Zusammenfassung
Die Einführung des 9‑Euro-Tickets (9ET) im Sommer 2022 stellte für Politik und Forschung ein aufschlussreiches Realexperiment dar. Wir untersuchen auf Basis von Daten aus einer bundesweiten Online-Befragung im Juli 2022 (1347 Befragte, quotiert), wer das Ticket nachgefragt und wie sich die Mobilität gruppenspezifisch verändert hat. Dabei legen wir den Fokus auf Einkommens- und Stadt-Land-Unterschiede: Wurden insbesondere niedrige Einkommensgruppen durch das 9ET finanziell entlastet? Welche regionalen Unterschiede sind in der Nutzung allgemein und für den Umstieg von motorisiertem Individualverkehr auf den ÖPNV zu beobachten? Inwieweit sind diese Unterschiede durch die in städtischen und ländlichen Regionen unterschiedliche ÖPNV-Infrastruktur bedingt? Unsere Daten zeigen, dass das 9ET von niedrigen Einkommensgruppen etwas und von Bewohnern von Großstädten deutlich häufiger genutzt wurde als von anderen Gruppen. Auch von der Umwandlung von ÖPNV-Zeitkarten in ein günstigeres 9ET und der entsprechenden Kostenerstattung profitierten diese beiden Bevölkerungsgruppen besonders. Der Effekt der Wohnlage bleibt unter statistischer Kontrolle soziodemografischer Variablen bestehen, schwächt sich aber mit Berücksichtigung der Qualität der ÖPNV-Infrastruktur deutlich ab. Neben zusätzlichen Fahrten kam es auch zur Substitution von Autofahrten: Etwa 10 % der Befragten in unserem Sample gaben an, die Pendelstrecke vom Auto (als Verkehrsmittel der Wahl im Mai) mit Gültigkeit des 9ET im Juni auf den ÖPNV umgestellt zu haben. Auch dies betrifft vornehmlich Stadtbewohner, während im ländlichen Raum der schlechtere Ausbau der ÖPNV-Infrastruktur eine Barriere darstellte.
Abstract
The introduction of the 9‑euro ticket (9ET) in summer 2022 was a revealing real-life experiment for policy and research. Using data from a nationwide online survey in July 2022 (1347 respondents, quota sample), we examine who used the ticket and how mobility changed. We focus on income differences and urban–rural disparities: Did the 9ET provide financial relief primarily to low-income groups? Can regional differences be observed in usage and in the shift from private motorized transport to public transport? To what extent are any such differences mediated by different public transport infrastructures in urban and rural regions? We found that low-income groups used the 9ET somewhat, and residents of large cities used it significantly more than other groups did. These two groups also benefited particularly from the conversion of monthly public transit passes to the cheaper 9ET and the corresponding reimbursement of ticket costs. The effect of place of residence persisted with adjustment for sociodemographic variables but weakened significantly when differences in the quality of public transport infrastructure were accounted for. Besides additional trips, a substitution of car trips was observed: Around 10% of respondents in our sample said they switched their daily commuting from car (in May) to public transport after implementation of the 9ET in June. This was the case mainly among urban dwellers, while in rural areas the poorer public transport infrastructure limited the impact of the 9ET on the choice of transport mode.
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1 Einleitung
Die Einführung des 9‑Euro-Tickets (9ET) im Sommer 2022 stellt für Politik und Forschung ein aufschlussreiches Realexperiment dar. Für drei Monate waren alle Verkehrsmittel des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) deutschlandweit für einen monatlichen „Flatrate“-Preis von lediglich 9 € unkompliziert nutzbar. Erste Studien zur Wirkung des 9ET zeigen konsistent, dass das Ticket gut von der Bevölkerung angenommen wurde: Bereits im ersten Gültigkeitsmonat (Juni) hatten 21 Mio. Personen das 9ET per Kauf erworben. Weitere 10 Mio. Personen in Deutschland erhielten es über ein Abonnement, da alle Abonnements wie Job- und Semestertickets automatisch in 9ETs umgewandelt wurden (Krämer et al. 2022). Bezogen auf die Gesamtbevölkerung ab 7 Jahren (ab diesem Alter fahren Kinder im ÖPNV nicht mehr kostenfrei) dürften damit etwa 40 % der Bevölkerung im Besitz eines 9ET gewesen sein.Footnote 1 Laut der Marktforschungsstudie des Verbands der deutschen Verkehrsunternehmen (VDV et al. 2022) handelte es sich bei den Käufern zu etwa einem Fünftel um Neukunden, die den ÖPNV ansonsten nicht genutzt hätten. Das Reiseaufkommen im ÖPNV erhöhte sich laut dem Statistischen Bundesamt (2022) mit Beginn der Gültigkeit des 9ET im Juni 2022 gegenüber den Vormonaten (und ebenso dem „Vor-Corona-Zeitraum“ Juni 2019) deutlich, wobei eine Ausweitung der Mobilität, insbesondere bei Zugreisen unter 300 km, zu beobachten war. Dass dies auf das 9ET zurückzuführen sein dürfte, legt ein Vergleich mit dem Straßenverkehrsaufkommen im gleichen Zeitraum nahe: In diesem lagen Reisen zwischen 100 und 300 km 11 % unter dem entsprechenden Verkehrsaufkommen im Juni 2019.
Allerdings ist bislang wenig dazu bekannt, wer das Ticket genutzt und wie sich die Mobilität gruppenspezifisch verändert hat. Bisherige Studien haben vor allem die Nutzung beschrieben, aber wenig nach Bevölkerungsgruppen differenziert. Beide Aspekte sind jedoch zentral für die Ziele, die mit der Einführung des 9ET verfolgt wurden: Erstens sollten die Bürgerinnen und Bürger als Teil des „Energie-Entlastungspaketes“ (Bundesregierung 2022) von den im Sommer 2022 stark steigenden Energie- und Treibstoffpreisen entlastet werden. Zweitens hatten die Initiatoren der Maßnahme auch die Reduktion des motorisierten Individualverkehrs aus Umwelt- und Klimaschutzgründen im Sinn.
Die vorliegende Studie leistet einen Beitrag zur Evaluation des 9ET, indem sie die zwei von der Bundesregierung anvisierten Aspekte, Entlastung und Substitution, adressiert. Dazu legen wir den Fokus auf soziale (Einkommensschichten) und regionale Unterschiede (Stadt-Land-Differenzen). Aufgrund des geringen zeitlichen Vorlaufs bei der Einführung des 9ET konnten wir Daten lediglich mit einem Online-Access-Panel statt mit einer deutlich zeitaufwendigeren Ziehung einer Zufallsstichprobe aus der Bevölkerung erheben. Im Hinblick auf Soziodemografie und Umwelteinstellungen haben wir dabei aber differenziertere Daten als vorliegende Arbeiten erhoben (siehe Abschn. 2.2 für eine Diskussion der bestehenden Literatur).
Konkret untersuchen wir erstens im Hinblick auf die angestrebte finanzielle Entlastung, ob vor allem Personen mit niedrigem Einkommen von den günstigeren ÖPNV-Preisen profitierten (sei es in Form von günstigeren Fahrten oder finanzieller Entlastung bei Abonnements). Hier interessieren uns (a) unbereinigte Einkommensunterschiede (also Schätzungen ohne Kontrollvariablen), da es für die angestrebte finanzielle Entlastung irrelevant ist, ob diese mit weiteren Merkmalen zusammenhängt. Daneben analysieren wir (b) regionale Ungleichheiten, also Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Regionen, die für gleichwertige Lebensverhältnisse ebenfalls zentral sind. Relevant ist insbesondere, inwieweit die schlechtere ÖPNV-Infrastruktur auf dem Land ein Hindernis darstellt, oder ob Stadt-Land-Unterschiede eher auf die unterschiedliche Bevölkerungskomposition in städtischen und ländlichen Regionen zurückzuführen sind.
