1 Einleitung

In zeitdiagnostischen Arbeiten wird häufig vermutet, dass sich kosmopolitische Einstellungskomplexe in oberen sozialen Lagen finden, wohingegen untere soziale Lagen durch kommunitaristische Werthaltungen gekennzeichnet sind. Dieser Beitrag nimmt die Armutspopulation als unterstes Segment des sozialen Stratifikationsgefüges in den Blick, um am Testfall dieser Gruppe Einstellungen zu verschiedenen sozialen Ungleichheiten zu untersuchen. Im Anschluss an Mau et al. (2020) werden drei Felder sozialer Ungleichheit betrachtet, die als zentrale gesellschaftliche Konfliktthemen gelten können. Darunter fallen „klassische“ Ungleichheitseinstellungen zu Verteilungsfragen und Sozialpolitik sowie „neuere“ Ungleichheitsfelder wie Migration und geschlechtliche Diversität. Einstellungen zu sozialer Ungleichheit wurden bisher meist nur mit Fokus auf einzelne Einstellungsfelder untersucht. Dieser Beitrag dagegen integriert diese gesellschaftlich umstrittenen Felder sozialer Ungleichheit in einen Analysezusammenhang und erlaubt so eine differenzierte empirische Untersuchung möglicher Einstellungskomplexe. Positive Haltungen zu Migration und Diversität werden zumeist in den komfortableren sozialen Lagen, bei denjenigen mit hohen Bildungsabschlüssen und Einkommen lokalisiert, wohingegen in sozialen Lagen mit weniger vorteilhafter Bildung und geringem Einkommen davon ausgegangen wird, dass Migrationsbewegungen und Diversitätsanliegen auf Kritik stoßen, Umverteilung und sozialpolitische Regulierung dagegen begrüßt werden (Merkel 2017; Merkel und Zürn 2019; Reckwitz 2019). Mit Blick auf die arme Bevölkerung müsste demzufolge der einstellungsmäßige Abstand zu oberen sozialen Lagen besonders groß sein, weshalb sich hier etwaige Polaritäten in konfliktiven Themenbereichen besonders zeigen sollten. In der Armutsforschung herrscht zudem eine Leerstelle in der Frage, was die subjektiv-politischen Folgen von Armut sind; ob Armut als sozialstrukturelle Lage also Ungleichheitseinstellungen systematisch beeinflusst. Dabei wurden zuletzt Messmethoden entwickelt, die einerseits die soziale Lage „Armut“ mit Fokus auf die Ressourcenausstattung abbilden und andererseits der zeitlichen Variabilität von Armut Rechnung tragen (Gradin et al. 2012; Groh-Samberg et al. 2021). Die bisherige Anwendung dieser Instrumente geht in vielen Fällen allerdings kaum über die sozialstrukturelle Verortung der Armen und die Risikofaktoren für Armut hinaus.

Der Beitrag stößt in diese Forschungslücke, indem er die dynamische Armutsforschung in die zeitdiagnostische Debatte um die Spaltung der Gesellschaft entlang kosmopolitischer und kommunitaristischer Haltungen am Beispiel dreier zentraler Konfliktfelder einbindet. Als Datengrundlage nutze ich das Sozio-oekonomische Panel (SOEP), das bisher kaum einstellungsübergreifend ausgewertet wurde. Der zentrale Vorteil der Armutsperspektive ist zum einen deren Fokus auf konkrete Ressourcenausstattungen, sodass die soziale Lage präziser als mit Klassenschemata abgebildet werden kann. Zum anderen kann man Armutsmaße längsschnittlich und dynamisch anwenden. Während eine Klassenperspektive, mit gutem Grund, relativ stabile sozialstrukturelle Cluster vermutet und beispielsweise mit statischen Berufsschemata wie bei Oesch (2006) arbeitet, kann die Armutsforschung der Veränderung von Einkommenspositionen und sozialen Lagen im Zeitverlauf Rechnung tragen. Die zentralen Fragen, die in diesem Beitrag beantwortet werden sollen, sind erstens, ob Armutslagen (gemessen über Einkommen und Lebenslagen) mit anderen Einstellungsmustern verbunden sind als Lebenslagen außerhalb von Armut und zweitens, ob mit zunehmender Verfestigung oder Stabilität der Armutsposition veränderte Einstellungen im Vergleich zu denjenigen, die nur kurzfristig oder fluktuierend von Armut betroffen sind, einhergehen. Der Beitrag trägt in dreierlei Hinsicht zur Forschung bei: Erstens versucht er, Zeitdiagnosen rund um eine Spaltung der Gesellschaft mit Blick auf die Armen empirisch zu fundieren, zweitens erweitert er die Einstellungsforschung um eine innovative Armutsmessung und drittens trägt er zum besseren Verständnis der subjektiv-politischen Folgen von Armutslagen in Deutschland bei.

Im Folgenden wird zunächst ein kurzer Überblick über Diagnosen gegeben, die einen neuen Cleavage rund um Fragen von Transnationalisierung und Migration vermuten oder zwei gesellschaftliche Großgruppen, die Kosmopoliten und Kommunitaristen, sich gegenüberstehen sehen. Daraufhin werden die bisherigen Befunde zu den einzelnen Einstellungen referiert und zum Ende des konzeptionellen Teils wird auf das Verhältnis von Armut und Einstellungen eingegangen. Im Anschluss stelle ich die Datengrundlage sowie zentrale Messinstrumente und Analyseschritte vor und präsentiere schließlich die Ergebnisse. Diese werden im Fazit im Hinblick auf ihre gesellschaftspolitischen Implikationen beleuchtet.

2 Von Spaltungen und Syndromen, Kosmopoliten und Kommunitaristen

Die politischen Folgen der Globalisierung in Westeuropa sind weitreichend. Politikwissenschaftliche Arbeiten diagnostizieren einen neuen Cleavage, der zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung unterscheidet (Kriesi 1998; Hooghe und Marks 2018). Keineswegs geht es dabei nur um einstellungsmäßige Unterschiede in den Bevölkerungen westeuropäischer Staaten, sondern vor allem um die Restrukturierung des politischen Raumes der Parteien (Kriesi et al. 2008; Hooghe und Marks 2018). Die zunehmende Integration europäischer Staaten in die Europäische Union und damit die Abgabe von Souveränität an supra-staatliche Akteure ebenso wie Migrationsbewegungen und zunehmende kulturelle Diversität haben neue Disparitäten zwischen gesellschaftlichen Gruppen entstehen lassen. Auf der einen Seite stehen Globalisierungsverlierer, die Grenzen und Nationalstaaten befürworten, wohingegen sich Gewinner der Globalisierung für universelle Normen und grenzüberschreitende Mobilität aussprechen. Im Kern dieser Disparitäten stehen unterschiedliche Lebenschancen, die mit den Globalisierungsfolgen verbunden sind. Sozial strukturiert sind diese Lebenschancen vor allem entlang des Bildungsstands. Bildung dient zum einen als Kapital und so als Voraussetzung für beruflichen Erfolg und sozialen Status in einer globalisierten Welt. Zum anderen befördert sie eine allgemeine Werteorientierung zu Toleranz, Kosmopolitismus und Offenheit (Kriesi et al. 2008). Neben objektiven Strukturmerkmalen spielen aber auch subjektive Einschätzungen der eigenen sozialen Lage oder die Wahrnehmung der Globalisierung als Bedrohung eine Rolle für die Bewertung von Transnationalisierung und Migration (Teney et al. 2014).

