1 Einleitung

Der Säkularisierungsprozess zählt zu den Megatrends moderner Gesellschaften, der sowohl in der medialen Berichterstattung als auch in der wissenschaftlichen Forschung nach wie vor auf große Aufmerksamkeit stößt. Zahlreiche Studien zeigen, dass der soziale Stellenwert der traditionellen christlichen Religionsformen in Deutschland und Europa sinkt, die Kirche und ihre Lehren zunehmend weniger akzeptiert werden und die Kirchenaustrittsraten – im Zuge der jüngsten Berichterstattung über Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche dramatisch – steigen (Ekd 2023; Hardy et al. 2019; Molteni und Biolcati 2018, 2023; Voas 2009).

Sogenannte Alters-Perioden-Kohorten(APK)-Analysen versuchen in diesem Zusammenhang, ein differenzierteres Bild des Säkularisierungsprozesses zu zeichnen und auf diesem Wege auch die zugrunde liegenden Mechanismen zu identifizieren. Eine erste Sichtweise besteht hier darin, dass die Religiosität ein Phänomen ist, das im Rahmen von Sozialisationsprozessen, die von der Kindheit bis ins junge Erwachsenenalter reichen, ausgeprägt wird und sich im weiteren Lebensverlauf nur wenig verändert. Säkularisierung wäre aus dieser Perspektive dadurch zu erklären, dass ältere, noch stärker religiös sozialisierte – und im vorliegenden Fall der Kirchenmitgliedschaft: getaufte – Personen zunehmend durch jüngere Kohorten mit geringerer Kirchenbindung ersetzt werden („cohort replacement“). Dominiert dieser Kohorten- oder Sozialisationsmechanismus (Ryder 1965), richtet sich der Blick zum Beispiel verstärkt auf die Effektivität des religiösen Transmissionsprozesses innerhalb der Familie (vgl. Molteni und Biolcati 2023).

Eine entgegengesetzte Sichtweise besteht jedoch darin, dass Personen ihre Religiosität, und hier insbesondere ihre Haltung zur Kirche, häufig im Lebensverlauf verändern. Säkularisierung wäre dann erstens in Form eines Periodeneffektes dadurch erklärbar, dass ursprünglich religiös sozialisierte und getaufte Personen sich zu bestimmten Zeitpunkten der Kalenderzeit dafür entscheiden, aus der Kirche auszutreten – zum Beispiel als Reaktion auf bestimmte zeithistorische Ereignisse wie Steuererhöhungen oder die Medienberichterstattung (z. B. Frick et al. 2021). Zweitens kann es zu altersinduzierten Veränderungen der Kirchenmitgliedschaft, d. h. zu Aus- oder (Wieder‑)Eintritten in eine Kirche kommen, die zum Beispiel mit Ereignissen im Erwerbs- oder Familienzyklus zusammenhängen. Wichtige Passagen, für die sich entsprechende Effekte finden, sind hier etwa der Auszug aus dem Elternhaus oder der Erwerbseintritt (z. B. Lois 2013). Zu einer Säkularisierung kann es in diesem Zusammenhang zum Beispiel dadurch kommen, dass sich lebenszyklische Negativanreize für eine Kirchenmitgliedschaft, wie etwa die Fälligkeit der Kirchensteuer beim Erwerbseintritt, mit fortschreitender Kalenderzeit oder in jüngeren Kohorten verstärken.Footnote 1

Die bisher vorliegenden Alters-Perioden-Kohorten(APK)-Analysen zur Entwicklung der Kirchenmitgliedschaft in Deutschland (Hardy et al. 2019; Lois 2011a) lassen, so die These dieses Beitrags, noch keine belastbare Antwort auf die Frage zu, welches Gewicht den genannten Säkularisierungsmechanismen zukommt. Dominieren Unterschiede zwischen Kohorten, also das „cohort replacement“, oder Veränderungen innerhalb von Kohorten, d. h. negative Perioden- oder (sich abschwächende) Alterseffekte? Muss der Blick also mehr auf Sozialisations- und Transmissionseffekte gerichtet werden oder auf Ereignisse in der Kalenderzeit oder im Lebensverlauf, die für die voranschreitende Säkularisierung maßgeblich verantwortlich sind?

Ein zentrales Defizit bisheriger Studien, das eine zufriedenstellende Antwort auf diese Fragen verhindert, ist methodischer Natur. Alle vorliegenden APK-Analysen zur Kirchenmitgliedschaft in Deutschland basieren auf sogenannten hierarchischen APK-Modellen. Diese führen jedoch in ihrer ursprünglich vorgeschlagenen Form, wie neuere Simulationsstudien gezeigt haben (Bell und Jones 2014; Lois 2019), zu einer zum Teil deutlichen Unterschätzung von Kohorteneffekten oder allgemein zu einer falschen Aufteilung zwischen der intergenerationalen Varianz (Kohorteneffekte) und der intragenerationalen Varianz (Alters- und Periodeneffekte). Das zentrale Ziel des vorliegenden Beitrags besteht vor diesem Hintergrund darin, die Daten der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage (ALLBUS) zu reanalysieren, neuste Daten bis ins Jahr 2021 einzubeziehen und dabei eine modifizierte Version des hierarchischen APK-Modells (nach Lois 2019) zu verwenden, das eine Unterschätzung von Kohorteneffekten vermeidet. Die auf dieser Basis gewonnenen, mutmaßlich valideren APK-Schätzer sollen auf theoretischer Ebene neue Erkenntnisse zum relativen Gewicht der diskutierten Säkularisierungsmechanismen erbringen.

