1 Einleitung

Das Thema Armut wird in Forschung, Politik und Medien immer wieder problematisiert. Vor dem Eindruck steigender sozialer Ungleichheit und mehr Menschen in Armut wird eine soziale Destabilisierung befürchtet. Dabei steht vermehrt auch die Zeitlichkeit von Armut im Fokus. Die dynamische Armutsforschung zeigt, dass Armut oft nur eine Episode im Lebenslauf und für viele Personen von begrenzter Dauer ist (Bane und Ellwood 1986; Leibfried et al. 1995). Gleichzeitig erweist sich, dass negative soziale und psychologische Folgen von Armut vor allem unter Personen und Familien konzentriert sind, die dauerhaft in Armut verbleiben (Böhnke und Link 2017; Evans und Kim 2007; McLeod und Shanahan 1993). In diesem Zusammenhang erscheint der deutliche Anstieg der Armutsbetroffenheit in Deutschland seit den 1990er-Jahren potenziell besonders problematisch, da dieser weniger durch vermehrte Abstiege aus prekären Einkommenslagen oder gar aus der Mittelschicht erklärt wird, sondern vielmehr auf eine Verfestigung von Armutslagen zurückgeführt wird (Groh-Samberg 2009, 2014; Böhnke 2010; Groh-Samberg und Hertel 2010).Footnote 1

Der vorliegende Beitrag stellt den Versuch einer Erklärung dieser Entwicklung dar. Der Fokus auf Ausstiege aus Einkommensarmut soll helfen, die Mechanismen der Verfestigung materieller Not aufzudecken und ihre Veränderungen über die Zeit zu untersuchen. Theoretisch schließen wir an die Lebenslaufforschung und die Idee von Pfadabhängigkeiten an und gehen davon aus, dass diese seit den 1990er-Jahren an Bedeutung gewonnen haben. Unsere Untersuchung berücksichtigt zum einen die eigenständige Wirkung der Dauer von Armut auf einen weiteren Verbleib. Zum anderen analysieren wir die Wirkung vergangener Arbeitslosigkeit auf Armutsdynamiken. Zusätzlich tragen wir der Verknüpfung der Lebensverläufe von Partnerinnen und Partnern Rechnung und berücksichtigen neben der Haushaltszusammensetzung auch die berufliche Position sowohl der Befragten als auch der Partner. Der Artikel leistet damit erstens einen Beitrag zur Erklärung des spezifischen Musters des Anstiegs von Armutsrisiken in Deutschland, indem besonders ihre Verfestigung in den Blick genommen wird. Zweitens fokussiert unsere Analyse durch die besondere Berücksichtigung von Pfadabhängigkeiten auf Prozesse sozialer Benachteiligung, deren Bedeutung für die Veränderung sozialer Ungleichheit insgesamt noch unzureichend untersucht ist.

Um die Entwicklung der veränderten Armutsdynamik differenziert erklären zu können, führen wir eine Dekomposition der Ausstiegswahrscheinlichkeit aus Armut durch. So können wir nicht nur zeigen, ob unsere Erwartungen zutreffen, sondern auch den Anteil an der Entwicklung insgesamt quantifizieren. Kompositionseffekte zeigen dabei den Beitrag der Zu- und Abnahme der Häufigkeit verschiedener Gruppen, während Koeffizienteneffekte Aufschluss über den Beitrag über- oder unterproportional steigender Armutsrisiken geben.

Im Folgenden diskutieren wir den Forschungsstand zur Entwicklung von Armut in Deutschland und den besonderen Ansatz der vorliegenden Studie: Zunächst stellen wir bisherige Ergebnisse zur Erklärung von Armutstrends im Querschnitt dar. Danach verdeutlichen wir die Bedeutung einer dynamischen Perspektive und den Trend der Verfestigung von Armut und erörtern dann die spezifische Perspektive und den Beitrag des vorliegenden Artikels. Dabei formulieren wir auch Erwartungen für die späteren Analysen. Im darauffolgenden Teil werden die verwendeten Daten und die Methode beschrieben. Im Ergebnisteil werden zunächst Regressionsergebnisse zu Einflussfaktoren auf die Dauer von Armut beschrieben und es wird die Veränderung der Stichprobe im Zeitverlauf diskutiert. Danach werden dann die Dekompositionsergebnisse dargestellt. Der Beitrag endet mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse und einem Fazit.

2 Der Wandel von Armut im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen

2.1 Warum sind Armutsrisiken in Deutschland gestiegen? Forschungsergebnisse aus der Querschnittsperspektive

Armut bezeichnet einen Mangel an Ressourcen, der für die Betroffenen mit einer deutlich eingeschränkten Teilhabe an der Gesellschaft einhergeht (Groh-Samberg und Voges 2013). Zur Messung von Armut greifen wir auf das Konzept der relativen Einkommensarmut zurück, nach dem Personen dann als arm gelten, wenn sie in einem Haushalt mit einem äquivalenzgewichteten Nettoeinkommen von weniger als 60 % des Medians leben. Dieses Konzept wird auch von den meisten hier referierten Studien verwendet.Footnote 2 Armut im Allgemeinen und relative Einkommensarmut im Speziellen lässt sich nur auf der Haushaltsebene messen. Die Annahme ist, dass Personen in einem Haushalt (Einkommens‑)Ressourcen teilen und der Lebensstandard aller Personen im gleichen Haushalt identisch ist. Als Erklärungen für Armut und ihre Veränderung im Zeitverlauf kommen deshalb sowohl Entwicklungen infrage, die einzelne Einkommenskomponenten betreffen, als auch die Kumulation von Einkommen mehrerer Personen innerhalb von Haushalten sowie den durch die Haushaltszusammensetzung bestimmten Bedarf. Im Folgenden möchten wir den Forschungsstand zur Erklärung der Armutsentwicklung in Deutschland seit den 1990er-Jahren kurz zusammenfassen. In den anschließenden Abschnitten legen wir dar, wie unsere dynamische Perspektive und besonders die Berücksichtigung von biografischen Pfadabhängigkeiten diese Ergebnisse komplementieren.

Die Armutsquote ist seit den 1990er-Jahren vor allem bis Mitte der 2000er-Jahre stark gestiegen (Groh-Samberg und Voges 2013). Hintergrund für diese Veränderungen sind sowohl langfristige Trends als auch spezifische Entwicklungen in diesem Zeitraum. Zu ersteren gehören der Trend zu höheren Bildungsabschlüssen sowie die Alterung der Gesellschaft. Diese Entwicklungen haben jedoch eher zu einer Zunahme von Gruppen mit niedrigen Armutsrisiken geführt – insbesondere von Hochqualifizierten und Personen im mittleren Alter (Schulze und Dreier 2015). Die abnehmende Häufigkeit jüngerer Haushalte hat zwar durch die relativ höheren Armutsrisiken dieser Gruppe eher zu einem Rückgang der Armutsquote beigetragen, gleichzeitig zeichnet sich diese Gruppe jedoch durch besonders stark steigende Armutsrisiken aus (Groh-Samberg und Voges 2014).

Tiefgreifende Veränderungen lassen sich im Untersuchungszeitraum bezüglich des Arbeitsmarktes beobachten: Der strukturelle Wandel des Arbeitsmarktes durch den Bedeutungsgewinn des Dienstleistungssektors und den fortschreitenden technologischen Wandel, aber auch der Rückgang gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht werden mit einer zunehmenden Polarisierung der Lohnverteilung in Verbindung gebracht (Corneo et al. 2014). Tatsächlich finden die meisten Studien, dass steigende Arbeitsmarktungleichheiten den zentralen Erklärungsfaktor für die Zunahme der Armutsquoten in Deutschland darstellen (Biewen und Juhasz 2012; Haupt und Nollmann 2014; Brülle 2018; Brülle et al. 2019). Dabei sind einige Gruppen aufgrund wachsender Schwierigkeiten, im Arbeitsmarkt ein stabiles und armutssicherndes Einkommen zu verdienen, besonders von steigenden Niedriglohn- und Armutsrisiken betroffen – insbesondere Personen in niedrigqualifizierten Berufen oder in den unteren Berufsklassen, aber auch Arbeitsmarkteinsteiger mit geringer Arbeitsmarkterfahrung oder kürzlichen Arbeitslosigkeitserfahrungen (Gießelmann 2009, 2015; Haupt und Nollmann 2014; Gerlitz 2022). Darüber hinaus ist Niedriglohnbeschäftigung in Ostdeutschland deutlich verbreiteter als in Westdeutschland und der Anteil von Erwerbstätigen in Armut ist in den neuen Bundesländern seit den 1990er-Jahren noch stärker gestiegen als in Westdeutschland (Lohmann und Gießelmann 2010).

Während Lohnungleichheiten und Niedriglohnbeschäftigung seit den 1990er-Jahren zugenommen haben, hat die Arbeitslosenquote einen Höhepunkt Mitte der 2000er-Jahre erreicht und entwickelt sich seitdem rückläufig. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit hat bis 2005 vermutlich zu steigenden Armutsrisiken in diesem Zeitraum beigetragen (Biewen und Juhasz 2012). Der starke Rückgang der Arbeitslosigkeit in den folgenden Jahren hat sich dagegen nicht in sinkenden Armutsquoten bemerkbar gemacht, obwohl er durchaus einen Rückgang anderer Maße sozialer Ungleichheit begünstigt haben könnte (Biewen und Sturm 2022).