Jüngst gewinnen darüber hinaus Zeitdiagnosen an Aufmerksamkeit, die die globalisierungsgetriebene Spaltung der Gesellschaft zuspitzen und zwei einstellungsmäßig polarisierte Großgruppen sich gegenüberstehen sehen (zum Überblick siehe Mau 2022). Dabei geht es nicht mehr nur um die Bewertung von Migrationsbewegungen, sondern häufig syndromartig auch um Fragen des Klimaschutzes und der sexuellen Diversität. David Goodhart (2017) schlägt eine Unterscheidung von Somewheres und Anywheres vor. Die Anywheres zeichnen sich durch hohe geografische Mobilität und hohe Bildungsabschlüsse aus. Die Somewheres dagegen fühlen sich stärker regional verbunden und definieren sich über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, beispielsweise als Angehörige der „schottischen Arbeiterschaft“ (Goodhart 2017, S. 3). Wertemäßig vertreten die Anywheres einen „progressiven Individualismus“ (Goodhart 2017, S. 5), für sie stellt also das Individuum den zentralen Bezugspunkt gesellschaftlicher Realität dar. Sie treten für Multikulturalismus, universelle Menschenrechte und Migration ein und fühlen sich häufig als Weltbürger. Die Einstellungen der Somewheres dagegen zeichnen sich durch einen ausgeprägten Sozialkonservatismus, eine ablehnende Haltung zu Einwanderung und zu sich wandelnden Geschlechterrollen aus. Der räumliche Bezugsrahmen dieser Gruppe ist weitestgehend durch den Nationalstaat bestimmt. Wolfgang Merkel und Michael Zürn (2019) erkennen eine Spaltung zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen. Während erstere vor allem über hohe Bildungsabschlüsse, gute Einkommen und mobiles Humankapital verfügen und einen freien Warenverkehr, Migration, die internationale Bekämpfung des Klimawandels und universelle Rechte befürworten, sind letztere Verlierer der Globalisierung, sehen offene Grenzen und Multikulturalismus kritisch und verfügen über eher geringe bis mittlere Bildung und unterdurchschnittliche Einkommen. Andreas Reckwitz (2019) diagnostiziert in der gegenwärtigen Sozialstruktur einen Aufstieg der neuen, akademisch geprägten Mittelklasse und einen Abstieg der traditionellen, alten Mittelklasse und der prekären neuen Unterklasse. Der sich daran entzündende Klassenkonflikt ist im Kern ein kultureller und lässt sich am Bruch zwischen alter und neuer Mittelklasse, zwischen einem eher ortsbezogenen Materialismus und einem kosmopolitischen Postmaterialismus nachvollziehen. Die neue Mittelklasse ist Vorreiterin in Fragen offener Grenzen und Migration, unterstützt Gleichberechtigung sexueller Minderheiten und setzt sich für Ökologie ein (Reckwitz 2019, S. 95). Wirtschaftlich ist sie ebenfalls liberal orientiert und sieht sozialstaatliche Regulierung skeptisch. Die alte Mittelklasse hingegen setzt ganz auf Ordnungserhaltung durch nationale Sozialpolitik und sieht Globalisierung häufig skeptisch (Reckwitz 2019, S. 100). Kitschelt und Rehm (2022) identifizieren die Postindustrialisierung und den Wandel von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft als Triebkraft für neue Brüche im politischen Raum, vor allem zwischen Menschen mit hoher Bildung und niedrigen bis mittleren Einkommen, die linksliberale Haltungen vertreten, und Niedriggebildeten mit hohen Einkommen, die eher rechts-autoritär eingestellt sind. Personen, die über niedrige Bildung und niedrige Einkommen verfügen, sollten Umverteilungsvorhaben unterstützen, aber Anerkennungsbestrebungen in „neuen“, nichtökonomischen Ungleichheitsfeldern ablehnen.

Warum aber lohnt es sich, Menschen in Armut als spezifische Population genauer zu betrachten, wo doch Brüche vor allem in der gesellschaftlichen Mitte diagnostiziert werden? Die Gruppe der Armen, in der weitgehender Ressourcenmangel und Deprivation in zentralen Lebensbereichen herrscht, sind in besonderer Weise von ökonomischen und kulturellen Abwertungsprozessen betroffen. Nimmt man die Spaltung in distinkte Großgruppen der Kommunitaristen und Kosmopoliten ernst, sollten Arme Teil der Kommunitaristen sein. Charakteristisch für diese Gruppe sind eine eher geringe Bildung und unterdurchschnittliches Einkommen. Beides trifft auf die Armutspopulation in eklatanter Art und Weise zu. Auch räumliche Immobilität ist aufgrund ihrer sehr begrenzten ökonomischen Möglichkeiten charakteristisch für Menschen in Armut (Ette et al. 2021). Der einstellungsmäßige Abstand der in Armut Lebenden zu oberen sozialen Lagen sollte besonders groß sein, sodass die Armutsbetroffenen hier als eine Art Testfall für Kommunitaristen fungieren. Bisher werden insbesondere quantitative Einstellungsanalysen mit querschnittlichen Klassenschemata durchgeführt, die nicht in der Lage sind, die zeitliche Variabilität von Armutslagen abzubilden. Jedoch wird erst im Zeitverlauf deutlich, ob verhärtete Armutslagen mit anderen Einstellungen in den drei Feldern korrespondieren. Hinzu kommt, dass Armutsmaße den Vorteil haben, die konkrete Ressourcenausstattung vom Einkommen bis zur Wohnsituation direkt messen zu können und so ein genaues Bild der materiellen sozialen Lage bieten.

3 Forschungsstand zur sozialstrukturellen Basis der drei Einstellungsfelder

Dass sich politische Einstellungen zwischen Menschen in unteren und oberen sozialen Lagen unterscheiden, ist keine Neuigkeit. Schon Lipset (1959) attestierte der Arbeiterklasse, die zwar nicht per se arm, aber doch im unteren Teil des Stratifikationsgefüges anzusiedeln ist, ökonomisch progressiv zu sein, in Fragen von Freiheitsrechten oder Offenheit gegenüber ethnischen Minderheiten hingegen zu autoritären Einstellungen zu neigen. Ursache dafür sei in erster Linie das geringe Bildungsniveau, die damit einhergehende „Uninformiertheit“, die soziale Isolation und ökonomische Unsicherheit in dieser Gruppe (Lipset 1959, S. 490 f.). Neuere politikwissenschaftliche Arbeiten können ebenfalls zeigen, dass Produktionsarbeiter ökonomisch zwar für mehr Umverteilung plädieren, in Ungleichheitsfeldern wie Diversität oder Migration jedoch ablehnender eingestellt sind (z. B. Ares 2022). Empirische Befunde in den einzelnen Feldern zeigen, dass neben der Klassenlage auch Einkommen und Bildungsgrad als wichtige Determinanten für Einstellungen oder Wahlverhalten gelten können (Kitschelt und Rehm 2022). Während sich die meisten Arbeiten immer nur mit einzelnen Einstellungsdimensionen befassen, betrachten Mau et al. (2021) das Verhältnis der Einstellungsdimensionen zueinander, wobei es sich jeweils um eigenständige Dimensionen und nicht um Einstellungscluster handelt, bei denen sich einzelne gesellschaftliche Lager gegenüberstehen.

In der Auseinandersetzung um Diversität stehen in der Literatur vor allem Einstellungen gegenüber Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung im Mittelpunkt. Andersen und Fetner (2008) zeigen im Ländervergleich, dass Angehörige der Arbeiterklasse Homosexualität weniger tolerant gegenüberstehen als Personen in Mittelklassepositionen. Erklärend verweisen sie darauf, dass ökonomische Unsicherheit und die daraus resultierende empfundene Bedrohung durch eine Minderheitengruppe zu geringerer sozialer Toleranz führt. Einen ähnlichen Effekt sozialer Klassen auf Einstellungen zu Homosexualität findet auch Svallfors (2006). Persell et al. (2001) betonen zusätzlich, dass ökonomische Unsicherheit und finanzieller Stress mit der Ausbildung intoleranter Werthaltungen verbunden sind. Die Rolle höherer Bildung steht bei Ohlander et al. (2005) und La Roi und Mandemakers (2018) im Mittelpunkt, die tolerantere Einstellungen bei Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen finden. Adamczyk und Liao (2019) arbeiten in einer Metastudie heraus, dass vor allem das Geschlecht, das Alter, die Bildung und die Religiosität Einstellungen zu LGBTQI-bezogenenFootnote 1 Themen beeinflussen. Frauen haben häufig tolerantere Ansichten zu Homosexualität als Männer und jüngere Menschen sind anerkennungsbereiter als Ältere. In den Befunden zur Akzeptanz von transgender Personen wird die Kontakthypothese prominent behandelt, also die Annahme, dass Befragte, die Kontakt zu transgender Personen haben, generell auch positivere Einstellungen entwickeln (King et al. 2009; Tadlock et al. 2017). Zudem spielt auch im Falle der Anerkennung von Transgeschlechtlichkeit der Bildungsabschluss eine zentrale Rolle (Flores 2015). Arbeiten zur Akzeptanz von Adoptionen durch gleichgeschlechtliche Paare finden auf individueller Ebene, dass höher gebildete, jüngere und säkulare Personen zwar grundsätzlich Adoptionen befürworten, diese Merkmale aber nur in Ländern mit progressiverer LGBTQI-Politik relevant sind (Dotti Sani und Quaranta 2020). Die sozioökonomische Position spielt hier keine starke Rolle.

