1 Die Organisationsförmigkeit des Sterbens

In den ethnographischen Studien der 1960er-Jahre zum Sterben in US-amerikanischen Krankenhäusern konstituierte sich ein unter anderem auch organisationskritischer thanatologischer Diskurs (Glaser und Strauss 1965; Sudnow 1967). Auch heute noch sind Teile der thanatosoziologischen Forschung zum Sterben in Hospizen und auf Palliativstationen von einem Misstrauen gegenüber dessen Organisationsförmigkeit geprägt. Tatsächlich sind Schmerzmanagement und Symptomkontrolle im Sterben mittlerweile so gut steuerbar, dass sie als neue, wiederum „nur“ medizinische Formen der routinierten, organisierten und professionellen Kontrolle des Sterbens erscheinen. Medizinkritisch wird deshalb eher eine holistische und spirituelle Unterstützung des Sterbenden und dessen Befreiung von medizinischer Autorität angestrebt (Clark 2002). Eine implizite Leitfrage der entsprechenden sozialwissenschaftlichen Forschung lautet insofern genau genommen, ob Routinen der Organisation den Bedürfnissen der Sterbenden überhaupt entsprechen können oder nicht. Aus diesem Impetus heraus lässt sich auch das starke thanatosoziologische Interesse an der Perspektive von Sterbenden und deren Angehörigen erklären (u. a. Charmaz 1983; Lawton 1998, 2000; Masson 2002; Chattoo und Ahmad 2004; Terry et al. 2006; Buchbinder et al. 2009; Broom und Cavenagh 2011; Broom und Kirby 2013; Kellehear 2014; Sampson et al. 2014; Hilário 2016; Gott et al. 2019; Krikorian et al. 2020). Es lässt sich aber auch erklären, warum organisatorische Routinen, die das Sterben begleiten, regelmäßig kritikwürdig erscheinen, die Organisationsförmigkeit selbst aber nicht explizit thematisiert wird. Denn obwohl mit der organisierten Sterbebegleitung heute sehr innovative Formen der medizinischen Behandlung des Sterbens entstanden sind, finden Studien zum Thema doch immer wieder nur neue (organisationsförmige) Strukturen, neue Routinen und neue normative Setzungen, die auf diese Weise schlicht den Eindruck erzeugen, dass die neuen Handlungsmöglichkeiten den Erlebensmöglichkeiten des Sterbens durch die Sterbenden selbst im Weg stehen.

Es gibt jedoch auch Autoren, die die Organisationsförmigkeit und die damit verbundene Komplexität unterschiedlicher Logiken thematisieren. Stacey et al. (2019) haben in diesem Zusammenhang bereits hervorgehoben, es bedürfe deswegen der Erforschung der „institutional and organizational realities“ (Stacey et al. 2019, S. 212) der Sterbeversorgung. Hodiamont et al. (2019) konstatieren ähnlich, dass der holistische Versorgungsanspruch der Palliative Care eher als ein „complex adaptive system“ (Hodiamont et al. 2019, S. 157) verstanden werden müsse. Und Bailey et al. (2020) haben gezeigt, dass sich Sterbeverläufe als „shaped in practice by a struggle between distinct ‚institutional logics‘“ (Bailey et al. 2020, S. 1277) darstellen. In diesem Zusammenhang wird auch auf die „differente[n] Konstruktionslogiken von Professionellen“ (Heuer et al. 2015, S. 261) sowie auf die Versorgungsmöglichkeiten und -limitationen unterschiedlicher Organisationsformen (z. B. Palliativstation und Hospiz) aufmerksam gemacht (Heuer et al. 2015, S. 271 ff.; Knoblauch und Zingerle 2005). Auch Göckenjan und Dreßke (2002) haben dies mit Blick auf das Krankenhaus herausgearbeitet.

2 Soziologische Kritikformen der organisierten Sterbebegleitung

Der Umgang mit der Komplexität der organisierten Sterbebegleitung wird in der entsprechenden Forschungsliteratur regelmäßig als defizitär beobachtet (McNamara und Rosenwax 2007). Es lassen sich drei Varianten einer solchen Kritik an der Organisation der Sterbebegleitung herausarbeiten. Gewarnt wird vor einer biopolitischen, einer konsumistischen, aber auch vor einer medizinisch-professionellen Überformung der Sterbeerfahrung in Organisationen. Diese drei Kritikformen stellen analytische Idealtypen dar.

Eine biopolitisch inspirierte Kritikform argumentiert, dass sich durch die „ideology of the good death“ (Hart et al. 1998, S. 75) neue Formen sozialer Kontrolle von Patienten einstellen und es letztlich mit und durch die Thematisierung des Sterbens zu einer Vermachtung des Sterbens im Rahmen eines biopolitischen Dispositivs der Selbstoptimierung kommt (Armstrong 1987, 1995). Gerade die Disziplinartechniken der Psychologisierung, des Bekenntnisses sowie bestimmter therapeutischer Konversationsrituale und die Erwartung, im Sterben Biographiearbeit zu leisten, würden aufseiten der Sterbenden die Akzeptanz und Bewusstheit des Sterbens und damit bestimmte Formen des Erlebens geradezu erzwingen (Armstrong 1995; Hart et al. 1998; Clark 1999; Bishop 2011; Streeck 2016, 76,77,a, b). Sterben gestaltet sich nach diesem Verständnis als ein von der Organisation machtvoll überformter Prozess, der sich zwar das Ideal des authentischen und selbstbestimmten Sterbens zum Versorgungsprogramm mache, jedoch letztlich „new forms of patronising the patient“ (Streeck 2020b, S. 350) etabliere. Das Ideal der ganzheitlichen Versorgung Sterbender verkehre sich damit aber zu „totalitarian care“ (Bishop 2011, S. 277).

Eher konsumkritisch angelegt sind Ansätze, die Formen der Routinisierung, der Bürokratisierung, Kommodifizierung und damit der Technisierung des Sterbens beobachten (James und Field 1992; Kearney 1992; Bradshaw 1996; Floriani und Schramm 2012; Gronemeyer und Heller 2014; Graven et al. 2016; West et al. 2019). James und Field beschreiben die Institutionalisierung der Hospizbewegung als eine Form der „re-medicalisation“ (James und Field 1992, S. 1373) von ganzheitlichen Behandlungsformen Sterbender. Die anfänglichen Ideale der Ganzheitlichkeit sowie ein Ethos der Gemeinschaft und der Familie hätten sich durch Prozesse der Professionalisierung letztlich wieder selbst entkernt (Bradshaw 1996; Graven et al. 2016). Die Hospiz-Bewegung sei zur Organisation geworden, geprägt durch arbeitsteilige Spezialisierung, eine Hierarchie im Hinblick auf Entscheidungslagen sowie durch Standardisierung, Routinisierung und Technisierung der Behandlung Sterbender. Die Organisation von Sterben und Tod wird in dieser Lesart zu einem „Marketingprojekt von Klinik- und Pflegeheimen“ (Gronemeyer und Heller 2014, S. 9). Der Tod würde in diesen Organisationen zwar nicht mehr verdrängt, sondern vielmehr zum expliziten Gegenstand vielfältiger Behandlungsangebote der multiprofessionellen Versorgung – und damit auch zu einer Ware. Die Transzendenz des Todes sinke dann aber auf das „Niveau eines organisatorischen Problems“ (Gronemeyer und Heller 2014, S. 13). West et al. (2019) sehen, um ein besonders drastisches Beispiel dieser Kritikform zu nennen, in der Institutionalisierung von Einzelzimmern in der Hospizarbeit eine Abwendung von gemeinschaftlichen Idealen und damit a „nod to a consumer-led, customizable culture of current society“ (West et al. 2019, S. 400; vgl. kritisch: Graven und Timm 2019, S. 12). Die lebensweltliche Einbettung der „patient experience“ (West et al. 2019, S. 400) des Sterbens werde somit durch die Kalküle einer instrumentellen Rationalität und also auch durch die Imperative der Steuerung und Kontrolle kolonialisiert (West et al. 2019). Auch in diesem Argument wird angenommen, dass das patientenseitige Erleben des Sterbens durch das Handeln der Organisation technisch und konsumistisch überformt und verflacht wird.

Diese Kritikformen des Sterbens paaren sich oftmals noch mit einer allgemeinen soziologischen Professions- und Expertenkritik. Insbesondere die medizinische Leistung, Sterbeverläufen durch ärztliche Entscheidungen eine prägende Verlaufsform zu geben, erscheint hier als kritikwürdig. Exemplarisch wird diese Form der Medikalisierungskritik bei Alan Kellehear sichtbar (u. a. Kellehear 2009, 2014, 2019). Kellehear identifiziert eine Reihe von „key determinants“ (Kellehear 2019, S. 11), welche das moderne Sterben bestimmen und das Erreichen des Ideals eines „guten“ Sterbens dadurch geradezu unmöglich machten: „Our fear of death is a fear of a particular decontextualized portrayal of death manufactured by problem-based professional writing by those with an uncritical acceptance of the medical view of dying“ (Kellehear 2019, S. 18). Es seien gerade professionelle medizinische Experten, die ein Erleben des Sterbens auf medizinische Sachfragen reduzierten und damit den Sterbenden als ganzen Menschen um die existenzielle Erfahrung des eigenen Sterbens brächten. Stefan Timmermans (2005) hat in diesem Zusammenhang herausgearbeitet, wie Sterben in modernen Gesellschaften durch professionelle Deutungsarbeit mit Bedeutung aufgeladen wird: „Death brokering refers to the activities of medical authorities to render individual deaths culturally meaningful“ (Timmermans 2005, S. 993). Über dieses Death Brokering komme es zu einem „active management of both the physical condition of the patient and the actions and expectations of the dying and their relatives“ (Timmermans 2005, S. 998). Professionelle Handlungsskripte steuern demzufolge das individuelle Erleben des Sterbens in Organisationen auch in bisweilen aggressiver Form (Timmermans 2005, S. 998). Als andere Seite des professionellen Death Brokering erscheinen die Hospiz- und Right-to-die-Bewegungen (Beauchamp 2006), die die Deutungsmacht professioneller Expertise an die Patienten zurückgeben wollen, um ihnen ein selbstbestimmtes Handeln und Erleben des Sterbens zu ermöglichen.

Die Thanatoforschung hat, getragen von diesen drei Kritikformen, wichtige und auch in der Anzahl beeindruckende Einsichten zu den Lebenswelten Sterbender versammelt. Diese Denkungsarten etablieren aber auch den Verdacht, dass sich das Sterben und damit die Perspektive der Betroffenen nicht durch die Organisation ermöglicht, sondern geradezu nur gegen deren Widerstand behaupten lasse. Unser Argument lautet nun folgendermaßen: Die soziologische Kritik des Sterbens kann in organisatorischem Handeln meist nur unangemessene Einflüsse einer Disziplinargesellschaft, einer Konsumgesellschaft, einer medikalisierten Gesellschaft erkennen und vermutet im Umkehrschluss angemessene Erlebensmöglichkeiten des Sterbens jenseits von Organisationen oder jenseits der Organisationsförmigkeit. Eine solche organisatorische Praxis versucht demzufolge, dem Tod handelnd beizukommen, und bringt die Sterbenden gerade deswegen um ihre Erlebensmöglichkeiten.

