1 Einleitung

Wenn es aus soziologischer Perspektive um Solidarität geht, gerät schnell die Unterscheidung in „mechanische“ und „organische“ Solidarität von Émile Durkheim (1977 [1893], S. 296 ff.) in den Blick: Durkheim ordnete idealtypisch mechanische Solidarität Sozialitäten mit einfacher Arbeitsteilung und wenig differenzierter Umwelt zu, in denen Solidarität aus einem hohen Kollektivbewusstsein und einer geringen gesellschaftlichen Heterogenität erwachse. Organische Solidarität sei hingegen typisch für Gesellschaften mit komplexer Arbeitsteilung und entstehe durch hohe Individualität und Heterogenität. Diese Differenzierung spiegelt sich auch in anderen Unterscheidungen wider, so z. B. wenn zwischen den judeo-christlichen („brotherhood“) und den graeco-romanischen („civic“) Wurzeln von Solidarität unterschieden wird (z. B. Brunkhorst 2005). Solidarität hat auch hier zwei Fundamente: Die Solidarität der Brüderlichkeit bezieht sich ebenfalls auf gemeinsame Werthaltungen, Bewertungsmaßstäbe und kollektive Identitäten und ist damit immer partikular, während die zivilbürgerliche Solidarität sich auf kodifizierte Gerechtigkeitsnormen, Reziprozität und Fairness gründet und auf Universalismus zielt. In Letzteres eingebettet ist das, was Luhmann (1999, S. 10) als die „Sonderevolution des Rechts“ bezeichnet,Footnote 1 die zu der systematischen Zusammenfassung von Rechtsgrundsätzen und dem Ausschluss alternativer Rechtsquellen geführt haben, wie wir sie heute als kodifiziertes Recht kennen.Footnote 2

Diese soziologische Vorstellung von zwei Ursprüngen von Solidarität assoziiert die organisch-zivilbürgerliche Solidaritätsform mit Gesellschaften der westlichen Moderne. Wie in der Wohlfahrtsstaatsforschung hinlänglich diskutiert, verdankt sich dieser Konnex unter anderem der historischen Entwicklung und Etablierung moderner, westlich geprägter Wohlfahrtsstaaten, die Solidaransprüche jenseits familialer oder konfessionsbasierter Zugehörigkeiten in Form formalen Rechts etablierten (z. B. Flora und Heidenheimer 2005 [1981]; Pierson 2000). T. H. Marshall argumentiert in seinem klassischen Artikel von 1963, dass genau diese sozialen, aber kodifizierten Rechtsansprüche die Voraussetzung dafür seien, das moderne Gleichheitsversprechen der zivilen und politischen Rechte überhaupt realisieren zu können – ein Gedanke, der sich später im Konzept der Dekommodifikation von Esping-Andersen (1990) wiederfindet. Für die Möglichkeit, einen entsprechenden vollumfänglichen Katalog sozialer Rechte auf Absicherung und Versorgung unabhängig von askriptiven Merkmalen in Anspruch nehmen zu können, ist in der westlichen Moderne allein die formale Zugehörigkeit zu einem Staat ausschlaggebend; gesinnungs- und abstammungsbezogene Merkmale spielen dabei keine Rolle (mehr). Solidarität wird so formal-rechtsförmig und ist nicht (mehr) tugend-basiert. Damit verbunden ist, dass mit der Etablierung des Rechtsnormen setzenden Staates territoriale Grenzen zugleich in Grenzen des Geltungsbereichs ebendieser Rechtsnormen überführt werden (Kymlicka 2015, S. 3).Footnote 3

Der nachfolgende Beitrag nimmt die Frage in den Blick, wie das formal-rechtsförmige territorienbezogene Solidarversprechen europäischer Wohlfahrtsstaaten gestaltet ist, d. h. welche alten und neuen Grenzziehungen sich in der formal-rechtlichen Form der wohlfahrtsstaatlichen Solidarität wiederfinden lassen. Wohlfahrtsstaatliche Solidarität besteht aus distributiven, redistributiven und regulierenden Policies zur Sicherstellung einer marktunabhängigen Minimalversorgung von Haushalten und Familien, zur Absicherung von Notlagen, zur Bereitstellung einer gesellschaftlich als notwendig erachteten Grundversorgung mit Infrastruktur, Bildungs- und Gesundheitsleistungen sowie zur Aufrechterhaltung der inneren und äußeren Sicherheit. Dies geschieht im Modus der „administrativen Solidarität“, der sich durch die rechtsförmige Reglementierung von Ansprüchen und Beitragsleistungen, durch die Emanzipation von familialer SolidaritätFootnote 4 und durch die Professionalisierung der Anspruchs- und Beitragsverwaltung auszeichnet (Schuyt 1998, S. 300 ff.). Jedoch finden sich auch in Wohlfahrtsstaaten Solidaritätsformen, die auf askriptive Merkmale und identitätsbasierte Kollektivzugehörigkeiten zurückgreifen, um Ansprüche auf und Verpflichtungen zu Solidarleistungen zu regulieren. Hierzu gehören neben der familialen Zugehörigkeit nachbarschaftliche und freundschaftliche Netzwerke, aber auch größere Kollektive wie Religionsgemeinschaften oder die Zugehörigkeit zu einer nationalen Gemeinschaft. Da diese Zugehörigkeiten immer ein identitäres Moment haben, konstituieren sie einen anderen Modus der Solidarität, der im vorliegenden Beitrag als „identitär-partikular“ bezeichnet werden soll.Footnote 5

Mit dieser Unterscheidung zweier Modi von Solidarität adressiert der Beitrag die empirisch nach wie vor offene Frage, inwieweit formal-rechtlich verfasste Rechte und Pflichten in der spezifischen Form „administrativer Solidarität“ Spielräume für bekannte und neuartige „identitär-partikulare“ Grenzziehungen eröffnen und ob und wie diese Rechte und Pflichten abhängig sind von solchen identitätsbezogenen Differenzmarkierungen. Dies betrifft letztlich auch die Frage, wer in den Geltungsbereich der staatlich formulierten Rechte und Pflichten fallen soll. Dass diese Frage Gesellschaften vor große Herausforderungen stellt, zeigt sich nicht zuletzt in den Debatten um die Gewährung des Asylrechts (und den damit verbundenen medizinischen und sozialen Versorgungsleistungen) für straffällig gewordene Geflohene oder um die Rückführung von Frauen mit deutscher Staatszugehörigkeit, die im „Islamischen Staat“ (IS) aktiv waren. In beiden Fällen kollidieren gesetzesförmige Rechtsansprüche mit Vorstellungen einer in diesen Fällen vermeintlich solidaritätsentbindenden „Leitkultur“.

Um die Frage nach dem Zusammenhang von identitär-partikularem und administrativem Solidaritätsmodus zu adressieren, gliedert sich der Beitrag in einen theoretischen und einen empirischen Teil. So werden im Abschnitt 2 die rechtsförmige Solidarität als administrative Form von Solidarität und mögliche Beziehungsverhältnisse zu identitär-partikularen Solidaritäten aus einer normentheoretischen Perspektive auf Solidarität hergeleitet. Diese Herleitung greift auf eine Idee von Tranow (2012, 2013) zurück, welcher vier Dimensionen von Solidaritätsnormen unterscheidet. Diese vier Dimensionen antworten auf die vier Probleme, mit denen sich soziale Kollektive konfrontiert sehen: Kollektivguterstellung, Umverteilung, Absicherung und Loyalität. In diesem Beitrag werden die entsprechenden Solidaritätsnormen danach unterschieden, ob sie im Modus der administrativen oder dem der identitär-partikularen Solidarität verfasst sind. Als Beispiele für identitär-partikulare Solidaritätsgemeinschaften wird auf religiöse und nationale Zugehörigkeiten zurückgegriffen, da diese in der europäischen Geschichte der Genese der modernen Rechtsstaatlichkeit vorausgingen und immer noch zentrale Zugehörigkeiten markieren. Die aktuelle theoretische Debatte gestattet es jedoch nicht, im eigentlichen Sinne streng analytisch Hypothesen zum Zusammenhang von Zugehörigkeiten und Solidarnormen zu formulieren. Dennoch sollen religiöse und nationale Zugehörigkeiten als vorgängige (beeinflussende) Faktoren thematisiert werden, auch wenn ein entgegengerichteter Zusammenhang denkbar ist. Dieser theoretischen Diskussion folgt, nach einer Vorstellung der verwendeten Daten und Methode (Abschn. 3), eine quantitative Mehrebenenanalyse (MLA) auf der Basis der jüngsten Daten der European Values Study 2017 (Abschn. 4). Hierfür wird erstmalig der Versuch einer Operationalisierung des Theoriekonzepts der Solidarnormen für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union unternommen.Footnote 6 Dafür werden individuelle identitär-partikulare Zugehörigkeiten und Einstellungen zu verschiedenen Dimensionen administrativer Solidarität unter Berücksichtigung nationalstaatlicher gouvernementaler Kontexte in Bezug gesetzt. Die verwendete Datenbasis erlaubt keine Untersuchung von Richtung und Dynamik des Zusammenhangs zwischen der Akzeptanz administrativer Solidarität und identitär-partikularen Zugehörigkeiten zu einem religiösen und nationalen Kollektiv, die Analyse gibt aber erste Hinweise auf solche Zusammenhänge. Der Vergleich zwischen den EU-Mitgliedsländern erlaubt es darüber hinaus, den Einfluss der Variation institutioneller Kontexte zu berücksichtigen.