Der Beitrag ist wie folgt gegliedert: Zunächst werden in Abschn. 2 zentrale offene Forschungsfragen zu den drei Dimensionen Alter, Periode und Kohorte erläutert. Anschließend folgt in den Abschn. 3 und 4 eine aktualisierte APK-Analyse zur Entwicklung der christlichen Kirchenmitgliedschaft in Deutschland, deren Ergebnisse in Abschn. 5 diskutiert werden.

2 Offene Forschungsfragen zu APK-Effekten bei der Entwicklung der Kirchenmitgliedschaft in Deutschland

2.1 Kohorteneffekte

Die zentrale Idee der hierarchischen APK-Modelle (HAPC) besteht darin, dass die befragten Personen auf Ebene 1 in die beiden – kreuztabulierten – zeitlichen Kontexte auf Ebene 2, Geburtskohorten und Kalenderjahre, eingebettet sind. In seiner ursprünglich vorgeschlagenen Form ist das HAPC-Modell wie folgt spezifiziert: Bei der abhängigen Variablen Yijk handelt es sich im vorliegenden Fall um die Mitgliedschaft in einer christlichen Kirche für Person i (bei i = 1, …, N Personen) innerhalb von Kalenderjahr j (bei j = 1, …, J Kalenderjahren) und Kohorte k (bei k = 1, …, K Kohorten). Ai und Ai2 bezeichnen das lineare bzw. quadrierte Alter.

$$\begin{array}{cc} \text{Ebene\ }1\colon & Y_{\mathrm{ijk}}=\alpha _{jk}+\beta _{1}A_{i}+\beta _{2}{A}_{i}^{2}+e_{\mathrm{ijk}} \end{array}$$
(1)
$$\begin{array}{cc} \text{Ebene\ }2\colon & \alpha _{jk}=\gamma _{0}+u_{0j}+c_{ok} \end{array}$$
(2)

Die Konstante αjk indiziert den Zellenmittelwert einer Perioden × Kohorten-Matrix für die Referenzgruppe bei mittlerem Alter in Jahr j und Kohorte k. β steht für die Level-1-„fixed effects“, d. h. für die Effekte des linearen und quadrierten Alters. eijk ist der individuelle Residualfehlerterm.

Auf Ebene 2 ist der „random intercept“ αjk wie folgt spezifiziert: γ0 ist die erwartete Wahrscheinlichkeit einer Kirchenmitgliedschaft zum Alter 0, gemittelt über Perioden und Kohorten; u0j ist der Periodeneffekt, definiert als residualer Zufallskoeffizient von Periode j, gemittelt über die Kohorten. Bei c0k handelt es sich um den Kohorteneffekt, definiert als residualer Zufallskoeffizient von Kohorte k, gemittelt über die Perioden. Für die periodenspezifischen und kohortenspezifischen Varianzkomponenten werden multivariate Normalverteilungen angenommen.

Mehrere Simulationsstudien haben gezeigt, dass dieses konventionelle HAPC-Modell dazu tendiert, den Kohorteneffekt zu unterschätzen und den Alterseffekt zu überschätzen. Die Problematik des Modells besteht darin, dass für die einzelnen Kohorten keine „fixed effects“ geschätzt werden, sondern lediglich die kohortenspezifische Varianz (mit Normalverteilungsannahme) als „random effect“ auf Level 2 spezifiziert wird. Dies führt regelmäßig dazu, dass eben jene kohortenspezifische Varianz nur unvollständig abgebildet und zudem aus dem Lebensalter nicht vollständig herauspartialisiert wird.Footnote 2

In Abb. 1, die zum Teil auf einer Idee von Verissimo (2022) basiert, ist das Problem grafisch visualisiert. Es handelt sich um sogenannte Venn- oder Überlappungsdiagramme. Teilabbildung b) bezieht sich auf das konventionelle HAPC-Modell. Die drei Kreise stehen für die Wahrscheinlichkeit einer Kirchenmitgliedschaft (abhängige Variable) sowie den Kohorten- und Alterseffekt als unabhängige VariablenFootnote 3, wobei die Kreisflächen allgemein analog für die Varianzen der Variablen stehen und die Schnittmengen entsprechend für Kovarianzen. So steht die Fläche e für den Teil der Wahrscheinlichkeit einer Kirchenmitgliedschaft, der nicht durch Alters- und Kohorteneffekte aufgeklärt wird (siehe den eijk-Term in Gl. 1) und die Flächen f und g stehen für die Varianzanteile der unabhängigen Variablen, die weder untereinander noch mit der abhängigen Variablen kovariieren.

Abb. 1
figure 1

Idealtypische Überlappungsdiagramme zum Vergleich verschiedener Schätzvarianten

Interessant sind im vorliegenden Fall vor allem die Teilflächen a, b und c. Durch die unvollständige Abbildung der kohortenspezifischen Varianz (als „random effect“-RE) im HAPC-Modell wird die Schnittmenge a (Kohorte*AV) unterschätzt, d. h. der kohortenspezifische Beitrag zur Erklärung der AV ist zu gering. Gleichzeitig wird durch die fehlende Herauspartialisierung die Schnittmenge c (Kohorte*Alter) unterschätzt, die in APK-Analysen typischerweise groß ist: Ältere Personen gehören älteren Geburtskohorten an und vice versa. In der Folge ist auch Schnittmenge b (Alter*AV) zu groß, d. h. der Alterseffekt wird überschätzt.