In der Literatur zu Einstellungen zu Flucht und Migration wird besonders die Rolle des Bildungsgrades diskutiert, der im Gegensatz zum Einkommen in vielen Studien einen starken Effekt auf Einstellungen zu Immigration hat (Chandler und Tsai 2001; Carvacho et al. 2013). Scheve und Slaughter (2001) weisen zudem darauf hin, dass erhöhte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt dazu führt, dass gering qualifizierte Arbeiter, die potenziell davon bedroht sind, eher für eine Begrenzung des Zuzugs von Migranten eintreten. Diese These wird jedoch mit Verweis auf „soziotropische“ Ansätze, die beispielsweise Fragen nationaler Identität in den Mittelpunkt rücken, zunehmend kritisch diskutiert (zum Überblick siehe Hainmueller und Hopkins 2014). Chandler und Tsai (2001) belegen, dass wahrgenommene kulturelle Bedrohung und geringe Bildung dazu führen, dass Migration skeptisch gesehen wird. Blinder (2011) verdeutlicht für Großbritannien, dass migrationskritische Haltungen in Großstädten (vor allem in London) unter Menschen, die selbst Migrationserfahrung haben, unter jungen Menschen und Hochgebildeten besonders selten sind. Die Literatur zu Welfare Chauvinism, also der Idee, dass Migranten von Sozialleistungen ausgeschlossen werden sollten, bestätigt hingegen einen starken klassenspezifischen Gradienten. Mewes und Mau (2012) zeigen in ihrer Studie einen Einfluss der Klassenlage, des Einkommens und der Bildung. Auch unter Kontrolle von autoritären Einstellungen, die in anderen Studien als primärer Prädiktor vorgeschlagen werden (z. B. Van Der Waal et al. 2010), bleibt der Einfluss sozioökonomischer Positionen bestehen. Dabei ist das subjektiv wahrgenommene materielle Risiko eine relevante Größe (Heizmann et al. 2018). Zur Plausibilisierung der Ergebnisse verweisen die Autoren auf einen durch Migration ausgelösten Wettbewerb um das begrenzte Angebot an Arbeitsplätzen insbesondere bei manuellen Routinetätigkeiten. So entsteht bei Einheimischen dieser Gruppe ein Bedrohungsgefühl, welches mit Einstellungen verknüpft ist, denen zufolge Immigranten sich als Gruppe unterordnen sollen und in illegitimer Weise Ansprüche auf knappe Güter, wie eben z. B. Arbeitsplätze, erheben.

Die extensive Literatur zu Präferenzen für Umverteilung und sozialstaatliche Intervention kann anhand der Studie von Svallfors (2006) exemplarisch zusammengefasst werden. Grundsätzlich arbeiten die meisten Studien heraus, dass sich Personen mit niedrigerem sozialem Status, also z. B. geringerer Bildung und/oder niedrigem Berufsprestige, eher für mehr Umverteilung und eine extensivere staatlich organisierte Sozialpolitik aussprechen. Als Mechanismus für die Ausbildung solcher Einstellungen wird beispielsweise eine prekäre Arbeitsmarktposition oder die Spezifizität der Qualifikationen genannt. Aus rationalem Selbstinteresse, so das Argument, haben Menschen, deren Arbeitsplatz unsicher oder leicht zu ersetzen ist, ein größeres Interesse an einem suffizienten sozialstaatlichen Sicherungsnetz (Goldthorpe 2000; Emmenegger 2009; Emmenegger et al. 2015). Das Arbeitsmarktrisiko wird auch von Iversen und Soskice (2001) als Prädiktor für die Präferenz von Sozialausgaben vorgeschlagen. Grundsätzlich herrscht die Annahme vor, dass mit zunehmendem Risiko des Einkommensausfalls die Unterstützung für sozialpolitische Maßnahmen steigt (Marx und Picot 2011).

4 Armut und Einstellungen

Armut wird im vorliegenden Aufsatz zunächst einkommenszentriert verstanden und dann um die Dimensionen Vermögen, Wohnen und Erwerbsarbeit erweitert. Die zentrale Armutsschwelle wird bei 60 % des Medianeinkommens aller Haushalte festgesetzt. Folglich geht es nicht um Armut im absoluten Sinne, also einer physischen Bedrohung des Überlebens, sondern um ein Armutsverständnis, das sich am durchschnittlichen Wohlstand der Bevölkerung misst. In dieser Lesart ist Armut eine besonders eklatante Ausprägung von sozialer Ungleichheit (Dittmann und Goebel 2018). Armut rückt den Mangel an Ressourcen oder die Deprivation in einzelnen Lebensbereichen in den Vordergrund. Wer weniger als durch die Armutsschwelle definiert zur Verfügung hat, dem fehlen die Mittel zur umfassenden gesellschaftlichen Teilhabe (Barlösius 2018). Neben dem Vergleich von armen mit nichtarmen Personen schlüssele ich den Block derjenigen, die nicht arm sind, weiter auf, um so Armutslagen mit oberen sozialen Lagen in Beziehung setzen zu können.

Im Hinblick auf Folgen von Armut können Studien zeigen, dass sich soziale Beziehungen verschlechtern und politische Partizipation abschwächt (Böhnke 2008; Mood und Jonsson 2016). Die psychologische Literatur (z. B. Lever 2013) arbeitet heraus, dass anhaltender Ressourcenmangel mit einem erhöhten Stress‑, Depressions-, und Angstlevel einhergeht. Max Schaub (2021) zeigt, dass es einen kausalen Effekt des kurzfristig akuten finanziellen Mangels auf die Teilnahme an Wahlen in Deutschland gibt. Er plausibilisiert das mit einer verschlechterten psychischen Gesundheit durch wachsenden Stress in dieser Zeit und einem geringen politischen Selbstwirksamkeitsgefühl als Folge einer Entfremdung von politischen Entscheidungen und Entscheidungsträgern. Mithilfe längsschnittlicher Lebensverlaufsdaten konnte in der dynamischen Armutsforschung gezeigt werden, dass Armutslagen fluktuierender sind als man zunächst vermutete (Leisering und Buhr 2012). Unter dem Stichwort der Verzeitlichung (Berger 1996) wird betont, dass Einkommensarmut oder auch Sozialhilfebezug als eine Phase im Leben gelten, aus der es zumeist kurzfristig, etwa nach einem Jahr, wieder gelingt, zu entkommen. In neueren Arbeiten mehren sich allerdings die Indizien dafür, dass sich Armut in Deutschland in den letzten Jahren eher verfestigt hat (Groh-Samberg 2014; Kyzyma 2014; Spannagel 2016). Zeit, so die Quintessenz, spielt eine zentrale Rolle in der Formierung sozialer Folgen von Armutslagen.