2 Theoretische Überlegungen

Aktuell finden sich in westlichen Wohlfahrtsstaaten weitreichende Versuche, meist mithilfe identitätsbezogener Forderungen nach partikularen Grenzziehungen die in Rechten verfestigten Solidaritätsansprüche zu differenzieren. Dies führt in fast allen Wohlfahrtsstaatsgesellschaften zu mit steigender Heftigkeit geführten Auseinandersetzungen sowohl um die Anerkennung von Minoritäten als auch um die (durch Pluralisierung vermeintlich als notwendig erscheinende) Verteidigung der Vormachtstellung bestimmter Majoritäten. Dabei geht es nicht allein um die (Um‑)Verteilung von marktbedingten Einkommen, sondern auch um die Anerkennung und Gleichstellung des und der „Anderen“ (z. B. Fraser 1995), um die Definitionsmacht über Situationen und Machtverhältnisse und um weltanschauliche Auseinandersetzungen. Hier spitzt sich nicht zuletzt auch die Differenz zwischen dem kosmopolitischen Mainstream und den lokalen und nationalistischen Peripherien zu (Hampton 2011; Hamed Hosseini 2013; Beyer und Schnabel 2019).

Damit ist eine Sichtweise auf gesellschaftliche Entwicklung skizziert, welche impliziert, dass das Erstarken partikularer Positionen und damit auch von identitär-partikularen Solidaritäten zeitlich (und vielleicht sogar kausal) an die Etablierung einer auf Rechten und Pflichten und deren staatlicher Durchsetzung basierenden Solidarität anschließe. Die normative Politikwissenschaft, aber auch einer der wichtigsten Klassiker der Soziologie – Émile Durkheim (1977 [1893]) – sehen jedoch noch einen anderen Zusammenhang: Sie argumentieren, dass die Universalität von Rechten und deren Durchsetzbarkeit immer eine (identitär-)partikulare Basis benötige – nämlich in Form einer Einigung darüber, wen und was solche Rechte betreffen und einschließen mögen. Dabei gehe es vernehmlich um die vorvertraglichen Modi Vivendi, also um das Vertrauen, dass Verträge zustande kommen und auch eingehalten werden. Eine mächtige Ressource hierfür sei „Vertrautheit“ (z. B. Luhmann 1989, S. 22; Miller 1993, S. 9), also das Gefühl, sich mit etwas auszukennen. Vertrautheit entwickelt sich jedoch nicht zu allen Einheiten des Sozialen. Vertrautheit von Personenmerkmalen wie Herkunft, ethnische Zugehörigkeit, Klasse, Religion, auf denen sich „imagined communities“ im Sinne Andersons (1988, S. 17) aufbauen lassen, gilt als zuverlässiger Anzeiger für ähnliche Wertorientierungen und für die Überwindung individueller Interessen zugunsten der Orientierung am Gemeinwohl der durch diese Ähnlichkeiten beschriebenen Kollektive (Durkheim 1977 [1893]; Welch et al. 2004) und damit für eine Verpflichtung gegenüber den gemeinsamen Regeln und rechtlich fixierten Arrangements.

2.1 Solidarität – die normtheoretische Auslegung eines unscharfen Begriffs

Solidarität ist eine Form gemeinwohlorientierten prosozialen Handelns. Eine Möglichkeit, dieses Handeln theoretisch genauer zu fassen, wurde von Ulf Tranow (2012, 2013; Tranow und Schnabel 2019) vorgeschlagen. Demnach bestehen solidarische Handlungen in der Erfüllung normativer Erwartungen an „einen kompensationslosen Transfer privater Ressourcen zugunsten anderer Individuen oder einer Gemeinschaft“ (Tranow 2013, S. 398). Kompensationslos bedeutet jedoch nicht bedingungslos: Solidarischer Transfer ist auch an die „Transferwürdigkeit“ des oder der Anderen gekoppelt, sei es im Fall konkreter Notlagen (z. B. von Geflohenen) oder im Fall struktureller Ungerechtigkeiten (z. B. von Frauen). Solidarität ist – mit Tranow – also die Erfüllung von situationsspezifischen Solidaritätsnormen, die einen Kreis von Personen verpflichten und einen anderen Kreis von Personen begünstigen. Solidarnormen implizieren zweierlei:

(i) Solchen Normen sind immer Anreize inhärent, sie nicht zu befolgen. Diese Anreize bestehen darin, durch die Zurückhaltung eigener Leistungen auf Kosten der Gemeinschaft individuelle Vorteile zu realisieren. Während die vielbeschriebenen Strategien des Trittbrettfahrertums und der Ausnutzung der Allmende die Schädigung Anderer „nur“ billigend in Kauf nehmen (Olson 1985 [1965]; Hardin 1968; Hechter 1987) ist Exklusion eine Strategie, bei der der Kreis der Begünstigten absichtsvoll dadurch verkleinert wird, dass dem oder den Anderen (im Sinne eines „Otherings“) die „Transferwürdigkeit“ abgesprochen wird, um stattdessen die Sicherung derjenigen sicherzustellen, die man versorgt wissen will, und um die eigenen Kosten dieser Versorgung möglichst gering zu halten.

(ii) Solidaritätsnormen umfassen einen Gültigkeitsbereich, der sowohl die erwartete Leistung als auch die Leistungsnehmer- und -geber*innen spezifiziert. Damit sind immer auch die sozialen Grenzen der Normverpflichtung umrissen; nicht jeder und jedem wird gleichermaßen Solidarität zuteil. Die Kriterien des Ausschlusses limitieren oft den Geltungsbereich des Einschlusses: Verwandtschaftliche Solidaritätsnormen schließen Personen aus, die nicht zur Verwandtschaft gezählt werden und/oder diese Zugehörigkeit durch inadäquates Verhalten verwirkt haben (vgl. Bühler-Niederberger, in diesem Heft). Ebenso verhält es sich mit den nachbarschaftlichen Solidaritätsnormen, in die auch askriptive Grenzziehungsmerkmale wie ethnische Stereotype eingezogen werden können (vgl. die Stadtteilstudie von Gruner 2010). Auch die „Zugehörigkeit“ zur „Menschheit“, welche eine allgemein-menschliche Solidarität – z. B. in Form von Nächstenliebe – begründen sollte, wird faktisch meist eingehegt durch weitere Qualifizierungen von Mitgliedschaften. Da die Universal Declaration of Human Rights (UDHR) selbst keine Rechtsansprüche begründet und erst in nationalstaatliche Rechtsnormen übersetzt werden muss, ist auch diese Form der universellen Solidarität an weitere Bedingungen – nicht zuletzt die der Staatszugehörigkeit – geknüpft, damit sie wirkmächtig werden kann (Benhabib 2016). Wenn dann noch Solidaritäten gegenüber Tieren und anderen nicht-menschlichen Entitäten eingefordert werden, entsteht darüber hinaus ein weitreichender gesonderter Begrenzungs- und Legitimationsbedarf für die Überschreitung der quasi-natürlichen Grenzziehungen (Nussbaum 2006), denn nicht alle Tiere und Entitäten werden als gleichermaßen solidarwürdig angesehen.

2.2 Solidaritätsnormen und ihr Problemlösungspotenzial – zur weiteren Schärfung eines unscharfen Begriffs

Der Begriff der Solidarität lässt sich also schärfen, wenn er als Erfüllung von sozial geteilten Solidaritätsnormen verstanden wird. Diese wiederum lassen sich als mögliche Lösungen für in allen Sozietäten auftretende Probleme auffassen. Solche Probleme ergeben sich immer dann, wenn Eigeninteresse und Gemeinwohl nicht deckungsgleich sind.Footnote 7 Die Nicht-Übereinstimmungen können – hier streng einem Vorschlag von Tranow folgend (2013, S. 406 ff., 2012; Tranow und Schnabel 2019) – in vier Formen (oder Problem-Dimensionen) unterteilt werden. Diese Unterscheidung soll für den vorliegenden Beitrag untersuchungsleitend sein.

(i) Kollektivgutprobleme entstehen, wenn die besonderen Eigenschaften von Gütern (Nicht-Rivalität im Konsum und Nicht-Ausschließbarkeit) zu Trittbrettfahrertum motivieren: In einer solchen Problemkonstellation fallen Eigeninteresse und Gemeinwohl klassischerweise auseinander. Sie ist am prominentesten im Rahmen des Gefangenendilemmas als soziale Konstellation beschrieben worden.Footnote 8 Solidarnormen beschränken durch sozial geteilte und sanktionsbewährte Erwartungen die Handlungsautonomie der Akteure soweit, dass auf die Realisierung von individuellen Gewinnen durch die Zurückhaltung des eigenen Beitrags zum Kollektivgut verzichtet wird.

(ii) Re-Distributions- bzw. Verteilungsprobleme entstehen, weil Gemeinschaften nicht nur die Produktion gemeinschaftlicher Güter regeln, sondern auch eine als gerecht angesehene Verteilung von Gewinnen und Lasten erwirken müssen. Die Verteilung von ökonomischen, politischen, aber auch rechtlichen Ressourcen kann nach unterschiedlichen Regeln erfolgen. Diese Regeln sollen nicht nur die ökonomische Verteilungsgerechtigkeit sichern, sondern auch eine Gleichstellung durch soziale und politische Anerkennung. Auch sie bieten Anreize, eigene Belastungen zugunsten Anderer zu umgehen, insbesondere dann, wenn der Kreis der Bezieher*innen von Solidarleistungen als nicht transferwürdig oder die zu leistenden Abgaben als zu hoch und die (Vor‑)Rechte als zu umfänglich angesehen werden. Solidaritätsnormen sollen auf die Einhaltung der Umverteilungsregeln verpflichten.