Zweitens interessiert uns die Wirkung des 9ET auf die Verkehrsverlagerung von motorisiertem Individualverkehr auf den ÖPNV (Substitutionseffekte): Wen hat das Ticket zum Umsteigen vom motorisierten Individualverkehr auf den ÖPNV motiviert? Neben (a) Unterschieden zwischen Einkommensschichten interessiert uns wiederum (b) regionale Ungleichheit und hierbei vor allem, inwieweit die schlechtere ÖPNV-Infrastruktur auf dem Land eine Barriere zum Umsteigen darstellt. Den Fokus legen wir dabei auf die Pendelmobilität. Mobilität für Beruf und Ausbildung macht in Deutschland immerhin etwa ein Fünftel der Verkehrsleistung im Personenverkehr aus und zugleich ist der Anteil des motorisierten Individualverkehrs im Bereich der beruflichen Mobilität überdurchschnittlich hoch (Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur 2022, S. 225–227). Zugleich lassen sich regelmäßige Pendelfahrten in einer Befragung einfacher und zuverlässiger erheben als gelegentliche Fahrten zu sonstigen Zwecken.
In unseren Befragungsdaten zeigt sich, dass die Verbreitung des 9ET insbesondere in niedrigen Einkommensgruppen und in Großstädten hoch war. Dies gilt für Käufer des Tickets und Abonnementen gleichermaßen und hält auch einer statistischen Kontrolle soziodemografischer Variablen und der Qualität der ÖPNV-Infrastruktur stand. Allerdings schwächen sich die Stadt-Land-Unterschiede nach Kontrolle der subjektiv wahrgenommenen ÖPNV-Qualität deutlich ab. Neben zusätzlichen Fahrten substituierten die Nutzer Autofahrten, vornehmlich in städtischen Räumen; dagegen geht im ländlichen Raum die geringere Substitution von Autofahrten wiederum insbesondere mit dem schlechteren Ausbau der ÖPNV-Infrastruktur einher.
2 Theoretischer Hintergrund und Forschungsstand
2.1 Theoretische Überlegungen zu Entlastungs- und Substitutionseffekten des 9ET
Hinsichtlich unserer ersten Forschungsfrage nach den Entlastungseffekten des 9ET gilt es zwischen Neukunden und Abo-Besitzern zu unterscheiden. Die Besitzer einer ÖPNV-Zeitkarte (z. B. Senioren‑, Job- oder Semesterticket) profitierten automatisch von der Umwandlung ihres Abonnements in ein 9ET und der Erstattung des Differenzbetrags. Eine Entlastung unterer Einkommensgruppen ist also gegeben, falls vor allem diese Gruppen im Besitz solcher Zeitkarten waren. In der Bevölkerung ohne ÖPNV-Zeitkarten sind Entlastungseffekte schwieriger zu identifizieren: Denn eine Entlastung ergab sich nur, wenn Personen das Ticket kauften und damit teurere Fahrten (mit dem Auto oder ÖPNV) substituieren konnten. Im Fall eines Kaufs ohne Substitutionswirkung kann man von einem Beitrag zur Teilhabe (etwa an Freizeitangeboten), aber nicht von finanzieller Entlastung sprechen (Hille und Gather 2022).
Die bestehende Literatur beschreibt Wohlfahrtsgewinne durch Preisreduktionen im ÖPNV (und entsprechend Wohlfahrtsverluste durch Preiserhöhungen) vor allem für Haushalte mit niedrigem und mittlerem Einkommen (z. B. Burguillo et al. 2017; Bureau und Glachant 2011; Asplund und Pyddoke 2022).
Neben Preiseffekten spielen soziodemografische Merkmale wie das Alter, Gewohnheiten und Einstellungen sowie die (subjektiv eingeschätzte) Qualität des Angebots für die Verkehrsmittelnutzung eine wesentliche Rolle (allgemein zur Verkehrsmittelwahl: Vos et al. 2022). Zudem dürfte sich die relative Wichtigkeit von Entscheidungsparametern deutlich nach sozialem Profil und Nutzungszwecken unterscheiden (Bureau und Glachant 2011). Personen mit hohem Einkommen beispielsweise achten womöglich weniger auf finanzielle Aspekte und reagieren damit weniger auf Preisnachlässe; Personen mit stark beschränktem Zeitbudget (z. B. aufgrund hohen Erwerbsumfangs oder Betreuungsaufwands für Kinder) dürften zeitliche Kosten, etwa im Hinblick auf Fahrzeiten oder Distanzen zu Haltestellen, besonders berücksichtigen.
Substitutionseffekte in Form einer Verlagerung der Mobilität vom motorisierten Individualverkehr zum ÖPNV sind nach dem bisherigen Forschungsstand eher gering. Bisherige Studienergebnisse zu Preisreduktionen im ÖPNV in anderen Ländern (USA, Schweden und Niederlande; darunter mit Bull et al. (2021) auch eine Arbeit mit experimentellem Design) deuten eher auf einen Nachfrageanstieg in Form zusätzlicher Mobilität mit dem ÖPNV als auf einen Umstieg vom motorisierten Individualverkehr zum ÖPNV hin (Andor et al. 2021; Cats et al. 2017; National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine 2012). Fearnley et al. (2017) beziffern in ihrer Metaanalyse die mittlere Reduktion der Autonutzung nach einer Reduktion von ÖPNV-Ticketpreisen um 1 % auf lediglich 0,06 %, wobei allerdings der Großteil der Forschung auf Beobachtungen von graduellen Preisänderungen bei regulären (Einzel‑)Tickets basiert.Footnote 2 Doch auch Schätzungen zum Rückgang des motorisierten Individualverkehrs nach Einführung von kostenlosem ÖPNV bewegen sich in der Regel deutlich unter 20 %. Übereinstimmend beobachten die Studien zugleich starke (politisch eigentlich unerwünschte) Modalwechsel von Mobilität per Fahrrad oder zu Fuß zum ÖPNV.
Gerade in ländlichen Regionen könnte eine schlechte ÖPNV-Anbindung zudem eine pauschale Barriere gegen seine Nutzung darstellen, da die ÖPNV-Nutzung dort zu stark mit zeitlichen Kosten oder zu geringer Bequemlichkeit einhergeht, um selbst bei sehr geringen Fahrpreisen gegenüber anderen Verkehrsmitteln konkurrenzfähig zu sein. So ist auf dem Land die Taktdichte geringer und zugleich die Entfernung zu Haltestellen im Mittel größer. Nach den Daten des Bundesinstituts für Bau‑, Stadt- und Raumforschung (2020) gibt es etwa in den Großstädten flächendeckend ÖPNV-Haltestellen in maximal einem Kilometer Distanz, während dies in Landgemeinden nur für 70 % der Bevölkerung zutrifft. Die durchschnittliche Distanz zur nächsten Haltestelle liegt in Großstädten bei 200 Metern, in Landgemeinden dagegen bei 1,2 Kilometern (Bundesinstitut für Bau‑, Stadt- und Raumforschung 2020). Insgesamt ergibt sich daher auf dem Land eine vergleichsweise schlechte Erreichbarkeit von Zielen mit dem ÖPNV. Allerdings sind gerade dort wegen der größeren Entfernungen und der fehlenden Einbindung in Verkehrsverbünde die ÖPNV-Preise oft besonders hoch, sodass die entsprechend größere Preisreduktion durch das 9ET eine stärkere Wirkung entfaltet haben könnte. Zudem konzentrieren sich in Deutschland vor allem Geringverdiener und zunehmend ältere Personen auf dem Land (Konietzka und Martynovych 2022). Da auch das Alter die Verkehrsmittelwahl beeinflusst, ist insgesamt schwer einzuschätzen, inwieweit die unterschiedliche Bevölkerungskomposition oder Unterschiede in der ÖPNV-Infrastruktur mögliche Stadt-Land-Unterschiede in der Nutzung von günstigen Tickets wie dem 9ET erklären können.
