Skip to main content
Log in

Kritik der Postdemokratie

Rancière und Arendt über die Paradoxien von Macht und Gleichheit

A critique of postdemocracy

Rancière and Arendt on the paradoxes of power and equality

  • Positionen, Begriffe, Debatten
  • Published:
Leviathan

Zusammenfassung

Der Artikel vergleicht Jacques Rancières Konzept der Postdemokratie mit Hannah Arendts Kritik der parlamentarisch-repräsentativen Mehrheits-Demokratie. Es wird gezeigt, dass beide ein Verständnis von Demokratie im Sinne einer souveränen, konsensorientierten Volksherrschaft ablehnen, das dem politischen Streit keinen Eigenwert bemisst und tendenziell technokratisch ist. Mit Arendt und über Rancière hinaus entwickelt die Verfasserin ein Konzept der Demokratie, das die Teilung der Macht als unverzichtbares Element der demokratischen Volksherrschaft bestimmt. Entsprechend ist jedes Demokratieverständnis postdemokratisch, das die paradoxen und selbstlimitierenden Effekte der Machtteilung negiert und das Modell souveräner Volksherrschaft als in sich grenzenlos verabsolutiert.

Abstract

The article compares Jacques Rancière’s concept of postdemocracy with Hannah Arendt’s critique of majoritarian representative parliamentary democracy. The article shows that both reject the idea of democracy as consensus-based popular sovereignty that neglects the value of political conflict and tends toward a technocratic understanding of politics. With Arendt and beyond Rancière, the author develops a concept of democracy in which sharing and dividing power is a constitutive element of popular rule. As a corollary, postdemocracy can be defined as any understanding of democracy that denies the paradoxical and self-limiting effects of shared and divided power, and instead promotes a model of unlimited popular sovereignty.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this article

Price excludes VAT (USA)
Tax calculation will be finalised during checkout.

Instant access to the full article PDF.

Notes

  1. Ich danke dem Frankfurter Arbeitskreis für politische Theorie und Philosophie, dem Diskussionskreis des Fachbereichs Philosophie der Universität St. Gallen, dem Rechtsphilosophischen Kreis der Universität Bern sowie Barbara von Reibnitz für ihre kritischen Kommentare zu früheren Versionen dieses Textes.

  2. Vgl. auch Rancière 2002, S. 118: „Heute dient die Gleichsetzung zwischen Demokratie und Rechtsstaat dazu, eine Herrschaft der Identität der Gemeinschaft mit sich selbst zu erzeugen“.

  3. Vgl. in diesem Sinn die kategorische These: „Die von der konsensuellen Gesellschaft beanspruchte Abschaffung des Unrechts ist identisch mit seiner Verabsolutierung.“ (Rancière 2002, S. 127)

  4. So schreibt Judith Butler über die ambivalente Funktion emanzipatorischer Identitätskategorien als Grundlagen einer feministischen Politik: „Dass solche Grundlagen nur existieren, um in Frage gestellt zu werden, ist gleichsam das ständige Risiko des Demokratisierungsprozesses. Diesen Protest abzulehnen hieße, den radikalen, demokratischen Impetus der feministischen Politik opfern.“ (Butler 1993, S. 51)

  5. Vgl. auch Arendt 2003, S. 20, wo es heißt, Platon spreche von der „Weltordnung, wenn er meint, von Politik zu sprechen“. Diese Lektüre ist vergleichbar mit jener von Rancière, der in Das Unvernehmen Platons Reduktion des Politischen auf ein begründendes Prinzip als „Archi-Politik“ kritisiert und als deren Endpunkt die „totale Beseitigung der Politik als spezifische Handlung“ bestimmt (Rancière 2002, S. 77 und S. 81).

  6. Ob diese grundsätzlich negative Einschätzung von Plebisziten überzeugend ist, kann hier offen bleiben. Theoretisch scheint es mir möglich, das Prinzip des Plebiszits mit den Anforderungen zu versöhnen, die eine anspruchsvolle Meinungsbildung verlangt. In diesem Sinn kann die Tradition regelmäßig abgehaltener Plebiszite wie auch das Recht der Bevölkerung, selber qua Referendums- und Initiativrecht Plebiszite einzufordern, wie in der Schweiz der Fall, die Bevölkerung gesamthaft ‚politisieren‘ und den Prozess einer kontinuierlichen Meinungsbildung fördern. Diese Frage kann an dieser Stelle aber offen bleiben, weil es Arendt nicht um die historische Einschätzung von Plebisziten geht, sondern um das grundsätzliche Spannungsverhältnis zwischen Meinungsbildung und politischem Entscheidungsprozess und um die Gefahr, die davon ausgeht, wenn letzterer als einzige Raison d’être der Demokratie auf Kosten der ersteren verabsolutiert wird. Diese Gefahr kann mit dem Plebiszit tatsächlich verbunden sein.