(iii) Unterstützungsprobleme liegen vor, wenn Bedarfsprobleme nicht individuell gelöst werden können. Es geht in diesem Fall um die Verpflichtung einer Gemeinschaft, die Grundbedarfe ihrer Mitglieder zu sichern. Diese Absicherung kann Krisensituationen ebenso betreffen wie alltägliche Bedarfe. Gemeinschaften müssen bestimmen, was ein solcher gemeinschaftlich abzusichernder Bedarf ist. Hier bestehen Anreize, sich aus dem gemeinschaftlichen Absicherungsprojekt zurückzuziehen, wenn individuell an der Grundbedarfssicherung (oft anonym bleibender) Anderer kein Interesse besteht, wenn die eigene Vorstellung über Art und Umfang der Grundbedarfe von der des Kollektivs abweicht oder wenn die Gemeinschaft als zu groß und in ihrer Zusammensetzung als zu (bedarfs-)heterogen empfunden wird.

(iv) Loyalitätsprobleme müssen dann gelöst werden, wenn Anreize bestehen, eine Gemeinschaft gänzlich zu verlassen. Loyalität ist das Versprechen, auch in Zukunft Teil einer Gemeinschaft zu bleiben, selbst wenn dies mit dem Verzicht auf alternative und gewinnbringendere Zugehörigkeiten einhergeht. Diesbezügliche Solidaritätsnormen verpflichten dazu, auch bei Unzufriedenheit „voice“ statt „exit“ als Option zu wählen (Hirschman 1970).

Diese vier idealtypischen Problem-Dimensionen der Inkongruenz von Eigeninteresse und Gemeinwohl werden durch Solidaritätsnormen adressiert. Sie lassen sich also auch als „Dimensionen von Solidarität“ auffassen. Als Problem-Dimensionen sind sie in der sozialen Realität oft miteinander verflochten; entsprechend interagieren auch Solidaritätsnormen als deren Lösungen miteinander. Eine spezifische Solidaritätsnorm kann mehrere Probleme adressieren, sie kann aber auch die Lösung eines Problems erschweren, obwohl sie ein anderes zu lösen vermag. Die Unterscheidung in die Solidaritätsdimensionen der Kollektivgütererstellung, der Umverteilung, der Absicherung und der Loyalität ermöglicht einen differenzierteren analytischen Blick auf Solidarität. Damit werden auch Differenzen ihrer Akzeptanz und die mit ihnen verbundenen Grenzziehungen und deren Mechanismen systematisch sicht- und analysierbar: Für die nachfolgende Untersuchung können wir vermuten, dass die Unterstützung der vier Dimensionen von Solidarität nicht unbedingt von denselben Faktoren abhängt und diese Dimensionen nicht in derselben Art und Weise mit identitär-partikularen Solidaritäten zusammenhängen.

2.3 Administrative Solidarität als besonderer Modus der Solidarität

Praxen der Erfüllung von Solidarnormen lassen sich dahingehend unterschieden, ob sie Gnadenakte im Modus impliziter Verpflichtungen eines auf Zusammengehörigkeitsgefühlen basierenden Kollektivs darstellen oder vertraglich bindende Rechte und Pflichten jenseits emotionaler und identitärer Bindungen umfassen. In den Nationalstaaten westlicher Prägung findet sich ein Spezialfall dieses letztgenannten, formal-rechtsförmigen Modus: Sozialstaaten verwalten und organisieren Solidarität als „administrative Solidarität“ (Schuyt 1998, S. 300 ff.) mittels sozial- und wohlfahrtsstaatlicher Policies. Der Geltungsbereich dieser Policies ist an den Staat und seine Territorialität gekoppelt: Wenn Staatsbürgerschaft und Wohnsitz auseinanderfallen, muss die Geltung der Policies neu verhandelt und bestimmt werden. Dies gilt sowohl für den Fall der Emigration als auch den der Immigration (Barry 2006). Administrative Solidarität umfasst nicht nur die wohlfahrtsstaatliche Umverteilung und Absicherung gegen Notfälle, sondern auch die Sicherstellung eines bestimmten Versorgungsniveaus beispielsweise mit Bildung, medizinischer Versorgung und Infrastruktur. Sie verwandelt emotionale Verbundenheit, Barmherzigkeit, Wohltätigkeit, Gnadenakte und informellen Gabentausch in verbrieftes, formales und kodifiziertes Recht, in administrative Verwaltung und professionelle Unterstützung: „Many relief programmes enjoyed legislative protection, citizens became more emancipated, and an extensive network arose consisting of agencies and services that were run by professional service personnel who had discovered a ‚market for welfare and happiness‘, their own services“ (Schuyt 1998, S. 300).

Administrative Solidarität stellt einen formal-rechtlichen Solidaritätsmodus der besonderen Art dar, in dem Solidarität eine rechtsförmige, justiziable Form annimmt, die darüber hinaus administrativ durchgesetzt und deren Durchsetzung einer Professionalisierung unterzogen wird.Footnote 9 Rechtsförmigkeit, administrative Durchsetzung sowie Professionalisierung sind eng an den (National‑)Staat mit seinen gouvernementalen Strukturen gebunden und variieren mit dessen jeweiligem Entwicklungspfad.

Die verrechtlichten Normen wohlfahrtsstaatlicher Policies und mit ihnen die bürokratische Institutionalisierung administrativer Solidarität sind damit aber keineswegs bar jedweder Form gemeinschafts- und identitätsbezogener Momente: In der umfangreichen Debatte zu Entstehung und Dynamik von Wohlfahrtsstaaten findet sich verschiedentlich das Argument, dass wohlfahrtsstaatliche Policies eine Form von Einigung und Vertrauen in die Bereitschaft aller voraussetze, zu dem Kollektivgut einer gerechten Gesellschaft beizutragen. Diese Grundüberlegung vereint sowohl historische Erklärungen, die Wohlfahrtsstaatlichkeit als gouvernementale Reaktion auf Probleme des sozialen Wandels während der Etablierung des modernen Kapitalismus verstehen (z. B. Manow und van Kersbergen 2009, S. 11; ähnlich Pierson 2000, S. 792), Verfassungstheoretiker*innen, die argumentieren, dass staatsgenerierende Verfassungen immer eine Gründungsgemeinschaft voraussetzen (z. B. Tushnet 2012), als auch Vertreter*innen der Politischen Philosophie (z. B. King und Waldron 1988; Miller 1993), die davon ausgehen, dass Staatlichkeit, und damit auch administrative Solidarität, weder ausschließlich vertraglich abgesichert und legitimiert werden könne noch allein auf der Basis der Realisierung individueller Interessen Bestand habe.

Im Folgenden sollen nun zwei Solidaritätsmodi unterschieden werden: ein administrativer – immer formal-rechtsförmiger – ModusFootnote 10, der der organischen Solidarität von Durkheim bzw. der zivilbürgerlichen Solidarität nahekommt und dessen Zurechnungsbasis das moderne, staatsbürgerlich verortete Individuum ist, und ein identitär-partikularer – an kollektive Identitäten gekoppelter – Modus, der der mechanischen bzw. „brüderlichen“ Solidarität nahekommt und dessen Zurechnungsbasis die Zugehörigkeit zu einem Identitäten markierenden Kollektiv ist. Denkt man die vier Dimensionen von Solidarität und diese beiden Modi zusammen, so lassen sich acht idealtypische Solidaritätskonfigurationen charakterisieren (siehe Tab. 1).

Tab. 1 Dimensionen und Modi von Solidarität im Vergleich (Quelle: Eigene Darstellung)

Mit jeder dieser Konfigurationen sind (a) spezifische Anreize verbunden, Solidarleistungen nicht zu erbringen und (b) den Geltungsbereich der Solidaritätsnormen zu begrenzen. Da in diesem Beitrag der Modus der administrativen Solidarität im Vordergrund steht, sollen Ausgestaltung, Problemkonstellation und Lösungsformen nur für diesen Solidaritätsmodus exemplarisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit diskutiert werden.