Zusammengefasst erwarten wir, dass Personen mit geringem Einkommen das 9ET relativ betrachtet stärker und Personen in ländlichen Regionen weniger stark nutzen als andere Personen, und dies insbesondere wegen der dort schlechteren ÖPNV-Infrastruktur. Offen ist, inwieweit Unterschiede hinsichtlich Region und Einkommen auch bei Substitutionseffekten bestehen. Aufgrund des Flatrate-Angebots, bei dem die Grenzkosten einer zusätzlichen Fahrt nach der anfänglichen Investition null sind, könnte es anders als bei Preisänderungen von Einzeltickets in stärkerem Maße zur Substitution, aber auch zu erhöhter Mobilitätsnachfrage in Form zusätzlicher Fahrten kommen. Substitutionseffekte im Sinne einer Verlagerung regulärer Fahrten vom motorisierten Individualverkehr auf den ÖPNV sind vor allem dann zu erwarten, wenn einerseits ÖPNV-Verbindungen für die zu fahrenden Strecken vorhanden sind und andererseits der ÖPNV ohne das 9ET im Vergleich zum Auto nicht finanziell konkurrenzfähig ist. In der Folge sind nur geringe Substitutionseffekte bei Pendlern aus ländlichen Regionen zu erwarten, da dort oft die ÖPNV-Verbindungen nicht ausreichend für Alltagsmobilität ausgebaut sind (siehe die oben ausgeführten Statistiken des Bundesinstitut für Bau‑, Stadt- und Raumforschung 2020). Ebenso dürfte das Verlagerungspotenzial in den Großstädten begrenzt sein, da dort der ÖPNV auch ohne das 9ET für viele Nutzergruppen bereits konkurrenzfähig ist. Generell sind Effekte der Infrastruktur aber nur dann erkennbar, wenn Unterschiede in Bevölkerungsmerkmalen, die ebenfalls mit der ÖPNV-Nutzung einhergehen (wie etwa dem Alter, Umweltbewusstsein und Einkommen) kontrolliert werden.
2.2 Forschungsstand zum 9ET
Mehrere Studien berichten Substitutionseffekte durch das 9ET. Gohl und Schrauth (2022) zeigen anhand von Daten aus regulären Messungen zur Luftqualität für den Sommer 2022 seit Gültigkeit des 9ET eine mittlere Verbesserung der Luftqualität um 6 bis 7 %, mit Verbesserungen insbesondere an Werktagen und in Städten sowie allgemein in Regionen mit vergleichsweise gut ausgebautem Nahverkehr. Auch die Sonderauswertung von Mobilfunkdaten des Statistischen Bundesamtes (2022) zeigt Anzeichen für einen Substitutionseffekt. Eine Abnahme des motorisierten Individualverkehrs speziell an Werktagen deutet darauf hin, dass Personen, darunter Pendler, vom Auto auf Bus und Bahn umgestiegen sind. Laut einer Studie zur Metropolregion München, bei der ca. 1000 Personen befragt und zudem über eine spezielle Smartphone-App die Bewegungsprofile beobachtet wurden, zeigte sich, dass sich während des Geltungszeitraums des 9ET der Anteil des ÖPNV um knapp 7 % erhöhte, während der Anteil des motorisierten Individualverkehrs um ungefähr denselben Wert sank (Adenaw et al. 2022). Eine vom Design (Kombination aus Befragungs- und App-Daten) her ähnliche Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zu Gesamtdeutschland findet dagegen nicht, dass das 9ET den Umstieg auf den ÖPNV befördert hätte (Gaus et al. 2023): Zwar hätten Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln im Gültigkeitszeitraum des Tickets zugenommen, zugleich aber sei der Anteil der Autofahrten am Gesamtverkehr konstant geblieben. Demnach führte das 9ET nur zu einer Ausweitung der Mobilität. Als vermeintlicher Hauptgrund wird die schlechte ÖPNV-Infrastruktur auf dem Land gesehen, ohne dies jedoch vertieft (mit Kontrolle der Bevölkerungskomposition) zu untersuchen. Im Gegensatz dazu gaben in einer Fahrgastbefragung in Frankfurt am Main 28 % der Befragten an, dass sie für die aktuelle Fahrt ohne das 9ET das Auto genutzt hätten (Dietl und Reinhold 2022). In einer Befragung in der Metropolregion Hamburg nannten 37 % der Befragten den „Verzicht auf das Auto“ als eines der Motive für den Kauf eines 9ETs, wobei diese Angabe im Hamburger Umland mit 40 % sogar häufiger ist als im Stadtgebiet (Krämer und Korbutt 2022). In einer Befragung der Erfurter Stadtbevölkerung gaben 30 % der Befragten an, nach Einführung des 9ET weniger mit dem Auto unterwegs zu sein als vorher (Hille und Gather 2022). Knapp die Hälfte der Befragten war laut eigener Angabe insgesamt mehr unterwegs, wobei die Zunahme der Mobilität vor allem in den Niedrigeinkommensgruppen zu finden war. Schätzungen aus der Marktforschung des VDV basierend auf ca. 6000 Befragten in jeder Woche des Gültigkeitszeitraums des 9ET (Juni bis August 2022) zeigen, dass die tägliche Nutzungsintensität von Pkw/Motorrad um 4 Prozentpunkte (bei Käufern des 9ET um 9 Prozentpunkte) im Vergleich zum Mai 2022 sank (VDV et al. 2022). 10 % der Befragten gaben an, dass ihre letzte Fahrt mit dem 9ET vor dem Interview eine Fahrt mit dem Auto/Motorrad ersetzt hätte. Größere Verlagerungseffekte fanden sich dabei in strukturschwachen Regionen, d. h. in Kleinstädten und im dörflichen Raum.
Allerdings sind diese Studien mit Unschärfen behaftet. Beispielsweise erlauben die vom Statistischen Bundesamt (2022) genutzten Mobilfunkdaten es nicht, die Nah-Mobilität unter 30 km einzelnen Verkehrsmitteln zuzuordnen und straßengebundenen Personennahverkehr von Autofahrten zu trennen, wodurch Substitutionseffekte im Nahbereich unterschätzt werden könnten. Bei der Studie des VDV et al. (2022) wurden lediglich einfache bivariate Zusammenhangsanalysen berichtet, die nur grobe Indikatoren zur Soziodemografie einbeziehen und nicht die einzelnen Faktoren separieren.Footnote 3 Bei einigen Studien werden selektive Gruppen beobachtet, einerseits wegen des regionalen Fokus auf eine spezielle Metropolregion (Loder et al. 2022; Krämer und Korbutt 2022), eine bestimmte Stadt (Dietl und Reinhold 2022) oder einzelne Stadtteile (Hille und Gather 2022), und andererseits besonders auch bei Loder et al. (2022) und Gaus et al. (2023), weil nur ausgewählte Bürger bereit sein dürften, ihre Wege über Smartphone-Apps aufzeichnen zu lassen. Man muss damit rechnen, dass z. B. besonders umweltfreundliche oder aus anderen Gründen gegenüber dem 9ET aufgeschlossene Personen eher zur Teilnahme bereit waren. Die Daten zeigen tatsächlich eine starke Überrepräsentation von Radfahrenden. Das Problem von sehr speziellen Samples gilt auch für weitere Studien, die z. B. mit gänzlich offenen Web-Surveys (Convenience Samples) arbeiten. Uns ist bislang keine Evaluation der Wirkung des 9ET bekannt, die mit einer deutschlandweiten Zufallsstichprobe der Bevölkerung gearbeitet hat. So stützt sich etwa auch die umfangreiche Studie des VDV zu Teilen auf dasselbe Online-Access-Panel, das wir für unsere Untersuchung nutzen. Alleinstellungsmerkmal unserer Studie ist gegenüber diesen Befragungen eine weitaus umfangreichere Erhebung von Befragtenmerkmalen. Dazu zählen insbesondere eine differenzierte Soziodemografie und Abfrage des Umweltbewusstseins.