Lois (2019) hat zur Lösung des Problems eine Modifikation des ursprünglichen HAPC-Modells vorgeschlagen: Die Kohorten-Dimension wird dabei als konventioneller „fixed effect“ modelliert und die Perioden-Dimension verbleibt als einziger „random effect“ auf Level 2. Formal verändert sich die Level-2-Gleichung gegenüber Gl. 2 wie folgt, wobei \(\overline{A_{k}}\) für die Altersmittelwerte der Kohorten steht, die als „fixed effect“ geschätzt werden:

$$\begin{array}{cc} \text{Ebene\ }2\colon & \alpha _{jk}=\gamma _{0}+{\beta _{3}}\overline{A_{k}}+u_{0j} \end{array}$$
(3)

Diese Modifikation führt theoretisch zu einer vollständigen Abbildung der kohortenspezifischen Varianz und zu einer korrekten Partialisierung der Alters- und Kohorteneffekte. In Abb. 1 sind in Teilabbildung a) entsprechend die Schnittmengen a (eigenständiger Kohorteneffekt) und c (Partialisierungsbereich) größer sowie die Schnittmenge b (eigenständiger Alterseffekt) kleiner. Empirisch ist dieses sogenannte HAPC-FC-Modell („FC“ für „fixed cohort“) dem konventionellen HAPC-Modell nach Simulationsstudien von Lois (2019) überlegen.

Wie ist nun vor diesem Hintergrund der Forschungsstand zur kohortenspezifischen Entwicklung der kirchlichen Religiosität einzuschätzen? Alle bisher vorliegenden APK-Analysen für Deutschland (Hardy et al. 2019; Lois 2011a) und Europa (Molteni und Biolcati 2023) basieren auf dem konventionellen HAPC-Modell.Footnote 4 Lois (2011a) nutzt ALLBUS-Wellen der Jahre 1980–2008 und berichtet für die alten Bundesländer einen auffallend schwachen Kohorteneffekt ohne klaren Trend. Für die neuen Bundesländer ist zudem praktisch kein Kohorteneffekt feststellbar. Hardy et al. (2019) harmonisieren und matchen Daten von 11Footnote 5 nationalen Surveys und erweitern den Beobachtungszeitraum dadurch auf 1949–2013. Auch Hardy et al. (2019) identifizieren eher schwache Kohorteneffekte: Die Wahrscheinlichkeit einer Kirchenmitgliedschaft liegt für die westdeutschen Kohorten 1910–1939 etwas über und für die Geburtsjahrgänge 1945–1969 sowie für die jüngste Kohorte 1990–1996 signifikant unter dem allgemeinen Durchschnitt. Für die neuen Bundesländer wird deutlich, dass sich die Geburtsjahrgänge 1950–1964, die innerhalb eines verfestigten DDR-Staates sozialisiert wurden, durch eine besonders geringe Wahrscheinlichkeit einer Kirchenmitgliedschaft auszeichnen. Relativ betrachtet sind sowohl bei Lois (2011a) als auch bei Hardy et al. (2019) die Periodeneffekte deutlich stärker als die Kohorteneffekte.Footnote 6

Diese Befunde sind aus theoretischer Perspektive insofern überraschend, da die Säkularisierung der modernen Gesellschaft von vielen Autoren vor allem darauf zurückgeführt wird, dass sich die religiöse Sozialisation in der Generationenfolge abschwächt. So ist z. B. den Ansätzen von Bruce (2002), Wilson (1982), Martin (1978) oder Dobbelaere (2002) die Annahme gemeinsam, dass Religion und Kirche im Zuge der Säkularisierung oder der fortschreitenden Entkopplung von Staat und Kirche ihren Einfluss auf die zentralen Sozialisationsagenturen der Gesellschaft (z. B. das Bildungssystem) verlieren und sich die Bindung an Religion aufgrund der von Generation zu Generation nachlassenden religiösen Sozialisation abbaut (vgl. auch Pickel 2011, S. 137–177). Auch zeithistorisch lassen sich sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern bestimmte Geburtskohorten benennen, für die besonders negative Sozialisationseffekte auf die Kirchenbindung zu erwarten sind. In den alten Bundesländern trifft dies z. B. auf die Geburtsjahrgänge 1946–1964 zu, die verstärkt vom Wertewandel im Zuge der 68er-Generation betroffen waren und für die neuen Bundesländer insbesondere für die Jahrgänge 1946–1960, die innerhalb eines gefestigten DDR-Staates mit seinen kirchlichen Repressionsmaßnahmen im Rahmen der „erzwungenen Säkularisierung“ (Meulemann 2003; Stolz et al. 2021) sozialisiert wurden (vgl. ausführlich hierzu Lois 2011a; Hardy et al. 2019).

Insgesamt drängt sich somit der Verdacht auf, dass der Widerspruch zwischen der theoretischen Bedeutsamkeit des kohortenspezifischen Sozialisationsmechanismus einerseits und den empirisch eher schwachen Kohorteneffekten bei Lois (2011a) und Hardy et al. (2019) andererseits, auf das beschriebene Konstruktionsproblem des konventionellen HAPC-Modells zurückzuführen ist, d. h. dass die Kohorteneffekte in diesen Studien unterschätzt wurden.

2.2 Periodeneffekte

Nach den Simulationen von Bell und Jones (2014, 2018) sowie Lois (2019) tendiert das konventionelle HAPC-Modell dazu, Periodeneffekte zu überschätzen. Diese Überschätzung ist zwar nicht so ausgeprägt wie die Unterschätzung der Kohorteneffekte, könnte jedoch in den Studien von Lois (2011a) sowie Hardy et al. (2019) fälschlicherweise den Eindruck verstärkt haben, dass es sich beim Säkularisierungsprozess vorwiegend um einen Einstellungswandel innerhalb derselben Personen über die Zeit handelt.