(i) Allgemein gesagt, bestehen administrative Kollektivgüter in der Befriedung von Gesellschaft und der Schaffung innerer und äußerer Sicherheit. Wichtige kollektivbezogene Aufgaben bestehen darin, gesellschaftlich geteilte Vorstellungen von Gerechtigkeit zu verwirklichen, die öffentliche Ordnung zu sichern, Vorstellungen der öffentlichen Moral durchzusetzen und Teilhabeansprüche zu verwirklichen. Die Institutionalisierung eines gouvernementalen Apparates zur Durchsetzung und Realisierung dieser Kollektivgüter ist ein Kollektivgut zweiter Ordnung.Footnote 11 Grenzziehungen werden in Form formaler Mitgliedschaften vorgenommen: Staatsbürger*innen kommen in den Genuss aller administrativen Kollektivgüter und werden für diese auch vollständig in die Pflicht genommen; der Status von Migrant*innen berechtigt und verpflichtet in geringerem Maße, abhängig davon, aus welchem Land emigriert wurde.Footnote 12 Asylsuchende wiederum haben in den EU-Mitgliedsländern einen Sonderstatus, der sie schützt; ihnen werden aber wichtige politische und soziale Rechte nicht zuerkannt. Aktuelle Grenzziehungskämpfe finden sich dort, wo es um das Recht auf Staatszugehörigkeit und um Teilhaberechte geht: Öffentliche Debatten um die doppelte Staatszugehörigkeit und ihre Vor- und Nachteile (Barry 2006), die politische Forderung nach der Einführung eines gesonderten Wohlfahrtsstaatssystems für Migrant*innen (z. B. in DänemarkFootnote 13), die Debatten um die Verschärfung des Asylrechts und um Einbürgerungstests sowie die Diskussionen darum, wer die öffentliche Ordnung stört und damit gesellschaftliche Ordnungsprinzipien nicht anerkennt (z. B. im Rahmen der öffentlichen Diskussionen um die Silvesternacht 2015 in Köln; Dürr et al. 2016), zeugen davon, dass die Grenzziehung zwischen denen, die die Rechtssicherheit und die Wohlfahrtsstaatsprogramme eines Landes genießen können sollen, und denen, die davon ausgeschlossen werden, harten und andauernden gesellschaftlichen Verhandlungen unterliegt. Die Nichtbeteiligung von Staatsbürger*innen an Wahlen oder die Nichtanerkennung des staatlichen Gewaltmonopols sind Formen von Trittbrettfahrertum.

(ii) In Wohlfahrtsstaaten wird das Umverteilungsproblem administrativ durch finanz- und sozialpolitische Programme geregelt. Wohlfahrtsstaatssysteme sind Bestandteil kapitalistischer Marktgesellschaften und lassen sich als einen sie stützenden Faktor verstehen (z. B. bereits bei Marshall 1963; Esping-Andersen 1990; Pierson 2000): Ihre wichtigste Aufgabe besteht darin, die Machtasymmetrie zwischen Kapital und Arbeit zu reduzieren und die gesellschaftlich als ungerecht angesehene Allokation von Einkommen durch den Markt zu korrigieren. Dazu werden neben direkten Eingriffen in die Allokation durch Einwirkung auf die Preisbildung Einkommen nachträglich durch finanz- und sozialpolitische Maßnahmen umverteilt (z. B. durch Besteuerung, Sozialleistungen und Subventionen). Hier bestehen Anreize, das System beispielsweise durch Steuerhinterziehung zu unterlaufen oder Leistungen über Gebühr in Anspruch zu nehmen (z. B. Wenzel 2007). Grenzziehungen erfolgen über Gerechtigkeitsfragen. Angesichts knapper Ressourcen werden diese zum Brennpunkt der Debatten um Dynamik und Krise des Wohlfahrtsstaates (Schuyt 1998; Kymlicka 2015): Wer ist als Bezieher*in von Sozialleistungen transferwürdig, und nach welchen Grundsätzen, in welcher Höhe und mit wessen Mitteln soll umverteilt werden?

(iii) Die Absicherung gegen Notlagen, die sich aus dem Verlust von Erwerbschancen auf dem Arbeitsmarkt ergeben, gehört zum Kernbestand administrativer Solidarität. Dabei geht es um die Sicherstellung eines menschenwürdigen Daseins auch bei Unfall, Krankheit, Arbeitslosigkeit und im Alter. Solche staatlichen Garantien sind sogar in vielen Verfassungen verankert. Die Rechtsförmigkeit administrativer Solidarität kommt hier besonders zum Tragen, da Verbundenheit und Barmherzigkeit explizit als Basis der Solidarleistungen ausgeschlossen sind. Anreize zum Unterlaufen der Solidaritätsnormen können darin bestehen, Nachteile durch das Zurückhalten von Beiträgen zu vermeiden oder Gewinne durch die unrechtmäßige Beanspruchung von Solidarleistungen zu realisieren. Grenzziehungen erfolgen entlang der Frage nach der Art der Notlage und danach, wessen Notlagen überhaupt abzusichern seien. Im Rahmen staatlicher Absicherungssysteme ist dies nicht zuletzt eine territoriale Frage. Nicht nur das Wer, das sich in „wohlfahrtschauvinistischen“ Einstellungen in Europa widerspiegelt (Reeskens und van Oorschot 2012), erlangt so besondere Relevanz, sondern auch das Wo: Wie sind die Bedürfnisse von Staatsbürger*innen, die im Ausland leben, abzusichern und wie jene von Nicht-Staatsbürger*innen im Inland (Barry 2006)?

(iv) Loyalitätsprobleme in Bezug auf administrative Solidarität können sich auf verschiedenen Ebenen finden: Staaten können ihren Bürger*innen die Loyalität entziehen, ihnen die Staatszugehörigkeit aberkennen und sie zur Flucht zwingen (Betts 2009). Von den Bürger*innen erfordert die sozialstaatliche Stärkung der Position der Arbeit im Verhältnis zum Kapital wiederum Loyalität gegenüber dem (Wohlfahrts‑)Staat und seinen gouvernementalen Organen. Diese Loyalitätsforderung betrifft die allgemeine Unterstützung des politischen Systems, die Folgebereitschaft gegenüber politischen und sozialen Policies, die Akzeptanz von Umverteilungsnormen sowie die Bereitschaft, Daten zur Beobachtung und Überprüfung – z. B. in Form einer Steuererklärung – zur Verfügung zu stellen.Footnote 14 Ein besonders konsequenter Weg, Unzufriedenheit und Nichtakzeptanz gegenüber dem Staat zu artikulieren, ist der territoriale „exit“, die Emigration. Eher indirekte Formen von Illoyalität bestehen in der einstellungsbezogenen Nichtakzeptanz staatlicher Finanz- und Sozialpolitiken (zu Einstellungen gegenüber wohlfahrtsstaatlichen Policies, deren Messung und Entwicklung vgl. Svallfors 2010, 2012) oder der willentlichen Zurückhaltung von staatlicherseits benötigten Informationen.

2.4 Religion und Nation als traditionelle Bindungen

Die These dieses Beitrags ist, dass die solchermaßen spezifizierten Dimensionen administrativer Solidaritätsverpflichtungen nicht unabhängig von identitär-partikularen Solidaritäten existieren. Ob es sich dabei um ein Konkurrenz- oder Unterstützungsverhältnis handelt, hängt nicht zuletzt von der Art der identitär-partikularen Solidaritäten ab.

Für eine Überprüfung eines möglichen Zusammenhangs bieten sich zwei Formen identitär-partikularer, auf askriptiven Merkmalen beruhender Zugehörigkeiten an, die sich insbesondere in der Europäischen Geschichte als einflussreich erwiesen haben: Religion und Nation sind mächtige OrdnungsfaktorenFootnote 15, die individuell realisierte, an ein Kollektiv gebundene Identitäten bedingen, welche eng mit einem ideologischen System der Weltinterpretation (Weltanschauung) verbunden sind (für die Religion vgl. z. B. Glock 1962; für die Nation z. B. Anderson 1988; Hobsbawm 1990, S. 31 ff.). „Identität“ bezeichnet in diesem Zusammenhang den Prozess der Zuschreibung der notwendigen Ähnlichkeit, um dazuzugehören, und des hinreichenden Andersseins, um nicht dazuzugehören (vgl. Jenkins 1996).

Sowohl Staat als auch Nation weisen einen explizit territorialen Bezug auf. Im Gegensatz zum Staat wird die Zugehörigkeit zur Nation jedoch durch das komplexe und interaktive Zusammenspiel von Fremd- und Selbstidentifikation hergestelltFootnote 16: Während Staaten territorial verortete gouvernementale Konstrukte sind, ist die Nation ein territorial verortetes identitäres Projekt. Religiöse Kollektive sind ebenfalls identitäre Projekte; sie zeichnen sich im Unterschied zur Nation durch ihren Bezug zum Außeralltäglichen und Jenseitigen aus und machen diesen zum „cultural marker“ (Hechter und Levi 1979), der in seinem praktischen Vollzug eine identitätsstiftende Macht hat.Footnote 17

Nation und Religion konstituieren Kollektive, die auf der Basis von als relevant angesehenen Charakteristika Zugehörigkeitsgefühle zu denen evozieren, die diese Merkmale (vermeintlich) aufweisen, und Differenzen zu denen markieren, die diese Merkmale nicht haben. Diese Zugehörigkeit muss immer wieder durch ein umfängliches Dispositiv von Mitgliedschaftsregeln und -merkmalen, individuellen und gemeinschaftlichen Praxen, Symbolen und Ritualen sowie „spaces and places“ abgesichert und erneuert werden. Sie ermöglichen die Identifikation des konkreten „Ich“ und „Du“, aber eben auch die Identifikation von abstrakten Kollektiven. Entsprechend der verschiedenen Nationen und Religionen sind diese Arten der Mitgliedschaft und Vergemeinschaftung in einer Vielzahl unterschiedlicher konkreter Sozialgestalten realisiert.