3 Methodik
3.1 Daten, Forschungsziele und Operationalisierung
Unsere Daten stammen aus einer deutschlandweiten Bevölkerungsumfrage, die wir im Zeitraum vom 14. bis zum 21. Juli 2022 durchgeführt haben (für Erhebungsdetails und die vorgenommenen Qualitätssicherungen s. Online-Anhang B). Die Datenerhebung erfolgte in einer ca. 20-minütigen Online-Befragung. Unsere Auswertungen basieren auf einer quotierten Stichprobe von Befragten (rekrutiert über ein Online-Access-Panel) im Alter zwischen 18 und 69 Jahren, die im Hinblick auf ihre Zusammensetzung nach Alter, Geschlecht, Bundesland und Schulabschluss jeweils die deutsche Gesamtbevölkerung in dieser Altersspanne repräsentieren.Footnote 4 Mit einem derart quotierten Sample liegt keine zufällige Auswahl von Befragten vor, aber es wird durch die Quotierung eine hinreichende Varianz in uns interessierenden Merkmalen garantiert.Footnote 5 Mögliche Verzerrungen durch die Nutzung einer nichtzufälligen Bevölkerungsstichprobe werden im folgenden Unterabschnitt diskutiert (siehe auch Online-Anhang B). Für die Analysen verwenden wir die Daten von 1347 Befragten mit vollständigen Angaben zu den uns interessierenden Fragen.
Für den Kauf des 9ET oder den Erhalt des Tickets via Abonnement verwenden wir Angaben zum Juni 2022, also dem ersten Monat, für den das 9ET erhältlich war. Um Veränderungen im Mobilitätsverhalten beobachten zu können, haben wir unsere Befragten gebeten, sowohl für Mai 2022 (also den letzten Monat vor Gültigkeit des 9ET) und Juni 2022 anzugeben, (1) wie häufig sie den ÖPNV pro Woche nutzten und (2) welche Verkehrsmittel sie – sofern erwerbstätig oder in Ausbildung – hauptsächlich für den Weg zur Arbeit oder Ausbildungsstätte verwendet haben.Footnote 6 Wir beschränken unsere Analysen auf die Pendelmobilität, weil nur für die Pendelstrecken die Verkehrsmittelwahl retrospektiv und im Detail abgefragt werden konnte.
In den Analysen unterscheiden wir in Bezug auf den Besitz des 9ET drei Gruppen: (1) Personen, die ein 9ET gekauft haben (Käufer); (2) Personen, die bereits vorab eine ÖPNV-Zeitkarte besaßen und nun das günstigere 9ET automatisch über dieses Abonnement erhalten haben (Abonnenten); sowie (3) Personen ohne Besitz eines 9ET oder anderweitiger ÖPNV-Zeitkarten. Abonnements von ÖPNV-Zeitkarten sind meist deutlich teurer als das 9ET und in ihrer Gültigkeit oft beschränkt, z. B. auf bestimmte Uhrzeiten oder Gebiete. Nahezu alle Abonnements wurden automatisch in ein 9ET umgewandelt, sodass die Abonnenten in aller Regel keine Kaufentscheidung mehr getroffen haben. Analysen zum 9ET-Besitz beziehen sich jeweils sowohl auf Käufer (1) als auch auf Abonnenten (2).
Um die Befragten nach Einkommen zu klassifizieren, verwenden wir das monatliche Haushaltsnettoäquivalenzeinkommen. Dieses Einkommen wird nachfolgend für übersichtlichere Darstellungen in Quartile gruppiert. Die regionale Wohnlage der Befragten und die Qualität der ÖPNV-Infrastruktur (Erreichbarkeit von Zielen der Befragten) wurde als subjektive Einschätzung abgefragt, das Umweltbewusstsein mit einem additiven Index aus einer reliablen Skala mit mehreren Items gemessen (Cronbachs α 0,8), basierend auf dem Vorschlag von Diekmann und Preisendörfer (2001). Soziodemografische Variablen wie der Bildungs- und Familienstatus wurden mit Standardinstrumenten erfragt. Ein detaillierter Überblick über die verwendeten Variablen einschließlich deskriptiver Statistiken findet sich in Online-Anhang A (Tabellen A1 und A2).
3.2 Analytisches Vorgehen
Um zu testen, ob der Besitz des 9ET mit dem Einkommen zusammenhängt, betrachten wir die Assoziation dieser beiden Variablen ohne Einbezug von Kontrollvariablen. Entlastungseffekte bestehen, wenn vor allem untere Einkommensschichten vom 9ET profitieren, egal mit welchen weiteren Variablen diese Assoziation gegebenenfalls korreliert. Hinsichtlich des Einflusses der regionalen Wohnlage auf den Besitz des 9ETs interessieren wir uns dagegen insbesondere dafür, ob ein möglicher Effekt primär durch die unterschiedliche ÖPNV-Infrastruktur oder die Bevölkerungskomposition vermittelt ist. Zentrale Schätzgröße ist hier der Effekt der Infrastruktur unter Kontrolle der Bewohnermerkmale.
Für die zweite Forschungsfrage analysieren wir Umstiege vom Auto/Motorrad auf den ÖPNV für berufliche und ausbildungsbedingte Pendelwege. Dabei interessiert wiederum insbesondere, welchen Einfluss die unterschiedliche ÖPNV-Infrastruktur unabhängig von der Bevölkerungskomposition hat. Zur Identifikation schätzen wir Modelle mit schrittweisem Einbezug von Befragtenmerkmalen und anschließend der Qualität der ÖPNV-Infrastruktur. Damit lässt sich erkennen, wie stark sich Stadt-Land-Unterschiede jeweils bei Einbezug dieser möglichen Mediatoren abschwächen.
Da wir Querschnittsdaten und kein experimentelles Design haben, können wir kausale Effekte nur unter der Annahme identifizieren, dass alle konfundierenden Faktoren Berücksichtigung finden. Effekte der ÖPNV-Infrastruktur würden über- oder unterschätzt, wenn korrelierende Bevölkerungsmerkmale nicht kontrolliert sind. Wir beziehen daher ein breites Bündel von Kontrollvariablen ein, die sich aus theoretischer Sicht oder früheren Studien für die Verkehrsmittelwahl als relevant erwiesen haben. Konkret betrachten wir, ob die ÖPNV-Infrastruktur auch dann noch einen Unterschied macht, wenn wir nur Personen mit ähnlichem Bildungs- und Einkommenshintergrund, Alter, Erwerbsstatus, Geschlecht und Haushaltstypus (mit/ohne Kinder) sowie Umweltbewusstsein vergleichen.Footnote 7 Wir nutzen dafür lineare Wahrscheinlichkeitsmodelle (LPMs) und in Robustheitsanalysen logistische Regressionen und berichten „Average Marginal Effects“ (Auspurg und Hinz 2011; Best und Wolf 2012, 2015).