Der spezifische Lebensführungsmodus armer Menschen könnte als „von der Hand in den Mund“ (Schimank et al. 2014, S. 34) charakterisiert werden. Während in der Mittelschicht durch eine komfortablere Kapitalausstattung ein Investitionskalkül und dadurch wiederum eine Zukunftsorientierung entsteht, herrscht in der Unterschicht ein gegenwartsorientierter Modus der Problem- und Alltagsbewältigung vor. Durch Ressourcenmangel und daraus resultierenden Deprivationserfahrungen kommt eine Lebensführung „mit Weitblick“, wie sie der Planungsimperativ in den Mittelschichten fordert, kaum in Betracht (Schimank 2015). Es geht eher um ein alltägliches Muddling Through (Reckwitz 2019, S. 104). Menschen in Armut weisen eine zeitliche Orientierung auf, die vor allem auf die finanzielle Bewältigung des jeweiligen Monats gerichtet ist (Schaub 2021). Die fortwährende Beschneidung der eigenen Bedürfnisse, die Beschränkung sozialer Kontakte und der Rückzug aus der sozialen Welt insgesamt werden dort als unmittelbare Folgen von akuter Einkommensknappheit beschrieben. Die Orientierung auf Individualität und Selbstverwirklichung sowie der kosmopolitische Werteapparat der neuen Mittelklasse wirkt für die Unterschicht „geradezu exzentrisch“ (Reckwitz 2019, S. 104) und lebensweltlich weit entfernt.

Zwischen Armut und Einstellungen sind drei vermittelnde Mechanismen denkbar, die zwar nicht direkt empirisch getestet, aber zum umfassenderen Verständnis des Phänomens diskutiert werden sollen. Erstens der Mangel an Ressourcen und die Deprivation in zentralen Lebenslagen, die sich besonders auf die Präferenz für sozialstaatliche Absicherung auswirken sollten. Auch im Feld der Migrationseinstellungen kann angenommen werden, dass es ein Selbstinteresse gibt. Aus Angst vor Arbeitsplatzverlust wird Immigration überproportional häufig in Berufspositionen mit geringen Ausbildungsanforderungen und geringfügiger Entlohnung abgelehnt (Mewes und Mau 2012; Polavieja 2016). Zweitens führt der Lebensführungsmodus der Kurzfristigkeit und der Problembewältigung zu einer Entfremdung von den politischen Wertemustern in oberen sozialen Lagen. Arme, so die Vermutung, teilen gerade nicht das individuelle Streben nach Selbstverwirklichung und sind weniger mobil. Wertemuster, wie das der individuellen Autonomie, der nichtheteronormativen und nichtbinären Sexualität, der Offenheit gegenüber als fremd markierten Kulturen und des Rechts auf Bewegungsfreiheit, sind Menschen in Armut aufgrund ihrer sozialstrukturellen Position, die sie zum ständigen Coping zwingt, fremd. Drittens ist die Ausbildung von Einstellungen schließlich in ein sozialstrukturelles Stratifikationsgefüge eingebettet, in dem Werthaltungen Gegenstand kultureller Konflikte sind und es damit bei der Ausbildung von Einstellungen immer auch Grenzziehung zu anderen sozialstrukturellen Gruppen geht. Es kann vermutet werden, dass die Armutspopulation positive Haltungen zu Migration und Diversität, wie sie von (den als kosmopolitisch identifizierten) oberen sozialen Lagen eingenommen werden, eher ablehnt. Zu erwarten wäre also, dass Menschen mit Armutserfahrung stärker für eine staatlich abgesicherte Sozialpolitik plädieren als nichtarme Personen, allerdings dem Zuzug von Migranten gegenüber kritischer eingestellt sind. Wenn man die Nichtarmen weiter ausdifferenziert, sollten sich die Einstellungsabstände zwischen armen und sehr wohlhabenden Personen vergrößern. Im Feld der Diversität würden zeitdiagnostische Arbeiten ebenfalls stärker ablehnende Einstellungen in der Armutspopulation vermuten, der Forschungsstand ist dahingehend jedoch etwas unklarer: Einige Arbeiten (z. B. Andersen und Fetner 2008) räumen dem Einkommen oder der ökonomischen Sicherheit einen wichtigen Platz in der Erklärung von Einstellungen ein, andere Studien (z. B. La Roi und Mandemakers 2018) sehen dagegen eher Geschlecht, Alter und Bildung als relevante Prädiktoren. Ein zentrales Anliegen dieser Arbeit ist es, Armut als dynamisches Phänomen zu verstehen. Die Wirkmächtigkeit der sozialen Folgen von Armut, des Mangels und damit einer sich dauerhaft etablierenden Lebensführung der Kurzfristigkeit und der Problembewältigung entsteht erst, wenn Armut nicht nur in einem Jahr, sondern als dauerhaftes Phänomen über mehrere Jahre anhält. Zu erwarten ist, dass Einstellungen von Menschen, die über Jahre in Armut leben und damit Ressourcenknappheit erleben, jeweils stärker „pro Sozialstaat“ und „contra Migration“ tendieren als bei Personen, deren soziale Lage zwischen Armutsphasen und Phasen außerhalb von Armut fluktuiert. Im Feld der Diversität sind die Erwartungen wiederum weniger eindeutig. Zusätzlich lässt sich insbesondere Einkommensarmut aber analytisch noch weiter aufschlüsseln. Nicht nur die Gesamtdauer der Armut, sondern auch der Zusammenhang oder die Persistenz der Perioden dürfte zu einem vertieften Verständnis der „Schwere“ von Armutserfahrungen beitragen. Nicht zuletzt bleibt auch die Intensität der Armut, also der Abstand des individuellen Einkommens zur Armutsschwelle, zu berücksichtigen. Um Einstellungen zu betrachten, erscheint eine Kombination dieser Dimensionen der Einkommensarmut sinnvoll. Es kommt nicht nur darauf an, ob und wie lange eine Person in Armut lebt, sondern auch, ob diese Perioden zusammenhängen und ob sie während dieser Perioden ein Einkommen erhält, das mehr oder weniger nah an der Armutsschwelle ist. Ein schwerer Armutsverlauf im Sinne von Intensität und Persistenz sollte mit anderen Einstellungen verbunden sein als leichtere Armutserfahrungen. Dabei ist wiederum davon auszugehen, dass schwerere Armut mit stärkeren migrationsskeptischen und sozialstaatsaffinen Haltungen einhergeht, wohingegen im Hinblick auf Diversität keine eindeutige Erwartung formuliert werden kann.

5 Daten, Operationalisierung, Analysestrategie

Zur Untersuchung des Zusammenhangs von Armut und Einstellungen in den drei Feldern sozialer Ungleichheit wird auf Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP, v36) zurückgegriffen (Goebel et al. 2019). Die Einstellungsfelder wurden jeweils in den Jahren 2017, 2018 und 2019 erhoben. Die Armutsmessung findet in einem Zeitraum von fünf Jahren vor der jeweiligen Einstellungsmessung statt.

Zu den Einstellungen in den drei zu untersuchenden Ungleichheitsarenen liegt jeweils eine Itembatterie im SOEP vor. Die Items sind in Tab. 1 dargestellt. In Bezug auf Diversität zielen die Items auf die Anerkennung von Non-Binarität und Transgeschlechtlichkeit sowie auf Adoption durch homosexuelle Paare. Was Migration betrifft, stehen Einstellungen zu Geflüchteten in Deutschland im Mittelpunkt und im Hinblick auf Sozialpolitik geht es um die Absicherungspräferenz etwa bei Kinderbetreuung oder Alterssicherung zwischen privaten Akteuren und Staat. In allen Arenen wird aus den Items jeweils ein gemeinsamer Summenscore gebildet, in den alle Items mit gleichem Gewicht eingehen. Hohe Werte bedeuten dabei hohe Zustimmung zur Anerkennung geschlechtlicher Diversität, zu Migration oder staatlich organisierter Sozialpolitik. Cronbachs Alpha als Indikator für die interne Konsistenz einer Skala liegt für das Feld der Diversität bei 0,8, für die Migrationsitems bei 0,91 und im Falle der sozialpolitischen Einstellungen bei 0,84.Footnote 2

Tab. 1 Formulierung der Items

Als abhängige Variablen stehen drei Indizes zur Verfügung, die jeweils eine Ungleichheitsdimension in den Einstellungen abdecken. Die Verteilung der Indizes ist in Abb. 1 dargestellt. Bei der Anerkennung geschlechtlicher Diversität lässt sich eine allgemeine Zustimmungstendenz erkennen. In Bezug auf Migration dagegen sind die Einstellungen sehr viel breiter gestreut. Hier scheinen insgesamt kritischere Haltungen häufiger vorzukommen als affirmative Positionen. Auf den Sozialstaatsitems schließlich ist eine sehr deutliche Tendenz zu staatlich organisierter Sozialpolitik bei geringer Streuung zu erkennen.