Sowohl Religionen als auch Nationen sind historisch eingebunden – ihr Verständnis, ihre Realisierung und ihre Relationen zueinander sind nicht statisch, sondern verändern sich über die Zeit. Für Europa lässt sich argumentieren, dass historisch im Anschluss an den Dreißigjährigen Krieg die Nation andere Zugehörigkeiten, wie die zu einer konfessionell bestimmten Gemeinschaft, quasi zu „überschreiben“ begonnen habe (Wehler 2004, S. 17 ff.; Langewiesche 2000). Eine solche Säkularisierungsthese ist auch in der Soziologie weit verbreitet: Sie postuliert, dass religiös bestimmte Zugehörigkeiten im Zuge der Entwicklung zur Moderne an sozialer – vor allem öffentlicher – Relevanz für Kategorisierung und Mitgliedschaft verloren hätten und auch als gesellschaftlich akzeptierter Zugriff auf die Welt unwichtiger geworden seien.Footnote 18 Empirisch konnte jedoch vielfach gezeigt werden, dass in Europa starke Differenzen und Dynamiken bestehen (z. B. Halman und Draulans 2006). Neuere Studien weisen darüber hinaus nach, dass Religion als „Eigenschaft der Anderen“ und somit als sozialer Marker – vor allem im Kontext nationalistischer Bewegungen – wieder an Bedeutung gewinnt (vgl. Pollack et al. 2014).

Religion und Nation markieren identitäre Zugehörigkeiten und deren Grenzen. Dies impliziert, dass sich für diese Sozietäten die weiter oben diskutierten Solidaritätsprobleme identifizieren lassen (siehe Tab. 1): (i) Ähnlich wie für die administrative Solidarität zeigt sich das Kollektivgutproblem bei identitär-partikularen Solidaritäten in Form der Aufrechterhaltung von Sicherheiten. Allerdings geht es hier um die Sicherstellung der Mitgliedschaft qua Gesinnung; der gemeinsame Wertekanon stellt damit das Kollektivgut zweiter Ordnung dar. Hier spielen vor allem Symbole eine zentrale, festigende Rolle; sie zeigen Mitgliedschaften an, ordnen diese und aktualisieren sie. (ii) Die Lösung von Redistributionsproblemen betrifft in imaginierten Gemeinschaften meist die Regeln und den Kampf um die soziale Anerkennung als vollwertiges Mitglied, woraus dann die jeweiligen Rechte und Pflichten zu Umverteilungen erwachsen. Hier wird oft das (nicht ganz) freiwillige Engagement für die Gemeinschaft beobachtet und sanktioniert. (iii) Absicherungsprobleme werden durch Mildtätigkeit, Barmherzigkeit oder Nächstenliebe gelöst: So lassen sich in den meisten monotheistischen Religionen explizite Vorschriften dafür finden, in welchen Not- und Krisensituationen wem gegenüber welche Unterstützung zu gewähren ist (Frühbauer 2007).Footnote 19 (iv) Loyalität wiederum wird durch Aufnahmerituale (wie z. B. die Taufe oder Beschneidung) begründet und durch die regelmäßige Einbindung in rituelle Gemeinschaftspraxen nicht nur sichtbar gemacht, sondern auch fabriziert und gefestigt (zur Konstitution von Überzeugungen durch das praktische Tun vgl. z. B. Althusser 2004 [1968]). Religiöse Praxen in diesem Sinne sind z. B. liturgische Feiern, Wallfahrten, Pilgerreisen. Nationale Praxen sind z. B. Aufmärsche, nationale Feier- und Gedenktage, aber auch – als Letztverpflichtung – Kriege und deren Rituale. Geregelt wird dabei auch, was als Austritt zu werten ist (z. B. in Form eines amtlich registrierten Kirchenaustritts), ob ein solcher überhaupt möglich sein kann (nicht alle Konfessionen kennen eine Exit-Option) und wie mit Doppelmitgliedschaften umzugehen sei.

Im Folgenden wird nun empirisch untersucht, welchen Einfluss es auf die Akzeptanz administrativer Solidarität hat, wenn jemand sich selbst als einer religiösen oder nationalen Gemeinschaft zugehörig empfindet. Da administrative Solidarität an Staatlichkeit gebunden ist und diese historisch je unterschiedliche rechtliche Regeln administrativer Solidarität ausgeprägt hat, muss für eine solche Untersuchung international vergleichend vorgegangen werden. Die Akzeptanz administrativer Solidarität dient als Proxy für die Bereitschaft, damit einhergehende Verpflichtungen, Rechte und Grenzziehungen zu unterstützen.

3 Daten und Methode

Um die im vorherigen Abschnitt entwickelten theoretischen Annahmen empirisch überprüfen zu können, wird ein Datensatz benötigt, der es ermöglicht, sowohl religiöse und nationale Zugehörigkeiten als auch Einstellungen gegenüber den vier Dimensionen administrativer Solidarität international zu vergleichen. Die aktuellen Daten der Europäischen Values Study 2017 (EVS 2019; Data ZA7500, Data File Version 2.0.0) erfüllen diese Bedingungen: Die EVS ist eine transnationale empirische Langzeitstudie zu den Präferenzen, Einstellungen und Werten der Europäer. In die Auswertung integriert werden die vom Datensatz der aktuellen Version abgedeckten Mitgliedsländer der Europäischen Union.Footnote 20 Dies ist dadurch begründet, dass nur für diese Länder hinreichend aktuelle Kontextdaten auf Nationalstaatsebene zur Verfügung stehen. Der Datensatz umfasst Antworten von 26.989 Befragten, die den Fragebogen vollständig und gültig ausgefüllt haben. Von diesen Befragten haben 24.194 Befragte die Fragen zu den abhängigen Variablen (Einstellungen zu Kollektivgütern, Redistribution, Unterstützung und Loyalität) beantwortetFootnote 21; die Fragen, die dem vollständigen Modell zugrunde liegen, wurden von 17.183 (63,6 %) Befragten beantwortet.Footnote 22

3.1 Solidaritäten messen

In den vorangehenden Abschnitten wurde argumentiert, dass Solidaritätsnormen Probleme lösen, die dann entstehen, wenn individuelles Eigeninteresse und Gemeinwohlorientierung in Deckung gebracht werden sollen. Die folgende Analyse nimmt die im Datensatz operationalisierten Einstellungen in den Blick, die unterschiedliche administrative Lösungen für die Solidaritätsdimensionen der Kollektivguterstellung, der Umverteilung, der Unterstützung und der Loyalität betreffen bzw. sich auf diese beziehen lassen. Solche Einstellungen spiegeln nicht nur die jeweiligen Bewertungen der Befragten wider, sondern lassen sich als Indikatoren für deren individuelle Bereitschaft lesen, die staatlich-administrative Bearbeitung der entsprechenden Probleme zu befürworten und (ggf. sogar aktiv) zu unterstützen. Da es sich um eine Sekundärdatenanalyse handelt, mussten bereits erhobene Indikatoren gefunden werden, die der Vermessung entsprechender Einstellungen möglichst nahekommen:

(i) Die Bereitschaft, die Erstellung administrativer Kollektivgüter in einer Gesellschaft zu unterstützen, wird über die Ablehnung sozialschädigenden Verhaltens gemessen. Sozialschädigendes Verhalten soll als Indikator für die Bedrohung der öffentlichen Ordnung und damit der inneren und der sozialen Sicherheit gelten. Dafür wurde ein additiver Index gebildetFootnote 23, der abbildet, ob die Befragten folgende Verhaltensweisen gerechtfertigt finden oder nicht: (a) staatliche Hilfe beanspruchen, auch wenn sie einem nicht zusteht, (b) Steuern hinterziehen, (c) Bestechungen annehmen, (d) schwarzfahren und (e) politische Gewalt ausüben. Dieser Index verweist implizit auch auf die Akzeptanz und Legitimation staatlicher Ordnungsmacht; die Zustimmung zu sozialschädigendem Verhalten sollte dann besonders hoch sein, wenn die aktuelle Ordnung des Gemeinwesens nicht anerkannt und gebilligt wird.

(ii) Die Bereitschaft, die staatliche Umverteilung als Korrektur ungleicher Markteinkommen zu akzeptieren, wird über die Frage erfasst, wie wichtig den Befragten die Beseitigung von ökonomischen Ungleichheiten sei.Footnote 24 Hierbei handelt es sich um eine indirekte Messung, bei der die Möglichkeit eines Rückschluss auf die Akzeptanz aktuell realisierter Redistributionsinstrumente unterstellt wird; systemablehnende, antikapitalistische Präferenzen stehen als direkte Antwortkategorie leider nicht zur Verfügung. Dieser Rückschluss erscheint legitim, da in den Wohlfahrtsstaaten europäischer Prägung der Staat der wichtigste (und umsatzgrößte) Akteur ist, der die Umverteilung von Markteinkommen durch Steuern, Transferleistungen und öffentliche Leistungen steuert (Musgrave et al. 1994).

(iii) Die Akzeptanz der gemeinschaftlichen Absicherung individueller Risiken wird erhoben über die Frage danach, wie wichtig den Befragten die Absicherung von Grundbedürfnissen wie Nahrungsmittel, Unterkunft oder Bildung für alle sei.Footnote 25 Auch in diesem Fall wurden Präferenzen für andere als die im staatlichen Rahmen angebotenen Maßnahmen nicht erhoben.