In Bezug auf Haushalts- und Erwerbsmuster führten langfristige Trends zu einer Verkleinerung der durchschnittlichen Haushaltsgröße. Vor allem der Anstieg von Haushalten mit nur einer erwachsenen Person, also Einpersonenhaushalte oder Alleinerziehende, hat zu höheren Armutsrisiken beigetragen (Peichl et al. 2012; Brülle 2016). Die steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen konnte dagegen Armutsrisiken nicht reduzieren, da diese Entwicklung am stärksten für Haushalte mit höheren Ressourcen zu beobachten ist (Brülle 2016). Durch die Tendenz zur Homogamie nach arbeitsmarktrelevanten Eigenschaften kumulieren sich Arbeitsmarktchancen und -risiken häufig innerhalb von Partnerschaften (Esping-Andersen 2009; Grotti und Scherer 2014). Andere Studien finden allerdings in Bezug auf die Haushaltsstrukturen auch eine armutsreduzierende Wirkung der Abnahme von Haushalten mit Kindern (Schulze und Dreier 2015) oder keine deutlichen Effekte der Haushaltsstruktur auf die Veränderung von Armutsrisiken (Haupt und Nollmann 2014).

Im internationalen Vergleich zeigt sich immer wieder die herausragende Bedeutung des Wohlfahrtsstaates für die Unterschiede der Armutsquoten verschiedener Länder (Brady et al. 2017). In Bezug auf die Erklärung steigender Armutsrisiken in Deutschland innerhalb der vergangenen Jahrzehnte gibt es wenig Hinweise darauf, dass Veränderungen des Steuer- und Transfersystems, etwa durch die Reformen der Sicherung bei Arbeitslosigkeit („Hartz IV“), direkt, also durch geringere Transferleistungen an Haushalte, die von Armut gefährdet sind, für den Anstieg der Armut verantwortlich waren (Brülle 2018; Biewen und Juhasz 2012). Dagegen ist es wahrscheinlich, dass die sozial- und arbeitsmarktpolitischen Reformen durch die Liberalisierung von atypischen Beschäftigungsverhältnissen und eine Erhöhung der Konzessionsbereitschaft von Arbeitslosen und/oder Beschäftigten zu steigenden Arbeitsmarktungleichheiten beigetragen haben (Gerlitz 2018; Möller 2015).

Insgesamt zeichnet die Forschung damit ein differenziertes Bild der Entwicklung von Armut im Zeitverlauf. Insbesondere veränderten Arbeitsmarktergebnissen in Form der gestiegenen Ungleichheit der Löhne wird eine hohe Bedeutung zugeschrieben. Ähnliches gilt auch für die Zunahme Alleinlebender. Gleichzeitig wurden Gruppen identifiziert, die von den Veränderungen im Arbeitsmarkt besonders betroffen sind und in der Folge unter steigenden Armutsrisiken leiden – insbesondere Arbeiter, aber auch Berufseinsteiger und Personen mit prekären Erwerbsbiografien.

2.2 Die dynamische Perspektive: Der entscheidende Trend sinkender Ausstiegswahrscheinlichkeiten

Die bisherige Forschung zur Erklärung der Entwicklung von Armutsrisiken nimmt fast ausschließlich eine Querschnittsperspektive ein. Armutserfahrungen werden also nicht nach ihrer zeitlichen Dynamik differenziert. Die Relevanz dieser Perspektive wurde für Deutschland in den 1990er-Jahren vor allem durch die Untersuchung der Dynamik des Sozialhilfebezugs gezeigt, der zum einen deutlich weniger dauerhaft war und zum anderen einen größeren Teil der Bevölkerung betraf als häufig angenommen (Leibfried et al. 1995). Erst mit der Verfügbarkeit von Paneldaten über einen längeren Zeitraum wurden auch Untersuchungen der zeitlichen Entwicklung dieser dynamischen Aspekte von Armut möglich (Groh-Samberg 2009). Inzwischen ist die Verfestigung von Armut als prägendes Muster der vergangenen Jahrzehnte gut dokumentiert (Groh-Samberg 2019). Um die Bedeutung dieses Trends zu verdeutlichen, zeigt Abb. 1 die Entwicklung von Armutsquote, Ausstiegswahrscheinlichkeiten und Einstiegswahrscheinlichkeiten in Deutschland zwischen 1992 und 2016. Der Darstellung liegen Daten des Sozio-oekonomischen Panels zugrunde, die auch in der späteren Analyse verwendet werden. Die Zahlen beziehen sich auf das Konzept der relativen Einkommensarmut, wie es im vorherigen Abschnitt definiert wurde. Auch wenn die Ausstiegswahrscheinlichkeiten aus Armut im Zeitverlauf stark schwanken, ist ein deutlicher Rückgang der Chancen für einen Ausstieg aus Einkommensarmut festzustellen. Während zwischen 1994 und 1999 40 bis 48 % der zuvor einkommensarmen Personen in Deutschland die Einkommensarmut verlassen haben, sind es ab 2002 nur noch zwischen 32 und 40 %. Das Risiko, arm zu werden, ist für Personen, die im vergangenen Jahr nicht arm waren, parallel zur Armutsquote ebenfalls leicht angestiegen, von Werten zwischen 3 und 3,9 % in den 1990er-Jahren auf bis zu 5,1 % im Jahr 2009.

Abb. 1
figure 1

Armutsquote, Einstiegswahrscheinlichkeit in Armut und Ausstiegswahrscheinlichkeit aus Armut. (Daten: SOEP, eigene Berechnung, Längsschnittgewichtung. Nur Personen zwischen 25 und 60 Jahren. Gestrichelte Linie Geglätteter Zeittrend)

Abbildung 2 veranschaulicht den jeweiligen Beitrag von Ein- und Ausstiegen aus Armut für die Entwicklung der Armutsquote insgesamt. Diese Darstellung verdeutlicht zum einen, dass Personen, die mehrere Jahre arm sind, in jedem Jahr eine Mehrheit stellen. Zum anderen steigt ihr Anteil zwischen dem Ende der 1990er-Jahre und den späten 2000er-Jahren. Der Anstieg der Armut in diesem Zeitraum geht also vor allem auf die Verfestigung von Armutslagen und weniger auf ein höheres Risiko der Verarmung zurück. Aus diesem Grund konzentrieren wir uns im vorliegenden Beitrag und in der späteren Analyse ausschließlich auf Ausstiegschancen. Risiken, in Einkommensarmut abzusteigen, wurden vor allem vor dem Hintergrund kritischer Lebensereignisse, wie Arbeitslosigkeit und Auflösungen von Partnerschaften, in der jüngeren Literatur bereits eingehend untersucht (Kohler et al. 2012).

Abb. 2
figure 2

Anteil von persistent Armen und Einstiegen an der Gesamtbevölkerung. (Daten: SOEP, eigene Berechnung, Längsschnittgewichtung. Nur Personen zwischen 25 und 60 Jahren. Gestrichelte Linie Geglätteter Zeittrend)

Die folgende Analyse konzentriert sich auf einen Vergleich zwischen 1994–1999 und 2011–2016. Der Vergleich von nur zwei Zeitperioden ist vor allem pragmatisch begründet, um eine übersichtliche Darstellung der Ergebnisse zu gewährleisten. Er spiegelt sowohl strukturelle Veränderungen wider als auch politische Reformen oder Ereignisse, welche die Struktur von Ausstiegsprozessen aus Armut nachhaltig verändert haben. Dazu gehören neben den oben angesprochenen Trends steigender Arbeitsmarktungleichheiten und veränderter Haushaltsstrukturen auch die hohe Arbeitslosigkeit sowie die sozial- und arbeitsmarktpolitischen Reformen Anfang und Mitte der 2000er-Jahre.

Studien zur Erklärung der Verfestigung von Armut sind bisher rar. Einige Arbeiten deuten darauf hin, dass Personen mit niedrigen Bildungsabschlüssen und in den unteren Berufsgruppen stärker vom Anstieg dauerhafter Armutserfahrungen betroffen sind als andere Personen. Gleichzeitig ist der Trend der Verfestigung in Ostdeutschland noch stärker ausgeprägt als in Westdeutschland (Groh-Samberg 2014; Kyzyma 2014). In keiner der vorliegenden Studien wurde jedoch eine formale Dekomposition durchgeführt, die für einzelne Variablen sowohl den Effekt einer veränderten Komposition als auch einer veränderten Wirkung der verschiedenen Merkmale identifizieren kann.

2.3 Die Verfestigung von Armut und die Bedeutung von Pfadabhängigkeiten

Für eine dynamische Betrachtung von Armut bietet sich eine besondere Berücksichtigung von grundlegenden Ideen der Lebensverlaufsperspektive an. Dabei greifen wir vor allem die Bedeutung von Pfadabhängigkeiten und der zeitlichen Kumulation von Vor- oder Nachteilen innerhalb von Lebensverläufen auf (Fasang und Mayer 2020). Der Abstieg in Armut ist häufig Folge risikobehafteter Lebensereignisse, wie Arbeitslosigkeit oder der Trennung von Paaren oder Familien (O’Rand 2006; Kohler et al. 2012). Die Betroffenen haben im Vergleich zu anderen Personen im Arbeitsmarkt oder auch in Bezug auf die Bildung neuer Partnerschaften systematisch andere Opportunitätsstrukturen und verfügen häufig als Folge dieser Lebensereignisse über geringere Ressourcen. Dadurch können Prozesse der kumulativen Benachteiligung ausgelöst werden, indem vergangene Positionen auch die Möglichkeit beeinflussen, zukünftig erstrebenswerte gesellschaftliche Positionen und Ressourcen zu erreichen (DiPrete und Eirich 2006). Wir verfolgen in diesem Beitrag drei Hauptthesen, die wir im Weiteren jeweils einzeln diskutieren (siehe Tab. 1 für einen Überblick über die Hypothesen).