Bei näherer Betrachtung fällt weiterhin auf, dass alle Periodeneffekte, die in den bisher zitierten APK-Analysen berichtet wurden, ein typisches Muster aufweisen: Sie folgen einem relativ gleichmäßigen, negativen Trend und weisen kaum Ausschläge auf, die sich systematisch mit für die Kirchenmitgliedschaft mutmaßlich bedeutsamen zeithistorischen Ereignissen, wie z. B. der Einführung des Solidaritätszuschlags im Jahr 1995, in Verbindung bringen lassen. Dies erweckt den Eindruck, als folge der periodenspezifische Säkularisierungstrend eher gesellschaftlichen Globaltrends wie Bildungsexpansion, Wertewandel oder Veränderungen der Sozialstruktur (z. B. zunehmende Frauenerwerbsbeteiligung), die sich weniger sprunghaft als kontinuierlich vollziehen.

Allerdings finden sich in anderen Studien Hinweise darauf, dass sich auch zeithistorische Einzelereignisse auf die Austrittsraten aus den christlichen Kirchen in Deutschland auswirken. Frick et al. (2021) analysieren Kirchenaustritte aus der evangelischen Kirche insgesamt und für 28 katholische Diözesen im Zeitraum 1958–2017 auf der Aggregatebene mit Paneldaten-Modellen. Neben einem allgemein negativen Trend der Kalenderzeit finden sie positive Effekte auf die Austrittsraten für die Jahre 1995 (Solidaritätszuschlag), 2010 (Berichterstattung über Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche) und 2014 (Finanzskandal im Bistum Limburg) sowie Rückgänge der Austrittsrate in den Jahren 1968 („Humanae-Vitae“-Enzyklika) sowie 1978 und 2005 (Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI). „Spillover“-Effekte sind hier insofern zu beobachten, als sich z. B. die Ereignisse der Jahre 1978 und 2005 (Papstwahlen) oder 2014 (Limburg-Skandal) auch auf die Austrittsraten aus der evangelischen Kirche auswirken. Der stärkste Effekt eines Einzelereignisses ist insgesamt für den Finanzskandal in Limburg im Jahr 2014 festzustellen, gefolgt von der Missbrauchsberichterstattung im Jahr 2010.

Auch wenn sich derartige Aggregatbefunde nicht unmittelbar auf die Individualebene (ökologischer Fehlschluss) oder in ein APK-Framework übertragen lassen, stellt sich doch die Frage, warum in den bisherigen APK-Analysen kaum systematische Ausschläge des Periodeneffekts in den betreffenden Jahren zu beobachten sind. In der vorliegenden Studie wird mit den neusten Daten (ALLBUS-Welle 2021) zu überprüfen sein, ob dies auch noch für die jüngste Vergangenheit gilt. Die mediale Berichterstattung über Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche hat, nach einem ersten Peak im Jahr 2010, um das Jahr 2019 noch einmal deutlich zugenommenFootnote 7, wie eine in Abb. 2 dargestellte Datenbankrecherche belegt. Auch angesichts der offiziell berichteten AustrittszahlenFootnote 8, die ab 2019 für beide Konfessionen dramatisch ansteigen, wäre es überraschend, wenn sich nicht auch in einer APK-Analyse eine beschleunigte periodenspezifische Säkularisierung feststellen ließe.

Abb. 2
figure 2

Absolute Anzahl von Presseberichten zu den Schlagwörtern „Missbrauch“ und „katholische Kirche“ laut der Datenbank „wiso Sozialwissenschaften“. Anmerkungen: Wiso-Datenbank erreichbar unter https://www.wiso-net.de/dosearch; keine Einträge vor 1990

2.3 Alterseffekte

Intragenerationale Unterschiede innerhalb von Geburtskohorten umfassen neben den Einflüssen der Kalenderzeit darüber hinaus Alterseffekte, d. h. systematische Veränderungen der Kirchenmitgliedschaft durch Aus- und (Wieder‑)Eintritte in eine Kirche, die sich z. B. im Erwerbs- und Familienzyklus verorten lassen. Das bisherige Befundmuster ist hier recht einheitlich. Sowohl Hardy et al. (2019) als auch Lois (2011a) finden mit HAPC-Modellen ein moderat ausgeprägtes, u‑förmiges Verlaufsmuster für die alten Bundesländer und einen überraschend starken, positiven Alterseffekt auf die Kirchenbindung in den neuen Bundesländern. Molteni und Biolcati (2023) berichten zudem auf europäischer Ebene davon, dass sich die Kirchgangshäufigkeit in Europa bei über 60-jährigen Befragten, verglichen mit Befragten bis 60 Jahre, verstärkt. Wie bereits in Abschn. 2.1 diskutiert wurde, tendiert das konventionelle HAPC-Modell jedoch nicht nur dazu, Kohorteneffekte zu unterschätzen, sondern gleichzeitig auch zu einer deutlichen Überschätzung von Alterseffekten. Insofern besteht die Möglichkeit, dass bisherige HAPC-Analysen ein falsches Bild von der Lebensverlaufsdynamik der kirchlichen Religiosität gezeichnet haben.