Abb. 1
figure 1

Verteilung der gebildeten Indizes (Histogramm). (Ungewichtete Ergebnisse, Datenquelle: SOEP v36, eigene Darstellung)

5.1 Die zentrale unabhängige Variable: Operationalisierung von Armut

5.1.1 Einkommensarmut

Zunächst steht Einkommensarmut im Mittelpunkt. Armut wird in dieser Sicht indirekt bestimmt: Nicht die tatsächlichen Deprivationen in verschiedenen Lebensbereichen werden gemessen, sondern der ressourcenseitige Input, aus dem eine Lebenslage in Armut resultiert (Ressourcenansatz). Bei der Messung von Einkommensarmut nutzt diese Arbeit das Konzept der relativen Einkommensarmut (Atkinson et al. 2002). Als arm wird definiert, wer weniger als 60 % dessen hat, was die Mitte der Einkommensverteilung erhält. Ich orientiere mich dabei nicht am arithmetischen Mittel der Verteilung, sondern vielmehr am Median, da dieser weniger anfällig gegenüber Ausreißern in den Hocheinkommensbereichen ist. Das Einkommen bezieht sich auf das jährlich verfügbare Nettohaushaltseinkommen und wird mit der neuen OECD-Skala für die jeweilige Haushaltszusammensetzung bedarfsgewichtet, um Skaleneffekte der Haushaltsgröße zu berücksichtigen.Footnote 3 Um mit dem Einkommen nicht nur Arme und Nichtarme zu vergleichen, kann man anhand des Medians weitere Gruppen ausweisen. Neben den Armen werden so prekäre Einkommen (60–80 % des Medians), mittlere Einkommen (80–120 % des Medians), gehobene Einkommen (120–200 % des Medians) und Einkommen im Reichtum (über 200 % des Medians) bestimmt.

5.1.2 Lebenslagenarmut

Das Einkommen ist ohne Frage ein zentraler Faktor zur Bestimmung von Armutslagen, jedoch gibt es darüber hinaus Lebensbedingungen, die allein durch die Einkommensmessung nicht adäquat abgedeckt werden können. Insbesondere weil Einkommens- und Lebenslagenarmut nicht gleichbedeutend sind, ist es auch empirisch sinnvoll, nicht nur das Einkommen zu betrachten, sondern darüber hinaus materielle Bedingungen zu identifizieren, die die Lebensführung beeinflussen. Olaf Groh-Samberg et al. (2021) haben einen Vorschlag zur Operationalisierung solcher materiellen Lagen gemacht.Footnote 4 Die Autoren betrachten zusätzlich zum Einkommen Vermögensreserven, also finanzielle Rücklagen, die Wohn- sowie die Erwerbssituation. In einem Scoring-Verfahren werden danach die einzelnen Dimensionen zu einem Lebenslagenindex aggregiert, wobei alle drei Dimensionen gleich gewichtet sind. Nimmt man noch das am Median kategorisierte Einkommen hinzu, ergibt sich ein Lebenslagenindikator mit sechs Ausprägungen, die die Autoren als „Armut“, „Prekarität“, „untere Mitte“, „Mitte“, „Wohlstand“ und „Wohlhabenheit“ bezeichnen. Einkommen und Lebenslagen fließen zu gleichen Teilen in den Index ein, sodass die Einkommensposition die Hälfte und jede einzelne materielle Lebenslage ein Sechstel des Lagenindikators ausmacht. Bei diesen Dimensionen ist zu beachten, dass sie sich wie auch das Einkommen jeweils auf die Haushaltsebene beziehen.

5.1.3 Dynamische Armutsmessung

Um Armut als zeitliches Phänomen zu betrachten, werden zwei Methoden genutzt: Der Lebenslagenindikator nach Groh-Samberg et al. (2021) kann längsschnittlich angewandt werden (siehe dazu auch Groh-Samberg et al. 2020), wenn für einen Zeitraum das arithmetische Mittel aus der Lagenposition jeden Jahres für jede Person gebildet wird. Schließlich werden die Mittelwerte wieder auf die fünf Ausprägungen gerundet. Kleinere, jährliche Schwankungen werden ausgemittelt. Der von Gradin et al. (2012) entwickelte Index hingegen ermöglicht es, Einkommensarmut selbst als multidimensionales Phänomen zu modellieren, indem die Gesamtdauer und die Persistenz der Armut im gewählten Zeitraum ebenso in das Maß einfließen wie die Intensität der Armutserfahrung, also der Abstand zur Armutsschwelle. Im ersten Schritt werden die Armutsperioden, wie in Gl. 1 dargestellt, innerhalb einer Person über die Zeit aggregiert.

Gleichung 1

Bestimmung individueller Index-Scores nach Gradin et al. (2012)

$$p_{i}\left(y_{i};z\right)=\frac{1}{T}{\sum }_{t=1}^{T}{g_{it}}^{\gamma }w_{it}{,}\text{wobei}\,w_{it}=\left(\frac{s_{it}}{T}\right)^{\beta }$$

Der individuelle Indikator intertemporaler Armut pi setzt sich aus der normalisierten Armutslücke, also dem Abstand zur Armutsschwelle, git, die bei 60 % des jährlichen Medianeinkommens liegt, und einem Gewicht zur Länge des Poverty Spells wit zusammen, wobei wit sich aus der Länge der individuellen Armutsdauer sit geteilt durch die Gesamtdauer des zu betrachtenden Zeitraums ergibt. Da der Parameter γ Werte größer als 0 annehmen kann, kann die Armutslücke gewichtet werden. Der Parameter β dagegen erhöht das Gewicht, was der Länge der Poverty Spells (s) beigemessen wird. Beide Parameter werden aus Gründen der Übersichtlichkeit und Interpretierbarkeit des Maßes auf den Wert 1 fixiert. Schließlich wird das Produkt aus normalisierter Armutslücke und dem Gewicht w für jedes Jahr aufsummiert und durch die Gesamtdauer des Zeitraums geteilt. Für jede Person ergibt sich so ein globaler Indexwert, in den die oben beschriebenen Dimensionen Intensität, Dauer und Persistenz einfließen.

5.2 Kontrollvariablen

Die Kontrollvariablen sollen sicherstellen, dass der Zusammenhang zwischen Armutslage und Einstellungen nicht etwa auf eine bestimmte Zusammensetzung der Armutspopulation zurückzuführen ist, weil Menschen in Armut häufiger einen niedrigeren Bildungsabschluss haben oder in Ein-Personen-Haushalten leben. In allen regressionsanalytischen Modellen wird daher für ein Set von standarddemografischen Variablen kontrolliert. Zu ihnen zählen das Alter der Befragten, die Haushaltszusammensetzung, der Migrationshintergrund, das Geschlecht und die Wohnregion in Ost- oder Westdeutschland. Als stratifizierende Kontrollvariable wird zudem der Bildungsabschluss betrachtet (für eine Übersicht der Variablen siehe Online-Anhang, Tab. A2). Die Kontrollvariablen werden aus Gründen der besseren Übersichtlichkeit nicht dynamisch gemessen, sondern auf das Jahr der jeweiligen Einstellungsmessung fixiert.

