakterisieren (siehe Tab. 1).
Tab. 1 Dimensionen und Modi von Solidarität im Vergleich (Quelle: Eigene Darstellung) Mit jeder dieser Konfigurationen sind (a) spezifische Anreize verbunden, Solidarleistungen nicht zu erbringen und (b) den Geltungsbereich der Solidaritätsnormen zu begrenzen. Da in diesem Beitrag der Modus der administrativen Solidarität im Vordergrund steht, sollen Ausgestaltung, Problemkonstellation und Lösungsformen nur für diesen Solidaritätsmodus exemplarisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit diskutiert werden.
(i) Allgemein gesagt, bestehen administrative Kollektivgüter in der Befriedung von Gesellschaft und der Schaffung innerer und äußerer Sicherheit. Wichtige kollektivbezogene Aufgaben bestehen darin, gesellschaftlich geteilte Vorstellungen von Gerechtigkeit zu verwirklichen, die öffentliche Ordnung zu sichern, Vorstellungen der öffentlichen Moral durchzusetzen und Teilhabeansprüche zu verwirklichen. Die Institutionalisierung eines gouvernementalen Apparates zur Durchsetzung und Realisierung dieser Kollektivgüter ist ein Kollektivgut zweiter Ordnung.Footnote 11 Grenzziehungen werden in Form formaler Mitgliedschaften vorgenommen: Staatsbürger*innen kommen in den Genuss aller administrativen Kollektivgüter und werden für diese auch vollständig in die Pflicht genommen; der Status von Migrant*innen berechtigt und verpflichtet in geringerem Maße, abhängig davon, aus welchem Land emigriert wurde.Footnote 12 Asylsuchende wiederum haben in den EU-Mitgliedsländern einen Sonderstatus, der sie schützt; ihnen werden aber wichtige politische und soziale Rechte nicht zuerkannt. Aktuelle Grenzziehungskämpfe finden sich dort, wo es um das Recht auf Staatszugehörigkeit und um Teilhaberechte geht: Öffentliche Debatten um die doppelte Staatszugehörigkeit und ihre Vor- und Nachteile (Barry 2006), die politische Forderung nach der Einführung eines gesonderten Wohlfahrtsstaatssystems für Migrant*innen (z. B. in DänemarkFootnote 13), die Debatten um die Verschärfung des Asylrechts und um Einbürgerungstests sowie die Diskussionen darum, wer die öffentliche Ordnung stört und damit gesellschaftliche Ordnungsprinzipien nicht anerkennt (z. B. im Rahmen der öffentlichen Diskussionen um die Silvesternacht 2015 in Köln; Dürr et al. 2016), zeugen davon, dass die Grenzziehung zwischen denen, die die Rechtssicherheit und die Wohlfahrtsstaatsprogramme eines Landes genießen können sollen, und denen, die davon ausgeschlossen werden, harten und andauernden gesellschaftlichen Verhandlungen unterliegt. Die Nichtbeteiligung von Staatsbürger*innen an Wahlen oder die Nichtanerkennung des staatlichen Gewaltmonopols sind Formen von Trittbrettfahrertum.
(ii) In Wohlfahrtsstaaten wird das Umverteilungsproblem administrativ durch finanz- und sozialpolitische Programme geregelt. Wohlfahrtsstaatssysteme sind Bestandteil kapitalistischer Marktgesellschaften und lassen sich als einen sie stützenden Faktor verstehen (z. B. bereits bei Marshall 1963; Esping-Andersen 1990; Pierson 2000): Ihre wichtigste Aufgabe besteht darin, die Machtasymmetrie zwischen Kapital und Arbeit zu reduzieren und die gesellschaftlich als ungerecht angesehene Allokation von Einkommen durch den Markt zu korrigieren. Dazu werden neben direkten Eingriffen in die Allokation durch Einwirkung auf die Preisbildung Einkommen nachträglich durch finanz- und sozialpolitische Maßnahmen umverteilt (z. B. durch Besteuerung, Sozialleistungen und Subventionen). Hier bestehen Anreize, das System beispielsweise durch Steuerhinterziehung zu unterlaufen oder Leistungen über Gebühr in Anspruch zu nehmen (z. B. Wenzel 2007). Grenzziehungen erfolgen über Gerechtigkeitsfragen. Angesichts knapper Ressourcen werden diese zum Brennpunkt der Debatten um Dynamik und Krise des Wohlfahrtsstaates (Schuyt 1998; Kymlicka 2015): Wer ist als Bezieher*in von Sozialleistungen transferwürdig, und nach welchen Grundsätzen, in welcher Höhe und mit wessen Mitteln soll umverteilt werden?