Zur Klärung der Frage, ob die diskutierten Alterseffekte entweder kausal sind oder statistische Artefakte darstellen, sind vor allem Panelanalysen geeignet. Die bisherige, eher spärliche Längsschnittforschung zur Entwicklung der Kirchenmitgliedschaft im Lebensverlauf liefert hier durchaus belastbare Hinweise auf altersspezifische Veränderungen. So zeigt sich vorwiegend in den alten Bundesländern ein allgemein u‑förmiges Verlaufsmuster über das Lebensalter. Lois (2013, S. 135–161) findet hier negative Effekte des Auszugs aus dem Elternhaus, des Erwerbseintritts sowie der Scheidung und positive Effekte für Kinder (ab 5 Jahren) und den Übergang in eine Verwitwung auf die Wahrscheinlichkeit einer Kirchenmitgliedschaft. Insofern ist die Altersdimension innerhalb des APK-Frameworks nicht nur als unbedeutende Störgröße aufzufassen (vgl. Molteni und Biolcati 2023), sondern inhaltlich und in der empirischen Modellierung ernst zu nehmen.

Gleichwohl ist die Stärke der Alterseffekte auf die Kirchenmitgliedschaft nach den vorliegenden Panelanalysen begrenzt. In den SOEP-Daten zur Kirchenmitgliedschaft entfallen drei Viertel der Varianz auf Unterschiede zwischen Personen und nur ein Drittel auf Varianz innerhalb von Personen, die durch Alters- und Periodeneffekte adressiert werden könnte. Lois (2013, S. 119) resümiert daher, dass es sich bei der kirchlichen Religiosität um ein zeitlich relativ stabiles und träges Merkmal handelt und der religiösen Sozialisation somit ein hoher Stellenwert zukommt.

Ferner scheint sich ein indirekter Säkularisierungsmechanismus, der in der empirischen Forschung nur selten beachtet wird, darin zu äußern, dass sich Alterseffekte mit fortschreitender Kalenderzeit oder in der Kohortenfolge verändern, dass also Interaktionseffekte „Alter × Periode“ bzw. „Alter × Kohorte“ bestehen. Die APK-Analyse von Lois (2011a) sowie die Panelanalysen von Lois (2011b, 2013, S. 95 ff.) deuten hier insgesamt darauf hin, dass sich die lebensverlaufsspezifischen Einflüsse zur Stärkung der Kirchenbindung mit fortschreitender Kalenderzeit abschwächen. Dies äußert sich z. B. durch eine Abschwächung positiver Alterseffekte auf die Kirchgangshäufigkeit über die historische Zeit (Lois 16,17,a, b).

2.4 Zusammenfassende Forschungsfragen

Insgesamt besteht das Ziel der nachfolgenden empirischen APK-Analysen, die sich sowohl auf aktuellere Daten als auch auf revidierte, mutmaßlich validere APK-Modelle stützen sollen, in der Klärung folgender Fragen:

  • Wurden Kohorteneffekte in bisherigen APK-Analysen zur Entwicklung der Kirchenmitgliedschaft in Deutschland aus methodischen Gründen („random effects assumption“ im HAPC-Modell) unterschätzt?

  • Sind auch die bisher berichteten Periodeneffekte nicht valide, da sie einerseits überschätzt wurden und zum anderen kaum signifikante Ausschläge in für die Kirchenmitgliedschaft bedeutsamen Kalenderjahren zeigen?

  • Überschätzen bisherige APK-Analysen schließlich Alterseffekte auf die Entwicklung der Kirchenmitgliedschaft und schwächen sich positive Alterseffekte mit fortschreitender Kalenderzeit oder in jüngeren Kohorten ab?

3 Daten und Methode

Die folgenden Analysen basieren auf allen ALLBUS-Wellen im Zeitraum 1980–2021 (GESIS 2021, 2023). Da die Grundgesamtheit des ALLBUS aus Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit oder in späteren Wellen ab 1991 aus Personen mit ausreichenden Deutschkenntnissen besteht, ist die Datengrundlage weniger gut für Analysen zu nichtchristlichen Religionsgemeinschaften geeignet. Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, bei denen diese Glaubensgemeinschaften überrepräsentiert sind, werden daher ausgeschlossen. Die abhängige Variable nimmt somit den Wert „1“ an für Personen, die der katholischen Kirche, der evangelischen Kirche oder einer anderen christlichen Religionsgemeinschaft angehören und den Wert „0“ für Personen ohne Kirchenmitgliedschaft.

Im Hinblick auf das Auswertungsverfahren werden im Folgenden, wie in Abschn. 2.1 diskutiert, zwei Varianten berechnet: das HAPC-Modell in seiner ursprünglichen Form (Yang und Land 2006, 2008, 2013) und die von Lois (2019) modifizierte Variante (HAPC-FC).

Alle Modelle werden anstelle eines Logit-Modells als lineare Wahrscheinlichkeitsmodelle (LPM; Hellevik 2009) berechnet und basieren anstelle von Maximum Likelihood auf einer Bayes-Schätzung nach dem Markov-Chain-Monte-Carlo-Verfahren (Brown und Prescott 2006). Für das LPM spricht, dass die s‑förmige Funktion des Logit-Modells inhaltlich nicht zur vorliegenden Fragestellung passt und das LPM zudem wesentlich leichter darstellbar und interpretierbar ist. Das Bayes-Verfahren führt zudem auch bei einer relativ kleinen Anzahl von Geburtskohorten und Kalenderzeitpunkten zu robusten Schätzungen.