5.3 Analysestrategie

Für die Analyse wird ein Zeitraum von fünf Jahren vor der jeweiligen Einstellungsabfrage bestimmt, in dem die Armutsmessung stattfindet. Fünf Jahre sind ein Zeitraum, der es ermöglicht, über einzelne Schwankungen hinaus Verfestigungstendenzen von Armut zu erkennen. Bei Personen, die über fünf Jahre konstant in Armut leben, lässt sich davon ausgehen, dass dieser anhaltende Mangel soziale Folgen hat. In Tab. 2 sind die Messzeitpunkte für die Einstellungen und die Messung der Armutsmaße dargestellt. Die Einstellungen zur Diversität werden z. B. im Jahr 2019 erhoben. Demnach liegt der armutsrelevante Zeitraum zwischen 2014 und 2018. Durch die Panelstruktur der SOEP-Daten lassen sich zeitlich vorgeordnete Armutszeiträume auf eine nachgeordnete Abfrage von Einstellungen beziehen. Für jedes Einstellungsfeld wird ein eigenes Modell geschätzt. Die unabhängigen Variablen bilden die jeweils metrisch skalierten Indizes, sodass lineare Regressionen (OLS) gerechnet werden. Da Einstellungen nicht kontinuierlich gemessen werden, kann schlussendlich nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden, dass der Eintritt in die Armut Einstellungen verändert. Betrachtet werden Gruppenunterschiede, wobei dem Problem der umgekehrten Kausalität durch die zeitliche Vorgelagertheit der Armutsmessung beigekommen wird. Insofern bietet das hier vorgestellte Design eine forschungspraktische Verbesserung gegenüber querschnittlichen Studien.

Tab. 2 Einstellungsfelder und Messzeitpunkte

In die Analyse gehen nur Personen ein, die über die jeweiligen Zeiträume der Armuts- und Einstellungsmessung in jedem Jahr beobachtet wurden und auf den analysierten Variablen keine fehlenden Werte aufweisen. Auf diese Weise wird ein Analysesample von 14.067 Personen für das Feld der Diversität, 15.728 Personen für das Feld der Migration und 16.812 Personen in der Sozialpolitik erstellt.Footnote 5 Für alle Analysen, die auf zeitveränderliche Daten zurückgreifen, werden zeitraumspezifische Längsschnittgewichte gebildet (Kroh et al. 2015). Bei den Modellen ist zu beachten, dass die Armutsmessung jeweils auf Haushaltsebene stattfindet, die Einstellungsabfrage jedoch auf Personenebene, weshalb die Standardfehler in den Modellen nach Haushalten geclustert berechnet werden.

6 Ergebnisse

6.1 Deskriptive Ergebnisse

Rund 15 % der deutschen Bevölkerung gelten im jährlichen Mittel als einkommensarm. Beim mehrdimensionalen Armutsindikator liegt der Wert mit rund 12 % etwas darunter (jährliche Mittelwerte 2014–2018), was insofern nicht überraschend ist, da diese lebenslagenorientierte Armutsmessung neben dem Einkommen noch die Parameter Vermögen, Erwerbsarbeit und Wohnen berücksichtigt und Armut insofern ein kumulatives Phänomen darstellt.

Diejenigen Personen, die im Jahr 2018 einkommensarm waren, leben überdurchschnittlich häufig in Ostdeutschland und haben ebenfalls häufiger einen Migrationshintergrund (siehe Online-Anhang, Tab. A1). Stellen Menschen mit Migrationshintergrund in der Gesamtbevölkerung nur einen Anteil von rund 18 %, so sind sie mit rund 27 % in der Gruppe der Armen deutlich überrepräsentiert. Zudem sind vor allem Singlehaushalte und Alleinerziehende überproportional armutsbetroffen. Schließlich sind Menschen in Armut in der Mehrzahl nicht erwerbstätig und verfügen lediglich über geringe Bildungsabschlüsse, was die These stützt, dass sich die Armen in der Gruppe der Kommunitaristen wiederfinden müssten.

Über den deskriptiven Zusammenhang zwischen multiplen Lagen und Einstellungen gibt Abb. 2 Aufschluss. Abgebildet sind Durchschnittslagen aus den fünf Jahren vor der Einstellungsmessung. Im Feld der Diversität sieht man keine systematischen Unterschiede nach multipler Lage. Bei der Migration dagegen treten deutliche Unterschiede zwischen Menschen in Armut und Personen in den oberen Lagen des Wohlstandes und der Wohlhabenheit auf. Einstellungsdifferenzen zwischen Armen und Menschen in Prekarität oder mittleren Lagen fallen eher gering aus. Bei den sozialpolitischen Einstellungen tendieren untere soziale Lagen überdurchschnittlich in Richtung staatlicher Absicherung, vor allem die oberste Lage hingegen zu privater sozialer Sicherung.

Abb. 2
figure 2

Multiple Lagen und Einstellungen. (Dargestellt sind durchschnittliche, multiple Lagen aus den letzten fünf Jahren vor der Einstellungsmessung. Gewichtete Ergebnisse, gestrichelte rote Linie gibt Mittelwert der Verteilung an. Datenquelle: SOEP v36, eigene Berechnungen)

6.2 Regressionsanalytische Befunde

In den deskriptiven Analysen deutet sich bereits an, dass es, zumindest für einzelne Arenen, einen Zusammenhang zwischen Armut und Einstellungen gibt. Um auszuschließen, dass es sich bei den Zusammenhängen um Kompositionseffekte handelt, dass es also weniger der Faktor Armut, als z. B. eine spezifische Haushaltszusammensetzung, oder Bildungsstruktur unter den Armen ist, der zur Ausbildung spezifischer politischer Einstellungen beiträgt, bedarf es einer regressionsanalytischen Kontrolle. In Tab. 3 sind die Koeffizienten der durchschnittlichen multiplen Armut aus den letzten fünf Jahren vor der Einstellungsmessung dargestellt.

Tab. 3 Regressionstabelle mit Koeffizienten der multiplen Armutslage

Für jedes Einstellungsfeld ist jeweils eine bivariate Regression als Bruttomodell und ein vollständiges Modell mit Kontrollvariablen als Nettomodell dargestellt. Bei der Diversität (Tab. 3, Spalten 1 und 2) zeigt sich, dass es im bivariaten Modell keinen signifikanten Zusammenhang von Armut auf Einstellungen zu geschlechtlicher Vielfalt und Adoption durch Homosexuelle gibt. Kontrolliert man für Standarddemografie und Bildung, bleibt der Armutseffekt zwar insignifikant, gewinnt aber an Stärke. Gleichwohl ist zu konstatieren, dass sich kein statistisch abgesicherter Unterschied zwischen der Gruppe der Armen und der Nichtarmen finden lässt. Im Feld der Migration (Tab. 3, Spalte 3 und 4) zeigt sich, dass Menschen, die fünf Jahre vor der Einstellungsmessung im Schnitt in Armut gelebt haben, migrationsskeptischere Haltungen ausbilden. Ohne Kontrolle weiterer Variablen beläuft sich der Unterschied zwischen Armen und nichtarmen Personen auf rund einen Skalenpunkt auf dem Index mit einem Wertebereich von 1–11. Der Nettoeffekt nach Kontrolle schrumpft auf rund 0,6 Skalenpunkte. Bei sozialpolitischen Einstellungen (Tab. 3, Spalten 5 und 6) sieht man, dass Armutserfahrungen einen hochsignifikanten Einfluss auf die Verantwortungspräferenz zwischen privaten Regelungen und Staat in Fragen der Sozialpolitik haben. Auf dem Index mit dem Wertebereich von 1–5 wird zunächst ein Bruttounterschied von 0,15 Skalenpunkten ersichtlich. Dieser Effekt verringert sich unter Hinzunahme der Kontrollvariablen sehr deutlich, sodass nur noch ein positiver Nettoeffekt von rund 0,08 Skalenpunkten übrig ist. Menschen mit Armutserfahrung treten also eher für staatliche sozialpolitische Absicherung ein.