  7. Vgl. die enigmatische Formulierung in Rancière 2009, S. 13: „La démocratie, c’est la forme de pouvoir légitime qui porte en elle la réfutation de toute légitimité de l’exercice du pouvoir“, sowie Rancière 2002, S. 46: „Die Gleichheit schlägt in ihr Gegenteil um, sobald sie sich in einen Platz gesellschaftlicher oder staatlicher Organisation einschreiben will.“

  8. Vgl. Rancière 2002, S. 108: Die Demokratie ist keine „Gesamtheit von Institutionen oder ein Herrschaftstypus unter anderen [...]. Demokratie ist der Name einer singulären Unterbrechung dieser Ordnung“.

  9. Rancière führt diese Kritik in Bezug auf Agambens Rechtsbegriff. Er wirft diesem vor, den rechtlosen Ausnahmezustand als konstitutive Gewalt, die jeder Form von Staatlichkeit zugrundeliegt, zu universalisieren und damit historisch vielfältige Phänomene von Konflikt, Rechtlosigkeit und Unterdrückung zu entpolitisieren. Rancière zieht an dieser Stelle auch eine Parallele zwischen Agamben und Arendt.

  10. Auf diesen hohen Preis von Emanzipations- und Gleichstellungspolitiken hat der Differenzfeminismus schon früh aufmerksam gemacht.

  11. Historische Beispiele solcher „Bezirksrepubliken“ sind für Arendt die „Räte“, zu denen sie die US-amerikanischen Townhall-Meetings der Gründerzeit, die Clubs der Pariser Kommune um 1789 oder die Räte der Sowjets zählt; vgl. Arendt 1974, S. 306 ff.

  12. Das mag etwa erklären, warum Wählende nicht nur dann zur Urne gehen, wenn sie sicher sein können, dass ihre Kandidatin oder ihr Kandidat gewinnen werden, sondern auch dann, wenn deren Niederlage wahrscheinlich ist.

  13. Einschlägig für dieses Unsichtbar-Halten von Unfreiheitserfahrungen ist die Konzeptionalisierung ‚der Frau‘ von Aristoteles bis zu Kant, die deren Einschränkung politischer Macht als in der ‚Natur‘ der Frau liegende interpretiert und dadurch entpolitisiert. Dies gilt mutatis mutandis auch für die Konzepte des ‚Sklaven von Natur‘ von Aristoteles bis zum modernen Rassismus.

Literatur

  • Agamben, Giorgio. 2002. Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Allen, Amy. 1999. The power of feminist theory. Domination, resistance, solidarity. Boulder/Oxford: Westview Press.

    Google Scholar 

  • Arendt, Hannah. 1974. Über die Revolution, Neuausgabe. München: Piper (Erstveröff. 1965).

    Google Scholar 

  • Arendt, Hannah. 1981. Vita activa oder Vom tätigen Leben, Neuausgabe. München: Piper (Erstveröff. 1960).

    Google Scholar 

  • Arendt, Hannah. 1986. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. I. Antisemitismus. II. Imperialismus. III. Totale Herrschaft, ungekürzte Ausgabe. München: Piper (Erstveröff. 1955).

    Google Scholar 

  • Arendt, Hannah. 1996. Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, Hrsg. Ursula Ludz. München: Piper.

  • Arendt, Hannah. 2003. Denktagebuch 1950–1973, 2 Bde., Hrsg. Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann. München: Piper. (Erstveröff. 2002)

  • Buchstein, Hubertus, und Nullmeier, Frank. 2006. Einleitung: Die Postdemokratie-Debatte. Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 19 (4): 16–22.

    Google Scholar 

  • Butler, Judith. 1993. Kontingente Grundlagen. Der Feminismus und die Frage der „Postmoderne“. In Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Hrsg. Seyla Benhabib, Judith Butler, Drucilla Cornell, und Nancy Fraser, 31–58. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Butler, Judith, und Laclau, Ernesto. 1998. Gleichheiten und Differenzen. Eine Diskussion via E-Mail. In Das Undarstellbare der Politik. Zur Hegemonietheorie Ernesto Laclaus, Hrsg. Oliver Marchart, 238–253, Wien: Turia + Kant.