Der Alterseffekt wird mithilfe des linearen und, falls statistisch signifikant, des quadrierten Alters modelliert, um nichtlineare Effekt abbilden zu können. Im Hinblick auf den Periodeneffekt sind für die alten Bundesländer 24 und für die neuen 16 Messzeitpunkte (respektive ALLBUS-Wellen) vorhanden. Weiterhin werden 18 Geburtskohorten gebildet, die, abgesehen von den Rändern, jeweils fünf Geburtsjahrgänge zusammenfassen.

4 Ergebnisse

4.1 Kohorteneffekte

Anstelle des relativ umfangreichen Tabellen-Outputs werden die APK-Analysen grafisch präsentiert.Footnote 9 Die y‑Achse der Abbildungen entspricht der Wahrscheinlichkeit, Mitglied in einer christlichen Kirche zu sein. Dargestellt werden Nettoeffekte der jeweiligen Zeitdimension. Diese sind wie folgt zu interpretieren: Wie würde sich die Wahrscheinlichkeit für eine Kirchenmitgliedschaft entwickeln, wenn ausschließlich der entsprechende Alters‑, Perioden- oder Kohorteneffekt für diese Veränderungen verantwortlich wäre? Die mit der statistischen Schätzung verbundene Unsicherheit kommt durch die sogenannten 95 %-Glaubwürdigkeitsintervalle (Bayes-„Credible Interval“) zum Ausdruck, die den gesuchten Parameter mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 % enthalten.

Beginnen wir mit den Kohorteneffekten für die alten und neuen Bundesländer in Abb. 3. Dargestellt sind jeweils die Ergebnisse des mutmaßlich verzerrten HAPC-Modells für die alten sowie die neuen Bundesländer sowie die Schätzungen auf Basis des wahrscheinlich valideren HAPC-FC-Modells.

Abb. 3
figure 3

Multivariate Kohorteneffekte auf die Wahrscheinlichkeit einer christlichen Kirchenmitgliedschaft (Punktschätzer mit 95 %-Credible-Interval). Anmerkungen: Quelle: ALLBUS 1980–2021 (n = 51.605 [alte BL] bzw. n = 18.038 [neue BL]), eigene Berechnungen. Basierend auf nicht dargestellten linearen Bayes-Multilevel-Modellen

Abbildung 3 offenbart deutliche Unterschiede zwischen den beiden Schätzvarianten. Das HAPC-Modell zeigt einen relativ flachen Kohortentrend mit einem deutlicheren Rückgang im Umfeld der „APO-Generation“ (1946–1953, Klein und Pötschke 2004) sowie einer anschließenden Seitwärtsentwicklung. Das HAPC-FC-Modell führt dagegen zu anderen Schlussfolgerungen.Footnote 10 Die Wahrscheinlichkeit der Kirchenmitgliedschaft ist erstens, gegenüber dem HAPC-Modell, in den älteren Kohorten (Vorkriegs- bis Kriegs‑/Nachkriegsgeneration, 1895–1934) deutlich stärker ausgeprägt. Der zweite wesentliche Unterschied besteht darin, dass der mit der „Adenauer-Generation“ (1935–1945) und der APO-Generation einsetzende, beschleunigte Säkularisierungstrend nicht abbricht, sondern sich bis zur Kohorte 1981–1985 („Kohorte Y“) ungebremst fortsetzt.Footnote 11 Insbesondere an den Rändern fallen das HAPC- und das HAPC-FC-Modell folglich auseinander. Das konventionelle HAPC-Modell, auf dem alle bisherigen in Abschn. 2 zitierten APK-Analysen basieren, unterschätzt sowohl die hohe Kirchenbindung älterer Kohorten als auch die unverminderte Stärke des kohortenspezifischen Säkularisierungstrends in jüngeren Kohorten.

In den neuen Bundesländern zeigen sowohl das HAPC- als auch das HAPC-FC-Modell einen u‑förmigen Kohortentrend, wobei das geringste Ausmaß der Kirchenbindung erwartungsgemäß etwa für die Kohorten 1941–1965 zu beobachten ist, die in einem sich etablierenden oder verfestigten DDR-Staat sozialisiert wurden und von der erzwungenen Säkularisierung der 1950er-Jahre verstärkt betroffen waren. Wiederum ist allerdings der Kohorteneffekt im HAPC-FC-Modell sichtbar stärker als im HAPC-Modell und führt auch zu etwas anderen inhaltlichen Schlussfolgerungen, insbesondere an den Rändern des Kohortenspektrums. Laut dem HAPC-FC-Modell ist zum einen wiederum die Kirchenbindung der ältesten Ost-Kohorten deutlich stärker ausgeprägt (linker Rand). Bei den jüngsten Kohorten wird zum anderen der durch das HAPC-Modell erweckte Eindruck, es komme zu einer „religiösen Wiederbelebung“ in den Nachwendekohorten (vgl. Lois 2011a), durch das HAPC-FC-Modell weniger deutlich unterstützt. Während die Wahrscheinlichkeit der Kirchenmitgliedschaft im HAPC-Modell in den jüngsten Ost-Kohorten praktisch wieder das Ausgangsniveau der ältesten Jahrgänge erreicht, bleibt das Ausmaß der Kirchenbindung in den jüngsten Kohorten gemäß des HAPC-FC-Modells deutlich dahinter zurück.

4.2 Periodeneffekte

In Abb. 4 sind im nächsten Schritt die Periodeneffekte dargestellt. Allgemein lässt sich feststellen, dass die negativen Periodeneffekte sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern im HAPC-Modell stärker ausfallen als im HAPC-FC-Modell. Gemäß der in Abschn. 2.1 besprochenen Simulationsergebnisse bestätigt sich somit insgesamt die Erwartung, dass Periodeneffekte bei der Entwicklung der kirchlichen Religiosität in Deutschland bisher überschätzt wurden.