(iv) Loyalität ist über die Sekundärdatenanalyse des EVS nur schwer zu erfassen. Darum werden hier zwei Items verwendet. Dies dient der Absicherung der Reliabilität. Erfasst wird zum einen, ob Befragte der Meinung seien, dass die Versorgung innerhalb eines Landes staatlicherseits erfolgen solleFootnote 26, zum anderen wird erhoben, wie umfänglich das eigene Interesse an den Lebensbedingungen der Landsleute ist.Footnote 27 Diese Items wurden herangezogen, um die Loyalität einerseits zu den aktuellen gouvernementalen Strukturen und andererseits zu denjenigen abzubilden, die von den Befragten als Mitbürger und Landsleute identifiziert werden.Footnote 28

Um die entsprechenden Einstellungen und deren Einflussfaktoren miteinander vergleichen zu können, wurden alle fünf abhängigen Variablen zwischen 0 = schwach und 10 = stark standardisiert. Zwar werden im Folgenden die Modelle für jede abhängige Variable separat berechnet, sodass sich über die Signifikanz der Differenzen zwischen den Einflussfaktoren nichts sagen lässt; aber Richtung und Stärke können dennoch verglichen werden.

Wie Abb. 1 zeigt, weisen die fünf abhängigen Variablen eine erhebliche Varianz sowohl untereinander als auch zwischen den Ländern auf: Die im Durchschnitt aller Länder größte Zustimmung erfährt das Kollektivgut der öffentlichen Ordnung (Nichtakzeptanz sozialschädlichen Verhaltens: Mittelwert = 9,06 [SD = 0,13; Eta2 = 0,1**]). Die geringste Zustimmung zu diesem Indikator findet sich in Spanien. Die im Länderdurchschnitt niedrigste Akzeptanz erfährt das erste Loyalitäts-Item (staatliche Versorgung: Mittelwert = 4,92 [SD = 0,27; Eta2 = 0,03**]). Die Zustimmung zu diesem Item ist in Schweden, Dänemark, Österreich und Estland besonders gering, in Spanien hingegen ist sie besonders hoch.

Abb. 1
figure 1

Solidaritätsindikatoren, Mittelwerte nach Land (Quelle: EVS 2019; eigene Berechnung)

Tabelle 2 zeigt die Zusammenhänge zwischen den vier Solidaritätsdimensionen. Sie bestätigt, dass der theoretische Ansatz von Tranow, nachdem vier Typen von Solidaritätsproblemen unterschieden werden müssen, auch empirisch hält: Die Indikatoren sind zwar untereinander korreliert, die Korrelationen sind jedoch hinreichend schwach, um von eigenständigen Dimensionen sprechen zu können. Empirisch zeigt sich zudem, dass die beiden Loyalitäts-Items (Staatliche Verantwortung und Sorge für Landsleute) voneinander unabhängig sind – ihre Korrelation ist nicht signifikant. Sie können als zwei eigenständige Unterdimensionen aufgefasst werden.

Tab. 2 Korrelationsmatrix der Solidaritätsdimensionen (Quelle: EVS 2019; eigene Berechnung)

3.2 Mögliche Einflüsse

Welche Einflussfaktoren lassen sich für diese Verteilungen verantwortlich machen?

Einflussfaktoren unterscheiden sich darin, ob sie auf der kontextuellen oder auf der individuellen Ebene auszumachen sind. Erstere betrifft die staatliche Ebene, auf der die administrative Solidarität des Wohlfahrtsstaats zu verorten ist. Potenzielle Einflussfaktoren umfassen sowohl ökonomische Faktoren als auch Policies und gesellschaftliche Heterogenitäten. Ökonomische Rahmenbedingungen werden über die generelle ökonomische Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft, dem BIP, gemessen (Eurostat 2019). Sozialausgaben des Staates als Anteil am BIP (ebd.) gelten als gängiger Indikator für die Generosität des Wohlfahrtsstaatssystems (z. B. Armingeon et al. 2019). Gesellschaftliche Heterogenitäten werden über religiöse Heterogenität, gemessen als Herfindahl-Index (eigene Berechnung auf Grundlage der EVS-Daten), über ökonomische Heterogenität in Form der Arbeitslosenrate (Eurostat 2019) und über kulturelle Heterogenität als Anteil von Immigrant*innen an der Gesamtbevölkerung (ebd.) erfasst. Für die Analyse wird davon ausgegangen, dass diese Heterogenitäten die individuelle Bereitschaft, administrative Solidaritäten zu unterstützen, senken werden, da sie Vertrautheiten (vgl. Abschn. 2) voraussetzungsvoller machen.

Da für die Analyse vor allem religiöse und nationale Zugehörigkeiten von Belang sind, bilden diese auch den Bezugspunkt für die zentralen Indikatoren. Die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft ist mehrdimensional: Sie umfasst neben Überzeugungen auch religiöses Wissen, Spiritualität, die alltägliche Lebenswelt und verschiedene Praxisformen (Glock 1962). Nicht alle Dimensionen können empirisch erfasst werden. Zum einen wird die Konfessionszugehörigkeit gemessen, also das „belonging“ zu einer bestimmten Glaubensgemeinschaft.Footnote 29 Konfessionen stellen jeweils besondere Weltzugänge zur Verfügung, die, auch wenn die Zugehörigkeit im Alltag nicht regelmäßig aktualisiert wird, dennoch als gemeinschaftliche Verständigungen, als Orientierungen oder als sozial geteilte Wertmaßstäbe eine Wirkung entfalten können. Zum anderen wird die Religiosität der Befragten über einen Indikator aus Kirchgangshäufigkeit und der Wichtigkeit, die Gott für die Befragten im Alltag spielt, erfasst (religiöse Orientierung). Während die Kirchgangshäufigkeit die Regelmäßigkeit des gemeinschaftlichen Praktizierens von Riten und Ritualen erfasst, wird mit der individuellen Wichtigkeit Gottes die Intensität des „believing“ gemessen. Aus beidem wurde ein Indikator gebildet, welcher als multiplikativer Indikator die Kirchgangshäufigkeit mit „believing“ gewichtet; er ist zwischen 0 = nicht religiös und 1 = hochreligiös standardisiert.

Die Daten zeigen, dass trotz starker Säkularisierungstendenzen in Europa die Verteilung der Konfessionszugehörigkeiten zwischen den Ländern stark variiert: Zu den Ländern mit einer starken katholischen Mehrheit (mit mehr als 60 % der Bevölkerung) gehören Österreich, Kroatien, Litauen, Polen, Italien und Slowenien. Eine eindeutige protestantische Mehrheit findet sich nur in Dänemark; Rumänien hat eine orthodoxe Mehrheit, während in Estland und den Niederlanden die Konfessionslosen eine Mehrheit stellen (vgl. Tabelle 6 im Anhang).

Das individuelle Zugehörigkeitsgefühl zu einem nationalen Gemeinwesen wurde über einen bereits eingeführten additiven Indikator ermittelt (z. B. Jones und Smith 2001), der sich aus Items zusammensetzt, die messen, wie wichtig es den Befragten ist, dass jemand im eigenen Land geboren ist (Q53A), die politischen Institutionen und Gesetze des Landes respektiert (Q53B), Vorfahren in diesem Land hat (Q53C), die Sprache des Landes spricht (Q53D) und die kulturellen Werte des Landes teilt (Q53E).Footnote 30 Insgesamt liegt der Mittelwert bei 0,8 (SD = 0,14; Eta2 = 0,1**). In Bulgarien und Rumänien ist der Mittelwert besonders hoch, in Schweden, den Niederlanden und Dänemark relativ niedrig (Tabelle 6, letzte Spalte).

Neben diesen zentralen Prädiktoren wird im Folgenden der Einfluss demographischer Faktoren (wie Geschlecht, Alter, Bildung in Jahren und das standardisierte Haushaltseinkommen) kontrolliert. Diese Einflussfaktoren sind jedoch weniger von inhaltlichem Interesse; sie dienen vielmehr der Kontrolle länderspezifischer Differenzen. Diese Differenzen können sowohl durch ungleiche Verteilungen demographischer Faktoren als auch durch strukturelle Unterschiede hervorgerufen werden. Um Ersteres auszuschließen, werden die entsprechenden Faktoren als Kontrollvariablen in der Analyse berücksichtigt. Die Auswahl erfolgte strikt pragmatisch; die verwendeten Variablen haben eine lange Tradition als Einflussfaktoren. Darüber hinaus spielen aber auch die eigene Einschätzung auf einer politischen Links-Rechts-Skala und die Abhängigkeit von Sozialhilfe während der letzten fünf Jahre eine Rolle: Während die politische Selbsteinschätzung den Einfluss der generellen politisch-ideologischen Orientierung auf das Interesse an administrativer Solidarität erfassen soll (für den Einfluss politischer Orientierungen auf Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat vgl. Gelissen 2000; Pierson 1997), lässt sich die Abhängigkeit von Sozialhilfe als Indikator für das Eigeninteresse an staatlicher administrativer Solidarität lesen.Footnote 31 Dass dies relevant sein könnte, suggerieren zumindest Ansätze der politischen Ökonomie, die vermuten lassen, dass die Nachfrage nach wohlfahrtsstaatlichen Leistungen von den individuellen relativen Einkommen und den Arbeitsmarktrisiken abhängt (Cusack et al. 2006; Iversen and Soskice 2001).

4 Ergebnisse: Solidaritäten im Ländervergleich

Nachfolgend werden die Ergebnisse einer Mehrebenenanalyse berichtet (Mixed Methods MLA mit SPSS 26). Dabei handelt es sich um eine Regressionsanalyse, die die hierarchische Eingliederung von Personen in Ländern in der Datenstruktur berücksichtigt und so unverzerrte Schätzer für Individual- und Kontexteinflüsse liefert (vgl. Hox und Kreft 1994).Footnote 32 Die unabhängigen Variablen wurden dann „grand mean“-zentriert, wenn deren spezifische Länderverteilung den Einfluss variiert (das Geschlecht wurde nicht zentriert). Für diese Variablen und für das Haushaltseinkommen und die Links-Rechts-Selbstpositionierung wurden „random slope“-Modelle errechnet.

