Zusammenfassung
Die gesellschaftliche und betriebliche Auseinandersetzung um den Grad der Kommodifizierung der Arbeitskraft ist von Beginn an eine der zentralen Konfliktlinien des Kapitalismus. Unter den Bedingungen des bundesdeutschen Nachkriegsfordismus konnten Betriebsräte und Gewerkschaften ihre Machtressourcen zur Absicherung der Arbeitskraft gegen die Risiken des Marktes nutzen und, gestützt auf gesetzliche Normen und Regelungen, ein relativ hohes Niveau im Arbeits- und Gesundheitsschutz (AGS) etablieren. Gleichwohl fand auch in dieser Phase ein „betrieblicher Handel“ um die Vernutzung von Arbeitskraft statt, der vor allem von Auseinandersetzungen über die Umsetzung von Standards gekennzeichnet war. Aktuell verschiebt sich mit der Machtbalance auch der Gegenstand betrieblicher Verhandlungen. Am Beispiel der Leiharbeit wird gezeigt, dass sich Konturen neuer nachfordistischer Aushandlungen abzeichnen, deren Logik darin besteht, die kostenträchtige Geltungskraft von AGS-Normen dadurch zu verringern, dass machtschwache Beschäftigtengruppen selektiv ausgeschlossen werden. Gelegentlich willigen sogar Stammbeschäftigte und die Interessenvertretungen darin ein, weil sie damit für sich die Sicherheiten und Standards zu erhalten hoffen.
Abstract
The struggle about commodification of the workforce on the societal and organizational level is one of the central lines of conflict in capitalism. Under post-fordist circumstances work councils and trade unions could use their power resources to protect the workers against the risks of the market, and thus could establish a relatively high level in Occupational Health and Safety based on legal norms and regulations. Nevertheless the high legislative standards provided the corporate actors with resources to negotiate the actual level of the organizational implementation of health and safety standards. Financial market capitalism has now modified the preconditions of this specific interaction by changing the corporate power balance. The new post-fordist bargaining shifts attention from lowering standards of occupational health and safety to excluding groups of workers from it. The article provides empirical evidence that the precarious workforce (such as temporary work) in particular is confronted with this specific discrimination.
Résumé
La question de la marchandisation de la force de travail est depuis toujours, dans la société et les entreprises, une des principales lignes de conflit du capitalisme. Dans le contexte fordiste de l’Allemagne fédérale d’après-guerre, les comités d’entreprise et les syndicats ont su tirer parti de leur pouvoir pour assurer les salariés contre les risques du marché et, avec l’appui de normes et réglementations juridiques, établir un niveau de protection de la santé et de la sécurité au travail relativement élevé. Toutefois, l’exploitation de la force de travail a également fait l’objet de négociations en entreprise pendant cette période, notamment au sujet de la mise en œuvre de ces standards. Le changement actuel du rapport de force a des répercussions sur l’objet des négociations en entreprise. L’exemple du travail intérimaire montre les contours de nouveaux arrangements postfordistes dont la logique consiste à réduire la portée et donc le coût des normes de protection de la santé et de la sécurité au travail en en excluant sélectivement les groupes de salariés les plus faibles. Dans certains cas, les employés permanents et leurs représentants y consentent dans l’espoir de conserver ainsi le bénéfice de ces garanties et standards.
Notes
Wenn im Folgenden vereinfacht vom Management die Rede ist, sind konkret vorfindbare empirische Akteure aus dem Management gemeint.
Näheres zum Projekt findet sich unter www.grazil.net.
So haben die Leiharbeitsverbände und auch die zuständige Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG) zwar entsprechendes Handreichungsmaterial für die Gestaltung der Sicherheit in Entleihunternehmen entwickelt, dieses wird aber nicht oder kaum von den Leiharbeitsunternehmen verwendet. In keinem der untersuchten Betriebe wurde eine Arbeitsschutzvereinbarung zwischen Verleiher und Entleiher nach VBG-Formular abgeschlossen (Arbeitnehmerüberlassungsvertrag mit Arbeitsschutzvereinbarung der VBG).
Wenngleich der Erhebungszeitraum schon etwas zurückliegt, lassen sich damit eine Reihe von Arbeits- und Gesundheitsbedingungen identifizieren, die sich für Leiharbeitskräfte anders gestalten, als dies für die Stammbeschäftigten der Fall ist. Es ist davon auszugehen, dass die quantitativen und qualitativen Veränderungen in der Nutzung von Leiharbeit in diesen Daten erst schwach abgebildet werden. Die daraus resultierende Gesundheitssituation dürfte sich seit der schrittweisen Deregulierung von Leiharbeit seit Mitte der 1990er Jahre inzwischen verschärft haben.
Für eine Gegenüberstellung ist aus methodischen Gründen geboten, die Leiharbeitskräfte mit einer Gruppe von Nicht-Leiharbeitskräften zu vergleichen, die hinsichtlich ihrer wichtigsten soziodemografischen Merkmale ähnlich ist: Beschäftigte in Leiharbeit sind in der überwiegenden Mehrzahl männlich, jung und häufig ohne Berufsausbildung (vgl. Burda und Kvasnicka 2006; Nienhüser und Matiaske 2003). Aus dem Datensatz der BiBB-/BAuA-Erhebung wurde daher eine kontrollierte Zufallsauswahl von 3082 Nicht-Leiharbeitern gezogen, die eben diese Merkmale aufweist. Die auf diese Weise gewichtete Stichprobe anhand der Kriterien Geschlecht, Altersgruppenzugehörigkeit, höchster Berufsabschluss wird gematchte Nicht-Leiharbeitskräfte genannt.
Weitere Benachteiligungen ergeben sich im Hinblick auf die Umgebungsbelastungen (ausführlich dazu Becker et al. 2013).
In einigen Unternehmen wird diese Funktion auch FASi (Fachkraft für Sicherheit) genannt.
Eine ausdifferenziertere Darstellung der Aufgaben und Tätigkeiten der Sifa findet sich im Arbeitsschutzgesetz, § 76 und § 77.
Man denke nur an den signifikanten Anstieg psychischer Belastungen, der volkswirtschaftlich, aber auch betrieblich enorme Kosten produziert.
Diese Vereinbarung liegt der Autorin vor, kann aber aus Anonymisierungsgründen nicht veröffentlicht werden; stattdessen werden die Inhalte paraphrasiert wiedergegeben.
Oft sind es die überbetrieblichen Akteure, insbesondere die Gewerkschaften, die diese Missstände offenlegen und anprangern und zudem auf ihre Behebung z. B. durch tarifliche Absicherungen hinwirken. Diese können wiederum eine neue Machtressource für innerbetriebliche Auseinandersetzungen im Kampf gegen schlechte Arbeitsbedingungen sein.
Equal Treatment zielt – über Equal Pay hinausgehend – nicht nur auf pekuniäre, sondern auf weitergehende Gleichbehandlung von Leiharbeitern und Stammbeschäftigten.
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Becker, K. Macht und Gesundheit. Der informelle Handel um die Vernutzung von Arbeitskraft. Berlin J Soziol 25, 161–185 (2015). https://doi.org/10.1007/s11609-015-0275-x
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