Abb. 4
figure 4

Multivariate Periodeneffekte auf die Wahrscheinlichkeit einer christlichen Kirchenmitgliedschaft (Punktschätzer mit 95 %-Credible-Interval). Anmerkungen: Quelle: ALLBUS 1980–2021 (n = 51.605 [alte BL] bzw. n = 18.038 [neue BL]), eigene Berechnungen. Basierend auf nicht dargestellten linearen Bayes-Multilevel-Modellen

Weiterhin schlagen sich gemäß dem HAPC-FC-Model die in Abschn. 2.2 besprochenen Einzelereignisse bis zum Jahr 2014 zumindest nicht konsistent in entsprechenden Ausschlägen der Kurve nieder. Ein negativer Effekt der „Soli-Einführung“ 1995 ist allenfalls durch einen leichten „Knick“ nach unten in den alten Bundesländern erkennbar. Zu einem positiven „Papst-Wahl-Effekt“ im Jahr 2005 passt der positive Ausschlag in den neuen Bundesländern, der jedoch in den alten Bundesländern nicht zu beobachten ist. Verstärkte Rückgänge der Kirchenbindung um das Jahr 2010 (Missbrauchs-Berichterstattung) lassen sich insgesamt nicht beobachten. Nach dem Jahr 2014 und damit der Berichterstattung über den Finanzskandal im Bistum Limburg und der ab 2017 deutlich zunehmenden Berichterstattung über Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche (siehe Abb. 2) kommt es, auch korrespondierend mit der deutlichen Zunahme der offiziell berichteten Austrittszahlen, in den alten Bundesländern zu einer sichtbaren Verstärkung des negativen Periodeneffektes. Dieses beschleunigte Säkularisierungstempo nach dem Jahr 2014 ist innerhalb des hier betrachteten Beobachtungszeitraums einmalig. In den neuen Bundesländern ist eine entsprechende Abwärtsentwicklung ebenfalls beobachtbar, jedoch deutlich schwächer ausgeprägt.

4.3 Alterseffekte

Den Abschluss der empirischen Analysen bilden Alterseffekte in Abb. 5. Für die alten Bundesländer bestätigen beide Modellvarianten ein u‑förmiges Verlaufsmuster, wonach die Wahrscheinlichkeit einer Kirchenmitgliedschaft ab der Postadoleszenz bis etwa zur Mitte des sechsten (HAPC) oder fünften (HAPC-FC) Lebensjahrzehnts zurückgeht, um anschließend wieder leicht anzusteigen. Der Rückgang beim Übergang in die Postadoleszenz lässt sich mit Ereignissen wie dem Auszug aus dem Elternhaus und vor allem dem Erwerbseintritt (Kirchensteuereffekte) in Verbindung bringen (Birkelbach 1999; Lois 2013) und der Wiederanstieg mit Ereignissen im Familienzyklus wie Heirat und Familiengründung (Lois 2013). In den neuen Bundesländern fällt der Alterseffekt nicht u‑förmig aus, sondern linear-positiv.

Abb. 5
figure 5

Multivariate Alterseffekte auf die Wahrscheinlichkeit einer christlichen Kirchenmitgliedschaft (vorhergesagte Altersfunktionen). Anmerkungen: Quelle: ALLBUS 1980–2021 (n = 51.605 [alte BL] bzw. n = 18.038 [neue BL]), eigene Berechnungen. Basierend auf nicht dargestellten linearen Bayes-Multilevel-Modellen

Der Vergleich der beiden Schätzvarianten (HAPC und HAPC-FC) führt zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Unerwartet ist, dass der Alterseffekt in den alten Bundesländern, d. h. hier vor allem der vorrübergehende Rückgang der Kirchenbindung zwischen Postadoleszenz und Lebensmitte, durch das konventionelle HAPC-Modell unter- und nicht wie erwartet überschätzt wird. So beträgt die Reduzierung der Wahrscheinlichkeit für eine Kirchenmitgliedschaft laut dem HAPC-Modell zwischen dem 18. Lebensjahr und dem 48. Lebensjahr, dem Wendepunkt der Funktion, lediglich 6,5 Prozentpunkte. Beim HAPC-FC-Modell fällt der Rückgang zwischen dem 18. und 64. Lebensjahr dagegen mit 14,4 Prozentpunkten stärker aus.

In den neuen Bundesländern überschätzt das konventionelle HAPC-Modell dagegen erwartungsgemäß den Alterseffekt deutlich. Hier erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, Mitglied einer Kirche zu sein, laut dem HAPC-Modell zwischen dem 18. und 80. Lebensjahr um 30,7 Prozentpunkte, wohingegen dieser Anstieg gemäß dem HAPC-FC-Modell lediglich 17,8 Prozentpunkte beträgt. Dennoch ist auch der schwächere, durch das HAPC-FC-Modell geschätzte Alterseffekt für die neuen Bundesländer statistisch signifikant.Footnote 12