Exemplarisch sollen nun Einstellungen zu Migration herausgegriffen werden, weil sich hier bereits mit dem binären Indikator deutliche Unterschiede aufgetan haben. Als Indikator für Lebenslagen wird wiederum ein Durchschnitt aus den vorangegangenen fünf Jahren gebildet. Abbildung 3 zeigt auf Basis linearer Regressionsmodelle vorhergesagte Werte auf dem Index der Migrationseinstellungen für jede einzelne Gruppe. Die gestrichelte Linie gibt den Mittelwert in der Gesamtpopulation an. Während für Menschen, die sich über fünf Jahre hinweg durchschnittlich in Armut befunden haben, auf dem Index ein Wert von rund 4,4 geschätzt wird, bekommen Menschen, die dauerhaft in der privilegiertesten Gruppe waren, einen Indexwert von rund 5,3 zugewiesen. Die Differenz beträgt also nahezu einen Skalenpunkt, was in etwa 10 % der Skalenlänge (1–11) entspricht. Im Vergleich zu allen anderen Gruppen zeigt sich bei den Armen eine besonders migrationsskeptische Haltung. Die beiden „Randgruppen“ verteilen sich auf unterschiedliche Seiten des Mittelwerts. Die mittleren Gruppen dagegen, von Prekarität bis Wohlstand, gruppieren sich im Wesentlichen um den Durchschnitt. Man kann also mit Blick auf die Armen und die sehr Wohlhabenden von einer sich andeutenden Polarität in Sachen Einstellungen zu Fluchtmigration sprechen, wobei sich eine privilegierte soziale Lage in Richtung Migrationsoffenheit, eine benachteiligte Lage dagegen in Richtung Migrationsskepsis auswirkt.

Abb. 3
figure 3

Vorhergesagte Werte für Migrationseinstellungen nach multipler Lage. (Ergebnisse beruhen auf Modellen mit durchschnittlichen, multiplen Lagen aus den letzten fünf Jahren vor der Einstellungsmessung und oben eingeführten Kontrollvariablen (siehe Online-Anhang, Tab. A3). Gewichtete Ergebnisse, gestrichelte rote Linie gibt Mittelwert der Verteilung an. Datenquelle: SOEP v36, eigene Berechnungen)

Ein zentrales Anliegen dieses Vorhabens ist es, die Zeitlichkeit von Armut in den Fokus zu rücken. Als zentrale unabhängige Variable wird als erstes die Dauer der multiplen Armut im entsprechenden Zeitraum, also die aufsummierte Anzahl der individuellen Armutsperioden verwendet. In Abb. 4 wird der Zusammenhang zwischen Armutsdauer und Einstellungen nicht linear modelliert, sondern mögliche „Sprünge“ im vorhergesagten Indexwert je nach Dauer berücksichtigt. Einstellungsveränderungen könnten beispielsweise nicht nach einem oder zwei Jahren Armut, sondern erst nach drei oder vier Jahren besonders hervortreten. Bei der Diversität zeigt sich bis zu einer Armutsdauer von zwei Jahren ein Anstieg des Index, danach fällt der Wert leicht ab und steigt für eine Dauer von fünf Jahren wieder leicht an. Insgesamt sieht man aber recht wenig Veränderung über die Armutsdauer, die sichtbaren Unterschiede sind zudem statistisch nicht signifikant. Bei Migrationseinstellungen wiederum zeigt sich eine Schwelle der Wirkmächtigkeit von Armutserfahrungen. Während Menschen, die zwischen 2013 und 2017 ein oder zwei Jahre in Armut gelebt haben, kaum eine andere Einschätzung zu Migration abgeben als nie arme Personen, ändert sich dies ab einer Armutsdauer von drei Jahren. Hier sehen wir einen deutlichen Abfall des Indexwertes und damit einen Rückgang der Zustimmung zu Migration bis zu einem Tiefpunkt bei einer Dauer von vier Jahren. Für Personen, die fünf Jahre in Armut lebten, steigt der Indexwert wieder leicht an, wobei dieser Anstieg statistisch nicht signifikant ist. Menschen, die langfristig in Armut leben, bei denen sich also der Ressourcenmangel und die damit korrespondierende Lebensführung über mehrere Jahre eingestellt haben, betrachten Einwanderungsbewegungen ablehnender als nie oder nur kurzfristig von Armut Betroffene. Möglicherweise verstärken sich Bedrohungswahrnehmungen in Bezug auf Migrantengruppen (siehe zu deren Relevanz Hager und Veit 2019), wenn sich die Lebenslage der Armut verstetigt und Coping und Problembewältigung den Alltag über Jahre prägen. Im Feld der Sozialpolitik zeigt die Kurve, dass kurzfristige Armut mit einem Anstieg der Staatsaffinität einhergeht, sich dann eine Art Plateau bei zwei bis drei Jahren in Armut bildet, der Indexwert also mit zunehmender Dauer stagniert, wobei es bei einer Dauer von vier Jahren einen kleineren Einbruch des vorhergesagten Indexwertes gibt. Ab dem ersten Jahr in Armut tendieren Einstellungen deutlich in Richtung staatlicher Verantwortungspräferenz. Längere Zeit in Armut zu leben, verändert dann kaum noch etwas an den geschätzten Koeffizienten. Längsschnittliche Lebensverlaufsforschung kann zeigen, dass ökonomische Schocks, wie der Verlust des Arbeitsplatzes oder eben das Abrutschen in Armut, zu größerer Unterstützung für wohlfahrtsstaatliche Leistungen führen (Naumann et al. 2016). Insofern ist eher der Eintritt in als das Andauern von Armutsperioden für Einstellungen im sozialpolitischen Feld relevant.

Abb. 4
figure 4

Vorhergesagte Einstellungswerte nach Jahren in multipler Armut. (Ergebnisse beruhen auf Modellen mit kategorialer Armutsdauer und oben eingeführten Kontrollvariablen (siehe Online-Anhang, Tab. A4). Gewichtete Ergebnisse, grau unterlegter Bereich zeigt die 95 %-Konfidenzintervalle der Schätzung an. Datenquelle: SOEP v36, eigene Berechnungen)

Durch die Betrachtung eines Fünfjahreszeitraums wurde der Zeitlichkeit von Armut Rechnung getragen. Darüber hinaus wurden die Einstellungen jedoch nicht hinsichtlich der Stabilität der Armutsperioden, also der tatsächlichen Persistenz sowie der Intensität der Armutserfahrung analysiert. So könnte es einen Unterschied machen, ob eine Person in zwei nichtzusammenhängenden Jahren knapp unterhalb der Einkommensarmutsschwelle liegt oder über mehrere zusammenhängende Jahre ein Einkommen unter der Armutsschwelle zur Verfügung hat. Dieses Phänomen der Einkommensarmut soll als Schwere der Armut verstanden werden. Zur Messung dieser Schwere wird der von Gradin et al. (2012) vorgestellte Index benutzt, mit dem sich die Dimensionen Gesamtdauer, Persistenz und Intensität von Armut abbilden lassen. Der zentrale Vorteil des Indexes intertemporaler Armut von Gradin et al. besteht darin, dass der erzeugte Indexwert leicht in Regressionsanalysen als unabhängige Variable verwendet werden kann. Ein Nachteil jedoch ist, dass der Zahlenwert selbst nur schwer sinnvolles Interpretationspotenzial bietet. Deshalb wird der Index relational, d. h. in Beziehung zur Verteilung interpretiert. Ein Indexwert von 0 bedeutet, dass eine Person im Beobachtungszeitraum nie in Armut gelebt hat. Ein Wert von 1 hingegen heißt, dass sie über den gesamten Zeitraum ein Einkommen von 0 € hatte. Das arithmetische Mittel unter armen Personen liegt bei rund 0,15, der Median bei 0,1; nur im ärmsten 1 % der Armen treten Werte von über 0,5 auf. In dem Beobachtungszeitraum nimmt der Index vor allem Werte zwischen 0 und 0,2 an. Hohe Indexwerte über 0,6 kommen dagegen extrem selten vor.