In der viertletzten Zeile von Tabelle 3 befinden sich die Intraklassenkorrelationskoeffizienten (ICC) der Modelle ohne unabhängige Variablen. Diese zeigen die Varianz der abhängigen Variablen an, die allein auf die Länderunterschiede zurückgehen. Für die drei Dimensionen und die beiden Loyalitäts-Items (also die fünf unabhängigen Variablen) ist der ICC je unterschiedlich: Während immerhin mehr als 12 % der Varianz der Akzeptanz der administrativen Lösung des Kollektivgutproblems auf Länderdifferenzen zurückzuführen sind, sind es für die Akzeptanz der Redistribution 9,6 %, für die Sorge um Landsleute mehr als 7 %, für die Akzeptanz staatlicher Verantwortung nur knapp 4 % und für die Solidaritätsdimension der Unterstützung nur noch knapp über 3,3 %. Für die letzten beiden Solidaritätsdimensionen würde sich eine Mehrebenenanalyse damit nicht unbedingt anbieten, weil überwiegend individuelle Faktoren für die Varianz verantwortlich sind. Dennoch bleibt auch hier die Frage, ob die existente, wenn auch geringe Varianz nicht doch auf bestimmbare staatliche Einflussfaktoren zurückgeführt werden kann.

Tab. 3 MLA der Solidaritätsdimensionen (Quelle: EVS 2019; eigene Berechnung)

Da sich der Einfluss der Variablen der Individualebene nicht wesentlich verändert, wenn länderspezifische Faktoren eingeführt werden, werden im Folgenden nur die Gesamtmodelle berichtet.Footnote 33 Bei den vollständigen Modellen reduziert sich der ICC für alle Solidaritätsdimensionen außer für das Loyalitäts-Item „Sorge für Landsleute“. Der ICC für diese Variable steigt weiter an, wenn individuelle Faktoren eingeführt werden (siehe Tabelle 5 im Anhang), sinkt aber wieder, wenn eine Variable auf der Länderebene dazu genommen wird. Dies bedeutet, dass der Effekt individueller Faktoren zwischen den Ländern stark variiert, diese Varianz aber durch einen strukturellen Effekt zumindest teilweise wieder aufgelöst wird.

Auch wenn die individuellen demographischen Variablen nicht im Fokus der Untersuchung liegen, sei ihr Einfluss dennoch kurz kommentiert: Frauen unterstützen administrative Solidarität leicht, aber signifikant stärker als Männer, allein für das Loyalitäts-Item „Sorge um Landsleute“ kehrt sich der Effekt um. Alter und Haushaltseinkommen haben einen sehr schwachen positiven Effekt; lediglich bei der Akzeptanz von Unterstützungsleistungen ist der Effekt des Alters nicht signifikant. Bildung hat einen signifikant positiven Effekt, insbesondere auf den Indikator der Abschaffung von Einkommensungleichheiten; dies gilt auch für die eher linke Selbstpositionierung auf der Links-Rechts-Skala.Footnote 34 Die Abhängigkeit von Sozialhilfe – also die ökonomisch rationale Perspektive – spielt nur im Rahmen des Kollektivgutproblems und bei der Akzeptanz staatlicher Verantwortungsübernahme eine signifikante Rolle.

Für die in diesem Beitrag verfolgte Fragestellung sind jedoch die Einflüsse der individuellen Religiosität und der Zugehörigkeit zu einer nationalen Gemeinschaft relevanter. Während im Vergleich zur Konfessionslosigkeit für alle Konfessionen ein signifikant positiver Einfluss in Bezug auf die Kollektivgutbereitstellung zu beobachten ist, zeigen sich signifikant negative Effekte des Protestantismus auf die Wichtigkeit von Redistribution, des Katholizismus auf Unterstützung sowie von Protestantismus und Orthodoxie auf staatliche Verantwortung, während bei keiner der Konfessionen ein signifikanter Effekt auf die Sorge um Landsleute besteht.

Der positive Effekt von Religiosität auf die ordnungsbezogene Kollektivgutdimension ist nicht überraschend: dahinter versteckt sich eine latente Wertorientierung, die sich auf Regelkonformität und dessen Gemeinwohlorientierung bezieht. Bereits an anderer Stelle wurde ausführlicher diskutiert, dass und warum insbesondere Religion eher regelkonforme, an Traditionen und Moral orientierte Einstellungen begünstigt (Madeley 1991; Ervasti 2012; Schnabel und Grötsch 2015). Ohne den negativen Effekt des Protestantismus auf die Reduktion von Einkommensungleichheiten und auf die Loyalitätsdimension der staatlichen Verantwortung überinterpretieren zu wollen, lässt sich mutmaßen, dass sich darin ein historisch gewachsenes protestantisches Weltbild widerspiegeln könnte, das sich an einem eigenverantwortlichen Bürger orientiert und Fürsorge an Arbeitspflicht und Prüfmechanismen koppelt.Footnote 35 Der negative Einfluss des Katholizismus auf die Akzeptanz von Unterstützungsleistungen lässt sich – mit Vorsicht – aus einem von der katholischen Soziallehre geprägten Weltbild ableiten, nachdem der Versuch, Gleichheit durch gleiche Förderung herzustellen, an der Verschiedenheit der Personen scheitern müsse.Footnote 36 Der stark negative Effekt der orthodoxen Konfessionszugehörigkeit auf das Loyalitäts-Item der staatlichen Verantwortung lässt sich vermutlich durch den traditionell wenig ausgeprägten Sozialstaat in Ländern mit orthodoxer Mehrheit erklären. So weisen Gabriel et al. (2013) in ihrer Studie nach, dass sich in Ländern mit einer starken orthodoxen Kirche nie ein starker, vertrauenswürdiger Sozialstaat habe entwickeln können, der außerkirchlich im sozialen Sektor tätig geworden wäre. Damit, so ließe sich vermuten, geht ein traditionelles Misstrauen gegenüber der staatlich-administrativen Solidarität einher. Die hier angebotenen Erklärungen für die Zusammenhänge zwischen konfessionell differenten religiösen Weltzugriffen und der unterschiedlichen Akzeptanz der Dimensionen administrativer Solidarität stellen allerdings nur Plausibilitätsüberlegungen dar und müssen daher mit Vorsicht betrachtet werden.

Eindeutiger ist hingegen der signifikant positive Zusammenhang zwischen der Stärke der religiösen Orientierung und der Akzeptanz administrativer Solidarität. Die religiöse Orientierung, also das Befolgen religiöser Praxen und die Rolle, die der Gottesglaube im Alltag spielt, unterstützt die Akzeptanz aller Dimensionen administrativer Solidarität. Besonders stark ist dieser Effekt bei Redistribution und den beiden Loyalitätsdimensionen.

Die Zugehörigkeit zu einer nationalen Gemeinschaft wirkt ebenfalls signifikant positiv auf die fünf Solidaritäts-Variablen: Besonders stark ist der Effekt auf die Akzeptanz von Redistribution und von Unterstützungsleistungen.

Es ist zu vermuten, dass die beobachteten positiven Zusammenhänge zwischen der Stärke der religiösen Orientierung und der Zugehörigkeit zu einem nationalen Kollektiv einerseits und den Dimensionen administrativer Solidarität andererseits über hinlänglich bekannte Mechanismen vermittelt werden: Zugehörigkeiten zu „imaginierten Gemeinschaften“ wirken einerseits darüber, dass perzipierte und zugeschriebene Ähnlichkeit und Vertrautheit für Vertrauen sorgen, und andererseits darüber, dass gemeinsame Rituale und Riten Verlässlichkeit, Ordnung und Traditionsgebundenheit signalisieren und darüber Vertrauen schaffen (Durkheim 1981 [1912]; Collins 1984; Welch et al. 2004). Vertrauen wiederum ist (wie weiter oben bereits argumentiert) wichtig, um eigennutzorientiertes Verhalten in Gemeinwohlorientierung zu überführen und den Glauben an das Zustandekommen und die Einhaltung von Verträgen unter anonymen Anderen zu ermöglichen.

Die bisher berichteten Zusammenhänge auf der Individualebene sind in länderspezifische Kontexte eingebettet. Die ICCs der leeren Modelle haben gezeigt, dass diese Länderkontexte relevant sind. Nun bleibt noch zu untersuchen, welche länderspezifischen Faktoren eine Rolle spielen. Da auf der Länderebene nur 16 Fälle zur Verfügung stehen, wurden die Ländervariablen separiert in die Modelle integriert.Footnote 37 Dabei zeigt sich, dass die Kollektivgutdimension in Ländern mit einer höheren Arbeitslosenquote eine geringere Unterstützung erfährt. Während die individuelle Abhängigkeit von Sozialhilfe einen positiven Effekt auf die Akzeptanz der Kollektivgutdimension hat, scheint eine höhere Heterogenität im Grad der Einbindung in den Arbeitsmarkt diese Akzeptanz eher zu senken. Die Akzeptanz von Redistribution und Unterstützungsleistungen wiederum ist in Ländern niedriger, die religiös stärker fragmentiert sind. Befragte in Ländern mit einem niedrigeren BIP befürworten staatliche Verantwortung für Umverteilung stärker als Befragte in Ländern mit einem höheren BIP. Ein höherer Anteil von Immigrant*innen wiederum steigert leicht, aber signifikant die Sorge um Landsleute.Footnote 38 Der Anteil der Sozialausgaben am BIP hat hingegen in keiner Solidaritätsdimension einen signifikanten Einfluss (diese Zeile wurde deshalb in Tabelle 3 weggelassen).