Tab. 1 Überblick über die erwarteten Kompositions- und Koeffizienteneffekte

Hauptthese 1

Pfadabhängigkeiten gewinnen im Beobachtungszeitraum für die Erklärung von Ausstiegswahrscheinlichkeiten aus Armut an Bedeutung.

Die Kombination von steigenden Arbeitsmarktrisiken, einem stark segmentierten Arbeitsmarkt und der zunehmenden institutionellen Ausdifferenzierung von atypischer und prekärer Beschäftigung legt nahe, dass Arbeitsmarktergebnisse im Vergleich zu den 1990er-Jahren stärker von der bisherigen Laufbahn abhängen. Arbeitslose sehen sich beispielsweise besonderen Barrieren für einen Wiedereinstieg in gut bezahlte Beschäftigung gegenüber (Gangl 2004, 2006). Gelingt der Einstieg nur in Beschäftigungssegmente mit hoher Unsicherheit oder gering entlohnter Beschäftigung, sind Wechsel in Arbeitsmarktsegmente mit besseren Beschäftigungsbedingungen häufig schwierig, da Einstiegspunkte in solche Märkte begrenzt sind oder den Betroffenen spezifische Ressourcen fehlen (Eichhorst und Kendzia 2016; Blossfeld und Mayer 1988). Arbeitslosigkeit und besonders wiederholte Arbeitslosigkeitserfahrungen können sich dadurch langfristig negativ auf die Erwerbschancen auswirken (Giustozzi 2022). Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass besonders Arbeitslosigkeitserfahrungen in der armen Bevölkerung seit den 1990er-Jahren zugenommen haben. Zum einen, weil Erwerbsunterbrechungen im Zeitverlauf häufiger werden (Giesecke und Heisig 2010) und zum anderen aufgrund der dauerhaft hohen Arbeitslosenquoten in Deutschland zwischen Ende der 1990er- und Mitte der 2000er-Jahre.

Personen mit Arbeitslosigkeitserfahrungen sind zudem in besonderer Weise durch das Wachstum von Niedriglohnbeschäftigung und atypischen Arbeitsverträgen in Deutschland seit den 1990er-Jahren betroffen, da Einstiege in den Arbeitsmarkt besonders häufig in solche Beschäftigungsverhältnisse erfolgen. Diese Entwicklungen lassen sich zumindest teilweise auf politische Veränderungen zurückführen, insbesondere die Liberalisierung von atypischen Beschäftigungsverhältnissen zu Beginn der 2000er-Jahre (Palier und Thelen 2012; Gerlitz 2018). Tatsächlich zeigen Studien, dass der Lohnnachteil von Wiedereinsteigern in den Arbeitsmarkt sich infolge der Arbeitsmarktreformen vergrößert hat (Woodcock 2022) und Armutsrisiken trotz Erwerbstätigkeit sich für diese Personengruppe besonders verschärft haben (Gießelmann 2009). Wir erwarten demnach sowohl einen Kompositions- als auch einen Koeffizienteneffekt der Arbeitslosigkeitserfahrung.

H 1a

Arbeitslosigkeitserfahrungen haben einen negativen Effekt auf die Ausstiegswahrscheinlichkeit und nehmen innerhalb der armen Bevölkerung zu. Sie tragen deshalb zu den im Zeitverlauf sinkenden Ausstiegswahrscheinlichkeiten bei.

H 1b

Der negative Effekt der Arbeitslosigkeitserfahrungen wird im Zeitverlauf stärker und trägt zu sinkenden Ausstiegswahrscheinlichkeiten bei.

Auch Armut selbst kann Lebenschancen negativ beeinflussen. Der Mangel an finanziellen Ressourcen kann Aufstiegsmobilität aufgrund materieller, psychologischer oder sozialer Prozesse einschränken (Kronauer 2010; Gallie et al. 2003): Zum Beispiel zeigt die Studie von Gallie et al. (2003), dass arbeitslose Personen in Armut deutlich länger benötigen, neue Beschäftigung zu finden, als solche, die nicht arm sind. Dies wird vor allem damit begründet, dass geringe materielle Ressourcen die Möglichkeiten der Jobsuche direkt einschränken, weil etwa der Zugang zu Informationen oder auch räumliche Mobilität mit Kosten verbunden sind. Zudem führt Armut zu einer Veränderung der sozialen Netzwerke von Betroffenen und zu einem Verlust sozialen Kapitals, welches bei der Arbeitsplatzsuche hilfreich sein könnte (Böhnke und Link 2017). Zuletzt geht Armut auch mit psychischem Stress einher und kann durch die hohe kognitive Beanspruchung der Betroffenen durch Mangellagen die Entscheidungsfindung beeinträchtigen (Mullainathan und Shafir 2013). Armut selbst kann damit auch zukünftige Armut wahrscheinlicher machen und dieser Effekt wird stärker, je länger Personen in Armut verbleiben. Dabei können Unterschiede im Armutsrisiko zwischen den bislang Armen und nicht Armen jedoch auch Unterschiede in unbeobachteten Merkmalen widerspiegeln, wenn diese mit unterschiedlichen Armutsrisiken verknüpft sind (Heckman 1981). Studien, die versuchen, den kausalen Effekt vorheriger Armut von anderen Einflüssen zu bereinigen, zeigen in der Regel, dass ein negativer Effekt weiterhin besteht, auch wenn er häufig geringer ist als in der deskriptiven Betrachtung (Biewen 2009; Brülle 2018; Kyzyma 2014). Die Dauerabhängigkeit von Ausstiegschancen aus Armut scheint zudem im Zeitverlauf nicht zuzunehmen, sobald für individuelle Faktoren kontrolliert wird. Wir gehen deshalb davon aus, dass die Kumulation der Benachteiligung für Personen mit Armutserfahrungen in Bezug auf zukünftige Armutsrisiken sich auch in insgesamt sinkenden Ausstiegswahrscheinlichkeiten für diese Gruppe widerspiegelt, aber der Effekt der Zeitabhängigkeit sich nicht weiter verstärkt.

H 2

Je länger die Verweildauer in Armut, desto geringer sind die Chancen, Armut zu verlassen. Da arme Personen in späteren Perioden länger in Armut verbleiben, trägt dies zu sinkenden Ausstiegswahrscheinlichkeiten im Zeitverlauf bei.

Hauptthese 2

Zunehmende Arbeitsmarktungleichheiten führen für bestimmte Gruppen zu besonders stark sinkenden Ausstiegswahrscheinlichkeiten.

Die Veränderungen des Arbeitsmarktes, die einen wichtigen Treiber gestiegener Armutsrisiken in Deutschland darstellen, betreffen Personengruppen in sehr unterschiedlicher Weise und dies sollte sich auch in der Entwicklung von Ausstiegschancen aus Armut niederschlagen. Besonders jüngere Menschen zu Beginn der Erwerbskarriere sind von sinkenden Löhnen in niedrigen Arbeitsmarktsegmenten betroffen (Giesecke et al. 2015) und benötigen häufig länger, um den Übergang in den Arbeitsmarkt erfolgreich zu bewältigen (Blossfeld et al. 2011; Groh-Samberg und Voges 2014). Wir erwarten deshalb, dass Armutsepisoden im jungen Erwachsenenalter nicht nur häufiger werden, sondern auch länger andauern.

H 3

Ausstiegswahrscheinlichkeiten von Personen in der frühen Erwerbsphase verschlechtern sich stärker als für andere Altersgruppen und tragen zu insgesamt sinkenden Ausstiegswahrscheinlichkeiten bei.

Erwerbschancen unterscheiden sich systematisch nach der aktuellen oder auch vorherigen beruflichen Position aufgrund ihres Qualifikationsniveaus und der Implikationen der Tätigkeiten für die Arbeitsorganisation (Erikson und Goldthorpe 1992; Oesch 2006). Entsprechend dieser beiden Dimensionen lassen sich Berufsklassen vertikal, aber auch horizontal differenzieren. Für die vorliegende Analyse legen wir ein besonderes Augenmerk auf Arbeiter, da diese besonders häufig von Armut betroffen und deshalb in unserer Ausgangspopulation überrepräsentiert sind (Gerlitz 2022). Wir differenzieren zwischen Arbeitern in manuellen und in Dienstleistungsberufen. Während Personen in manuellen Berufen in Deutschland traditionell von einem hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad und hohen Renten im Exportsektor profitieren, führt der Strukturwandel in diesen Berufen zu einem Rückgang der Beschäftigung. Eine sinkende Abdeckung von Tarifverträgen hat zudem auch in diesen Berufen die Lohnungleichheit verstärkt. Im Gegensatz dazu wächst die Bedeutung des Dienstleistungssektors, sodass auch einfache Berufe hier trotz insgesamt steigender Qualifikationsanforderungen nicht an Bedeutung verlieren. Gleichzeitig scheinen Arbeiter in einfachen Dienstleistungsberufen sich in ihrer relativen Einkommensposition jedoch zunehmend zu verschlechtern (Hertel 2020). Wir erwarten dementsprechend, dass Ausstiegschancen für beide Gruppen im Vergleich zu anderen Berufsklassen am stärksten zurückgehen.