Ein modellierungstechnischer Vorteil des HAPC-FC-Modells besteht ferner darin, dass sich Interaktionseffekte zwischen dem Alter und der Kohorte, die beide als „fixed effects“ geschätzt werden, berechnen lassen. Hierzu wurde die Kohortenvariable in einem zusätzlichen Modell in ordinaler Form mit dem linearen und quadrierten Lebensalter interagiert. Beide Interaktionen sind (allerdings nur in den alten Bundesländern) statistisch signifikant. Was diese Wechselwirkungen inhaltlich bedeuten, ist in Abb. 5 durch zwei weitere, exemplarisch ausgewählte Alterseffekte dargestellt, die sich auf die beiden jüngeren westdeutschen Kohorten 1971–1975 sowie 1991–2002 beziehen.Footnote 13 Neben einer Verschiebung auf der y‑Achse nach unten beim Startpunkt im 18. Lebensjahr (Kohorteneffekt, vgl. Abb. 3) wird hier deutlich, dass der Rückgang der Kirchenbindung nach dem 18. Lebensjahr in jüngeren Kohorten immer ausgeprägter wird. Dies steht im Einklang mit Panelanalysen (Lois 2011b, 2013) und ist ein direkter Hinweis darauf, dass sich die Kirchenbindung getaufter und religiös sozialisierter Jugendlicher im Zuge der Abnabelung von den Eltern immer stärker abschwächt, die religiöse Sozialisation im Elternhaus also zunehmend an Effektivität und Persistenz verliert.

5 Diskussion

Die empirischen Analysen im vorliegenden Beitrag haben gezeigt, dass der Forschungsstand zu APK-Effekten bei der Entwicklung der Kirchenmitgliedschaft in Deutschland teilweise korrigiert werden muss. Der dominierende „Motor“ des Säkularisierungsprozesses in Deutschland sind nicht, wie frühere Studien (Lois 2011a; Hardy et al. 2019) suggeriert haben, Perioden-, sondern Kohorten- bzw. Sozialisationseffekte. Diese Schlussfolgerung gilt zumindest bis ins Jahr 2014. Während sich z. B. die Wahrscheinlichkeit einer Kirchenmitgliedschaft nach dem HAPC-FC-Modell in den alten Bundesländern zwischen 1982 und 2014 um 4 Prozentpunkte und in den neuen Bundesländern zwischen 1991 und 2014 um 7,4 Prozentpunkte abschwächt, betragen die kohortenspezifischen Rückgänge 25 Prozentpunkte (West, Kohorten 1911–1915 vs. 1981–1985) bis knapp 40 Prozentpunkte (Ost, Kohorten 1891–1910 vs. 1956–1960). Auch unter Einbeziehung der unterschiedlichen zeitlichen Spannweiten sind die Kohorteneffekte nach dem HAPC-FC-Modell damit stärker. Das konventionelle HAPC-Modell suggeriert dagegen stärkere und wahrscheinlich zu hohe Periodeneffekte und deutlich schwächere und zu geringe Einflüsse der Geburtskohorte.

Das HAPC-FC-Modell erlaubt mit seinen mutmaßlich valideren Schätzern zudem eine fundiertere Beantwortung der Frage, in welchen historischen Kontexten sich die berichteten Kohorteneffekte vollziehen. In den alten Bundesländern nimmt der Säkularisierungsprozess im Zuge der 68er-Bewegung mit der Adenauer-Generation (1941–1945) und der APO-Generation (1946–1953) Fahrt auf und setzt sich, entgegen früheren Ergebnissen, bis in die jüngsten Kohorten in fast ungebremstem Tempo fort. In den neuen Bundesländern ist der Kohorteneffekt noch ausgeprägter. Die besonders geringe Kirchenbindung der Geburtsjahrgänge 1941–1965 unterstreicht hier die historische Einmaligkeit der „erzwungenen Säkularisierung“ in der DDR, die einen dauerhaften „Fußabdruck“ im Kohortenspektrum hinterlassen hat (Meulemann 2003; Stolz et al. 2021). In den revidierten APK-Analysen finden sich zudem, im Gegensatz zu den Befunden von Lois (2011a), keine deutlichen Hinweise auf eine religiöse Wiederbelebung in den Nachwendekohorten der neuen Bundesländer. Es ist allenfalls festzustellen, dass sich der starke Säkularisierungsdruck, der für die in der DDR sozialisierten Kohorten festzustellen ist, ab der Kohorte 1966–1970 leicht abschwächt.

Der vorliegende Befund, dass Kohorteneffekte in bisherigen APK-Analysen unterschätzt wurden, sollte jedoch nicht dahingehend fehlinterpretiert werden, dass Alters- und Periodeneffekte, d. h. Veränderungen innerhalb von Kohorten, für die Kirchenmitgliedschaft unbedeutend wären. Nach dem Jahr 2014 ist, insbesondere in den alten Bundesländern, eine deutliche Verstärkung des negativen Periodeneffekts sichtbar, die höchstwahrscheinlich mit der medialen „Skandalberichterstattung“ – Finanzskandal im Bistum Limburg und vor allem Berichterstattungswelle über Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche um das Jahr 2019 – zusammenhängt. Zusätzlich verstärkt sich, wiederum in den alten Bundesländern, in jüngeren Kohorten die Abschwächung der Kirchenbindung beim Übergang in die Postadoleszenz, d. h. der negative Alterstrend zwischen dem 18. und 40. Lebensjahr wird zunehmend ausgeprägter.

Die aktuelle Entwicklung der Kirchenmitgliedschaft lässt sich damit, zum Nachteil der christlichen Kirchen in Deutschland, durch drei parallel wirkende Mechanismen kennzeichnen, die das Säkularisierungstempo weiter erhöhen: Ungebrochen negative Kohorteneffekte gehen mit sich jüngst verstärkenden, negativen Periodeneffekten sowie einer zunehmenden Abkopplung von der Kirche beim Übergang in die Postadoleszenz einher.