Anstatt immer wieder in diesen Widerspruch hineinzulaufen, möchten wir in dieser Studie voraussetzungsloser beginnen und fragen, wie in konkreten Sterbeprozessen in Organisationen Handlungs- und Erlebensmöglichkeiten entstehen oder konkreter, was von wem als selbst gestaltbar wahrgenommen und was als Umwelt des eigenen Handelns nur vorausgesetzt werden kann. Ein soziologisches Verständnis von Handeln als Zurechnungspraxis führt auch ein entsprechendes Verständnis vom Erleben einer Umwelt dieses Handelns als Zurechnungspraxis mit.

Die Kritik am organisierten Sterben zielt auch deshalb zumeist auf eine Kritik mangelnder Erlebensmöglichkeiten, weil Organisationen als handlungsorientierte Sozialsysteme stets mit Handeln assoziiert werden. Was in Organisationen geschieht, wird als Entscheidungshandeln zugerechnet – und vor diesem Hintergrund erscheint das, was den Sterbenden in konkreten Interaktionssituationen eines Sterbeverlaufs widerfährt, als Verhinderung von Erlebensmöglichkeiten. Organisationen können sich schwer auf ein eigenes Erleben der Sterbenden einlassen, weil sie eben entscheiden, also handeln müssen – und selbst der Verzicht auf konkrete Entscheidungen wird ihnen als Handlung zugerechnet. Anstatt routiniertes Handeln und authentisches Erleben gegeneinander auszuspielen, möchten wir Handeln und Erleben also gleichermaßen als Effekt der Organisationsförmigkeit dieser Praxis verstehen und untersuchen. Einerseits sind hier professionelle Akteure schon strukturell auf eine handelnde Perspektive verwiesen, andererseits laufen diese Bemühungen letztlich alle darauf hinaus, das erwartbar eintretende Sterben schlicht erleben zu müssen.

Die systemtheoretische Unterscheidung von Erleben und Handeln, wie wir weiter unten genauer erläutern werden, verweist auf Zurechnungsmodi der organisatorischen Verarbeitung von Informationen und Akteurskonstellationen. Insbesondere die Handlungsorientierung in Organisationen – es wird über Sterbeverläufe und ihre Gestaltung explizit entschieden – führt zu einem Latenzverlust in einem Geschehen, das sich unmittelbarer Kontrolle und Gestaltbarkeit entzieht und dessen Komplexität kaum kommunizierbar ist. Gerade aufgrund des Entscheidungsbedarfs kann nicht mehr auf latente Bedingungen traditioneller, alltagsnaher und naturwüchsiger Formen zurückgegriffen werden. Das Sterben ist deshalb womöglich ein besonderer Indikator, an dem sich ablesen lässt, wie eine moderne Gesellschaft damit umgeht, wenn latente Bedingungen immer weniger vorausgesetzt werden können.

Wir werden im Folgenden zunächst unseren Datensatz, die Methode sowie die Methodologie unserer Studie vorstellen (Abschn. 3). Anschließend arbeiten wir anhand von Interviews mit Ärzten, Pflegefachkräften und Sterbenden heraus, wie in Hospizen und auf Palliativstationen Handlungs- und Erlebensmöglichkeiten des Sterbens zugerechnet werden (Abschn. 4). Die Ergebnisse zeigen, wie Sterbeverläufe aus unterschiedlichen Perspektiven gedeutet werden. Der enorme Freiraum der Deutungsarbeit im Umgang mit dem Sterben, der in den Interviews sichtbar wird, lässt sich über den bereits eingeführten Begriff der „Konsensfiktion“ (Hahn 1983) erschließen (Abschn. 5). Über diese Analyse der kommunikativen Zurechnungen von Handlungs- und Erlebensmöglichkeiten wird sichtbar, dass es einen Bedarf für einen flexiblen Umgang mit Zurechnungspraktiken gibt. Die Frage danach, worin dieser Bedarf besteht, wird im letzten Abschnitt bearbeitet (Abschn. 6).

3 Daten, Methode und Methodologie der Studie

Wir untersuchen Sterbeverläufe unter Rückgriff auf empirisches Material aus dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt „Vom ‘guten Sterben’. Akteurskonstellationen, normative Muster, Perspektivendifferenzen“. In diesem Projekt fragen wir nach den verschiedenen Perspektiven, normativen Idealen und Akteurskonstellationen, die sich in der Versorgung Sterbender auf Palliativstationen und in Hospizen ergeben. Um diese unterschiedlichen Perspektivierungen aus der Sicht aller Beteiligten zu ermitteln, haben wir einerseits leitfadengestützte, problemzentrierte Experteninterviews mit allen beteiligten professionellen Akteuren sowie narrative Interviews mit Patienten von Palliativstationen und Bewohnern von Hospizen und Angehörigen sowie Ehrenamtlichen geführt. Andererseits haben wir Feldethnographien erhoben, wie etwa Beobachtungsprotokolle von Übergaben, Fallbesprechungen, Teamsitzungen etc. Insgesamt haben wir sieben Institutionen beforschen können, davon fünf Hospize sowie zwei Palliativstationen. Dabei wurden insgesamt 147 Interviews geführt. Wir konzentrieren uns in diesem Beitrag auf Interviews mit professionellen Pflegekräften, Palliativmedizinern sowie mit Sterbenden.

Die Auswahl der von uns beforschten Institutionen erfolgte einerseits auf Grundlage bereits bestehender Kontakte aus früheren Forschungsprojekten. Andererseits wurde im Sinne eines Theoretical Sampling bei der Rekrutierung der teilnehmenden Organisationen im Hinblick auf die Lage (urban/ländlich), auf die institutionelle Versorgungsdichte in der Region sowie die konfessionelle Prägung selektiert. Eingang in unsere Stichprobe fanden schließlich Organisationen aus West‑, Nord- (höhere Versorgungsdichte) sowie Süd- und Ostdeutschland (geringere Versorgungsdichte). Alle Organisationen sind im großstädtischen Raum angesiedelt, zwei von fünf Organisationen hatten eine explizite konfessionelle Ausrichtung. Der Zeitraum der Datenerhebung erstreckte sich von November 2017 bis Februar 2019. Alle Interviews und Beobachtungen wurden von jeweils zwei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus der Soziologie und der Moraltheologie durchgeführt. Basierend auf der Forschungsfrage erfolgte die Auswahl der professionellen Studienteilnehmer nach der Zugehörigkeit zu Akteursgruppen. Im Rahmen einer multiprofessionellen Teamsitzung wurden das Forschungsprojekt und seine Fragestellung in den jeweiligen Einrichtungen vorgestellt, mögliche Interviewpartnerinnen und -partner wurden bei dieser Gelegenheit persönlich angefragt. Patienten sowie Angehörige als sensibelste Teilnehmergruppen wurden vor der Kontaktaufnahme durch uns von den Mitarbeitern der Einrichtung auf eine mögliche Teilnahme an der Studie angesprochen. Fast ausnahmslos waren die angefragten Personen zur Teilnahme bereit, sie erhielten schriftliche Informationen zum Studienhintergrund, zu den verwendeten Methoden und zum Datenschutz.

Die Experteninterviews folgten einem halbstrukturierten Leitfaden und dauerten 40–80 min. Im Rahmen der Befragung wurden die Professionellen unter den Interviewteilnehmern aufgefordert, ihren Arbeitsalltag einschließlich eines typischen Tagesablaufs in der Einrichtung zu schildern. Nachfragen bezogen sich vor allem auf belastende Situationen oder Faktoren im Zusammenhang mit der Sterbebegleitung. Zusätzlich wurden die Teilnehmer um die Erzählung sowohl negativer als auch positiver „critical episodes“ gebeten. Die narrativen Interviews mit Patienten sowie Angehörigen fokussierten auf deren Selbstverortung und Selbstbeschreibung im institutionellen Gefüge von Palliativstation und Hospiz. Die Leitfäden der Interviews waren ebenfalls strukturiert, boten aber über das Setzen unbestimmter Erzählstimuli die Möglichkeit, die eigene Krankengeschichte nach sich aus der Erzählsituation ergebenden Relevanzen zu erzählen (Nassehi 1995). Alle Interviews wurden aufgezeichnet und anschließend wörtlich durch ein professionelles Transkriptionsbüro transkribiert. Nach einem abschließenden Abgleich von Transkript und Aufnahme wurden die Audiodateien gelöscht. Die Experteninterviews gestalteten sich problembezogen im Hinblick auf die jeweilige professionelle Fachlichkeit, unsere Vorgehensweise blieb dabei aber explizit offen für narrative und biographische Elemente (Nassehi und Saake 2002, S. 73) und weicht damit von der klassischen Auffassung ab, wonach sich Experteninterviews lediglich auf das Expertenwissen beziehen. Während sich in den Experteninterviews an die dargebotenen Ausführungen und Problembezüge z. T. inhaltliche und theoretisierende Nachfragen anschlossen, wurde in den narrativen Interviews mit Sterbenden über das Evozieren längerer Erzählpassagen und dichter Selbstbeschreibungen noch stärker versucht, die selbst gesetzten Relevanzen und Selektionen der Interviewpartner sichtbar zu machen (Rosenthal und Loch 2002, S. 221).

Die hier untersuchten Interviewpassagen wurden über das Prinzip maximaler Kontrastierung ausgewählt, um entgegengesetzte idealtypische Verläufe konturieren zu können („gut“ und „schlecht“). Die Auswertung der Interviewtranskripte und Beobachtungsprotokolle erfolgte mit Hilfe eines methodisch sparsamen Vorgehens, welches die je unterschiedlichen Einschränkungen von Kontingenzspielräumen zur funktionalen Rekonstruktion kommunikativer Bezugsprobleme sichtbar machen möchte (Nassehi und Saake 2002; Nassehi 2006, S. 310 ff., 2011, S. 45 ff.; Saake 2005, 2010). Als theoretische Grundlage für die Analyse dieser Daten dient eine praxistheoretisch und empirisch geöffnete Lesart der Systemtheorie, die gesellschaftliche Differenzierung an den je unterschiedlichen Erfolgsbedingungen konkreter kommunikativer Kontexte festmacht. Ziel der funktionalen Analyse ist eine Bestimmung der kommunikativen Zurechnung von Bezugsproblemen und deren Lösungen und somit die Bearbeitung der Frage, über welches Lösungsangebot und über welches damit verbundene Problem sich die beforschte Praxisform stabilisiert. Wir fragen also: Für welches Problem ist die spezielle Art der kommunikativen Zurechnung von Handlungs- und Erlebensmöglichkeiten im Kontext organisierter Sterbebegleitung eine Lösung? Von Kontexten reden wir, um dem spezifischen Prinzip der an der Sachdimension orientierten, also funktionalen Differenzierung in der modernen Gesellschaft Rechnung zu tragen (Parsons 1977; Alexander und Colomy 1990; Alexander 1985; 1993; Münch 1984, 1991; Luhmann 1997; Schimank 1996; Nassehi 2004, 2011). Limitationen in sozialer, sachlicher und zeitlicher Hinsicht erzeugen unterschiedliche Selektionsrahmen für Anschlussmöglichkeiten (Saake 2010, S. 103). Wenn sich solche Rahmen oder Kontexte bewähren, also zeitlich stabilisieren, entsteht die Frage danach, auf welches Bezugsproblem sie reagieren.