H 4

Ausstiegswahrscheinlichkeiten von Arbeiterinnen und Arbeitern verschlechtern sich stärker als für andere Klassen und tragen zu insgesamt sinkenden Ausstiegswahrscheinlichkeiten bei.

Hauptthese 3

Der Haushaltskontext gewinnt für Ausstiege aus Einkommensarmut an Relevanz.

Neben der eigenen Erwerbskarriere spielt auch die Kombination von Ressourcen innerhalb des Haushalts eine wichtige Rolle für die Vermeidung von Einkommensarmut. Durch die zunehmende Spreizung der Lohnverteilung und stagnierende oder sinkende Reallöhne in ihren unteren Bereichen gelingt es immer weniger Beschäftigten, einen individuellen Lohn zu erreichen, der für sie persönlich und weitere Haushaltsmitglieder armutsvermeidend ist (Dingeldey und Berninger 2013). Gerade vor dem Hintergrund steigender Arbeitsmarktrisiken rückt deshalb die Bedeutung von Haushalten in den Vordergrund.

Ebenso wie für die Entwicklung der Armutsquoten im Querschnitt sollte der Anstieg der Bedeutung von Alleinlebenden auch die Ausstiegswahrscheinlichkeiten beeinflussen. Im Vergleich zu Paarhaushalten sind die Möglichkeiten für eine Verbesserung des Einkommens des Haushalts vor allem auf die eigene Arbeitsmarktpartizipation beschränkt. Die Zunahme Alleinlebender wird innerhalb der armen Bevölkerung zudem dadurch verstärkt, dass finanzielle Prekarität und vor allem Arbeitslosigkeit selbst die Einbindung gefährden und das Risiko der Partnerlosigkeit verstärken (Gonalons-Pons und Gangl 2021; Kalmijn 2013; Biewen 2009). Neben der Zusammensetzung des Haushalts sollte auch die Bedeutung der Arbeitsmarktressourcen eines Partners oder einer Partnerin zunehmen. Wir erwarten deshalb sowohl einen Kompositions- als auch einen Koeffizienteneffekt.

H 5a

Alleinlebende haben geringere Chancen, Armut zu verlassen, als Personen in Paarhaushalten. Sie werden innerhalb der von Armut betroffenen Bevölkerung im Zeitverlauf häufiger und dies trägt zum Rückgang der Ausstiegswahrscheinlichkeiten aus Armut bei.

H 5b

Ausstiegswahrscheinlichkeiten von Personen in Partnerschaft mit Arbeiterinnen oder Arbeitern verschlechtern sich stärker als für andere Personen und dies trägt zum Rückgang der Ausstiegswahrscheinlichkeiten aus Armut bei.

3 Analyseziele, Daten und statistische Verfahren

3.1 Diskrete Ereignisdatenanalyse und Abgangsraten aus Armut

Für die Untersuchung der Dauer von Zuständen steht mit der Ereignisdatenanalyse ein umfangreicher Werkzeugkasten zur Verfügung. Da in der vorliegenden Untersuchung Einkommensarmut anhand des Jahreseinkommens definiert wird, sind Wechsel zwischen Armut und Nichtarmut ausschließlich zwischen zwei Jahren möglich, d. h. der zugrunde liegende Prozess spielt sich in diskreten Zeitintervallen ab. Damit bietet sich ein Ereignisdatenmodell für diskrete Zeit an, in dem die Wahrscheinlichkeit des Übergangs aus Armut in Nichtarmut die abhängige Variable darstellt und konditional für die bisherige Verweildauer geschätzt wird (Allison 1982; Singer und Willett 1993).

Aktuelle Studien, in deren Fokus eine möglichst präzise Schätzung der Dauer von Armutsepisoden steht, verwenden meist Modelle mit zufälligen Personeneffekten, indem simultan Ein- und Ausstiege in Armut geschätzt werden (Stevens 1999; Kyzyma 2014). Dabei ist die Abhängigkeit der Übergangschancen von der Verweildauer von zentraler Bedeutung. Ein Problem dieser Modelle ist, dass in der Regel nur Personen mit bekannter Verweildauer in die Analyse miteinbezogen werden können, d. h. linkszensierte Fälle, die im Beobachtungsfenster niemals ihren Status ändern, fallen aus der Stichprobe. In der Praxis bedeutet das, dass in der Regel nur „inflow samples“ (Zustromdaten) betrachtet werden, während für eine Trendanalyse die „stock samples“ (Bestandsdaten) die geeignete Bezugsgröße darstellen. Es können also häufig nur Ausstiege und Wiedereinstiege in Armut untersucht werden. Personen mit sehr langen Episoden in Armut oder außerhalb von Armut werden selten miteinbezogen.

Da die vorliegende Untersuchung sich auf die Ausstiegschancen konzentriert und ihre Veränderungen über die Zeit zu erklären versucht, statt die Dauer von Armut präzise vorherzusagen, wird der Modellierung des Zeittrends der Hazardrate eine geringere Priorität gegenüber einer möglichst hohen Verallgemeinerbarkeit zugesprochen. Es werden deshalb nur die ersten drei Jahre seit Beginn einer Armutsepisode unterschieden. Alle Personen, die in den letzten drei Jahren durchgehend arm waren, werden somit gleichbehandelt. Dies unterstellt, dass die Abgangsrate aus Armut ab dem vierten Jahr und unter Kontrolle der weiteren Prädiktoren konstant ist. Diese Annahme erscheint insofern gerechtfertigt, als es große Unterschiede in der Ausstiegswahrscheinlichkeit besonders zwischen den ersten beiden Jahren gibt (Kyzyma 2014). Für spätere Zeitpunkte lässt sich der Effekt der Dauer kaum noch präzise schätzen, da die Fallzahlen mit zunehmender Dauer rapide abnehmen.

Die abhängige Variable der Analyse ist der Armutsstatus in einem bestimmten Jahr, wobei die Einkommensinformationen jeweils im folgenden Befragungsjahr erhoben werden. Es werden ausschließlich Personen analysiert, die im vergangenen Jahr arm waren und von denen bekannt ist, dass sie ein, zwei oder mindestens drei Jahre durchgängig arm waren.

In der empirischen Analyse werden Logitmodelle mit robusten Standardfehlern verwendet, um für die inferenzstatistische Abhängigkeit der wiederholten Beobachtungen derselben Haushalte und Personen zu korrigieren. Auf die Schätzung von Random- oder Fixed-Effects-Modellen wird bewusst verzichtet, da sich das Interesse der Dekompositionsanalyse nicht auf die Identifikation spezifischer kausaler Effekte (d. h. von Treatment-Effekten) im engeren Sinn, sondern auf die differenzierte Ursachenanalyse veränderter Abgangschance aus Armut richtet. Für diese gelegentlich als „causal accounting“ charakterisierte Zielsetzung ist bereits die Interpretierbarkeit der Regressionskoeffizienten als robuste Assoziationen (im Sinne von Goldthorpe 2001) hinreichend. Im Folgenden werden die verwendeten Daten und Variablen kurz beschrieben.

3.2 Datenbasis

Mit dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) (Wagner et al. 2007) steht eine geeignete Datenbasis für die Untersuchung von Armutsdynamik zur Verfügung, die ein ausreichend großes Zeitfenster abdeckt und die es gleichzeitig erlaubt, den Armutsstatus von Personen über mehrere Jahre zu verfolgen.

Die Erklärung von Armutsrisiken und ihrer Dynamik muss je nach Lebensphase unterschiedliche Prozesse berücksichtigen. Wir konzentrieren uns unter anderem auf die Bedeutung von Pfadabhängigkeiten innerhalb von Erwerbskarrieren, die vor allem für Personen in der Kernerwerbsphase relevant sind. Für jüngere und ältere Menschen spielen dagegen andere Entwicklungen eine Rolle – beispielsweise die Veränderung der Frühverrentungsmöglichkeiten im Untersuchungszeitraum –, die den Rahmen des vorliegenden Beitrags überschreiten würden.Footnote 3 Wir berücksichtigen deshalb nur Befragte zwischen 25 und 60 Jahren, die weder Rentenzahlungen erhalten noch angeben, in Ausbildung zu sein. Im Mittelpunkt der Analyse steht ein Vergleich der Abgangsprozesse in den späten 1990er-Jahren (1994–1999) und den frühen 2010er-Jahren (2011–2016). Der Schwerpunkt der Analyse liegt auf Gesamtdeutschland. Ergebnisse für Ost- und Westdeutschland werden zusätzlich auch separat berichtet, um unterschiedlichen Strukturen und Trends Rechnung zu tragen und um damit eine auch diesbezüglich differenzierte Analyse zu gewährleisten.

Um für unterschiedliche Auswahlwahrscheinlichkeiten bei der Stichprobenziehung und Ausfallwahrscheinlichkeiten im Verlaufe der Befragung zu kontrollieren, werden alle Analysen im Folgenden mit Längsschnittgewichten gewichtet. Da eine Person mindesten vier aufeinanderfolgende Jahre befragt werden muss, damit sie in die Analyse einfließen kann, berechnet sich das Längsschnittgewicht aus dem Produkt des Querschnittsgewichts des vorletzten Jahres und den darauffolgenden drei Verbleibewahrscheinlichkeiten.