    Google Scholar 

  • Butler, Judith, und Spivak, Gayatri Chakravorty. 2007. Sprache, Politik, Zugehörigkeit. Zürich: diaphanes.

    Google Scholar 

  • Crouch, Colin. 2003. Postdemocrazia. Roma-Bari: Gius, Laterza & Figli.

    Google Scholar 

  • Crouch, Colin. 2008. Postdemokratie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Foucault, Michel. 2004. Geschichte der Gouvernementalität. 2 Bde., Hrsg. Michel Sennelart, Frankfurt a. M.: Suhrkamp

  • Hirsch, Michael. 2009. Libertäre Demokratie im neoliberalen Staat. Die Begriffe Staat, Politik, Demokratie und Recht im Poststrukturalismus und Postmarxismus der Gegenwart. In Der Staat in der Postdemokratie. Staat, Politik, Demokratie und Recht im neueren französischen Denken, Hrsg. Michael Hirsch und Rüdiger Voigt, 191–226. Stuttgart: Franz Steiner.

    Google Scholar 

  • Hirsch, Michael, und Voigt, Rüdiger. 2009. Der Staat in der Postdemokratie. Politik, Recht und Polizei im neueren französischen Denken. In Der Staat in der Postdemokratie. Staat, Politik, Demokratie und Recht im neueren französischen Denken, Hrsg. Michael Hirsch und Rüdiger Voigt, 11–15. Stuttgart: Franz Steiner.

    Google Scholar 

  • Honig, Bonnie. 1994. Agonaler Feminismus: Hannah Arendt und die Identitätspolitik. In Geschlechterverhältnisse und Politik. Hrsg. Institut für Sozialforschung, Frankfurt, 43–71. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

  • Jörke, Dirk. 2005. Auf dem Weg zur Postdemokratie. Leviathan 33 (4): 482–491.

    Article  Google Scholar 

  • Jörke, Dirk. 2010. Was kommt nach der Postdemokratie? Vorgänge 190 (2): 17–25.

    Google Scholar 

  • Marchart, Oliver. 2005. Neu beginnen. Hannah Arendt, die Revolution und die Globalisierung. Wien: Turia + Kant.

    Google Scholar 

  • Marti, Urs. 2006. Demokratie. Das uneingelöste Versprechen. Zürich: Rotpunkt.

    Google Scholar 

  • Meyer, Katrin. 2004. Die Kritik des souveränen Menschen und ihre Grenzen. Hannah Arendt: Denktagebuch 1950–1973. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52 (3): 492–496.

    Google Scholar 

  • Purtschert, Patricia, und Meyer, Katrin. 2010. Die Macht der Kategorien. Kritische Überlegungen zur Intersektionalität. Feministische Studien 1:130–142.

    Google Scholar 

  • Rancière, Jacques. 1995. La Mésentente. Politique et Philosophie. Paris: Galilée.

    Google Scholar 

  • Rancière, Jacques. 2002. Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Rancière, Jacques. 2004. Who is the subject of the rights of man? The South Atlantic Quarterly 103 (2–3): 297–310.

    Article  Google Scholar 

  • Rancière, Jacques. 2005. La haine de la démocratie. Paris: La Fabrique.

    Google Scholar 

  • Rancière, Jacques. 2008. Zehn Thesen zur Politik. Zürich: diaphanes.

    Google Scholar 

  • Rancière, Jacques. 2009. Insistances démocratiques: entretien avec Miguel Abensour, Jean-Luc Nancy et Jacques Rancière. Chantier 48:8–17.

    Google Scholar 

  • Rancière, Jacques. 2010. Demokratie und Postdemokratie. In: Badiou, Alain, und Rancière, Jacques: Politik der Wahrheit, Hrsg. von Rado Riha, 2. durchges. Aufl., 119–156. Wien, Berlin: Turia + Kant.

  • Randeria, Shalini. 2007. The state of globalization: Legal plurality, overlapping sovereignties and ambiguous alliances between civil society and the cunning state in India. Theory, Culture & Society, 24 (1): 1–33.

    Article  Google Scholar 

Download references

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Corresponding author

Correspondence to Katrin Meyer.

About this article

Cite this article

Meyer, K. Kritik der Postdemokratie. Leviathan 39, 21–38 (2011). https://doi.org/10.1007/s11578-010-0105-7

Download citation

  • Published:

  • Issue Date:

  • DOI: https://doi.org/10.1007/s11578-010-0105-7

Schlüsselwörter

Keywords

Navigation