Damit senken stärkere ökonomische und religiöse Heterogenitäten sowie die größere generelle ökonomische Leistungsfähigkeit eines Landes die Akzeptanz für bestimmte Dimensionen der administrativen Solidarität, während eine höhere kulturelle Heterogenität die Loyalität gegenüber denjenigen, die als Landsleute identifiziert werden, steigen lässt.

5 Grenzen der administrativen Solidarität

Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus diesen Ergebnissen ziehen? Die Ausgangsthese bestand darin, dass die beiden Modi der identitär-partikularen und der administrativen Solidarität nicht unabhängig voneinander sind. Dies hat sich zwar bestätigt, muss aber differenziert werden. Mithilfe von Tranows Unterscheidung von vier Typen von Solidaritätsproblemen ließen sich vier unabhängige Dimensionen von administrativer Solidarität generieren, die empirisch je unterschiedlich durch identitär-partikulare Solidaritäten beeinflusst werden.

Die subjektive Einbindung in religiöse und nationenbezogene Kollektive spielt dabei nach wie vor eine Rolle. Leider lassen die Daten nicht zu, Dynamiken zu untersuchen, dennoch lässt sich festhalten, dass Religion und Nation (immer noch oder wieder) einen Einfluss darauf haben, ob und wie stark administrative Solidarität einstellungsmäßig unterstützt und wie ernst die Verpflichtungen administrativer Solidaritätsnormen genommen werden. Die Konfession ist dabei für die Verpflichtung auf das Kollektivgut der öffentlichen Ordnung wichtiger als für andere Dimensionen administrativer Solidarität. Es zeigten sich jedoch konfessionsbezogene Unterschiede: Darin scheinen sich Differenzen von kirchlichen Soziallehren widerzuspiegeln. Eine ausgeprägte individuelle religiöse Orientierung verstärkt wiederum die Akzeptanz von Umverteilung und von staatlicher Verantwortung sowie die Sorge für die eigenen Landsleute, und ein nationales Zugehörigkeitsgefühl scheint die Akzeptanz von Umverteilung und Unterstützung zu erhöhen.

Landesbezogene Kontexte prägen die individuellen Einstellungen zu administrativer Solidarität ebenfalls: Gesellschaftliche Heterogenitäten scheinen eher einen negativen Einfluss auf die Akzeptanzwerte zu haben, jedoch sind ökonomische und kulturelle Heterogenitäten nicht für alle Solidaritätsdimensionen gleich „schädlich“.

In diesem Beitrag wurde argumentiert, dass eine geäußerte Zustimmung zur administrativen Solidarität auch mit einer Folgebereitschaft gegenüber den entsprechenden Solidaritätsnomen einhergeht. Dies bedeutet, dass bei geäußerter Zustimmung individuell administrativ-rechtsförmige Solidaritätsverpflichtungen ernst genommen, unterstützt und für bindend erachtet werden. Mit administrativen Solidarnormen verbunden sind Bestimmungen darüber, für wen diese Normen gelten und wer von ihnen begünstigt und wer verpflichtet wird. Die Unterstützung administrativer Solidarnormen impliziert daher auch die Akzeptanz der durch sie festgesetzten Geltungsbereiche und der mit ihnen formulierten Kriterien von Transferwürdigkeit.

Der generell unterstützende Effekt religiöser und nationaler Zugehörigkeiten legt den Schluss nahe, dass Personen, die sich religiösen und nationenbezogenen Kollektiven zugehörig fühlen, auch in höherem Maße Regeln der administrativen Solidarität akzeptieren. Dies bedeutet wiederum, dass von diesen Befragten auch die verwaltungstechnischen Grenzziehungen als legitim angesehen und unterstützt werden. Ob dies aus Überzeugung heraus geschieht, dass die Regeln der administrativen Solidarität und ihre Grenzziehungen tatsächlich angemessen und legitim seien, oder dies auf Einflüsse von Drittvariablen zurückgeht wie z. B. Präferenzen für (staatliche) Ordnung, traditionale Werthaltungen oder Konservatismus, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden.

Die Befunde zeigen aber auch, dass die Befragten unterschiedlicher Konfessionen eben nicht alle Dimensionen administrativer Solidarität gleichermaßen unterstützen; das impliziert, dass auch die damit verbundenen Grenzziehungen nicht gleichermaßen unterstützt werden dürften. Administrative Grenzziehungen markieren die durch die staatliche Sozial- und Finanzpolitik gezogenen Grenzen von Solidarität. Diese sind eng an die Staatsbürgerlichkeit der Leistungsempfänger und Leistungsträger gekoppelt, fallen aber nicht unbedingt mit dieser zusammen, wenn Personen aus anderen EU-Staaten z. B. in Deutschland Rentenansprüche erwerben oder Gesundheitsleistungen für Asylsuchende gewährt werden. Identitär-partikulare konfessionelle Grenzziehungen können je nach Art des Solidaritätsproblems andere Personenkreise als transferwürdig markieren als dies durch die entsprechenden administrativen Regeln vorgegeben ist. Dabei scheinen nicht zuletzt konfessionell unterschiedliche Perspektiven auf die Verpflichtung zur Selbstverantwortung eine Rolle zu spielen.

Die Ergebnisse der vorliegenden Analyse unterstützen die These, dass heterogene Kontexte die Legitimität administrativ vorgegebener Inklusionen und Exklusionen reduzieren können: nicht nur steigert Immigration die Sorge um die „Landsleute“, sondern eine höhere religiöse Heterogenität reduziert signifikant die Bereitschaft, staatliche Umverteilung und Unterstützungsleistungen mitzutragen. Dies lässt sich dahingehend interpretieren, dass religiöse Grenzziehungen nicht identisch sind mit administrativ bestimmten Grenzziehungen, sondern diese teilweise überschreiben. Dadurch kann die Bereitschaft zu religionsbasierten Ausschlüssen produziert werden. Ökonomische Ungleichheiten haben einen schwachen negativen Effekt, wenn es um die Dimension des Kollektivgutes „öffentliche Ordnung“ und die Loyalitätsdimension der staatlichen Verantwortungsübernahme geht: auch hier werden staatsbürgerliche Grenzen zugunsten ökonomischer Grenzziehungen verschoben.

Administrative Solidarität ist an rechtlich-formale Kriterien geknüpft, die unabhängig von askriptiven Merkmalen gelten und eng mit Staatsbürgerschaft verbunden sind – sei es als Mitgliedschaft mit vollwertigen Rechtsansprüchen oder als Mitgliedschaft mit reduzierten Rechten und Pflichten für Migrant*innen und Asylsuchende. Es ist das besondere Merkmal moderner Wohlfahrtsstaatlichkeit, dass sie soziale Wohlgefälligkeit und Tugendhaftigkeit von ökonomischer Absicherung und politischer Teilhabe entkoppelt. Dennoch wird auch in wohlfahrtsstaatlichen Systemen die Akzeptanz und Unterstützung administrativer Solidarität durch weitere, identitätsbasierte – in diesem Fall: religiöse und nationenbezogene – Charakteristika spezifiziert.

Schlussendlich zeigt die hier vorgestellte Untersuchung, dass die Modi der administrativen und der identitär-partikularen Solidarität gesellschaftlich miteinander verflochten sind, ohne dabei völlig austauschbar zu sein. Solidaritätsprobleme produzieren vielmehr ein Normgeflecht, das teils konkurrierende, teils ergänzende Komponenten aufweist, die immer wieder gesellschaftliche Konflikte hervorrufen und Aushandlungsprozesse nötig machen. Dabei geht es nicht zuletzt darum, ob die Geltungsansprüche identitär-partikularer Solidaritäten diejenigen der administrativ-rechtsförmigen Solidarität herausfordern. Die zum Teil negativen Effekte, die mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Konfessionen einhergehen, sind ein Indiz dafür. Aber auch die religiöse Orientierung und nationenbezogene Zugehörigkeiten bergen trotz ihrer positiven Effekte die Gefahr der Exklusion gesellschaftlicher Gruppen, wenn diese in erster Linie Rechtsansprüche artikulieren, ohne die entsprechenden identitär-partikularen Zugehörigkeiten aufzuweisen. In beiden Fällen werden in die Operationen des kodifizierten Rechts andere, partikularistische Legitimationsbedarfe eingeführt.

Andauernde Aushandlungsprozesse werden nicht nur über geeignete Anreize zur Verknüpfung individueller Eigeninteressen und Gemeinwohlorientierung nötig, sondern auch darüber, wer eigentlich zu der Allgemeinheit zu zählen ist, an deren Wohl sich zu orientieren sei. Für eine umfassendere Untersuchung der Geltungsbereiche und Akzeptanz von Solidaritätsnormen heißt dies, dass es nicht nur reliablerer und detaillierterer Daten bedarf, sondern auch eines differenzierten Blickes auf die Mehrdimensionalität von Solidarität, um die dimensionenspezifischen solidaritätsbezogenen Grenzziehungen und die Prozesse ihrer gesellschaftlichen Aushandlung besser zu verstehen.