3.3 Variablen

3.3.1 Relative Einkommensarmut

Zur Berechnung der Einkommensarmut wird das Haushaltseinkommen des vergangenen Jahres verwendet, das sich aus der Summe detailliert abgefragter Einkommenskomponenten ergibt. Fehlende Angaben wurden bereits durch das DIW imputiert (Frick et al. 2010).

Als Bedarfsgewicht wird die neue OECD-Skala verwendet. Die Haushaltsinformationen beziehen sich auf das Jahr, in dem auch die Einkommensinformationen abgefragt werden.Footnote 4 Alle Einkommensvariablen werden zudem in konstante Preise für das Jahr 2005 umgerechnet. Haushalte mit einem Einkommen unter 60 % des Medians eines Jahres werden als arm betrachtet.

3.3.2 Kovariaten

Die bisherige Arbeitslosigkeitserfahrung wird für die bisherige Erwerbskarriere in Jahren erfasst. Das Alter der Befragungsperson wird in vier Gruppen kategorisiert: 25–30 Jahre, 31–40 Jahre, 41–50 Jahre und 51–60 Jahre. Als Maß der Arbeitsmarktposition von Individuen und eventueller Partner nutzen wir das Konzept der Berufsklasse. Um relevante Veränderungen möglichst „sparsam“ zu modellieren, greifen wir auf die Klassifikation von Oesch zurück (2006) und differenzieren lediglich die innerhalb der armen Bevölkerung stark vertretenen Arbeiter nach manuellen Berufen und Dienstleistungsberufen.Footnote 5 Als dritte Kategorie unterscheiden wir die anderen Klassen, die die Selbstständigen, Büroangestellten, (Semi‑)Professionen sowie Manager umfassen und die wir im Folgenden auch als Mittelklassen bezeichnen.

Für die Erfassung der Haushaltsstruktur wird zwischen Einpersonenhaushalten, Alleinerziehenden, Personen mit Partner im Haushalt ohne Kinder sowie Personen mit Partner oder Partnerin im Haushalt mit Kindern unterschieden. Bei Personen mit Partner im Haushalt wird zudem unterschieden, welcher Berufsklasse er oder sie angehört. Bis auf die Haushaltsstruktur und die Berufsklasse werden die Informationen für alle beschriebenen Variablen aus dem vorherigen Jahr verwendet.

Während für die oben beschriebenen Variablen jeweils Erwartungen aus dem Forschungsstand und der Lebenslaufperspektive formuliert wurden, werden eine Reihe weiterer Merkmale als Kontrollvariablen berücksichtigt. Dazu zählt zunächst das Geschlecht der Befragungsperson. Die Information, ob ein Migrationshintergrund und wenn ja, die deutsche Staatsbürgerschaft vorliegt, wird ebenfalls untersucht.Footnote 6 Es wird zwischen West- und Ostdeutschland unterschieden (zusätzlich werden auch separate Analysen für beide Teile gerechnet). Der höchste Bildungsabschluss der Befragten wird in drei Kategorien unterteilt: Kein Schulabschluss oder allgemeiner Schulabschluss, berufliche Ausbildung und tertiärer Bildungsabschluss. Zuletzt wird die Arbeitsmarkterfahrung aus der bisherigen Beschäftigungsdauer in Voll- und Teilzeit gebildet.

3.4 Dekomposition der Abgangsrate aus Armut

Dekompositionen von Differenzen, in diesem Fall zwischen der Ausstiegswahrscheinlichkeit in den 1990er-Jahren und der Ausstiegswahrscheinlichkeit nach 2010, sollen Fragen beantworten, wie z. B.: Wie stark wären Ausstiege aus Armut gesunken, wenn die Struktur der Bevölkerung in Armut sich zwischen den beiden Perioden nicht verändert hätte? Eine klassische Forschungsfrage lautet etwa, ob sich Unterschiede in den Gehältern von Männern und Frauen aus einer unterschiedlichen Zusammensetzung beider Gruppen in Eigenschaften wie dem Bildungsabschluss oder durch eine unterschiedliche Wirkung dieser Eigenschaften erklären lassen. Das gleiche Vorgehen wird in diesem Fall auf die Untersuchung des Unterschieds zwischen zwei Perioden übertragen. Es sollen nicht nur Fragen zur Wirkung von Komposition und veränderten Koeffizienten insgesamt beantwortet, sondern auch der Einfluss einzelner Variablen untersucht werden.

In unserer Analyse folgen wir dem Ansatz von Yun und anderen (Yun 2004; Powers et al. 2011).Footnote 7 Genau wie im linearen Fall der klassischen Kitagawa-Oaxaca-Blinder-Dekomposition ergeben sich die Vorhersagewerte der logistischen Regression aus der Kombination eines Koeffizientenvektors β und eines Variablenvektors X, jeweils für die beiden Gruppen (hier: Perioden) A und B. Der Erklärungsbeitrag der Komposition der Variablen in X ergibt sich aus der Differenz der durchschnittlichen Vorhersagewerte aus einer Kombination des Koeffizienten- und Variablenvektors für Gruppe A und der Kombination des Koeffizientenvektors von A mit dem Variablenvektor von B: \(\overline{F\left(X_{A}\beta _{A}\right)}-\overline{F\left(X_{A}\beta _{B}\right)}\). Der Beitrag der Koeffizienten in β ergibt sich dagegen aus der Differenz der Kombination des Koeffizientenvektors von B mit dem Variablenvektor von A und der Kombination des Koeffizienten- und Variablenvektors von B \(\overline{F\left(X_{A}\beta _{B}\right)}-\overline{F\left(X_{B}\beta _{B}\right)}\). Der Unterschied zwischen einer Dekomposition auf Basis von OLS-Regressionen und logistischen Regressionen besteht in der Funktion F(). Im Fall einer OLS-Regression ergeben sich die geschätzten Werte aus der Multiplikation von Koeffizienten- und Variablenvektor, im Falle der logistischen Regression werden die Schätzwerte in Wahrscheinlichkeiten umgerechnet: \(\frac{e^{X\beta }}{1+e^{X\beta }}\). Die geschätzten Wahrscheinlichkeiten ergeben sich aus einer nichtlinearen Funktion der Regressionsparameter. Die Beiträge einzelner Elemente der Regressionsgleichung haben damit einen nichtadditiven Effekt auf das Gesamtergebnis. Während das für die Zerlegung in einen allgemeinen Kompositions- und Koeffizienteneffekt kein Problem darstellt, erschwert es die Identifikation von detaillierten Beiträgen einzelner Variablen. Nach Yun (2004) lässt sich aber für jede Variable der Beitrag für den Gesamtkompositions- oder Gesamtkoeffizienteneffekt schätzen, indem die Veränderung des Mittelwerts der Variable mit der Stärke des Effekts der Variable gewichtet wird oder die Veränderungen des Effekts mit dem Mittelwert der Variable. Dies lässt sich intuitiv nachvollziehen: Je stärker etwa die Veränderung des Mittelwerts einer Variable im Zeitverlauf und je stärker ihr Effekt auf die abhängige Variable, desto größer ist der Beitrag des Merkmals zum gesamten Kompositionseffekt.

Eine Eigenschaft aller Dekompositionsvarianten ist die Abhängigkeit der Ergebnisse von der Dekompositionsrichtung. Welche Gruppe als Basis und welche als Referenz verwendet wird, macht einen Unterschied, weil die Relevanz einer Veränderung der Koeffizienten (der Komposition) jeweils anhand der Zusammensetzung (der Koeffizienten) einer Periode bewertet wird. Nur wenn eine Gruppe an Bedeutung gewinnt, für die ein negativer Effekt auf die Ausstiegswahrscheinlichkeit festgestellt wird, kann dies einen Beitrag zur Erklärung eines negativen Zeittrends liefern. Wenn aber in der einen Periode ein negativer Effekt geschätzt wird und in der anderen kein Effekt, dann werden sich die beiden Dekompositionsvarianten unterscheiden. Das gleiche gilt umgekehrt für die Koeffizienteneffekte. Im Folgenden werden deshalb jeweils beide Richtungen der Dekomposition gezeigt. Zudem hängt die Bedeutung der Koeffizienteneffekte von der Kodierung der Variablen ab, bei kategorialen Variablen etwa von der Wahl der Referenzkategorie: Daher werden alle stetigen Variablen zentriert und alle kategorialen Variablen effektkodiert. Das bedeutet, dass die Effekte relativ zum ungewichteten Mittel aller Kategorien einer Variable zu interpretieren sind und die Regressionskonstante den geschätzten Wert im Mittel aller stetigen Variablen und aller Kategorien der kategorialen Variablen anzeigt. Für die Dauer der Armut wird jedoch auf eine Effektkodierung verzichtet, sodass die Konstante hier den Wert für Personen im ersten Jahr einer Armutsepisode angibt.

Zusätzlich zu diesen Überlegungen gilt es in diesem Fall noch, die besondere Natur der geschätzten Wahrscheinlichkeiten bei Ereignisdaten zu berücksichtigen. Die geschätzte Wahrscheinlichkeit über alle Stichprobenmitglieder zu berechnen heißt, dass auch über die Dauer der Armutsepisode gemittelt wird. Damit wird nicht der Hazard dekomponiert, also die konditionale Ausstiegswahrscheinlichkeit für Personen, die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Risikogruppe gehören und der normalerweise die interessierende Größe einer Ereignisdatenanalyse darstellt. Dieser müsste stattdessen für alle drei Ausprägungen der Armutsdauer empirisch separat geschätzt werden.