Für eine Verallgemeinerung der Ergebnisse auf die deutsche Bevölkerung würde idealerweise eine Zufallsstichprobe verwendet werden. Diese war aber, wie bereits angedeutet, aus praktischen Gründen nicht realisierbar. In Online-Anhang B diskutieren wir ausführlich, inwieweit Schätzungen mit einem nichtzufälligen Sample eine hilfreiche Alternative darstellen. Die von uns beobachteten Zusammenhänge sind nur dann Artefakte, also Zusammenhänge, die so gar nicht in der deutschen Allgemeinbevölkerung bestehen, wenn die Entscheidung zur Teilnahme an unserer Befragung sehr stark vom Besitz eines 9ET und gleichzeitig den betrachteten anderen Variablen (Region, Einkommen, verändertes Mobilitätsverhalten) abhängt (Kohler et al. 2019; Kohler 2019; Schuessler und Selb 2023). Aufgrund der Rekrutierung über ein allgemeines Online-Access-Panel und der Bewerbung als allgemeine Umfrage zu „Einstellungen und Lebensweisen in Deutschland“ erscheint dies unplausibel. Wahrscheinlicher ist, dass wir die Zusammenhänge in der Stärke möglicherweise verzerrt schätzen. Dies ist immer dann der Fall, wenn sich die Befragten unserer Studie in Merkmalen von der Allgemeinbevölkerung unterscheiden, welche die geschätzten Zusammenhänge moderieren. Sollten beispielsweise in unserem Sample Befragte überrepräsentiert sein (wie z. B. Personen mit hohem Umweltbewusstsein), für die eine schlechte ÖPNV-Infrastruktur eine geringere Barriere darstellt als für andere Personen (mit geringem Umweltbewusstsein), würden wir den Einfluss der Infrastruktur auf die Nutzung unterschätzen. Das kann nur vorkommen, wenn Zusammenhänge über Bevölkerungsgruppen hinweg variieren. Dies kann man für beobachtbare Gruppen in Robustheitsanalysen prüfen (Online-Anhang B). Da unser Interesse nicht absoluten Zusammenhangsstärken gilt, sondern vielmehr der Frage, welche Zusammenhänge überhaupt bestehen oder der Kontrolle von Bevölkerungsmerkmalen standhalten, erscheinen uns derartige Verzerrungen nachrangig.
Anzumerken ist allerdings, dass es weitere mögliche Verzerrungsquellen, wie etwa Messfehler gibt. Um diese gering zu halten, haben wir mögliche Speeder, also Personen, die sich ungeachtet des Inhalts der Fragen rasch durch den Survey klicken, oder anderweitig unachtsame Befragte ausgeschlossen (Online-Anhang B). Systematische Verzerrungen, etwa durch soziale Erwünschtheit, halten wir dagegen aufgrund des relativ wenig sensiblen Befragungsthemas und des anonymen Befragungsmodus für gering.
4 Ergebnisse
4.1 Entlastungen: Wer besitzt das 9ET?
Insgesamt geben in unserer Stichprobe 19 % der Befragten an, dass sie sich für Juni ein 9ET gekauft haben (N = 257). Zugleich besitzen 25 % der Befragten ein festes ÖPNV-Abonnement und haben somit das 9ET automatisch erhalten. Zusammen ergibt sich ein Anteil von 44 % unserer Befragten, die im Juni im Besitz eines 9ET waren. Dieser Wert ist etwas höher als unsere Schätzung anhand der offiziellen bundesweiten Absatzzahlen (40 %; vgl. Abschn. 1.1), die jedoch auch Kinder ab 7 Jahren und Touristen einbezieht. Zudem stimmen die Daten gut mit der im Auftrag von VDV und DB durchgeführten Marktforschung überein, die ebenfalls einen Anteil von Abonnenten von etwa einem Fünftel (18 %) und einen Anteil von 45 % mit Besitz des 9ET Anfang Juni 2022 ergeben hat (VDV et al. 2022).
Abbildung 1 zeigt die Anteile für Abonnenten, Käufer und 9ET-Besitzer je nach Einkommensschicht und regionaler Wohnlage. In Bezug auf die Einkommensschicht (Abb. 1a) ist ersichtlich, dass Personen im untersten Einkommensquartil mit einem Nettoäquivalenzeinkommen bis maximal 1000 € etwas häufiger ein Abonnement besitzen (links oben). In diesem Quartil befinden sich vor allem Erwerbslose (27 %), Rentner (25 %), Studierende/Auszubildende (12 %) sowie Teilzeitbeschäftigte (13 %). Somit wurden vor allem Personen mit geringem Einkommen durch Erstattung der Kostendifferenz zwischen dem Abonnement und 9ET entlastet.
Hinsichtlich des Kaufs eines 9ET und in der Folge auch für den Besitz des 9ET zeigt sich dagegen ein leicht u‑förmiges Muster: Personen im untersten Einkommensquartil sowie besonders einkommensstarke Personen (oberstes Einkommensquartil) kaufen oder besitzen das Ticket besonders häufig. Somit werden mit dem 9ET nun auch Personen mit hohem Einkommen häufiger für ein ÖPNV-Monatsticket gewonnen, als das mit den regulären Abonnements der Fall ist. Gleichwohl sind es vor allem, wenn auch nicht nur, die untersten Einkommensgruppen, die als Besitzer von dem subventionierten Ticket profitieren (rechts oben).
Für die Wohnlage (Abb. 1b) zeigt sich: Anteile von Abonnenten sind umso geringer, je ländlicher die Wohnregion; die Anteile nehmen von links nach rechts fast linear ab. Käufer des 9ET verteilen sich demgegenüber etwas gleichmäßiger auf die unterschiedlichen Wohnlagen. Für den Besitz (der beide Gruppen zusammenfasst) ergibt sich gleichwohl ein deutlicher Zusammenhang mit der Wohnlage: Personen in Großstädten besitzen bei den von uns Befragten mit gut 71 % das Ticket mehr als doppelt so häufig wie Personen auf dem Land. Immerhin besitzt aber auch dort noch fast ein Viertel das 9ET (23 %). Auffallend ist, dass in Bezug auf Großstädte bereits Bewohner von Randlagen signifikant seltener das Ticket besitzen als Bewohner der Stadtzentren. Diese Unterschiede sind aber hauptsächlich auf Abonnements zurückzuführen und nur zum kleinen Teil auf die geringere Attraktivität des 9ET für Käufer. Zudem muss betont werden, dass bei dieser Auswertung soziodemografische Unterschiede zwischen Bewohnern städtischer und ländlicher Regionen noch nicht berücksichtigt sind.
4.2 Der Zusammenhang zwischen Wohnlage und Besitz eines 9ET unter Kontrolle der Bevölkerungskomposition
Um herauszufinden, inwieweit die Wohnlage selbst oder die Bevölkerungskomposition der unterschiedlichen Regionen einen Unterschied machen, schätzen wir multivariable Regressionen. Abbildung 2 zeigt die Ergebnisse unserer schrittweise aufgebauten Regressionen. Dargestellt sind mittlere Effekte der unterschiedlichen Wohnlagen auf die Wahrscheinlichkeit eines Abonnements, des Kaufs eines 9ET und des Besitzes eines 9ET jeweils im Vergleich zur Wohnlage im Zentrum einer Großstadt (Referenzkategorie). Abgebildet werden mittlere Effekte in Prozentpunkten zusammen mit 95 %-Konfidenzintervallen.