Niklas Luhmann (1981) hatte mit der Unterscheidung von Handeln und Erleben eine kommunikationstheoretische Versöhnung von Handlungstheorie und phänomenologischer Wissenssoziologie im Blick (Saake 2012, S. 77). Der theorietechnische Vorteil dieser Unterscheidung liegt für Luhmann gerade darin, die wissenssoziologische Frage der Deutung des Erlebens von Welt und die Theorie sozialen Handelns als kommunikative Zurechnungsprozesse zu modellieren. Es geht nicht darum, was objektiv Handeln oder Erleben ist, sondern welche Ereignisse in einem Kommunikationsprozess als Handeln oder eben als Erleben zugerechnet und verarbeitet werden. Im Fokus unserer Analyse steht also, wie sich im Kontext formaler Organisation kommunikative Zurechnungsprozesse des Handelns und Erlebens realisieren (Nassehi 2002). Diese Studie dient dazu, Zurechnungsformen explizit zu machen.

Wir untersuchen also, wie in den von uns geführten Interviews kommunikative Kontexturen aufgespannt werden, die dann Möglichkeiten und Limitationen des Handelns und Erlebens selektiv zurechnen. Methodologisch ist es uns darum zu tun, in den Interviews die Selektivität kommunikativer Selektionen sichtbar zu machen und als empirischen Befund der „Kontingenzvernichtung“ (Nassehi und Saake 2002, S. 70) ernst zu nehmen. Die konkrete methodische Auswertung der Stabilisierung von kommunikativen Anschlusszusammenhängen anhand der geführten Interviews erfolgte im Sinne der Grounded Theory. Das gesamte Datenmaterial wurde dafür von uns in gemeinsamen Workshops der Projektmitarbeiter sowie der Projektleiterin und den Projektleitern immer wieder gesichtet, diskutiert und anschließend mit dem Programm MAXQDA kodiert. In den einzelnen Interpretationsschritten wurden die Daten zunächst offen kodiert, anschließend über den thematischen Vergleich in Passagen paraphrasiert und axial unterschieden und gruppiert. Die Analyse verdichtete sich dann selektiv zu „Schlüsselkategorien“ (Strauss 2004, S. 448) in der Beschreibung von Sterbeverläufen. In der Sachdimension fragen wir nach (funktionalen) Bezugsproblemen der Kommunikation, in der Sozialdimension nach Adressierungen und Positionierungen von Akteurskonstellationen und in der Zeitdimension nach den Verlaufsformen von Sterbeprozessen. Die systemtheoretische Annahme der Funktionalität konkreter, sich wiederholender Sätze ermöglicht somit eine Auswertung, die den Blick auf den konkreten Kontext, seine Bedingungen und die daraus resultierende Anschlussfähigkeit richtet. Allgemeine normative Annahmen, wie sie sich in den erwartbaren Formen der Kritik am organisierten Sterben zeigen, werden zunächst zurückgestellt, insofern sie im konkreten Kontext nicht direkt anschlussfähig sind.

Unsere Studie unterliegt methodischen und methodologischen Limitationen. In den Interviews wird ein praxisbezogenes Wissen abgerufen, das sich einer jeweiligen Perspektive verdankt. Dabei entstehen auch vielfältige individuelle Variationen (z. B. im Hinblick auf die Einschätzung eines Sterbeverlaufs als „gut“ oder „schlecht“). Diese Variationen werden jedoch hier zugunsten der sich wiederholenden Muster in der Analyse vernachlässigt. Wir konzentrieren uns dabei zudem analytisch auf die Organisationsförmigkeit des formalen Kontextes im Horizont anderer Ordnungsebenen der Kommunikation (Interaktion, Gesellschaft). Die systematische Analyse differenter Organisationsformen (z. B. Palliativstation/Hospiz) der organisierten Sterbeversorgung (Heuer et al. 2015) muss dahinter zurücktreten. Schließlich ist zu betonen, dass die in den Interviews entworfenen Selbstbeschreibungen keine homologischen Schlüsse auf die beobachtete Praxis selbst zulassen. Diese sind aber gleichwohl in ihrer Selektivität Ausdruck bestimmter Muster und Anschlusswahrscheinlichkeiten der Kommunikation, die sich einem spezifischen Kontext verdanken (Saake 2005).

4 Sterbeverläufe und ihre Handlungs- und Erlebensmöglichkeiten

Wir konzentrieren uns im Folgenden auf zwei typische Zurechnungskonstellationen des Erlebens und Handelns: die Zurechnung von Handeln und Erleben durch professionelle (pflegerische und ärztliche) Akteure (Abschn. 4.1) und die Zurechnung von Handeln und Erleben durch die Perspektive der Sterbenden selbst (Abschn. 4.2).

4.1 Professionelles Handeln und Erleben

In diesem Abschnitt stellen wir zunächst „gute Verläufe“ dar und kontrastieren sie danach mit „schlechten Verläufen“.

4.1.1 Gute Verläufe: Zurechnungen eines gemeinsam erlebten Sterbens

Der Idealfall.

Welche Sterbeverläufe gelten aus der Perspektive professioneller Akteure als gut behandelbar? Und wie können diese Akteure Sterbeverläufe als „gut“ erleben? Die im Folgenden zitierte Passage aus einem Interview mit einer Pflegekraft eines Hospizes beschreibt einen idealtypischen palliativen Sterbeverlauf folgendermaßen:

„Das Ganze kann ja im Idealfall möglichst symptomfrei einfach sehr schleichend langsam vonstattengehen, mit dem Wissen des Bewohners. Das heißt, er ist darauf vorbereitet, er weiß, dass es schlechter werden wird, er weiß, dass er sterben wird. Er ist sich dessen bewusst. … Also natürlich, wenn jemand dann laufen konnte und nicht mehr laufen kann plötzlich, dann kann man das natürlich jetzt von außen als Verschlechterung sehen, aber für ihn ist es vielleicht ein ganz normaler Prozess, der jetzt einfach vonstattengeht. Und so ist es auch für uns. … Dementsprechend sind wir von vornherein drauf vorbereitet“ (E-PF-H-14, 123–137).

„Gute“ Sterbeverläufe gestalten sich aus der Perspektive dieser Pflegekraft eines Hospizes als symptomfreie und bewusst ablaufende Sterbeverläufe. Als „gut“ können Sterbeverläufe also dann beschrieben werden, wenn professionelle Akteure wissen können, dass Sterbende wissen, dass sie sterben werden. Klassischerweise setzen professionelle Aufklärungs- und Behandlungsstrategien dabei im Paradigma der Open Awareness darauf, über die Kommunikation mit Patienten Form und Grade des patientenseitigen Wissens über die Krankheit zu testen und gegebenenfalls die Akzeptanz des erwarteten Sterbens zu erzeugen.Footnote 1 Sterben wird hier also als eine Handlung entworfen, in deren Zentrum man das Modell eines sich selbst bewussten Subjekts platziert. Die Zurechnung des Sterbens als bewusste Entscheidung lässt einen Patientenwillen emergieren, der wiederum selbst zum Zurechnungspunkt aller professionellen Entscheidungen wird.

Die zeitlichen Erwartungen dieser Pflegekraft sind zudem von Beginn an auf einen längeren Sterbeprozess eingestellt, also darauf, dass sich Sterbeverläufe als ein Kontinuum von Interaktionssituationen realisieren, in denen ein sterbender Körper der medizinisch-pflegerischen Versorgung bedarf. Dieser zeitlich gedehnte Prozess ist überhaupt die Bedingung dafür, dieses Sterben organisatorisch, professionell und durch Entscheidungen bearbeiten zu können. Das langsame Sterben gestaltet sich für die Pflege deswegen keineswegs per se als Krise, weil man auf beiden Seiten das Sterben als einen eigensinnigen, „normalen“ Verlauf deuten kann („Und so ist es auch für uns“). Professionelle Akteure sind also „von vornherein darauf vorbereitet“, mit einer steten und langsamen Verschlechterung eines sterbenden Körpers konfrontiert zu werden und gerade diese Herstellung der Erlebbarkeit des Sterbens zur Bedingung des eigenen Handelns zu machen.

Interessanterweise kommt dieser Pfleger dann aber auf Perspektivendifferenzen im Erleben des Sterbens zu sprechen. Die Interviewpassage liefert selbst den Verdacht mit, dass der Sterbende selbst und jemand „von außen“ dies als „Verschlechterung“, also anders als der Pfleger, nicht als Routine und „normalen Prozess“, sondern als Krise erlebt. Aber es bestehe die Möglichkeit, dem Sterbenden dies dennoch als Erleben der „Normalität des Sterbens“ zuzurechnen. Man weiß es nicht, ob das wirklich so ist, die Pflegekraft rechnet dem Sterbenden dieses gleiche Erleben aber zu („aber für ihn ist es vielleicht so“). Wir beobachten hier nicht die wirkliche Faktizität gemeinsamen Erlebens zwischen Pfleger und sterbendem Hospizbewohner, sondern wir beobachten, wie ein prinzipiell differentes Erleben im Interview als ein gemeinsames Erleben kommunikativ gedeutet und erzeugt wird. In der Deutung im Interview thematisiert der Pfleger durchaus sein eigenes Nicht-Wissen über das faktische Erleben des hier idealtypisch beschriebenen Patienten. Und er thematisiert genauso, dass erst bestimmte Verlaufsformen eines ruhigen Sterbens in den Interaktionen auf Station diese Zurechnungen im Interview durch den Pfleger möglich machen.Footnote 2 Die immer wieder thematisierte Norm des „ruhigen Sterbens“ wäre also insofern nicht ein Resultat der organisierten Domestikation des Sterbens, die den Sterbenden zur Ruhe zwingt, sondern eine Folge der Norm des erlebbaren Sterbens – was für die Betroffenen wie für das Publikum gilt. Aus der Perspektive professioneller Akteure werden ruhige Sterbeverläufe als „gute“ Sterbeverläufe beschrieben, weil der „Veränderungsprozess“ eines sterbenden Körpers insofern gut behandelt werden kann, weil er niemanden unter Zeit- und Handlungsdruck setzt und somit die Zurechnung auf ein gemeinsames Erleben von Sterbenden und Behandelnden möglich macht.

Die folgende Interviewpassage eines Palliativarztes kann darüber hinaus verdeutlichen, wie in dem Moment, wenn ein solches ruhiges „Dahinscheiden“ beobachtet und erlebt werden kann, auch neue Zurechnungen von Handlungsmöglichkeiten auf beiden Seiten entstehen:

„Die Patienten, die mit sich selber so im Reinen sind, so mit ihrem, auch mit ihrem eigenen Dahinscheiden, also mit ihrem eigenen absehbaren Dahinscheiden, finde ich eigentlich immer ganz wunderbar. Mit denen kann man irgendwie schön arbeiten“ (E_A_P_1, 109–112).