Zur ersten regressionsanalytischen Annäherung wird der Gradin-Index deshalb in drei Kategorien zerlegt: zunächst die Nichtarmen mit dem Indexwert 0, dann diejenigen, die in Bezug zur Verteilung des Index unter Armen (Index-Wert > 0) eine unterdurchschnittliche Schwere der Armut erfahren und in der dritten Kategorie jene, die von überdurchschnittlicher Schwere der Armut betroffen sind. Abbildung 5 stellt den modellbasiert vorhergesagten Indexwert für die drei Kategorien und nach Feld der Ungleichheit dar. Im Bereich der Diversität sieht man kaum substanzielle Unterschiede. Menschen, die eine überdurchschnittliche Schwere von Armut aufweisen, sind etwas diversitätsaffiner. Allerdings ist dieser Unterschied statistisch nicht signifikant. Anders bei der Migration, wie schon bei der Dauer der Armut weiter oben gezeigt werden konnte, sind Menschen, die im Hinblick auf Dauer, Persistenz und Intensität besonders stark von Armut betroffen sind, auch deutlich migrationsskeptischer eingestellt als solche, die nie oder nur leicht von Armut betroffen waren. Dieser Unterschied erweist sich auch als statistisch belastbar. Hier bestätigt sich demnach das oben bereits herausgearbeitete Muster, dass nämlich schwere Armut mit migrationskritischeren Einstellungen im Vergleich zu leichteren Armutsperioden einhergeht. Bei der Sozialpolitik können die Befunde für die Armutsdauer auch in Bezug auf die Schwere der Armut bestätigt werden. Hier besteht der zentrale Unterschied darin, ob man arm ist oder nicht und weniger in der weiteren Ausdifferenzierung der Armut nach zeitlichen Merkmalen.

Abb. 5
figure 5

Vorhergesagte Einstellungswerte nach Schwere der Armut. (Ergebnisse beruhen auf Modellen mit kategorialem Index nach Gradin et al., der über das Einkommen der letzten fünf Jahren vor der Einstellungsmessung gebildet wird, sowie auf oben eingeführten Kontrollvariablen (siehe Online-Anhang, Tab. A5). Gewichtete Ergebnisse, gestrichelte rote Linie gibt Mittelwert der Verteilung an. Datenquelle: SOEP v36, eigene Berechnungen)

7 Fazit

Aktuelle Arbeiten zur Frage, welche Spannungs- und Konfliktverhältnisse die Gesellschaft prägen, kommen zu dem Schluss, dass sich im Zuge der Globalisierung kulturelle, d. h. in den Einstellungen nachweisbare Brüche zwischen Bevölkerungsgruppen auftun. Diese Arbeit fokussiert auf Armut als besonderes soziales Stratum, das als Testfall dient und eine besonders große Einstellungsdifferenz zu oberen Lagen aufweisen sollte. Zur genaueren Betrachtung werden verschiedene Felder sozialer Ungleichheit, nämlich geschlechtliche Diversität, Migration und soziale Sicherung herangezogen. Methodisch knüpft dieses Vorhaben an die Arbeiten der dynamischen Armutsforschung an, um die Zeitlichkeit und konkrete Ressourcenausstattung sozialer Lagen angemessen in den Blick nehmen zu können. Als zentrales Ergebnis dieser Arbeit kann gelten, dass die soziale Lage Armut durchaus mit bestimmten Einstellungen in gesellschaftlich umkämpften Ungleichheitsfeldern verbunden ist. Allerdings muss stärker differenziert werden als es zeitdiagnostische Spaltungsdiagnosen bisher tun. Im Feld geschlechtlicher Diversität kann man nicht davon sprechen, dass Menschen in Armut gegenüber Homosexuellen oder transgender Personen ablehnender eingestellt sind. Womöglich hängt das auch damit zusammen, dass transgender Personen oder Homosexuelle selbst überproportional häufig von Armut betroffen sind, wie Studien aus Nordamerika nahelegen (Badgett et al. 2019; Kinitz et al. 2021). Anders stellt es sich bei migrationsbezogenen Einstellungen dar. Hier finden sich deutlich pointiertere Unterschiede zwischen Armen und Nichtarmen: Menschen mit Armutserfahrung lehnen Migrationsbewegungen eher ab. Die Gruppenunterschiede, auch wenn man die Gruppe der Nichtarmen weiter aufschlüsselt, erscheinen im Verhältnis zu den anderen Feldern groß und reichen bis zu 10 % der Skalenlänge. Menschen, die zudem länger in intensiver Armut gelebt haben, sind migrationsskeptischer eingestellt als Personen mit kürzeren Armutsperioden. Im Feld der Sozialpolitik offenbart sich, dass Menschen mit Armutserfahrung tatsächlich eher in Richtung staatlich organisierter Sozialpolitik tendieren. Allerdings ist die Spannweite der Gruppenmittelwerte in diesem Feld recht gering, weil die Zustimmung zu sozialer Absicherung seitens des Staates insgesamt sehr hoch ist. Was die Dauer oder Stabilität der Armutslage betrifft, so wird deutlich, dass die für die Beurteilung von Sozialpolitik maßgebliche Unterscheidung eher zwischen arm und nichtarm verläuft und mit zunehmender Dauer und Stabilität der Armutslage keine weitere verstärkte Staatsaffinität zu beobachten ist.

Dieser Beitrag hat aber auch klare Grenzen: Möglicherweise gibt es Defizite in der Einstellungsabfrage. Die Batterie zu Migration fokussiert auf Flüchtlingsbewegungen und könnte damit tendenziell größere Unterschiede produzieren als im Kontext anderer Migrationstypen sichtbar würden. Im sozialpolitischen Feld dagegen wäre es vorstellbar, dass die Abfrage nach Bereichen zu allgemein ist und größere Unterschiede bei einzelnen, umstritteneren Punkten, etwa in der Diskussion um Steuererhöhungen, auftreten. Außerdem ist konzeptionell-theoretisch bislang wenig zum Zusammenhang von Armut und Einstellungen gearbeitet worden. Dies ist eine Leerstelle, für die es in der Sozialstrukturforschung weiterer Überlegungen bedarf.

Was bleibt nun also von der Diagnose der gespaltenen oder polarisierten Gesellschaft? Tatsächlich konnte hier gezeigt werden, dass es relevante Einstellungsunterschiede zwischen Menschen in Armut und solchen in besser situierten sozialen Lagen vor allem in Fragen der Migration gibt. Erstaunlicherweise unterschieden sich aber unterste und oberste sozialstrukturelle Lagen, namentlich Arme und Wohlhabende, nicht in ihrer Einschätzung zu Anliegen sexueller Diversität. Der Testfall der Armen macht deutlich, dass wir es in Deutschland nicht mit zwei Polen oder gesellschaftlichen Lagern wie Kommunitaristen vs. Kosmopoliten zu tun haben, die sich in sämtlichen konflikthaften Fragen unversöhnlich gegenüberstehen. Das bedeutet natürlich nicht, dass es keine systematischen sozialstrukturellen Unterschiede in Bezug auf Einstellungen gibt, aber die sozialstrukturelle Lage und Einstellungen müssen zum einen analytisch auseinandergehalten werden und zum anderen für verschiedene Ungleichheitsfelder separat untersucht werden (siehe dazu auch Mau 2021). Armutsbekämpfung, so legen es die Befunde dieses Beitrags nah, ist nicht nur ein rein sozialpolitisches Anliegen, sondern entfaltet gerade auch aus gesellschaftspolitischer Perspektive seine Relevanz. Besonders die Verhinderung langfristiger und persistenter Armutsperioden kann, vor allem mit Blick auf die Einschätzung von Migrationsbewegungen, mit weniger ablehnenden Einstellungen verbunden sein.