(iii) Die Absicherung gegen Notlagen, die sich aus dem Verlust von Erwerbschancen auf dem Arbeitsmarkt ergeben, gehört zum Kernbestand administrativer Solidarität. Dabei geht es um die Sicherstellung eines menschenwürdigen Daseins auch bei Unfall, Krankheit, Arbeitslosigkeit und im Alter. Solche staatlichen Garantien sind sogar in vielen Verfassungen verankert. Die Rechtsförmigkeit administrativer Solidarität kommt hier besonders zum Tragen, da Verbundenheit und Barmherzigkeit explizit als Basis der Solidarleistungen ausgeschlossen sind. Anreize zum Unterlaufen der Solidaritätsnormen können darin bestehen, Nachteile durch das Zurückhalten von Beiträgen zu vermeiden oder Gewinne durch die unrechtmäßige Beanspruchung von Solidarleistungen zu realisieren. Grenzziehungen erfolgen entlang der Frage nach der Art der Notlage und danach, wessen Notlagen überhaupt abzusichern seien. Im Rahmen staatlicher Absicherungssysteme ist dies nicht zuletzt eine territoriale Frage. Nicht nur das Wer, das sich in „wohlfahrtschauvinistischen“ Einstellungen in Europa widerspiegelt (Reeskens und van Oorschot 2012), erlangt so besondere Relevanz, sondern auch das Wo: Wie sind die Bedürfnisse von Staatsbürger*innen, die im Ausland leben, abzusichern und wie jene von Nicht-Staatsbürger*innen im Inland (Barry 2006)?
(iv) Loyalitätsprobleme in Bezug auf administrative Solidarität können sich auf verschiedenen Ebenen finden: Staaten können ihren Bürger*innen die Loyalität entziehen, ihnen die Staatszugehörigkeit aberkennen und sie zur Flucht zwingen (Betts 2009). Von den Bürger*innen erfordert die sozialstaatliche Stärkung der Position der Arbeit im Verhältnis zum Kapital wiederum Loyalität gegenüber dem (Wohlfahrts‑)Staat und seinen gouvernementalen Organen. Diese Loyalitätsforderung betrifft die allgemeine Unterstützung des politischen Systems, die Folgebereitschaft gegenüber politischen und sozialen Policies, die Akzeptanz von Umverteilungsnormen sowie die Bereitschaft, Daten zur Beobachtung und Überprüfung – z. B. in Form einer Steuererklärung – zur Verfügung zu stellen.Footnote 14 Ein besonders konsequenter Weg, Unzufriedenheit und Nichtakzeptanz gegenüber dem Staat zu artikulieren, ist der territoriale „exit“, die Emigration. Eher indirekte Formen von Illoyalität bestehen in der einstellungsbezogenen Nichtakzeptanz staatlicher Finanz- und Sozialpolitiken (zu Einstellungen gegenüber wohlfahrtsstaatlichen Policies, deren Messung und Entwicklung vgl. Svallfors 2010, 2012) oder der willentlichen Zurückhaltung von staatlicherseits benötigten Informationen.
Religion und Nation als traditionelle Bindungen
Die These dieses Beitrags ist, dass die solchermaßen spezifizierten Dimensionen administrativer Solidaritätsverpflichtungen nicht unabhängig von identitär-partikularen Solidaritäten existieren. Ob es sich dabei um ein Konkurrenz- oder Unterstützungsverhältnis handelt, hängt nicht zuletzt von der Art der identitär-partikularen Solidaritäten ab.
Für eine Überprüfung eines möglichen Zusammenhangs bieten sich zwei Formen identitär-partikularer, auf askriptiven Merkmalen beruhender Zugehörigkeiten an, die sich insbesondere in der Europäischen Geschichte als einflussreich erwiesen haben: Religion und Nation sind mächtige OrdnungsfaktorenFootnote 15, die individuell realisierte, an ein Kollektiv gebundene Identitäten bedingen, welche eng mit einem ideologischen System der Weltinterpretation (Weltanschauung) verbunden sind (für die Religion vgl. z. B. Glock 1962; für die Nation z. B. Anderson 1988; Hobsbawm 1990, S. 31 ff.). „Identität“ bezeichnet in diesem Zusammenhang den Prozess der Zuschreibung der notwendigen Ähnlichkeit, um dazuzugehören, und des hinreichenden Andersseins, um nicht dazuzugehören (vgl. Jenkins 1996).
Sowohl Staat als auch Nation weisen einen explizit territorialen Bezug auf. Im Gegensatz zum Staat wird die Zugehörigkeit zur Nation jedoch durch das komplexe und interaktive Zusammenspiel von Fremd- und Selbstidentifikation hergestelltFootnote 16: Während Staaten territorial verortete gouvernementale Konstrukte sind, ist die Nation ein territorial verortetes identitäres Projekt. Religiöse Kollektive sind ebenfalls identitäre Projekte; sie zeichnen sich im Unterschied zur Nation durch ihren Bezug zum Außeralltäglichen und Jenseitigen aus und machen diesen zum „cultural marker“ (Hechter und Levi 1979), der in seinem praktischen Vollzug eine identitätsstiftende Macht hat.Footnote 17
Nation und Religion konstituieren Kollektive, die auf der Basis von als relevant angesehenen Charakteristika Zugehörigkeitsgefühle zu denen evozieren, die diese Merkmale (vermeintlich) aufweisen, und Differenzen zu denen markieren, die diese Merkmale nicht haben. Diese Zugehörigkeit muss immer wieder durch ein umfängliches Dispositiv von Mitgliedschaftsregeln und -merkmalen, individuellen und gemeinschaftlichen Praxen, Symbolen und Ritualen sowie „spaces and places“ abgesichert und erneuert werden. Sie ermöglichen die Identifikation des konkreten „Ich“ und „Du“, aber eben auch die Identifikation von abstrakten Kollektiven. Entsprechend der verschiedenen Nationen und Religionen sind diese Arten der Mitgliedschaft und Vergemeinschaftung in einer Vielzahl unterschiedlicher konkreter Sozialgestalten realisiert.