4 Wie lässt sich die Verfestigung von Armut erklären? Dekompositionsanalyse der Abgangschancen

In den folgenden Abschnitten werden die Ergebnisse der Dekompositionsanalyse dargestellt und diskutiert. Zunächst werden die Ergebnisse der Ereignisdatenmodelle dargestellt, um einen Überblick über wichtige Prädiktoren für Ausstiege aus Armut zu erhalten und damit erste Hinweise bezüglich der Hypothesen zu gewinnen. Danach wird deskriptiv die Veränderung der Zusammensetzung der Armutspopulation gezeigt. Nur wenn Eigenschaften gleichzeitig relevant für die Ausstiegschancen sind und sich ihre Verteilung in der Stichprobe im Zeitverlauf ändert, ist ein Kompositionseffekt zu erwarten. Ein Koeffizienteneffekt sollte nur dann eine Bedeutung erlangen, wenn sich der Einfluss jener Eigenschaften im Zeitverlauf ändert, die empirisch eine ausreichend große Bedeutung in der Strukturierung von Abgangschancen aus der Armut haben.

4.1 Einflussfaktoren für Ausstiege aus Armut

Welche Faktoren beeinflussen die Ausstiegschancen aus Armut und wie haben sich diese Einflüsse im Zeitverlauf verändert? Zur Beantwortung dieser Fragen sind die Ergebnisse der Regressionsmodelle jeweils für beide Perioden in Tab. 2 dargestellt. Da alle diskreten Variablen außer der Armutsdauer effektkodiert sind, geben die Koeffizienten jeweils den Unterschied dieser Kategorie zum ungewichteten Mittelwert über alle Kategorien an. Zu beachten ist, dass dadurch auch die p-Werte konservativer sind als bei einem Vergleich von Kategorien mit sehr niedrigen und hohen Ausstiegschancen.Footnote 8

Tab. 2 Logistische Regressionsmodelle für Ausstiege aus Einkommensarmut: Gesamtdeutschland

Entsprechend der Hypothesen 1a, 2 und 5a erwarten wir, dass die zunehmende Häufigkeit von Arbeitslosigkeitserfahrungen, längeren Armutsepisoden und Alleinlebenden sinkende Ausstiegswahrscheinlichkeiten erklären. Voraussetzung dafür ist, dass diese Merkmale die Chancen, Armut zu verlassen, tatsächlich negativ beeinflussen. Die ersten zwei Koeffizienten des Modells bilden die Dauerabhängigkeit der Ausstiegschancen aus Armut ab. Die Chancen, Armut zu verlassen, sind nach dem ersten Jahr in Armut am höchsten und verschlechtern sich zunehmend. Zwischen beiden Perioden bleibt dieses Muster konstant. Die Koeffizienten für die Arbeitslosigkeitserfahrung zeigen ebenfalls einen negativen Effekt, der jedoch nur in der zweiten Periode statistisch signifikant ist. Auch für die Alleinlebenden finden wir einen negativen, jedoch nicht statistisch signifikanten Koeffizienten. Der Effekt für die Alleinerziehenden ist zwar in der zweiten Periode signifikant negativ, aber hier gehen wir nicht von einer deutlichen Zunahme dieser Personen in der armen Bevölkerung aus.

Des Weiteren erwarten wir für einige Variablen eine deutliche Abnahme der Ausstiegswahrscheinlichkeiten relativ zu anderen Gruppen (Hypothesen 1b, 3, 4 und 5b): Für die Arbeitslosigkeitserfahrung ist dabei keine Veränderung des Koeffizienten festzustellen. Dagegen waren die Ausstiegschancen der jüngsten Altersgruppe unter den hier berücksichtigten 25 bis 60-jährigen in den 1990er-Jahren am besten und verschlechterten sich zunehmend mit höherem Alter. Dieses Muster gilt in der jüngeren Periode nicht mehr. Der Effekt für die jüngste Altersgruppe im Vergleich zum Mittel über alle Gruppen wird negativ, während Personen zwischen 41 und 50 Jahren nun signifikant bessere Ausstiegschancen haben. Die relative Verschlechterung der Chancen von jüngeren Personen entspricht der in Hypothese 3 formulierten Erwartung.

Die Variable für die Berufsklasse zeigt keine signifikanten Effekte in beiden Perioden, allerdings gibt es einige interessante Verschiebungen: Während die manuellen Arbeiter in der ersten Periode die besten Ausstiegschancen aufwiesen und die nicht weiter differenzierte Gruppe der anderen Klassen eher schlechtere Chancen hatte, Armut zu verlassen, dreht sich dieses Bild in der aktuelleren Periode um. Es gibt eine relative Verbesserung der Ausstiegschancen anderer Klassen zulasten der Arbeiter sowohl in manuellen als auch in den Dienstleistungstätigkeiten. Das gleiche Muster zeigt sich noch stärker für die Berufsklasse der Partner, solange keine Kinder im Haushalt leben. Während Personen in Partnerschaft mit manuellen Arbeiterinnen oder Arbeitern in den 1990er-Jahren im Vergleich zu anderen noch überdurchschnittlich häufig Armut verlassen konnten, ist dies in der neueren Periode nicht mehr der Fall und beide Gruppen von Arbeitern verschlechtern sich relativ zu anderen Berufsklassen.

In Tab. 3 und 4 sind die Ergebnisse getrennt für Ost- und Westdeutschland aufgeführt. Es zeigen sich einige interessante Unterschiede. Zunächst sind die negativen Effekte der Arbeitslosigkeitserfahrung und für Alleinlebende in Westdeutschland schwächer und nicht statistisch signifikant. In den Modellen für Ostdeutschland (Tab. 2) sind zudem Unterschiede in den Effekten der Altersgruppen zwischen beiden Perioden noch deutlicher. Die relative Verschlechterung der Ausstiegschancen aus Armut findet sich als generelles Muster in beiden Landesteilen, allerdings ist die veränderte Bedeutung der Berufsklasse der Partner in Westdeutschland markanter und hier auch statistisch signifikant.

Tab. 3 Logistische Regressionsmodelle für Ausstiege aus Einkommensarmut: Ostdeutschland
Tab. 4 Logistische Regressionsmodelle für Ausstiege aus Einkommensarmut: Westdeutschland

4.2 Die Komposition der Bevölkerung in Armut

Im folgenden Abschnitt werden die Zusammensetzung der Stichprobe in den späten 1990er-Jahren und in den Jahren zwischen 2011 und 2016 verglichen. Wir konzentrieren uns auf die Merkmale, für die wir einen Beitrag der veränderten Komposition erwarten: Die Arbeitslosigkeitserfahrungen, die Armutsdauer, sowie alleinlebend zu sein (Hypothesen 1a, 2 und 5a). Wie zuvor werden die Ergebnisse zunächst für Ost- und Westdeutschland gemeinsam präsentiert.

Wie bereits durch die deskriptiven Ergebnisse zur Veränderung der Dynamik von Armut in Deutschland deutlich wurde, werden längere Episoden im Zeitverlauf häufiger, während kurze Episoden relativ an Bedeutung verlieren (Tab. 5): Während in den 1990er-Jahren 36 % der Stichprobe mindestens drei Jahre arm sind, ist dies in der aktuellen Periode für fast die Hälfte aller Betroffenen der Fall. Da entsprechend den Regressionsmodellen ein negativer Einfluss der Dauer von Armut auf die Ausstiegswahrscheinlichkeit besteht, ist demnach ein selbstverstärkender Effekt des Trends zu erwarten; längere Episoden in Armut führen ihrerseits zu geringeren Ausstiegswahrscheinlichkeiten.

Tab. 5 Mittelwerte der Stichprobe. Gesamtdeutschland

Deutliche Veränderungen zeigen sich auch für die Indikatoren der vorherigen Erwerbsbeteiligung: Während Personen in Armut in der ersten Periode in ihrer gesamten bisherigen Laufbahn im Durchschnitt knapp zwei Jahre arbeitslos waren, steigt der Wert in der zweiten Periode auf über fünf Jahre. Für die Zusammensetzung nach Haushaltstyp spiegelt sich wie erwartet die demografische Entwicklung wider: Einpersonenhaushalte gewinnen in der Stichprobe an Bedeutung, während vor allem Paare mit Kindern seltener werden.

Im Vergleich zwischen Ost- und Westdeutschland (Tab. 6) zeigt sich, dass die beschriebenen Trends für Ostdeutschland extremer sind als im westlichen Landesteil. Dies gilt für die häufigeren Arbeitslosigkeitserfahrungen, Alleinlebenden und besonders für die gestiegene Häufigkeit längerer Armutsepisoden, die in Westdeutschland lediglich auf dem 10 %-Niveau signifikant ist.

Tab. 6 Mittelwerte der Stichprobe. Ost- und Westdeutschland

Über die fokussierten Merkmale hinaus zeigen sich zudem einige weitere interessante Entwicklungen: In beiden Landesteilen nehmen Arbeiter des Dienstleistungssektors zu. In Westdeutschland zeigt sich zudem eine deutliche Alterung des Samples und es steigt der Anteil an Personen mit einem Migrationshintergrund. Gegenläufige Trends zeigen sich für den Bildungsabschluss: Während in Westdeutschland auch für die Bevölkerung in Armut ein höheres Bildungsniveau in der aktuelleren Periode zu erkennen ist, steigt in Ostdeutschland der Anteil von Personen mit niedriger Bildung und es sinkt der Anteil mit akademischem Abschluss. Insgesamt entwickelt sich das Sample in Ostdeutschland in Bezug auf die oben dargestellten Risikofaktoren für einen Verbleib in Armut deutlich negativer als in Westdeutschland, wo es auch Entwicklungen gibt, welche steigende Armutsrisiken kompensieren können.