Sätze wie diese finden sich viele in Interviews mit professionellen Akteuren auf Palliativstationen und in Hospizen. Das Besondere an diesem „absehbaren Dahinscheiden“ ist, dass hier das Sterben als „schön“ erlebt werden kann, weil man offenbar auf beiden Seiten passende Handlungs- und Erlebensmöglichkeiten zurechnen kann: Den Sterbenden kann man ihr Sterben als eigenes Handeln zurechnen – mit dem, was passiert, sind sie einverstanden – und für den Arzt ergeben sich daraus offenbar unkomplizierte Arbeitsabläufe. Diese Rekonstruktion des Geschehens ist nicht zynisch gemeint. Organisationen sind dafür gemacht, Handlungs- und Erlebensmöglichkeiten systematisch in den Blick zu nehmen und so aufeinander zu beziehen, dass sich daraus eine Problemlösung ergibt. Nicht dass unterschieden wird, ist also interessant, sondern wie unterschieden wird.

Eigentlich hätte man in Bezug auf die letzten zitierten Sätze sagen müssen, dass man in Fällen wie diesem vermuten kann, dass sich Sterbende mit ihrer Situation irgendwie arrangiert haben, denn in vielen Fällen der langsamen „Verschlechterung“ wird man das nicht wissen. Jetzt fällt auf, dass hier wiederum aus der Perspektive des professionellen Akteurs sehr stark so gedeutet und interpretiert wird, dass man genau jene Erlebensformen für „gut“ hält, denen man ein gemeinsames Erleben zurechnen kann. Der „gute“ Sterbeverlauf zeichnet sich also gerade durch einen „ruhigen“ und von allzu viel Handlung entlasteten Verlauf aus. Über die Entlastung vom Handeln liefert er Erlebensmöglichkeiten, die Anlass für Zurechnungen und Deutungen des Erlebens des Sterbens sein können, und diese Deutungen machen dabei typischerweise einen Sterbenden sichtbar, der als bewusster Autor seines eigenen Sterbens erscheint.

Das „Magische, Unfassbare, Unbeschreibliche“ von Sterbeverläufen erleben.

Die eben zitierte Pflegekraft expliziert vorher im Interview:

„Wenn ich dann auch also die Möglichkeit hab, in dem Moment dabei sein zu dürfen und dann ist das so ein friedliches Sterben, wo ja so sehr irgendwie immer wieder dieser, die Magie in diesem Moment durchkommt, dieses, das Magische, Unfassbare, Unbeschreibliche und das kommt natürlich in einer friedlichen, ruhigen Atmosphäre mehr zur Geltung, wie wenn ich damit beschäftigt bin, jetzt gleichzeitig Blut abzusaugen und Spritzen zu geben und was weiß ich was. Wenn das in einer Ruhe verläuft, wo ich eigentlich nichts weiter tun muss, aber dabei sein darf“ (E-PF-H-14, 52).

Ein idealisierter Sterbeverlauf zeigt sich für die Pflegekraft in einer Form professioneller Passivität, bei der in der Interaktion mit dem Sterbenden nichts weiter zu tun ist, als „dabei sein zu dürfen“. Zumindest stören zu sichtbar werdende professionelle Handlungen wie das akute Blutabsaugen die „friedliche“ Atmosphäre eines gelungenen Sterbeverlaufs, der sich einerseits durch die Entlastung von zu viel Handlung, andererseits durch Anwesenheit auszeichnet. Es bedarf eines hochkomplexen und organisierten Handlungszusammenhangs, um diese Entlastung von zeitrestringiertem Handeln in der Interaktion überhaupt herzustellen zu können. Das „Magische, Unfassbare, Unbeschreibliche“ des Sterbens zeige sich gerade erst in einer ruhigen Atmosphäre, die von Handlungen entlastet ist und sich auf ein „Dabeisein“, ein Erleben des Sterbens in der Interaktion einlassen kann. Der ruhige Sterbeverlauf wird hier im Interview also gerade deswegen als „gut“ beschrieben, weil er Zurechnungsformen möglich macht, die nicht durch das Erleben von Perspektivendifferenz zwischen Pfleger und Sterbenden irritiert werden.

Die professionelle Passivität als Aktivität erleben.

Lässt sich ein Sterbeverlauf als ein gemeinsam erlebter Sterbeverlauf deuten, können selbst schwierig zu behandelnde Sterbeverläufe zu guten Sterbeverläufen werden. Ein Hospizpfleger erzählt von einem schwierigen, aber guten Fall:

„Und da war’s dann so, da war dann irgendwie das Nichtstun, also das Nichtsmachen in dem Moment war wahrscheinlich schon viel. Ja, also ich hab dann einfach … Ja, ich wusste auch gar nicht, also … ich habe dann das ausgehalten mit ihr zusammen“ (E_PF_H_7, 510–513).

Im Interview deutet der Hospizpfleger den beschriebenen Sterbeverlauf als nicht behandelbar. Sterben wird hier zu einem Ereignis, das schlicht (mit-)erlebt werden musste. Dieses Erleben kann er sich aber doch als Handeln zurechnen und somit wird aus der Passivität der Interaktionssituation, aus dem „Nichtstun“, qua professioneller Selbstbeschreibung, also qua Organisation, ein Tun. Das Nichtstun entsteht als Resultat einer Entscheidung. Die Rahmung der Situation als gemeinsames Erleben, „ich habe dann das ausgehalten mit ihr zusammen“, ermöglicht eine Bewertung dieses eigentlich ohnmächtig erlebten und unkalkulierbaren Sterbens als gutes Sterben. Auch hier wissen wir nicht, ob diese Deutung des gemeinsamen Erlebens zutreffend ist. Und das ist auch gar nicht entscheidend, denn der interessante Befund ist nicht, dass kontingente Deutungen als „richtig oder falsch“ überprüft werden könnten, sondern dass selbst schwierige, und man müsste sagen: schlechte Sterbeverläufe, so zu „guten“ Sterbeverläufen werden, wenn man ihnen aus professioneller Perspektive ein gemeinsames Erleben zurechnen kann. Nicht weil also „wirkliches“ gemeinsames Erleben des Sterbens erlebt worden wäre, kann der Sterbeverlauf im Interview als gut beschrieben werden, sondern weil in der Interaktionssituation viel Zeit zum Erleben da ist und nichts gegen das Erleben spricht.

Durch demonstrative Zurechnung gemeinsames Erleben ermöglichen.

Die im Folgenden zitierte Ärztin auf einer Palliativstation berichtet im Gegensatz zu diesem schlechten kurativen Verlauf von einem „unruhigen“, also schlechten palliativen Verlauf. Sie beginnt ihre Ausführungen damit, wie unterschiedliche professionelle Perspektiven (hier die Pflege und die Palliativärztinnen und -ärzte) diese unruhigen Verläufe unterschiedlich erleben:

„Ja. Also ich denke schon, dass die Pflege mehr das Bedürfnis hat, dass jemand ruhig, friedlich, wir haben halt immer lang darüber diskutiert, ob man im Pflegebericht schreiben darf, ist friedlich eingeschlafen. Dann heißt es, müssen es weglassen, weil wir wissen ja nicht, ob er in Frieden war, aber darf sagen, ruhig eingeschlafen, oder das ist schon, denke ich, für die Pflege immer wieder. … Das eine ist, wenn wir jemanden tot auffinden. Das ist immer so ein stückweit, wir waren nicht da. Und es wird auch immer wieder thematisiert, auch in der Übergabe: ‚Ja, dann habe ich ihn tot gefunden‘, sage ich: ‚Ja, okay, dann ist er alleine gestorben. Das war für ihn okay. Wir waren oft genug drin. Er hätte das auch anders managen können.‘ Also das ist jetzt kein Versagen, wenn jemand alleine stirbt“ (E-A-P‑4, 422–446).

Hier wird stark gedeutet: Die Ärztin adressiert den Verstorbenen nachträglich durchaus als einen handelnden Entscheider, der seinen Sterbeprozess ja auch anders hätte „managen“ können. Wieder wissen wir nicht, wie die Situation, von der die Ärztin spricht, vom Sterbenden wirklich erlebt wurde, ob er sein Sterben wirklich anders handelnd hätte steuern können oder ob das einsame Sterben nicht doch belastend war. Und die Ärztin kann es letztlich auch nicht wissen, wie sie konzediert. Über die Zurechnung einer Handlung wird es aber ex post als stimmig gedeutet: „Das war für ihn okay.“ Als einen kontinuierlich und deshalb gemeinsam erlebten Sterbeverlauf kann die Ärztin dieses Sterben nur deuten und erleben, weil dieser Sterbeverlauf qua Organisation unter professioneller Beobachtung stand („Wir waren oft genug drin“) und somit der Sterbeverlauf auch ohne sichtbare Beweise als ruhiges Sterben erlebt werden kann.

4.1.2 Schlechte Verläufe: Hindernisse für die Zurechnung eines gemeinsamen Erlebens

Zu viel Handlungsdruck verhindert das gemeinsame Erleben.

Eine Pflegekraft, die in der Notaufnahme eines Vollversorgerkrankenhauses und gleichzeitig in einem Hospiz arbeitet, schildert in der folgenden Passage die unterschiedlichen Handlungsbedingungen von kurativen und palliativen Behandlungskontexten. Dieser Unterschied lässt sich vor allem darin festmachen, wie die Unterscheidung von Handeln und Erleben des Sterbens hier zugerechnet wird:

„Also das ist, wenn man zum Beispiel Patienten gehabt hat, die schwerkrank mit einer bösartigen Erkrankung zum Beispiel da gelegen haben. Und dann ist das eben einfach, finde ich so, ja, das kann man gar nicht vergleichen. Die kommen ja nicht zum Sterben. Das heißt, die werden immer therapiert, therapiert, therapiert. Und das ist wirklich einfach manchmal kaum auszuhalten. Weil, die Patienten lösen sich quasi manchmal auf im Bett. Die Haut, die geht kaputt. Die lagern Flüssigkeiten ein. Die müssen abgesaugt werden. Und man überschreitet ja permanent Grenzen. Und das ist einfach, finde ich, ganz oft eine Qual. Und bis man dann wirklich irgendwann soweit ist und wirklich sagt ‚das hilft jetzt hier nicht mehr‘. Irgendwie wir decken denjenigen nur noch ab mit Schmerzmitteln. Ja, und dann, wenn dann dabei einer stirbt oder es ist noch nicht mal erlaubt, dass er stirbt. Und dann wird nochmal Notfallalarm ausgelöst. Und dann wird eine Reanimation gemacht. Und dann werden denen nochmal sämtliche Knochen im Brustkorb gebrochen irgendwie, weil man das Herz nochmal wiederbeleben will und in unendlichen Mengen irgendwie Katecholamine verabreicht, also wirklich in Dosen, die sind unvorstellbar. Und man steht einfach nur noch daneben und sagt so ‚was tun wir hier? Was machen wir hier?‘ Und dann irgendwann ist das einfach so, ja gut, okay. Wir können nichts mehr tun. Und dann, sage ich mal, wird der Mensch da liegen gelassen. Alle gehen weg. Die ganze Action ist vorbei. So das ganze Theater irgendwie so. Und dann stehst du da und du hast da das Gefühl, du stehst da mit so einem/Nach einem Unfall ungefähr irgendwie, so sieht das dann/wie auf dem Schlachtfeld. Und das ist natürlich so eine Art zu sterben. Also ich finde, das wäre für mich der Horror. Wenn ich einfach sage, an allen Schläuchen, irgendwie man ist dem völlig ausgeliefert. Irgendwie und ja. Also das hat wenig dann in dem Moment noch mit Würde zu tun“ (E_PF_H_32, 72–96).