Sowohl Religionen als auch Nationen sind historisch eingebunden – ihr Verständnis, ihre Realisierung und ihre Relationen zueinander sind nicht statisch, sondern verändern sich über die Zeit. Für Europa lässt sich argumentieren, dass historisch im Anschluss an den Dreißigjährigen Krieg die Nation andere Zugehörigkeiten, wie die zu einer konfessionell bestimmten Gemeinschaft, quasi zu „überschreiben“ begonnen habe (Wehler 2004, S. 17 ff.; Langewiesche 2000). Eine solche Säkularisierungsthese ist auch in der Soziologie weit verbreitet: Sie postuliert, dass religiös bestimmte Zugehörigkeiten im Zuge der Entwicklung zur Moderne an sozialer – vor allem öffentlicher – Relevanz für Kategorisierung und Mitgliedschaft verloren hätten und auch als gesellschaftlich akzeptierter Zugriff auf die Welt unwichtiger geworden seien.Footnote 18 Empirisch konnte jedoch vielfach gezeigt werden, dass in Europa starke Differenzen und Dynamiken bestehen (z. B. Halman und Draulans 2006). Neuere Studien weisen darüber hinaus nach, dass Religion als „Eigenschaft der Anderen“ und somit als sozialer Marker – vor allem im Kontext nationalistischer Bewegungen – wieder an Bedeutung gewinnt (vgl. Pollack et al. 2014).
Religion und Nation markieren identitäre Zugehörigkeiten und deren Grenzen. Dies impliziert, dass sich für diese Sozietäten die weiter oben diskutierten Solidaritätsprobleme identifizieren lassen (siehe Tab. 1): (i) Ähnlich wie für die administrative Solidarität zeigt sich das Kollektivgutproblem bei identitär-partikularen Solidaritäten in Form der Aufrechterhaltung von Sicherheiten. Allerdings geht es hier um die Sicherstellung der Mitgliedschaft qua Gesinnung; der gemeinsame Wertekanon stellt damit das Kollektivgut zweiter Ordnung dar. Hier spielen vor allem Symbole eine zentrale, festigende Rolle; sie zeigen Mitgliedschaften an, ordnen diese und aktualisieren sie. (ii) Die Lösung von Redistributionsproblemen betrifft in imaginierten Gemeinschaften meist die Regeln und den Kampf um die soziale Anerkennung als vollwertiges Mitglied, woraus dann die jeweiligen Rechte und Pflichten zu Umverteilungen erwachsen. Hier wird oft das (nicht ganz) freiwillige Engagement für die Gemeinschaft beobachtet und sanktioniert. (iii) Absicherungsprobleme werden durch Mildtätigkeit, Barmherzigkeit oder Nächstenliebe gelöst: So lassen sich in den meisten monotheistischen Religionen explizite Vorschriften dafür finden, in welchen Not- und Krisensituationen wem gegenüber welche Unterstützung zu gewähren ist (Frühbauer 2007).Footnote 19 (iv) Loyalität wiederum wird durch Aufnahmerituale (wie z. B. die Taufe oder Beschneidung) begründet und durch die regelmäßige Einbindung in rituelle Gemeinschaftspraxen nicht nur sichtbar gemacht, sondern auch fabriziert und gefestigt (zur Konstitution von Überzeugungen durch das praktische Tun vgl. z. B. Althusser 2004 [1968]). Religiöse Praxen in diesem Sinne sind z. B. liturgische Feiern, Wallfahrten, Pilgerreisen. Nationale Praxen sind z. B. Aufmärsche, nationale Feier- und Gedenktage, aber auch – als Letztverpflichtung – Kriege und deren Rituale. Geregelt wird dabei auch, was als Austritt zu werten ist (z. B. in Form eines amtlich registrierten Kirchenaustritts), ob ein solcher überhaupt möglich sein kann (nicht alle Konfessionen kennen eine Exit-Option) und wie mit Doppelmitgliedschaften umzugehen sei.
Im Folgenden wird nun empirisch untersucht, welchen Einfluss es auf die Akzeptanz administrativer Solidarität hat, wenn jemand sich selbst als einer religiösen oder nationalen Gemeinschaft zugehörig empfindet. Da administrative Solidarität an Staatlichkeit gebunden ist und diese historisch je unterschiedliche rechtliche Regeln administrativer Solidarität ausgeprägt hat, muss für eine solche Untersuchung international vergleichend vorgegangen werden. Die Akzeptanz administrativer Solidarität dient als Proxy für die Bereitschaft, damit einhergehende Verpflichtungen, Rechte und Grenzziehungen zu unterstützen.