Das erste Modell zeigt dabei zunächst die mittleren Effekte ohne Kontrollvariablen – dieses Modell repliziert damit Abb. 1b, nur dass nun die Effekte immer im Vergleich zur Referenzkategorie „Großstadt“ ausgewiesen werden. Mit einem zweiten Modell betrachten wir, inwieweit Unterschiede nach Wohnlage auch dann noch fortbestehen, wenn wir nur Personen mit ähnlichem Bildungs- und Einkommenshintergrund, Alter, Erwerbsstatus, Geschlecht und Haushaltstyp (mit/ohne Kinder) sowie Umweltbewusstsein vergleichen. Bei Einbezug dieser Merkmale reduzieren sich die Unterschiede nach Wohnlage sowohl für die Wahrscheinlichkeit eines Abonnements als auch eines 9ET-Kaufs nur wenig (und entsprechend auch für den Besitz des 9ET, der sich aus den beiden Gruppen ergibt). Somit gilt unabhängig von der Bevölkerungskomposition in zentralen sozidemografischen Merkmalen, dass Personen auf dem Land selbst dann substanziell weniger Nachfrage nach ÖPNV-Zeitkarten aufweisen, wenn diese kurzzeitig zu einem sehr geringen Preis angeboten werden.
Als ein entscheidender Grund dafür erweist sich die unterschiedliche Qualität des ÖPNV-Netzes, die wir im dritten Modell einbeziehen. Sie wurde mit einer fünfstufigen Abfrage zur Erreichbarkeit von Zielen der Befragten mit dem ÖPNV erhoben (von „sehr schlecht“ bis „sehr gut“). Der Einbezug dieser Variablen reduziert Stadt-Land-Unterschiede merklich. Dennoch bleiben kleine Unterschiede nach Wohnlage bestehen.
4.3 Substitution: Welche Effekte hat das 9ET auf das Mobilitätsverhalten?
Der Hauptnutzungsgrund für das 9ET sind in unserer Befragung – konsistent mit den Ergebnissen anderer Studien – Freizeitfahrten (Abb. A1 im Online-Anhang). Allerdings geben viele Personen auch an, das Ticket für Pendelwege zur Arbeit oder Ausbildung zu nutzen. Aus diesen Angaben lassen sich die Nutzungsanteile jedoch nicht quantifizieren, da Freizeitfahrten oder Fahrten für Erledigungen im Gegensatz zu alltäglichen Wegen zum Arbeitsplatz einmalig oder unregelmäßig stattfinden können. Wir berichten im Online-Anhang detailliertere Analysen zu den Nutzungsgründen und -häufigkeiten insgesamt (Online-Anhang A, Tabellen A4 und A5) und fassen hier nur zentrale Ergebnisse zusammen. Insgesamt scheint das 9ET sowohl zur Gewinnung von Neukunden des ÖPNV geführt zu haben (13 % der Befragten ohne reguläre Nutzung des ÖPNV im Mai nutzen diesen im Juni mindestens einmal pro Woche) als auch zur Ausweitung von Mobilität unter regulären Kunden, was im Einklang mit anderen Studien ist (z. B. VDV et al. 2022).
Im Hinblick auf mögliche Substitutionseffekte betrachten wir die berufs- und ausbildungsbedingte Pendelmobilität, die mit etwa 22 % einen erheblichen Anteil des gesamten Personenverkehrs in Deutschland ausmacht (Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur 2022, S. 225). Insgesamt geben fast zwei Drittel (60 %, N = 505) unserer Befragten mit regelmäßiger Erwerbstätigkeit/Ausbildung außer Haus an, dass sie im Mai hauptsächlich mit dem Auto oder Motorrad zur Arbeit/Ausbildung gependelt sind.Footnote 8 Das Auto ist auch im Juni das Hauptverkehrsmittel unter Erwerbstätigen und Auszubildenden, doch gab es zum Teil Änderungen des Mobilitätsverhaltens weg vom motorisierten Individualverkehr hin zum ÖPNV (Tab. A6 im Online-Anhang). Insgesamt haben 9 % der Befragten, die im Mai mit dem Auto zur Arbeit/Ausbildung gependelt sind, im Juni dafür den ÖPNV genutzt (N = 46). Der umgekehrte Wechsel vom ÖPNV zum Auto wurde dagegen von lediglich 4 Befragten berichtet. Damit gibt es in unserer Stichprobe so gut wie keine Anzeichen dafür, dass Berufs‑/Ausbildungspendler seit Einführung des 9ET aus diesen Verkehrsmitteln verdrängt wurden.Footnote 9 Insgesamt nimmt die Autonutzung auf Pendelwegen in unserem Sample seit Gültigkeit des 9ET um knapp 7 Prozentpunkte auf 54 % ab – womit der Substitutionseffekt gut im Einklang mit einigen anderen Studien zum 9ET ist (Abschn. 2.2). Auffallend ist, dass mit Gültigkeit des 9ET nur ein sehr kleiner Teil der Befragten von Pendelwegen mit dem Fahrrad/zu Fuß auf den ÖPNV gewechselt hat.
Was zeichnet die insgesamt 9 % Wechsler unter den Autofahrern gegenüber Personen mit unveränderter Autowahl aus? Wir berichten zunächst wieder deskriptive Statistiken. Als Stichprobe verwenden wir dafür und im Folgenden nur noch die 505 Personen, die im Mai mit dem Auto gependelt sind. Aufgrund der kleineren Fallzahlen für diese Gruppe verzichten wir dieses Mal auf eine Aufschlüsselung nach Personen mit und ohne Besitz des 9ET. Die Ergebnisse schätzen somit den Substitutionseffekt bei Pendelfahrten insgesamt (unabhängig vom Kauf des 9ET). Aus unseren vertieften Analysen (Online-Anhang A) wissen wir aber, dass Umstiege auf den ÖPNV ganz wesentlich durch das 9ET motiviert sein dürften, gingen sie doch bis auf zwei Ausnahmen durchweg mit dem Besitz eines 9ET einher. Die Ergebnisse sind in Abb. 3 dargestellt. Ersichtlich wird, dass die Gruppe mit geringstem Nettoäquivalenzeinkommen deutlich häufiger auf den ÖPNV umgestiegen ist als andere Einkommensgruppen. Im Vergleich zum höchsten Einkommensquartil ist dieser Unterschied statistisch signifikant (p < 0,05). Personen in ländlicher Wohnlage sind hingegen deutlich seltener auf den ÖPNV umgestiegen als Menschen in urbanen Räumen. Die Unterschiede nach Wohnlage sind jedoch statistisch nicht signifikant. Lediglich die Differenz zwischen auf dem Land und in einer Großstadt lebenden Personen erreicht fast signifikantes Niveau (p = 0,057 in einer bivariaten Regression). Diese Muster sind nicht unerwartet: Vor allem Personen mit geringem Einkommen dürften aus finanziellen Gründen die Möglichkeit nutzen, die im Vergleich zum 9ET teureren Pendelfahrten mit dem Auto einzusparen, wohingegen sich Bewohner im ländlichen Raum aufgrund der mangelnden ÖPNV-Verbindungen zwischen Wohnort und Arbeitsplatz trotz des 9ET weiterhin für das Auto entscheiden dürften.
4.4 Zum Zusammenhang von Wohnlage und dem Umstieg von Auto auf den ÖPNV unter Kontrolle der Bevölkerungskomposition
Mittels multivariabler Analysen lässt sich prüfen, ob die Wohnlage auch unter Kontrolle soziodemografischer Faktoren (somit der Bevölkerungskomposition) noch einen Einfluss auf das Verkehrsverhalten hat. Wir schätzen dazu schrittweise aufgebaute Regressionen analog zu den Regressionen in Abb. 2, allerdings ohne Aufschlüsselung nach Besitz eines Abonnements oder 9ET. Abbildung 4 zeigt die Ergebnisse; die Schätzung der Modelle findet sich im Online-Anhang (Abb. A3 und Tab. A7). Deutlich wird wiederum, dass der „hemmende“ Effekt einer Wohnlage auf dem Land durch die dort als schlechter eingeschätzte Erreichbarkeit von Zielen mit dem ÖPNV erklärbar ist. Erst bei Kontrolle dieser Variable unterscheiden sich Wohnlagen auf dem Land bzw. in Landgemeinden nicht mehr von der Referenzgruppe der Großstädte. Der vorab erfolgte Einbezug von Merkmalen der Befragten (etwa Haushaltskomposition, Bildung, Umweltbewusstsein) war dagegen kaum von Bedeutung. Nochmals sei aber darauf hingewiesen, dass wir diesen Analysen nur recht kleine Fallzahlen zugrunde legen konnten.