In diesem Interviewausschnitt gibt es keine Möglichkeiten für eine entsprechende Deutungsarbeit. Das liegt einerseits daran, dass der Handlungsdruck sehr groß ist und dabei keine Pausen fürs Erleben bleiben. Es braucht Zeit, um zumindest ein eigenes Erleben stattfinden zu lassen. Andererseits ist aber auch von vornherein durch den Kontext Notfallmedizin klar, dass der Verlauf dem Sterbenden nicht zugerechnet werden kann: „Die kommen ja nicht zum Sterben.“ Der organisatorische Rahmen verhindert eine entsprechende Zurechnung explizit. Denkbar wäre eine solche Zurechnung prinzipiell ex post schon, wenn das Sterben zumindest in einem dem Sterben zurechenbaren Kontext stattfinden würde, der vom Sterbenden als selbstgewählt erlebt werden kann. Entscheidend ist für uns hier: Auch in der nachträglichen Reflexion im Interview fehlen der Pflegekraft Anknüpfungspunkte, die es erlauben würden, diesen hier geschilderten Sterbeverlauf als einen „guten“ Sterbeverlauf zu beschreiben.

Kommunikationsabbrüche irritieren das gemeinsame Erleben.

Bei palliativ betreuten Sterbeverläufen entsteht oft eine „Wartezeit“ zwischen terminaler Diagnose und tatsächlichem Exitus, das Sterben zieht sich dann in die Länge. Damit gestaltet sich Sterben als ein eigensinniger und unsicherer Prozess. Derart auf ein zeitliches Erleben des Sterbens festgelegt zu werden, erscheint für eine Organisation, die für die proaktive Behandlung des Sterbens erfunden wurde, aber zunächst als Irritation. Das lässt sich in folgender Aussage einer Pflegekraft beispielhaft wiederfinden:

„Es gibt etliche Beispiele, wo ich mir sage: Das ist jetzt gut gelaufen. Aber ich würd, kann gar nicht sagen, ob ich das als gelungene Sterbebegleitung nennen würde. Es ist so: Die Begleitungen sind für mich sehr erfüllend. Aber dann die letztendliche Sterbephase, so der letzte Tag, oder die letzten zwei Tage, da sind die Gäste eigentlich in der Regel doch immer mehr für sich, ja. Und immer abgeschotteter. Und das belastet mich dann schon, weil man so viel erahnen muss: Was ist jetzt in der ganz, in der allerletzten Phase, aber die sich jetzt auch in der letzten Zeit hier bei unseren Gästen oft recht lang gestaltet. Dass sie dann wirklich in komatösem Zustand über mehrere Tage sind, wo alle dann nur warten: Wann passiert es endlich? Und dann so gut wie kein Zugang mehr zum Gast möglich ist, ja. Und ansonsten, genau, bis auf die letzte Phase würde ich viele Begleitungen als gelungen benennen“ (E-PF-H-21, 312–324).

Die hier zitierte Pflegekraft beschreibt diese Verläufe zunächst wegen der Zeitdauer als solche, die schwierig zu behandeln sind, da es zu viel Zeit zum Erleben gibt. Zu viel Zeit bietet viele Anlässe, bei denen die Deutungsarbeit selbst in den Vordergrund tritt. Sie wird für die Pflegekraft sichtbar. Problematisch ist in diesem Fall aber auch der „komatöse Zustand“, zu wenig Bewusstheit, weswegen man aufseiten des Sterbenden ein gemeinsames Erleben nicht einfach zurechnen kann. Das Problematische daran scheint vor allem zu sein, dass „man so viel erahnen“ müsse, da Sterbende in der Finalphase oftmals nicht bewusst an Kommunikation teilnehmen. Wir wissen nicht, wie Sterbende gerade die Finalphase des Sterbens erleben, da sie dann oftmals nicht mehr ansprechbar sind. Die zeitliche Gelegenheit zum Erleben ist also nicht per se hilfreich. Zu viel Zeit und eine offenkundig psychische Unerreichbarkeit des Sterbenden führen zu unterschiedlichen Deutungen, zu Zweifeln am gemeinsamen Erleben, was dann als problematisch erscheint.

Gezielte Kommunikationsblockaden verhindern das gemeinsame Erleben.

In dem folgenden Fall ist nicht zu wenig Bewusstheit der Sterbenden das Problem, sondern zu viel Bewusstheit – im Sinne eines von der Deutung der Pflegekraft abweichenden Erlebens des eigenen Sterbeverlaufs. Eine Hospizpflegerin berichtete uns im Interview die folgende Episode über einen Hospizbewohner, der die Hoffnung auf Genesung nicht aufgeben will:

„Es gibt aber eben auch sehr unharmonische, schwierige und unbefriedigende und entsetzliche Verläufe, die man, ganz egal, wie gut man versucht zu organisieren, eben nicht zu händeln kriegt. Ich weiß nicht. Man wünscht sich, dass am Ende die Menschen erst mal schläfrig werden, somnolent, (unv.) #00:51:00-2#, komatös und dann sterben. Das ist leider aber nicht immer der Fall. Und das ist schwieriger auszuhalten, wenn die Menschen ganz krass bei Bewusstsein sind und dann sterben. … Ich muss jetzt auch an einen Mann denken, der sehr jung war. Der war noch keine 40. Und der Tumor fraß ihm seinen Hals weg, was man sich gar nicht vorstellen kann, wenn man das einmal nicht selber gesehen hat. … Aber hatte er bis zum nahezu zum Ende immer noch die Hoffnung, dass das wieder zuwächst, was niemand begreifen kann, der das gesehen hat von außen. Da steckt man einfach nicht drin und man kann es ihm jetzt auch nicht sagen, so, das wächst nicht wieder zu, das geht ja nicht. Also seine Hoffnung, die hat mich auch geschmerzt einfach. Das tat mir weh. Ich konnte das schlecht nachvollziehen. Und der hat wirklich sehr lange gebraucht. Und ob er das bis zum Ende akzeptiert hatte, bin ich nicht sicher. Also das ist ein Verlauf, den wir nicht beeinflusst kriegen. … Ich konnte das nur begleiten. Aber das ist schwer auszuhalten, finde ich“ (E_PF_H_27, 536–569).

Die hier zitierte Pflegerin berichtet eindringlich von einem Sterbeverlauf, bei dem durch die zu sichtbar werdende Perspektivendifferenz des Erlebens kein gemeinsames Erleben möglich ist. Auch hier ist die Pflegekraft unsicher, ob der Sterbende sein Sterben „bis zum Ende akzeptiert“ hatte. Und gerade diese Differenz kann dann in der Interaktion mit dem Sterbenden sichtbar werden. Das Drastische daran ist für diese Pflegerin das Mitbeobachten-Müssen eines Sterbeverlaufs, der sich für alle Beobachter derart schwierig und hoffnungslos gestaltet, der für den Sterbenden selbst aber noch mit der Hoffnung auf Heilung verbunden ist. Eigentlich könnte es für den Sterbenden selbst gut sein, mit dieser Hoffnung ausgestattet zu sein, und die Pflegekräfte könnten das prinzipiell auch als gut erleben. Aus der Differenz des Erlebens zwischen Sterbendem und Pflegekraft resultieren jedoch Kommunikationsblockaden („Und man kann es ihm jetzt auch nicht sagen“), die sichtbar machen, dass Wahrnehmung und Erleben des Sterbens sich zwischen den Perspektiven nicht synchronisieren lassen, sondern unversöhnlich auseinanderstehen. Gerade Kommunikationsblockaden und -abbrüche werden als Ausdruck eines schlechten Verlaufs gedeutet, weil sie idealtypisch für eine Form der Closed Awareness stehen (vgl. Glaser und Strauss 1965; Sudnow 1967).

Professionelles Handeln wird unplanbar.

Die organisatorisch auf Dauer gestellten Beobachtungsverhältnisse des Sterbens können sich durch eine regelrechte Tragik des Erlebens auszeichnen, wenn längerfristige Handlungspläne durch einen unvorhersehbaren Sterbeverlauf außer Kraft gesetzt werden. Die folgende, von einer Pflegekraft erzählte Geschichte ist hierfür beispielhaft.

„Wir hatten ja gestern die Supervision, wegen einem Fall, wo es wirklich alle so überrannt hat, deswegen mussten wir die auch so spontan ansetzen, weil der Patient eben wirklich auf Station gelaufen kam und auch mit der Option, er will nochmal nach Hause, wir stabilisieren ihn und dann ist es am Wochenende gekippt und er war eben innerhalb von fünf Tagen dann hier verstorben. Und damit hat weder der Arzt, noch die Pflegekraft, noch die Ehefrau gerechnet und der Patient selber hat am Wochenende das wahrscheinlich gespürt und war extrem unruhig und aggressiv und das war für das ganze Team ein richtiges Problem“ (E_PF_P_4, 93–100).

Während des hier geschilderten Sterbeverlaufs treten der professionell erwartete und der tatsächliche Sterbeverlauf auseinander. Der Patient wird auf der Palliativstation stabilisiert, mit dem Ziel einer Entlassung nach Hause, doch dann verändert sich die Situation plötzlich und der unerwartete Beginn des Sterbens erzwingt Handlungen, die nicht geplant waren. Darüber hinaus entsteht ex post der Verdacht, dass die Unruhe auf ein anderes Erleben des Sterbenden verweist. Dieses Sterben „innerhalb von fünf Tagen“ ist ja eigentlich gar nicht so plötzlich, aber es ist unerwartet und kann deshalb nicht einfach als gut erlebt werden. Es wird als schlechtes Sterben gedeutet, weil es nicht einfach nur eine Interaktionssituation ist, der man folgt, sondern weil man das Sterben gerne professionell erwartbar gemacht hätte und deshalb auch in der Unruhe ein Zeichen sieht, das man hätte verstehen müssen. Weder während des Sterbeverlaufs noch nach dem Versterben des Patienten sind in diesem Fall Synchronisationsmöglichkeiten des gemeinsamen Erlebens möglich.

4.2 Sterbende: Das eigene Sterben erleben

Die professionellen Pflegekräfte sowie die behandelnden Ärzte sind in unserer Studie von vorneherein auf eine kontinuierliche und erwartbare Verschlechterung des Zustands der sterbenden Bewohner eingestellt. Aus der Perspektive der von uns interviewten Sterbenden selbst stellen sich deren Sterbeverläufe anders dar: Sie erfahren mit einer terminalen Diagnose gerade keine Kontinuität, sondern den Bruch jeder Form von biographischer Kontinuität. Ihr Körper gibt dabei den Takt vor, wie ein Sterbeverlauf gestaltet, aber auch von den Sterbenden selbst erlebt werden kann (Hilário 2016). Zwei Bewohner eines Hospizes (H) und eine Bewohnerin einer Palliativstation (P) schildern das Erleben ihres Sterbeverlaufs:

„Die Krankheit reißt einen ja auch so voll aus dem, aus dem Leben halt einfach. Und der Körper … ich nenne es immer ‚zwingt mich in die Knie‘“ (B_H_7, 247–249).