4.3 Dekomposition der Ausstiege aus Einkommensarmut

Der folgende Abschnitt stellt nun die zentralen Ergebnisse der Dekompositionsanalyse vor. Zunächst wird diskutiert, inwiefern die Veränderung der Komposition des Samples für die Trends in der Ausstiegswahrscheinlichkeit aus Armut verantwortlich ist. Danach werden die Ergebnisse zu den Koeffizienteneffekten vorgestellt. Dabei werden immer beide Dekompositionsrichtungen gezeigt. Abbildung 3, 4 und 5 zeigen jeweils die Beiträge der Variablen zur Erklärung der Veränderung der Ausstiegswahrscheinlichkeit. Zusätzlich sind die prozentualen Beiträge der jeweiligen Variablen in Tab. A1–A3 im Online-Anhang dargestellt. Die Kompositionseffekte sind auf der linken und die Koeffizienteneffekte auf der rechten Seite dargestellt.Footnote 9

Abb. 3
figure 3

Dekomposition der Unterschiede in der Ausstiegswahrscheinlichkeit aus Armut zwischen 1994–1999 und 2011–2016: Kompositionseffekte (links) und Koeffizienteneffekte (rechts) für Gesamtdeutschland. (Daten: SOEP, längsschnittgewichtet. Effekte der Veränderungen auf die Ausstiegswahrscheinlichkeiten. Die Effekte mit der ersten Periode als Referenz wurden mit −1 multipliziert. +p < 0,1; *p < 0,05; **p < 0,01; ***p < 0,001). Abkürzungserklärungen siehe Tab. 2

Abb. 4
figure 4

Dekomposition der Unterschiede in der Ausstiegswahrscheinlichkeit aus Armut zwischen 1994–1999 und 2011–2016: Kompositionseffekte (links) und Koeffizienteneffekte (rechts) für Ostdeutschland. (Daten: SOEP, längsschnittgewichtet. Effekte der Veränderungen auf die Ausstiegswahrscheinlichkeiten. Die Effekte mit der ersten Periode als Referenz wurden mit −1 multipliziert. +p < 0,1; *p < 0,05; **p < 0,01; ***p < 0,001). Abkürzungserklärungen siehe Tab. 2

Abb. 5
figure 5

Dekomposition der Unterschiede in der Ausstiegswahrscheinlichkeit aus Armut zwischen 1994–1999 und 2011–2016: Kompositionseffekte (links) und Koeffizienteneffekte (rechts) für Westdeutschland. (Daten: SOEP, längsschnittgewichtet. Effekte der Veränderungen auf die Ausstiegswahrscheinlichkeiten. Die Effekte mit der ersten Periode als Referenz wurden mit −1 multipliziert. +p < 0,1; *p < 0,05; **p < 0,01; ***p < 0,001). Abkürzungserklärungen siehe Tab. 2

4.3.1 Kompositionseffekte: Die Bedeutung der Armutsdauer, Arbeitslosigkeitserfahrungen und des Haushaltskontextes

Insgesamt verringert sich die Ausstiegswahrscheinlichkeit für das gesamte Sample um 5,1 Prozentpunkte zwischen 1994—1999 und 2011—2016 (Abb. 3). Dieser Unterschied wird mehr als vollständig durch die veränderte Komposition erklärt. Die detaillierten Effekte der einzelnen Variablen zeigen, dass dies vor allen Dingen auf die Dauer der Armutsepisode und die Arbeitslosigkeitserfahrung zurückgeht (Hypothesen 1a und 2). Der höhere Anteil von Personen, die drei oder mehr Jahre in Armut sind, erklärt allein einen Rückgang der Ausstiegswahrscheinlichkeiten um 2,6 bzw. 3,1 Prozentpunkte. Demgegenüber steht ein leichter gegenläufiger Effekt durch die gleichzeitige Verringerung von Personen im zweiten Jahr ihrer Armutsperiode. Die häufigeren Arbeitslosigkeitserfahrungen in der aktuellen Periode erklären sogar einen Rückgang von 3,4 bzw. 3,6 Prozentpunkten. Beide Entwicklungen gemeinsam reichen also mehr als aus, um die Verfestigung von Armut im Zeitverlauf zu erklären und entsprechen den Vorhersagen der Hypothesen 1a und 2.

Neben diesen beiden Merkmalen spielt erwartungsgemäß auch die Veränderung der Haushaltsstrukturen eine Rolle (Hypothese 5a): Die zunehmende Bedeutung Alleinlebender erklärt allein je nach Dekompositionsrichtung eine um 0,3 oder 0,8 Prozentpunkte gesunkene Ausstiegschance. Werden alle Kategorien der Variable zusammengenommen, so steigt der Erklärungsbeitrag etwas auf 0,4–1,1 Prozentpunkte und dies geht vor allem darauf zurück, dass Personen mit Partnern aus den Mittelklassen seltener werden.

Es gibt weitere signifikante Kompositionseffekte, die jedoch jeweils einen deutlich geringeren Erklärungsbeitrag leisten. Der höhere Anteil Ostdeutscher in der zweiten Periode (oder die spiegelbildliche Abnahme von Westdeutschen) erklärt maximal einen Rückgang der Ausstiegswahrscheinlichkeit von 0,4 Prozentpunkten. Die Veränderung der Bildungsabschlüsse wirkt demgegenüber gesunkenen Ausstiegschancen tendenziell entgegen, hat aber nur eine geringe Bedeutung. Dies lässt sich vermutlich dadurch erklären, dass der Trend zu höheren Ausbildungsabschlüssen in der Gruppe der Armen aufgrund hoher Armutsrisiken für Geringqualifizierte weniger stark ausgeprägt ist als in der Gesamtbevölkerung.

Der Beitrag der Altersgruppen hängt stark von der Dekompositionsrichtung ab. Werden die Koeffizienten aus den 1990er-Jahren zugrunde gelegt, die noch bessere Ausstiegschancen für die jüngeren Altersgruppen anzeigten, so scheint die Alterung des Samples einen substanziellen Beitrag zur Erklärung sinkender Ausstiegswahrscheinlichkeit zu leisten. Werden jedoch die Koeffizienten der zweiten Periode verwendet, ergibt sich ein gegenläufiger Beitrag, da jüngere Personen in der aktuellen Periode geringere Ausstiegschancen aufweisen.

Eine Differenzierung der Analyse nach Ost- und Westdeutschland zeigt zunächst, dass die Verfestigung von Armut im Sinne einer Verringerung der Ausstiegswahrscheinlichkeit aus Einkommensarmut zwischen den 1990er-Jahren und der aktuellen Periode auf Ostdeutschland konzentriert ist. Für Westdeutschland findet sich demnach kein Unterschied in der vorhergesagten Ausstiegswahrscheinlichkeit zwischen beiden Perioden (Abb. 5). In Ostdeutschland ist der Trend mit einem Unterschied von 15 Prozentpunkten umso stärker ausgeprägt (Abb. 4). Auch für Ostdeutschland lässt sich dies vollständig aus der veränderten Komposition erklären. Vor allem die häufigeren Arbeitslosigkeitserfahrungen erklären einen großen Teil des Anstiegs. Im Vergleich zu Gesamtdeutschland fällt zudem der leichte kompensierende Effekt der Bildungsabschlüsse weg, da auch diese Variablen sich hier in der Tendenz negativ auswirken.

Interessant ist, dass die Kompositionseffekte auch in Westdeutschland zumindest einen leichten Rückgang der Ausstiegswahrscheinlichkeiten begünstigen. Wie im Gesamtmodell verschlechtert sich die Komposition insbesondere in Bezug auf die Armutsdauer und die Arbeitslosigkeitserfahrung.

4.3.2 Koeffizienteneffekte: Beiträge sinkender Ausstiegschancen für jüngere Erwachsene und Arbeiterinnen und Arbeiter

Die Veränderungen der Koeffizienten für Gesamtdeutschland leisten in der Summe keinen signifikanten Beitrag für die Erklärung der Unterschiede zwischen beiden Episoden (Abb. 3). Allerdings zeigen einige der detaillierten Effekte die erwarteten Beiträge. Sinkende Ausstiegschancen von Personen zwischen 25 und 30 Jahren erklären demnach im Einklang mit Hypothese 3 zwischen 0,9 und 1,3 Prozentpunkten der veränderten Ausstiegswahrscheinlichkeiten. Die Verschlechterung der Ausstiegswahrscheinlichkeiten von Arbeitern erklärt zusammengenommen jeweils einen Rückgang von 1,7 Prozentpunkten, diese Beiträge sind jedoch nicht statistisch signifikant (Hypothese 4). Weitere 1,1 Prozentpunkte lassen sich durch die verringerten Chancen von Personen in Partnerschaft mit Arbeiterinnen oder Arbeitern erklären, wobei die erwarteten Effekte sich hier nur für Paare ohne Kinder zeigen (Hypothese 5b). Für diese Ergebnisse gilt jeweils, dass die relative Verschlechterung der Chancen für diese Gruppen durch die Verbesserung der relativen Chancen der anderen Gruppen in unterschiedlichen Maße kompensiert wird. Der Beitrag der Veränderung der Koeffizienten aller Kategorien einer Variable ist somit deutlich geringer oder sogar positiv, so etwa für die Altersgruppen. Trotzdem liefern die Ergebnisse einige Belege für die Gültigkeit der Hypothesen. Dagegen gibt es keine Hinweise darauf, dass ein stärkerer Effekt der Arbeitslosigkeitserfahrungen zu sinkenden Ausstiegswahrscheinlichkeiten beigetragen hat (Hypothese 1b).