5 Zusammenfassung und Fazit
In diesem Bericht sind wir Entlastungs- und Substitutionseffekten durch das 9ET mit einem Fokus auf Einkommens- und Stadt-Land-Unterschiede nachgegangen. Unsere Ergebnisse bestätigen dabei insgesamt die auch von anderen Studien (z. B. Krämer et al. 2022; VDV et al. 2022) berichteten starken Nachfrageeffekte – das 9ET hat zu mehr ÖPNV-Fahrten motiviert. Dabei wurden auch neue Nutzergruppen gewonnen: Ein Teil der Personen mit vormals gelegentlicher ÖPNV-Nutzung wurde mit Einführung des 9ET zu mindestens wöchentlicher Nutzung motiviert. Ein Teil dieser Fahrten ersetzte das Pendeln mit dem Auto: Immerhin fast jede oder jeder zehnte Befragte in unserem Sample gibt an, für die Pendelstrecke vom Auto als Verkehrsmittel der Wahl im Mai mit Gültigkeit des 9ET im Juni auf den ÖPNV umgestiegen zu sein.
Anders als bisherige Studien sind wir in der Lage, diese Anteile detailliert nach Gruppen zu differenzieren. Wenngleich das 9ET über alle Einkommensgruppen erworben wurde, bezog sich die finanzielle Entlastung eher auf untere Einkommensgruppen (u. a. über die Erstattung von Kosten für ÖPNV-Abonnements). In ländlichen Regionen mit schlechter ÖPNV-Anbindung wurde das 9ET ebenfalls genutzt, wenngleich in geringerem Umfang und insbesondere seltener für die Substitution von Autofahrten auf Pendelwegen. Unsere Analysen deuten darauf hin, dass vor allem eine schlechtere ÖPNV-Infrastruktur auf dem Land die Nutzung einschränkt. Erst mit Einbezug der unterschiedlichen Erreichbarkeit von Zielen mit dem ÖPNV haben sich Stadt-Land-Unterschiede merklich verringert. Dies fand sich in unseren Analysen selbst bei konstant gehaltenen Bevölkerungsmerkmalen. Demnach ist es weniger die unterschiedliche Bevölkerungskomposition als vielmehr die ÖPNV-Infrastruktur, die eine Verlagerung von Autofahrten auf den umweltfreundlicheren öffentlichen Verkehr hemmt. Die schlechtere Infrastruktur auf dem Land wird durch den günstigen Preis des 9ET anscheinend nur für wenige Personen ausreichend kompensiert, um zu Umstiegen auf den ÖPNV zu motivieren.
Offen bleibt bei unseren Analysen allerdings, warum selbst dann noch ein geringer Stadt-Land-Unterschied im Besitz des 9ET bestehen bleibt, wenn sowohl soziodemografische Merkmale als auch die Qualität der Infrastruktur des ÖPNV kontrolliert werden. Ein Grund könnten Messfehler sein, denn die Qualität der Infrastruktur wurde aus Befragtensicht erhoben. Ferner könnten Ansteckungseffekte, Peer-Verhalten, Normen und Gewohnheiten eine Rolle spielen. Beispielsweise konnten andere Studien zum Mobilitätsverhalten bereits zeigen, dass die Autonutzung im ländlichen Raum aufgrund von Unterschieden in Sozialisation und Vorerfahrungen grundsätzlich stärker in Handlungsroutinen verankert ist als in den Städten (Matthies und Klöckner 2015). Solche Unterschiede im allgemeinen Mobilitätsverhalten wären in künftigen Analysen, idealerweise mit einem Längsschnittdesign, zu berücksichtigen.
Einschränkend ist zu unserer Studie anzumerken, dass unsere Daten nicht auf einer Zufallsstichprobe beruhen, sondern auf ein Online-Access-Panel zurückgreifen. Auch wenn unsere Befragten aufgrund der vorgenommenen Quotierung hinsichtlich Alter, Geschlecht, Bundesland und Schulabschluss die Bevölkerung zwischen 18 und 69 Jahren in Deutschland repräsentieren, lässt sich eine Selektivität in weiteren Merkmalen nicht ausschließen. Wir haben argumentiert, dass wir zumindest nicht von vollständig artifiziellen Zusammenhängen ausgehen, die allein durch einen Selektionsbias verursacht sind. Allerdings besteht die Möglichkeit, dass die Schätzung der Stärke der Zusammenhänge verzerrt sein könnte. Auch wenn dies zutreffen sollte, zeigen unsere Analysen immer noch, dass die ÖPNV-Infrastruktur in ländlichen Regionen zumindest in einer Subgruppe der Bevölkerung ein deutliches Hemmnis zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel darstellt. Ebenfalls halten wir die beobachteten Unterschiede nach Einkommen für groß genug, um von einer substanziellen Assoziation auszugehen, die auch in anderen (Zufalls‑)Stichproben beobachtbar ist. Wir waren an dem grundsätzlichen Vorhandensein von Zusammenhängen mit Einkommen und Wohnlage (sowie der möglichen Mediation regionaler Unterschiede über die Bevölkerungskomposition oder ÖPNV-Infrastruktur) und weniger an der exakten Identifikation der Effektstärke interessiert. Gleichwohl wäre es künftig sinnvoll, Realexperimente wie das 9ET mit Zufallsstichproben der Bevölkerung zu evaluieren und dafür Begleitforschung mit mehr zeitlichem Vorlauf zu planen.
Zudem erfassen wir das Mobilitätsverhalten der Befragten relativ grob, weshalb wir uns in unseren Analysen auf die Pendelwege beschränken. Substitutionseffekte in anderen Mobilitätsbereichen könnten sich hiervon unterscheiden. Wir können daher auch keine Aussagen darüber treffen, wie stark sich insgesamt die Mobilität ausgeweitet oder verlagert hat. Eine dritte Einschränkung besteht durch die fehlende Längsschnittinformation: Retrospektive Angaben, wie wir sie für die Analyse von Veränderungen im Mobilitätsverhalten verwenden, können durch fehlerhafte Erinnerungen der Befragten verzerrt sein. Während diese Gefahr bei einfachen Faktenfragen, etwa nach der ÖPNV-Nutzung bei regelmäßigen Fahrten im Vormonat, relativ gering ist, lassen sich subjektive Einschätzungen, beispielsweise zur im Vormonat wahrgenommenen Attraktivität des ÖPNV, retrospektiv nicht erheben (weshalb wir vom Einbezug solcher Variablen abgesehen haben). Einwenden könnte man auch, dass Veränderungen im Mobilitätsverhalten zwischen Mai (Monat vor Gültigkeit des 9ET) und Juni (erster Gültigkeitsmonat) durch allgemeine Veränderungen im Mobilitätsverhalten zwischen den beiden Monaten bedingt sein könnten. Aufgrund wärmeren Wetters könnten im Juni generell weniger Personen das Auto nutzen; zugleich unterscheiden sich die Monate in der Anzahl von Ferien- versus Arbeitstagen. Diese allgemeinen Trends sollten sich jedoch auch in der Gruppe ohne 9ET zeigen. Da wir abweichende Trends bei Personen mit 9ET beobachten, dürften wir gleichwohl Effekte dieses Tickets sehen – auch wenn wir nicht ganz ausschließen können, dass es womöglich zeitliche oder saisonale Trends gibt, die zwischen den Gruppen mit und ohne 9ET variieren.