„Hier der Ablauf, der spielt sich sehr stark immer an unserer Erkrankung ab. Das ist also vordergründig. Und ist aber, sagen wir mal, sehr schonend und lässt sich auch nicht so eindeutig festlegen für jeden Fall. Ich meine, es kommt also drauf an, wie es einem grad geht, ne?“ (B_H_4, 151–154).

„Es geht mir eigentlich von Tag zu Tag immer ein bisschen schlechter. (Unv.) immer mehr. Ja und dass eben dieser Abbau so rasant, so schnell verläuft“ (B_P_3, 170–173).

Die Sterbenden beschreiben sich in solchen Sätzen vor allem als Erlebende eines kranken Körpers, der selbst sehr stark als Handelnder adressiert wird: Dieser Körper stirbt. Die Zurechnungsformen von Handeln und Erleben sind in den Interviews mit Sterbenden zunächst einmal weniger am Handeln und Erleben anderer professioneller Akteure orientiert, sondern an der Differenz zwischen erlebender Wahrnehmung und handelndem Körper. Die Sterbenden erleben deshalb zunächst einmal eine starke Passivität, in die sie dieser Körper drängt. Und sie erleben damit die Eindeutigkeit des Verfalls ihres eigenen Körpers. „Nicht so eindeutig festlegen“, so der zitierte Patient, lasse sich aber der weitere „Ablauf“. Sterbende – so unser Material – erleben also einerseits die Gewissheit, dass sich ihr Körper drastisch verändert. Sie erleben aber andererseits auch eine starke Unsicherheit, wie sich dieser Prozess weiterentwickelt. Die folgenden Interviewpassagen verdeutlichen dies:

„Aber, ja das ist eben, was die Behandlung anbelangt, da ist man ziemlich am Ende der Fahnenstange angelangt“ (B_P_2, 334–336).

„Und also das war am Anfang ganz hart wie ich hier lag und hab gedacht, so jetzt liegste hier und wartest praktisch drauf, dass du stirbst“ (B_H_9, 110–112).

„Ja, und wir werden sehen, was da kommt. Voraussagen kann mir das keiner. Seit zweieinhalb Jahren lebe ich mit der Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs und Metastasen auf der Leber. Also das haben wir seit zwei Jahren die Diagnose. Und noch bin ich da“ (B_H_3, 33–36).

„Ja, da lieg ich hier und harr’ der Dinge, die da kommen“ (B_H_8, 362).

Die Sterbenden sehen ihre Behandlung geprägt von dem Wissen, dass es keine weiteren Möglichkeiten mehr gibt. In den Interviewpassagen wird eindringlich sichtbar, was die Literatur im Hinblick auf Sterbeverläufe als „waiting game“ (Lawton 2000) beschreibt. Sterbende erleben ihr Sterben in solchen Fällen als passives Warten und „Harren“ der „Dinge, die da kommen“. Dieses Warten auf den eigenen Tod wird als langweilig empfunden, als eine gedehnte Zeit, die man überstehen muss, ohne sich darauf freuen zu können, dass man es irgendwann geschafft hat. Man möchte diese letzte Zeit nutzen; es gibt aber kaum etwas, womit man sie füllen kann.

„Aber natürlich jetzt wenn man raus will, raus könnte, aber nicht geht, weil man einknickt, das wird allmählich fad“ (B_H_8_627–628).

„Weil also das ist schon für mich jetzt in meiner Situation das Schwierigste. Wo ich denke, ich will ja nicht nur mit Morphium jetzt zugedröhnt werden, ich möchte ja auch meine wachen Momente haben. Aber wie sehen die aus, die wachen Momente? Da ist nichts mehr“ (B_H_9, 489–492).

„Weil, wie gesagt, wenn die Dusche schon geht und du dann wenigstens das Wasser/und mal geschrubbt wirst an deinem Rücken, dass du merkst, da ist noch ein Rücken da, dann ist das eigentlich ganz gut. Ja, das ist so ganz angenehm gewesen dann heute“ (B_H_3, 288–291).

Vor dem Hintergrund einer nicht vorhandenen Zukunft richtet sich das Interesse Sterbender auf das Erleben einer fast informationslosen Gegenwart: „Da ist noch ein Rücken da“, „Da ist nichts mehr.“ Gleichzeitig verdeutlichen auch die Interviewzitate, dass der Tod zumindest in der erlebten Gegenwart noch nicht anwesend ist. Die Sterbenden nehmen wahr und erleben sich darin als lebendig, aber sie können ihrer Wahrnehmung nicht mehr trauen, denn die Signale des Körpers und der Umgebung künden den Tod an. Der Bruch, die Diskontinuität, die hier geschildert wird, besteht nicht im biologischen Ende des Lebens, im Tod, sondern in der Diskrepanz zwischen bewusster lebendiger Wahrnehmung und verfallendem Körper.

Im Vergleich zu den obigen Zurechnungspraktiken eines gemeinsamen Erlebens des Sterbens durch die Pflegekräfte sowie Ärzte wird hier deutlich, was wir als Perspektivendifferenz im Erleben zwischen professionellen Akteuren einerseits und Sterbenden andererseits bezeichnen wollen: Während professionelle Akteure Sterbeverläufe qua Zurechnung in die Kontinuitäten einer organisierten Begleitung einbetten, erleben Sterbende den Verlauf vor allem als Diskontinuität. Professionelle Akteure sind auf die Veränderungsprozesse eines sterbenden Körpers von vornherein eingestellt und können diesen Ablauf normalisieren und so für „gut“ halten. Die Sterbenden deuten diesen „Veränderungsprozess“ und die damit verbundene Diskontinuität in den Interviews oftmals sehr viel dramatischer als einen eigenständigen radikalen Verschlechterungsprozess ihres Körpers, der sie auf ein Erleben festlegt, das in keiner Weise als „gut“ gerahmt werden kann.

5 Sterben als Optimierung des gemeinsamen Erlebens

Wir haben in diesem Beitrag vorgeschlagen, Sterbeverläufe mit der Unterscheidung von Handeln und Erleben zu beobachten. Die Verwendung dieser Unterscheidung ergibt sich aus der Darstellung der drei idealtypischen Organisationskritiken in der thanatosoziologischen Forschung. Entgegen der Intuition einer thanatosoziologischen Organisationskritik, die auf die organisatorische Überformung des authentischen Erlebens der Sterbenden zielt, zeigen unsere Ergebnisse, dass sich eine organisierte Sterbebegleitung gerade nicht durch ein Erlebensdefizit, sondern vielmehr durch komplexe Handlungs- und (!) Erlebenskonstellationen des Sterbens auszeichnet. Wir stoßen in unseren Ergebnissen dabei sowohl auf faktische Differenzen im Erleben von Sterbeverläufen als auch auf faktische Ansprüche auf ein gemeinsames Erleben. Faktische Differenzen im Erleben von Sterbeverläufen zeigen sich deutlich im Vergleich von Sterbenden und professionellen Akteuren: Während professionelle Akteure Sterbeverläufe als Routine erleben, erleben Sterbende ihr Sterben eher als Krise.

In den Interviews wird dabei immer wieder sichtbar, wie stark vor allem professionelle Akteure Sterbeverläufe im Hinblick auf ein Handeln und Erleben von Sterbenden deuten und interpretieren. Sie schließen von ihrem Erleben auf das des Sterbenden und sie rechnen wünschenswerte ruhige Abläufe den Sterbenden als Handlung zu. Die Ergebnisse zeigen weiterhin, dass vor allem professionelle Akteure – weniger die Sterbenden selbst – solche Sterbeverläufe als „gut“ beschreiben, die man als gemeinsam erlebte Sterbeverläufe deuten kann. Wenn die Möglichkeit eines gemeinsam erlebten Sterbens das Bezugsproblem in der Herstellung eines „guten“ Sterbens ist, sich gleichzeitig aber in der Praxis Perspektivendifferenzen des Erlebens zeigen, dann stellt sich die Frage, wie man diesen Befund einordnet. Anstatt nun hier für eine Zusammenführung der Perspektiven zu plädieren, möchten wir für die Leistungsfähigkeit von Perspektivendifferenzen sensibilisieren, die in ihrer jeweiligen Selbstreferentialität Sicherheiten erzeugen können, die all die von uns hier in dem Material aufgedeckten Unsicherheiten wieder überdecken können. Das Ideal eines „guten Sterbens“ im Sinne eines gemeinsamen Erlebens werden wir im Folgenden als hilfreiche „Konsensfiktion“ (Hahn 1983) erläutern.

5.1 Die Unwahrscheinlichkeiten gemeinsamen Erlebens

Sozial: Epistemologische Perspektivendifferenzen des Sterbeerlebens.

Die organisierte Sterbebegleitung ist durch eine Rollendifferenzierung von Laien und Experten geprägt. Damit gehen Differenzen im Hinblick auf Handlungs- und Erlebensalternativen einher, wie z. B. unterschiedliche Wissensstrukturen, formale und informale Erwartungen, Machtmittel, Routinen, kommunikative Ressourcen – also Perspektivendifferenzen im Hinblick darauf, wie das Sterben erlebt werden kann und muss. Bezüglich der Herstellung eines guten Sterbeverlaufs interferieren hier verschiedene professionelle Experten mit dem Sterbenden und konstituieren Sterbeverläufe als ein komplexes Problem (McNamara und Rosenwax 2007; Saake et al. 2019; Bailey et al. 2020; Hodiamont et al. 2019). Diese Perspektivendifferenzen des Erlebens sind keine Differenzen, die sich durch Verständigung, durch mehr Empathie oder durch das gemeinsame Gespräch ausräumen ließen. Aus systemtheoretischer Perspektive sind diese Differenzen auch nicht Ausdruck eines falschen ideologischen Bewusstseins, sondern sie resultieren aus den Strukturen operativ geschlossener (psychischer) Systeme selbst – es sind somit kognitive Perspektivendifferenzen. Kognitiv meint: Es sind die jeweiligen Perspektiven, die durch Kommunikation nicht eingeholt werden können, die aber Kommunikation erst erforderlich machen. Man kann hier deutlich sehen, dass Kommunikation gerade kein Nähe-, sondern ein Distanzmedium ist, das die Überwindung der Distanz und das Einvernehmen stets nur behaupten kann, aber nicht herzustellen vermag. Kommunikationstheoretisch gesprochen ist also die Paradoxie der Aufrichtigkeit, die Möglichkeit zur Täuschung, zum Irrtum und damit die Unwahrscheinlichkeit gleichen Erlebens strukturell in jede Form der Kommunikation eingelassen (Luhmann 1981).

Sachlich: Funktionale Perspektivendifferenzen des Erlebens.