Die Koeffizienteneffekte für Ostdeutschland bestätigen in der Tendenz die Verschiebung von Risiken zwischen den Altersgruppen und Berufsklassen, sind aber insgesamt eher von geringer Bedeutung für die Erklärung sinkender Ausstiegswahrscheinlichkeiten (Abb. 4). Die Koeffizienteneffekte für Westdeutschland ähneln ebenfalls in ihren Mustern den gesamtdeutschen Ergebnissen, sind jedoch nur im Falle der Klassenzugehörigkeit der Partner statistisch signifikant (Abb. 5).

5 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Wie lässt sich die steigende Persistenz von Armut im Zeitverlauf erklären? Die Ergebnisse des vorliegenden Artikels sprechen dafür, dass sich diese Frage nur unter Berücksichtigung von Pfadabhängigkeiten innerhalb individueller Lebensverläufe klären lässt; ein Aspekt, der in der Debatte um Erklärungen steigender Armutsrisiken in Deutschland bisher vernachlässigt wurde. Den größten Einfluss hat das Ausmaß vorheriger Arbeitslosigkeitserfahrungen. Dies gilt für beide Landesteile, jedoch deutlich stärker in Ostdeutschland, und erklärt allein mehr als zur Hälfte die empirisch beobachtete Verringerung der Ausstiegswahrscheinlichkeit. Die hohe Arbeitslosigkeit zu Beginn der 2000er-Jahre wirkt damit in langfristig geringen Aufstiegschancen der Betroffenen fort. Dagegen konnten wir entgegen den Erwartungen nicht bestätigen, dass prekäre Erwerbsbiografien mit einem stärkeren Nachteil in den späteren Perioden einhergehen. Der längere Verbleib von Personen in Armut stellt die zweite ausschlaggebende Veränderung der Zusammensetzung der armutsnahen Bevölkerung dar. Die Chancen, Armut zu verlassen, sinken mit zunehmender Armutsdauer, und dies begründet einen selbstverstärkenden Effekt sinkender Ausstiegswahrscheinlichkeiten, die wiederum die Chancen, Armut zu verlassen, verringern.

Das dritte Merkmal, welches durch eine gestiegene Häufigkeit einen Teil des allgemeinen Trends erklärt, ist der steigende Anteil von Alleinlebenden. Wäre der Anteil von Alleinlebenden nicht zuungunsten der Paarhaushalte angestiegen, wären die Ausstiegswahrscheinlichkeiten aus Armut weniger stark zurückgegangen. Der Beitrag dieser Entwicklung ist jedoch geringer als für die Arbeitslosigkeitserfahrung und die Verweildauer in Armut.

Eine Bedeutung des Lebensverlaufs für Armutsrisiken wird auch durch die veränderten Risiken für jüngere Erwachsene unterstrichen. Im Einklang mit bisherigen Forschungsergebnissen sinken Ausstiegswahrscheinlichkeiten aus Armut besonders für Personen zwischen 25 und 30 Jahren, die noch am Beginn ihrer Erwerbskarriere stehen. Unterschiedliche Arbeitsmarktchancen von „Insidern“ und „Outsidern“ scheinen demnach ein zentraler Faktor dafür zu sein, dass Armut sich stärker in individuellen Biografien festsetzt. Diese Ergebnisse sind jedoch keineswegs gleichbedeutend mit einer „Entstrukturierung“ von Armut (Leibfried et al. 1995), also einer verringerten Bedeutung von Merkmalen wie der sozialen Klasse. Vielmehr bestätigen die Ergebnisse, dass besonders die Klassen der Arbeiter und hier speziell die manuellen Berufe von den sinkenden Ausstiegswahrscheinlichkeiten betroffen sind.

Die Dekompositionsanalysen zeigen, dass diese Entwicklungen insgesamt sogar einen noch stärkeren Rückgang der Ausstiegswahrscheinlichkeiten erklären, als tatsächlich beobachtet wurde. Ihnen stehen demnach auch positive Entwicklungen gegenüber, welche die Verringerung der Ausstiegschancen teilweise kompensieren konnten. Für Westdeutschland führt die Bildungsexpansion zu einem Rückgang von Personen mit niedrigen Bildungsabschlüssen auch unter den von Armut Betroffenen. Zudem verbessern sich die Ausstiegswahrscheinlichkeiten für ältere Personen in unserem Sample. Dies war von uns so nicht erwartet worden. Eventuell schlägt sich hier der Rückgang der Arbeitslosigkeit seit Mitte der 2000er-Jahre nieder, der für diese Gruppen zu höheren Erwerbsquoten geführt hat. Zu beachten ist dabei, dass Personen über 60 Jahre in unserem Sample nicht berücksichtigt werden und demnach auch keine Aussagen über die Entwicklung der Persistenz von Altersarmut getroffen werden können.

Bei der Interpretation der Ergebnisse zur Dauer von Armut ebenso wie für die anderen Variablen im Modell ist nicht auszuschließen, dass die Ergebnisse durch weitere im Modell nicht berücksichtigte konfundierende Faktoren beeinflusst werden könnten. Eine weitere Einschränkung der vorliegenden Analyse ist, dass sich ein bedeutender Teil von mehrdimensionalen und dynamisch komplexen Prozessen der Verfestigung nicht nur in verringerten Ausstiegswahrscheinlichkeiten, sondern auch in steigenden Wiedereinstiegsrisiken in Armut äußern können, die in der vorliegenden Analyse notwendigerweise vernachlässigt wurden. Eine dritte methodische Einschränkung der vorliegenden Studie stellt die Annahme dar, dass der Median der Einkommensverteilung als Kriterium für die Definition der Armutsschwelle exogen gegeben ist und nicht dramatisch durch die im Artikel thematisierten Veränderungen verschoben wurde. Wenn beispielsweise die Zunahme von Arbeitslosigkeitserfahrungen auch in der Gesamtbevölkerung zu deutlich sinkenden Einkommen geführt hat, könnte dies die Armutsschwelle nach unten verschieben und entsprechend dem Rückgang der Ausstiegswahrscheinlichkeiten entgegenwirken. Es erscheint uns jedoch plausibel, dass die beschriebenen Entwicklungen zu einem großen Teil spezifisch für die Bevölkerung in Armut ist und die Auswirkungen auf den Median die Befunde nicht drastisch verändern würden.

Ein Blick auf die international vergleichende Forschung zeigt, dass sinkende Chancen, Armut zu verlassen, kein genereller Trend sind (Jenkins 2011; Gradín et al. 2018; Brülle 2018): So sind Ausstiegswahrscheinlichkeiten aus Armut beispielsweise in Großbritannien im gleichen Zeitraum deutlich gestiegen. Dabei gibt es bisher kaum gesicherte Erkenntnisse zu den Kontextfaktoren, die Ausstiege aus Einkommensarmut erschweren oder erleichtern. Gerade vor diesem Hintergrund sollten die spezifischen Bedingungen für die beschriebenen Entwicklungen in Deutschland in den Blick genommen werden. Die Ergebnisse legen nahe, dass zum einen die anhaltenden strukturellen Probleme der ostdeutschen Bundesländer und zum anderen die starke Segmentation des Arbeitsmarktes jeweils in Kombination mit steigenden Arbeitsmarktrisiken und den Nachwirkungen der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit der 2000er-Jahre Ausstiege aus Armut zunehmend erschwert haben.

Der Hinweis auf einen sich selbst verstärkenden Effekt von längeren Armutsepisoden sollte zudem auch den sozialpolitischen Handlungsbedarf mit Blick auf die Verfestigung von Armut unterstreichen. Steigende Armutsrisiken und die Polarisierung von ökonomischen Chancen zwischen Personen mit prekären und gefestigten Erwerbskarrieren führen zu einem sich selbst verstärkenden Prozess, der besonders in Ostdeutschland zu einer teilweisen Abkopplung der Bevölkerung in Armut von positiven Entwicklungen der Bildungsexpansion und des Beschäftigungsaufschwungs geführt hat. Dass dies in zunehmender Weise vor allem junge Erwachsene betrifft, ist eine gravierende Hypothek für zukünftige Lebenschancen. Die positive Entwicklung der Beschäftigung zwischen 2005 und der beginnenden Coronapandemie konnte diesen Trends offensichtlich nicht entgegenwirken. Die partielle Liberalisierung des Arbeitsmarktes hat das Ziel einer Verbesserung der Aufstiegschancen im deutschen Arbeitsmarkt nicht erfüllt, sondern dessen Segmentation in Bereiche mit unterschiedlicher Beschäftigungsqualität eher noch verschärft. Eine Verringerung von Arbeitsmarktungleichheiten würde dagegen vermutlich auch und besonders denjenigen mit prekären Erwerbs- und Lebensverläufen zugutekommen.