Aus unseren Analysen ergeben sich Implikationen für das 49 € Ticket (49ET). Zum einen lässt sich vermuten, dass ein ÖPNV-Ticket, das für alle Bevölkerungsgruppen für den noch immer relativ geringen Preis von 49 € verfügbar ist, zu einer finanziellen Entlastung unterer Einkommensgruppen führen wird. Allerdings dürfte sich ein geringerer Umverteilungseffekt ergeben, da das 49ET im Vergleich zu einem typischen Job‑, Semester- oder Seniorenticket eine geringere Preisdifferenz aufweist, sodass Abonnenten weniger entlastet werden, als das beim 9ET der Fall war. Dies ist vor dem Hintergrund anderer Subventionen zur Dekarbonisierung zu bewerten, die – wie beispielsweise die E‑Auto-Prämie oder Subventionen für PV-Anlagen und Wärmepumpen – Einkommen von unten nach oben umverteilen (Löschel et al. 2021). Es bleiben jedoch durchaus Gruppen, für die selbst das 49ET eine deutliche Vergünstigung im Vergleich zu einer traditionellen Monatskarte darstellen kann; etwa Erwerbstätige, deren Arbeitgeber keine Jobtickets anbieten, oder Personen mit Wohnort außerhalb von Verkehrsverbünden. Für viele Gelegenheitsnutzer dürfte das 49ET aufgrund des höheren Preises allerdings unattraktiv erscheinen. Für Empfänger von Transferleistungen könnte es unter Umständen sogar absolut zu teuer sein.
Interessant ist die Frage nach Auswirkungen der neuen Fahrkarte auf das Mobilitätsverhalten: In unseren Daten zeigen sich neben dem Anstieg in der ÖPNV-Mobilität insgesamt auch Substitutionseffekte im Pendelverkehr. Zu erwartende Auswirkungen des 49ET auf das Mobilitätsverhalten lassen sich daraus nicht folgern, da sowohl der höhere Preis als auch der längere Zeithorizont des Angebots die Kauf- und Mobilitätsentscheidungen der Menschen auf andere Weise beeinflussen werden, als das beim 9ET der Fall war. Ein dauerhaft verfügbares 49ET könnte sich beispielsweise auch auf Investitionsentscheidungen für oder gegen ein (Zweit‑)Auto bis hin zur Wohnort- und Arbeitsplatzwahl auswirken.
Wichtig wäre es daher, die Wirkungen des 49ET umfassend zu evaluieren. Beim 9ET war dies nur eingeschränkt möglich, da aufgrund der kurzfristigen Entscheidung zur Einführung des Tickets keine geeigneten Paneldaten verfügbar waren, also Daten auf Basis einer deutschlandweiten Zufallsstichprobe mit einer umfassenden längsschnittlichen Erhebung von soziodemografischen Merkmalen sowie Einstellungen zu Umwelt und Mobilität. Für das 49ET mit seinem längeren Zeithorizont werden entsprechende Daten eher verfügbar sein, und es bleibt abzuwarten, wie das 49ET die Mobilität in Deutschland verändert, auch im Vergleich zum Experiment mit dem 9ET.
Notes
Dividiert man die 31 Mio. in Besitz des 9ET durch die 77,7 Mio. Menschen in Deutschland ab 7 Jahren, sind es 40 %. Genau lässt sich der Anteil der deutschen Bevölkerung mit Ticketbesitz allerdings nicht berechnen, da 9ETs auch von Personen aus dem Ausland (z. B. Touristen) gekauft wurden. Der VDV (2022) schätzt den Nutzungsanteil unter der Bevölkerung ab 14 Jahren im Juni auf 46 %.
Laut des Literaturüberblicks von Hörcher und Tirachini (2021) ist generell Forschung zu nichtlinearer Preissetzung, etwa in Form von Abonnements, bisher selten.
Generell fällt der Nachvollzug dieser Studie nicht leicht, da (auch auf Nachfrage) ein Abschlussbericht lediglich in Form eines Foliensatzes mit Stichpunkten, aber nicht in Form eines detaillierten Ergebnis- und Methodenberichts verfügbar ist. Es scheint also für diese besonders umfangreiche Evaluation im Auftrag des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen keine weitergehende Dokumentation und kein Datenzugang zu bestehen. Uns ist auch keine andere, auf systematischen, bundesdeutschen Daten basierende Begleitforschung bekannt (siehe für eine ähnliche Kritik Gaus et al. 2023).
Die Einschränkung auf unter 70-Jährige ist bei der ersten Forschungsfrage zu berücksichtigen; für die zweite Forschungsfrage ist diese Einschränkung irrelevant, da hier der Fokus auf Personen in Ausbildung oder Erwerbstätigkeit liegt.
So enthält unser Sample auch einen relativ hohen Anteil von Personen mit sehr geringem Einkommen, die in anderen Survey-Studien aufgrund des „Akademiker- oder Mittelschichtsbias“ oft unterrepräsentiert sind (siehe für die Überrepräsentation von Akademikern in Umweltsurveys z. B. Andor et al. 2021).
Befragte mit wechselnden Arbeitsorten oder einer überwiegenden Tätigkeit im „Homeoffice“ wurden über diese Frage gefiltert und ausgeschlossen.
Diese Merkmale könnten aufgrund der mit ihnen assoziierten finanziellen und zeitlichen Ressourcen und Mobilitätsanlässe Einfluss auf das Mobilitätsverhalten haben. Für erwerbstätige Personen dürften die Zuverlässigkeit und Dauer der regelmäßigen Fahrten zur Arbeitsstelle von besonderer Bedeutung sein. Dagegen könnte für Familien mit Kindern vor allem die Bequemlichkeit des Reisens eine Rolle spielen; zudem unterscheidet sich die Kostenbilanz je nach Kinderzahl: Beim ÖPNV verursachen Mitfahrer zusätzliche Kosten, beim Auto ist das nicht der Fall, was speziell für Familien das Auto gegenüber dem ÖPNV attraktiver machen könnte. Das Geschlecht ist deshalb relevant, da aus früheren Studien bekannt ist, dass Männer eine stärkere Präferenz für das Autofahren haben. Zudem gibt es Geschlechterunterschiede im Umweltbewusstsein, das wir allerdings zusätzlich mitkontrollieren. Ein weiterer möglicher Confounder ist ein allgemeiner Zeittrend. Analysen zu Personen ohne 9ET helfen, allgemeine Trends bei der Verkehrsmittelwahl zwischen den Monaten vor und nach Gültigkeit des 9ET abzuschätzen, die nicht durch das 9ET bedingt sind.
In unserer Stichprobe ist nur ein Motorradfahrer. Deshalb fassen wir Motorrad/Auto zur Kategorie „Auto“ zusammen.
Nahezu alle Personen, die auf Bus/Bahn umgestiegen sind, besitzen ein 9ET (44 von 46), während nur 2 Personen mit Umstieg auf Bus/Bahn kein Ticketbesitz angegeben haben. Bei diesen Personen könnte es sich um Pendler mit Fernverkehrszügen handeln, in denen das 9ET nicht gültig ist. Beide haben Pendelentfernungen von über 30 km für den einfachen Weg angegeben.
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Auspurg, K., Schmiedeberg, C., Bozoyan, C. et al. Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel und finanzielle Entlastung durch das 9-Euro-Ticket. Köln Z Soziol 75, 341–363 (2023). https://doi.org/10.1007/s11577-023-00918-y
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