In der sachlichen Dimension differenzieren sich in der multiprofessionellen Sterbeversorgung unterschiedliche funktionale Beobachterpositionen aus, die jeweils arbeitsteilige Bezugsprobleme ihrer professionellen Handlungs- und Erlebensmöglichkeiten haben wie auch Problemlösungskapazitäten dieser Probleme. Wir haben dies an anderer Stelle rekonstruiert (Saake et al. 2019; Nassehi et al. 2020). Dabei kommt es zu Perspektivendifferenzen, die Konsequenzen dafür haben, wie und von wem ein Sterbeverlauf unterschiedlich erlebt und behandelt werden kann. Durch diese Ausdifferenzierung wird die Möglichkeit zur Synchronisation der Erlebensperspektiven einerseits komplexer, da hier Perspektivendifferenzen zutage treten. Andererseits stehen nun mehr Beobachtungspositionen zur Verfügung, um einen Sterbeverlauf und sein Erleben aus unterschiedlichen Perspektiven zu deuten. In der Figur des Sterbenden zeigt sich damit wie in einem Brennglas der Charakter einer funktional differenzierten Gesellschaft: Es sind stets die unterschiedlichen Erwartungen der Akteure, die Problemlösungshorizonte ihrer Perspektiven und die mitgebrachten normativen Muster, die eine konkrete Situation bestimmen. Daraus folgt auch, dass ein gemeinsames Erleben des Sterbens hochgradig unwahrscheinlich ist – und auch nur deswegen kommunikativ als narrative Figur oder ethische Erwartung zugerechnet bzw. behauptet werden kann.

Zeitlich: Sinnüberschüsse des Sterbeverlaufs.

Zeitlich treten letale Diagnose und der Exitus selbst oftmals weiter auseinander. Daraus resultieren neue Beobachtungsanlässe, um das Sterben als Sterbeverlauf zu deuten. Unsere Analysen zeigen, dass sich besonders „ruhige“ und von Handlung entlastete Sterbeverläufe gut dazu eignen, einen Sterbeverlauf als einen gemeinsam erlebten Sterbeverlauf zu deuten. Als „gut“ können zudem solche Verläufe erlebt werden, in denen man Sterbende als Erlebende ihres eigenen Handelns adressieren kann. Und über diese Adressierung Sterbender als Handelnde und Erlebende lassen sich dann auch symmetrisierte Formen eines gemeinsamen Erlebens kommunikativ herstellen. Als „schlecht“ werden dagegen solche Sterbeverläufe erlebt, in denen Perspektivendifferenzen des Erlebens zwischen Sterbenden und den professionellen Akteuren der Sterbeversorgung sichtbar werden. Diese Zurechnungskonstellation entsteht vor allem dann, wenn Sterbeverläufe zu stark unter Handlungsdruck stehen oder zu „kurz“ sind, sodass kaum Zeit bleibt, sie auf das wechselseitige Erleben hin zu beobachten. Die Möglichkeit zur Sichtbarkeit von Perspektivendifferenzen entsteht auch dann, wenn Sterbeverläufe sich zu langwierig gestalten, sodass der Verdacht entstehen kann, das gemeinsame Erleben gerade zu verfehlen. Einerseits wird somit eine Hermeneutik des Verdachts in die Beobachtungsroutinen der Organisation und vor allem aller außenstehenden Beobachter installiert, die auf die Verfehlung, die Verfremdung und Überformung des erlebten Sterbens abzielt. Sterbeverläufe – zumal solche, die sich in die Länge ziehen – können nun darauf hin beobachtet und gedeutet werden, ob sie von allen Beteiligten wirklich als gelungen erlebt werden. Andererseits nutzt die Organisation gerade die relative Entscheidungsentlastetheit palliativer Sterbeverläufe, die damit verbundenen neuen Deutungsmöglichkeiten sowie die unterschiedlichen multiprofessionellen Beobachterpositionen selbst als Handlungs- und Deutungsquelle. Man müsste es so formulieren: Nicht obwohl, sondern weil die organisierte Sterbebegleitung durch den sicheren Tod entlastet ist, können diese Verläufe nun gedeutet werden. Es ist die Organisationsform des Sterbens selbst, die das Ideal der „ruhigen Verlaufsform“ des Sterbens mithervorgebracht hat, da sich in der ruhigen Form des Sterbens Handeln und Erleben zwischen allen Beteiligten gut synchronisieren lassen.

5.2 Die wirksame Fiktion des gemeinsamen Erlebens

Aus struktureller Perspektive ist ein gemeinsames Erleben des Sterbens also hochgradig unwahrscheinlich – und zwar in sozialer, sachlicher und zeitlicher Hinsicht. Wie lassen sich dann aber der verminderte medizinische Handlungsdruck und der damit verbundene Erlebensüberschuss sowie die Steigerung von Beobachtungs- und Deutungsanlässen in der Zeit- und Sozialdimension in ein gemeinsames Erleben überführen?

Alois Hahn (1983) hat über den Begriff der „Konsensfiktion“ herausgearbeitet, dass wechselseitige Transparenz im Verstehen sowie die intersubjektive Synchronisation von gemeinsamem Erleben in Kleingruppen, wie zum Beispiel in Ehen oder Liebesbeziehungen, zwar gemäß dem Code romantischer Liebe hochgradig erwartet wird, faktisch aber nur fiktiv unterstellt werden kann (Luhmann 1982). Natürlich machen normative Ideale, reziproke Erwartungserwartungen an unterschiedliche soziale Positionen, unhinterfragte lebensweltliche Geltungen sowie kulturelle Selbstverständlichkeiten eines romantischen Skripts bestimmte Muster des Handelns und Erlebens erwartbar. Gleichwohl bleibe wirkliches Verstehen eine kontrafaktische Fiktion. Hahn ging es nicht darum, diese Fiktionen als Täuschung zu entlarven. Im Gegenteil: Hahn hat sich dafür interessiert, wie diese Konsensfiktionen einen kommunikativen Latenzschutz für eine gemeinsam erst zu entwickelnde (Gruppen‑)Beziehung bereitstellen. Die Fiktionen des Verstehens machen faktisch unvermeidbare Differenzen, Unterschiedlichkeiten und Abweichungen von Wissen und Nicht-Wissen und damit auch des Verstehens und Erlebens unsichtbar. Diese Konsensfiktionen liefern gewissermaßen einen Vertrauensvorschuss und damit einen kommunikativen „Kredit“ (Hahn 1983, S. 226), der von intersubjektiver Verständigung, wirklichem Verstehen und synchronem Erleben entlastet. Hahn ging es also um den funktionalen Sinn dieser Konsensfiktionen. Und dieser Sinn besteht darin, nicht zu genau nachfragen zu müssen, ob der andere wirklich versteht und gleich erlebt. Denn das würde diese gesamte notwendige „illusio“ romantischer Liebe riskant nahe an den Abgrund bringen, weil dann sichtbar würde, dass Konsens ja nicht faktisch vorhanden ist, sondern nur unterstellt wird.

Die Parallele zwischen romantischer Kommunikation und der Kommunikation mit Sterbenden ist nicht zu gewagt. Die organisierte Sterbebegleitung fertigt Selbstbeschreibungen von sich als Gemeinschaft und als Familie an, deren normative Muster hohe Ansprüche an Konsens und gemeinschaftlich gleiches Erleben implizieren. Natürlich bestehen in Organisationen andere Konsensansprüche als in intimen Kleingruppen, sodass hier das Erleben von Differenzen weniger als Problem erscheinen muss. Umgekehrt macht ja gerade erst die Organisation systematisch Differenzen möglich, z. B. über das arbeitsteilige Ausdifferenzieren und Aufeinanderbeziehen sachlicher Differenzen. Zu großes Dissens-Erleben gefährdet gleichwohl das Selbstbild sowie die Umsetzung des Ideals eines ruhigen und harmonischen Sterbens. Die dargestellten Perspektivendifferenzen des Erlebens, die Struktur des Sterbeverlaufs sowie die relative Handlungsentlastetheit palliativer Sterbeverläufe produzieren immer wieder Sinnüberschüsse, in denen die Kontingenz sinnhaften Erlebens sichtbar werden kann.

Das Erleben von Perspektivendifferenzen des Erlebens in intimen Paarbeziehungen ist gerade deshalb mit dem in Organisationen der Sterbeversorgung vergleichbar, weil beides, die Anbahnung und Pflege einer Intimbeziehung und die Organisation und pflegerisch-medizinische Versorgung eines Sterbeverlaufs, sich auch in Interaktionssystemen realisiert (Mayr und Barth 2020). Auch vieles von dem, was in Organisationen als Handeln zugerechnet werden kann, muss nicht nur „den Filter des Gesellschaftssystems und nicht nur den Filter des organisierten Sozialsystems, sondern auch noch den Filter eines einfachen Interaktionssystems unter Anwesenden durchlaufen“ (Luhmann 2019, S. 9). Kommunikationssysteme unter Anwesenden bilden sich, sobald körperliche Co-Präsenz gegeben ist und bereits die Möglichkeit der wechselseitigen Wahrnehmung zur Auflösung doppelter Kontingenz genutzt werden kann. Exakt auf diese Möglichkeiten, dass „Anwesende sich wechselseitig wahrnehmen“ (Luhmann 2005, S. 10), wird in den Interviews immer wieder hingewiesen. Erst über diese Möglichkeiten des wechselseitigen Wahrnehmens und des Ausbildens sozialer Reflexivität können kommunikativ Zurechnungen des Handelns und Erlebens erzeugt, geprobt und getestet werden.

Und genau hier setzen die Fiktionen des gemeinsamen Erlebens des Sterbens ein, wie wir sie im Anschluss an Alois Hahn nennen wollen. In der Analyse unserer Daten waren wir immer wieder überrascht davon, wie stark in den Interviews, aber auch in den Protokollen von Teamsitzungen und Übergaben Deutungen sichtbar werden. Es ist selbstredend nicht überraschend, dass Akteure ihr eigenes und fremdes Handeln deuten, überraschend ist aber gleichwohl, wie auffällig in den Interviews Deutungsmöglichkeiten realisiert werden, deren Freiräume der Deutung erst dadurch möglich werden, dass Sterbende hier nicht mitreden können, weil sie dann schon gestorben sind. Der funktionale Sinn dieser Deutungsarbeit ist es, Sterbeverläufe ex post mit gemeinsamen Konsensfiktionen des Erlebens auszustatten. Das Bezugsproblem dieser Fiktionen liegt in den oben dargestellten Perspektivendifferenzen.

Entgegen den eingangs aufgeführten typischen Kritikformen an einer biopolitischen, einer konsumistischen, aber auch einer medizinisch-professionellen Überformung der Sterbeerfahrung in Organisationen würden wir auf dieser Grundlage behaupten, dass sowohl die kritisierten Formen als auch die Kritik als Form in diese professionelle Deutungsarbeit verstrickt sind. In diesen Kritiken entsteht neben dem Blick auf organisatorische Überformungen des Sterbens nicht nur das Ideal eines authentischen, nicht-überformten Sterbens, sondern auch das Ideal der Erreichbarkeit dieses Sterbens, also des gemeinsam erlebten Sterbens.

6 Fazit und Ausblick: Die Lösung für das unlösbare Problem des Sterbens

Die vielleicht wichtigste historische Transformation des Sterbens ist eine, die das Sterben immer stärker aus rituellen und privaten Bezügen der Interaktion herausgelöst hat und es nun systematisch unter professionelle Betreuung innerhalb organisatorisch geregelter Kontexte stellt (Parsons und Lidz 1967). Über Sterbeverläufe wird heute in Organisationen entschieden – große Teile der sozialwissenschaftlichen Reflexion über die Sterbebegleitung fremdeln aber mit deren Organisationsförmigkeit. Man kann die „Quelle“ für dieses „Unbehagen“ (Nassehi 2021, S. 51) im „Latenzverlust“ (Nassehi 2021, S. 271) gesellschaftlicher Ordnung sehen.

Dass Handlungskoordinierung und Bedeutungen gesellschaftlich kontingent werden und sich aus der latenten Geltung der Tradition, alternativloser Handlungsmuster sowie aus religiösen Deutungssystemen lösen, lässt eine in diesem Sinne moderne Gesellschaft auf die Kontingenz ihrer eigenen Ordnung stoßen. Ordnung wird unter modernen Verhältnissen also als Ordnung sichtbar, als ein Effekt einer Praxis, deren Geltung nicht mehr bereits gegeben ist, sondern erst sozial hergestellt und bestätigt werden muss. Die moderne Gesellschaft erlebt sich deswegen selbst als permanente Krise, gerade weil die „Strukturen der Gesellschaft sich selbst überfordern“ (Nassehi 2021, S. 18).

Die Formulierung zum Latenzverlust verdankt sich einer Anleihe bei Talcott Parsons’ L‑Funktion im AGIL-Schema (Adaptation, Goal Attainment, Integration, Latency), vielleicht eines der am meisten unterschätzten Theoriestücke (Parsons 1964, S. 99, 1966, S. 26, 1972, S. 12 ff.). Sowohl für das allgemeine Handlungssystem als auch für soziale Systeme hat Parsons bekanntlich in der Latenzfunktion jenen Mechanismus gesehen, in dem kulturelle Muster, Hintergrundüberzeugungen, Routinen und basale Anerkennungsformen als latente, also nicht permanent befragte Muster vorausgesetzt werden müssen, um so etwas wie soziale Erwartbarkeit und Struktur zu ermöglichen. Es braucht nach diesem Verständnis eine nicht verhandelbare Präsupposition aller Verhandlungen. Alle Sichtbarkeit ist in diesem Sinne von Unsichtbarem abhängig, das diese selbst nicht kontrollieren kann. Je mehr dies aber sichtbar gemacht wird, desto vulnerabler und voraussetzungsreicher erscheint soziale Ordnung. Die Latenzfunktion ist demzufolge ein Garant für eine gewisse Unschärfe in der Beobachtung der Welt und der Verstehbarkeit ihrer Komplexität.

Wie unsere Analysen zeigen, verweist gerade die Drastik des Sterbens darauf, wie voraussetzungsvoll komplexe Handlungskoordination ist und wie abhängig davon, Zurechnungsfragen nicht eindeutig zu thematisieren. Es wird von der Organisation des Sterbens etwas erwartet, was diese letztlich nicht leisten kann, nämlich das Sterben vollständig zu domestizieren. Die moderne Gesellschaft verfügt vor allem wegen ihrer funktionalen Differenzierung über die Fähigkeit, eine enorme Dynamik, Komplexität und damit stetige Optionssteigerungen auszubilden. Sie scheitert aber gleichzeitig daran, die entscheidenden Konflikte, Krisen und Probleme dieser Gesellschaft zu lösen (z. B. soziale Ungleichheit, Klimakrise). Der Umgang mit Tod und Sterben in der modernen Gesellschaft steht geradezu mustergültig für dieses Spannungsverhältnis von struktureller Leistungsfähigkeit und der eigenen Überforderung bei der Lösung selbsterzeugter Probleme (Nassehi 2021, S. 322 ff.), die sich eher in der Fiktion von Handlungskoordination verliert als in einem entscheidungsfähigen planvollen Umgang mit der eigenen Komplexität. Auch wenn eine wissenschaftlich-technische Hochleistungsmedizin, zum Beispiel im Hinblick auf Stammzellforschung, Pharmakologie, Transplantationsmedizin und Kryonik, beeindruckende Fortschritte gemacht hat, trotzt der Tod als Problem immer noch hartnäckig einer Lösung. Aber was folgt daraus für unseren Diskussionszusammenhang der Palliative Care und der organisierten Sterbebegleitung? Implizieren unsere Ergebnisse, dass ein „gutes“ Sterben lediglich eine Fiktion ist?

Um abschließend zu verstehen, wie Palliative Care das Problem des „guten“ Sterbens aus soziologischer Perspektive löst, müssen wir noch einmal auf die Funktion der dargestellten Fiktionen des gemeinsam erlebten Sterbens zu sprechen kommen. Wenn gerade das gemeinsame Erleben des Sterbens höchst unwahrscheinlich ist, wie gelingt es dann den beteiligten Akteuren dennoch, dies herzustellen? Wie können die unüberwindbaren Perspektivendifferenzen des Erlebens überwunden werden? Unsere Ergebnisse zeigen, dass dies in Hospizen und auf Palliativstationen auch deshalb gelingt, weil hier Deutungsarbeit geleistet wird. Die Funktion der Fiktion des gemeinsam erlebten Sterbens liegt gerade darin, einen Latenzschutz für die prinzipielle Unlösbarkeit dieses Problems bereitzustellen: Als Fiktion funktioniert sie als eine Art „Soziodizee“Footnote 3, der es gelingt, die Praxis der Palliative Care „davor [zu] schützen, alles transparent zu machen, sich gewissermaßen über ihre eigenen Bedingungen klar zu werden. Sie muss die Grundlage dessen, was geschieht, im Dunkeln lassen, um sich kontinuieren zu können“ (Nassehi 2021, S. 48). Als Soziodizee setzt sie deshalb auf das Ideal des gemeinsamen Erlebens und hält das Problem unsichtbar, dass gemeinsames Erleben in einer modernen Gesellschaft sowohl hochgradig unwahrscheinlich als auch Bedingung der Möglichkeit eines „guten“ Sterbens ist. Wenn man sich nun vor Augen führt, dass das thanatologische Paradigma der Open Awareness behauptet, Sterben gelinge besser mit transparenter Kommunikation (Nassehi 2021, S. 325), dass die Praxis der Palliative Care aber durch unüberbrückbare Perspektivendifferenzen des Erlebens strukturiert ist (Saake et al. 2019) und dass Sterben weitgehend in Organisationen stattfindet, wird deutlich, warum Organisationen der Sterbebegleitung ihr Ziel darin sehen, die Möglichkeiten zum Erleben und Handeln, vor allem aber zum gemeinsamen Erleben, zu optimieren. Die organisierte Optimierung der Fiktion des gemeinsamen Erlebens ermöglicht es, die Unversöhnlichkeit zwischen Ideal und Praxis unsichtbar zu halten und somit ein „gutes“ Sterben tatsächlich zu ermöglichen. In der Latenz und nicht in der Transparenz läge demzufolge die moderne „Lösung“ für das unlösbare Problem des Sterbens. Paradoxerweise würde die handlungs-/entscheidungsförmige Herstellung von Latenz wieder Transparenz implizieren.

Hierin bestätigt sich ein genereller organisationssoziologischer Befund, der auf die Funktion von Organisationen abstellt. Dass Organisationen sich als Sozialsysteme durch Entscheidungen reproduzieren, ist ein Hinweis darauf, dass die Organisation letztlich nur das organisieren kann, worüber sie sich selbst Entscheidungen zurechnen kann. Wir haben gezeigt, dass dies immer dann der Fall ist, wenn das Geschehen des Sterbeverlaufs als Entscheidung zurechenbar wird, während das Erleben eines nicht-kontrollierbaren Verlaufs bestenfalls als Entscheidung zum Nicht-Handeln aufgefasst werden kann. Hier zeigt sich die gleichzeitige Organisierbarkeit und Nicht-Organisierbarkeit des Sterbens (Nassehi 2019). Womöglich tritt dies hier besonders in Erscheinung, aber strukturell kommt das auch in anderen Organisationsformen vor. Universitäten können Strukturen, Finanzierungen und Zuständigkeiten ändern, sie können Leute einstellen und Fächer schließen oder stärken, aber sie können nur erleben, ob daraus exzellente Forschung und Lehre werden. Kirchen können sich reformieren, sogar Unternehmensberatungen damit beauftragen und Reformpapiere schreiben, aber die Glaubensintensität lässt sich nicht organisieren (zu diesem Fall Nassehi 2009). Und Innovationen in Unternehmen können bestenfalls erlebt werden, gehandelt werden kann nur, indem man die richtigen Leute einstellt, das Entwicklungszentrum fördert oder mehr oder weniger Freiheit bei der Gestaltung gewährt. Ob dabei etwas herauskommt, kann nur erlebt werden. An dieser Asymmetrie von Erleben und Handeln kommt man auch hier nicht vorbei, wobei das Erleben gerne aufs vorherige Handeln zugerechnet wird, wenn die Ergebnisse stimmen. Organisationen machen mit ihrer Entscheidungsgeschichte und den entsprechenden Inszenierungen selbsterzeugter Strukturen das Risiko der Transparenz von Unentscheidbarkeit unsichtbar. Deshalb lässt sich die Gesellschaft fast nur in ihren Organisationen ändern. Die Organisierbarkeit der Organisation ist die andere Seite der Nicht-Organisierbarkeit der Welt, auch der Welt innerhalb von Organisationen (Nassehi 2002). Die Fiktionen des gemeinsamen Erlebens entlasten die Organisation eines guten Sterbens davon, auf die Unlösbarkeit unlösbarer Probleme zu stoßen. Sterben braucht Latenz.

Auf Latenz zu setzen, ist eigentlich kontraintuitiv, weil moderne Formen der Kritik, Konzepte der Gestaltung und die Forderung nach Rationalität exakt das Gegenteil von Latenz postulieren: die Bedingungen der Möglichkeit und Wirklichkeit transparent zu machen und einer expliziten Kritik auszusetzen. Das setzt Kommunikation voraus, kommunikative Verflüssigung, kritisierbare Geltungsansprüche, das ganze Arsenal des „kritischen“ Denkens mit all seinen an der akademischen Praxis scharfgestellten Formen. Das schließt aber gemeinsames Erleben aus, weil argumentierende Kommunikation auf Perspektivendifferenz und nicht auf Konsensfiktionen setzt. Das Gelingen eines „guten“ Sterbens muss auf all das verzichten, was vielleicht ein Hinweis darauf ist, dass das Sterben sich bei aller technischen, medizinischen und organisatorischen Modernisierung in der sozialen Praxis nicht modernisieren lässt – vom Tod ganz zu schweigen. Das große Ärgernis des Todes ist auf der Ebene der gesellschaftlichen Praxis seine kommunikative Uneinholbarkeit. Das gilt auch für den Sterbeprozess, dem man womöglich allzu vorschnell nachsagt, er gehöre zum Leben.