1 Einleitung

Im Gegensatz zu EU-Ausländerinnen und -Ausländern, die seit einer Grundgesetzänderung im Jahr 1992 bei Kommunalwahlen wahlberechtigt sind, haben Personen aus Nicht-EU-Staaten weiterhin keine Möglichkeit, sich an allgemeinen Wahlen zu beteiligen. Dies hat zur Folge, dass in Gemeinden, wie beispielsweise der Stadt Essen, 17,3 % der Bevölkerung weder bei Kommunalwahlen noch bei Landtags- oder Bundestagswahlen wählen dürfen.Footnote 1 In diesem Sinne ist insbesondere in mittleren und größeren Städten eine substanzielle Minderheit von der Mitwirkung an zentralen Elementen demokratischer Meinungs- und Willensbildung ausgeschlossen – ein mit demokratischen Grundprinzipien nur schwer zu vereinbarender Zustand. Denn die gleichberechtigte Inklusion aller von politischen Entscheidungen betroffenen Menschen in die Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse stellt eine Basisnorm funktionierender Demokratien dar (Dahl 1998). Demnach ist politische Gleichheit ein zentrales Merkmal für die Beurteilung der Qualität von Demokratie (Roth 2018). Darüber hinaus belegen sozialwissenschaftliche Studien, dass ein Gelegenheitsfenster für langfristig gelingende politische Integration insbesondere im Anschluss an die Zuwanderung besteht und daher Zugewanderte möglichst schnell identifikativ und partizipatorisch an die Aufnahmegesellschaft gebunden werden sollten (Hainmueller et al. 2015).

Dem Mangel an Repräsentation von Nicht-EU-Ausländerinnen und -Ausländern wurde seit den 1970er-Jahren versucht, mit der Bildung von spezifischen kommunalen Gremien entgegenzuwirken. Diese als Integrationsräte bezeichneten Institutionen werden von Ausländerinnen und Ausländern, eingebürgerten Personen sowie Migrantinnen und Migranten gewählt und haben den Auftrag, Migration als Querschnittsthematik in der kommunalen Politik zu besetzen. Nordrhein-Westfalen gilt als Vorreiter bei der Institutionalisierung und Verbreitung von Integrationsräten, da hier deren Konstituierung bereits seit den 1990er-Jahren gesetzlich festgelegt wurde. Trotz dieser langwährenden institutionellen Einbettung genießen die beratenden Gremien sowohl in der breiten Bevölkerung als auch bei der Gruppe der Wahlberechtigten eine geringe Bekanntheit. Infolgedessen ist die Wahlbeteiligung bei den Integrationsratswahlen typischerweise gering und rangierte bei den letzten drei Wahlen um den Durchschnitt von 13 %, jedoch mit substanzieller Variation zwischen Gemeinden.

Vor dem Hintergrund der aufgeworfenen Fragen zu demokratischer Legitimität und Beteiligung sowie der politischen Integration von Zugewanderten in Deutschland untersucht dieser Beitrag Ursachen für Unterschiede in der Wahlbeteiligung bei Integrationsratswahlen. Dabei eruieren wir erstmals systematisch-vergleichend Determinanten der Wahlbeteiligung bei den Integrationsratswahlen auf Gemeindeebene. Aufbauend auf etablierten Theorien und bisherigen Befunden der Wahlforschung gehen wir davon aus, dass neben politisch-institutionellen Faktoren auch migrationsbezogene und normative Faktoren die Wahlbeteiligung bei Integrationsratswahlen maßgeblich beeinflussen. Um die Rolle solcher Strukturmerkmale empirisch zu testen, nutzen wir Daten auf Aggregatniveau zur Wahlbeteiligung bei der letzten Integrationsratswahl im Jahr 2020 in Nordrhein-Westfalen (NRW). Der Fokus auf ein Bundesland ermöglicht es, institutionelle und historische Faktoren konstant zu halten, die sich zwischen Bundesländern unterscheiden und möglicherweise einen Einfluss auf die Wahlbeteiligung haben.

Die empirischen Ergebnisse aus den durchgeführten regressionsanalytischen Verfahren (Ordinary Least Squares [OLS] und Lagged Dependent Variable [LDV]) liefern empirische Evidenz dafür, dass die Involvierung etablierter Bundesparteien sowie eine umfangreiche kommunalpolitische Beteiligungskultur mit einer höheren Wahlbeteiligung bei Integrationsratswahlen einhergehen. Dies bedeutet zum einen, dass etablierten Parteien für die politische Integration von Zugewanderten eine wichtige, bislang unterbelichtete Scharnierfunktion zukommt. Zum anderen deuten die Befunde auf die Relevanz von sozial-normativen „Spill-Over“-Effekten, gespeist durch eine aktive kommunale politische Beteiligungskultur, hin.

2 Integrationsräte

Die ersten Integrationsräte, in einigen Regionen auch als Ausländer(bei)räte bezeichnet, bildeten sich bereits in den 1970er-Jahren (für einen Überblick siehe Bausch 2011b). Hintergrund hierfür waren steigende Zahlen von sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern, die bis zu diesem Zeitpunkt qua Gesetz keine Möglichkeit der konventionellen politischen Partizipation hatten. Die Aufgabe der Räte lag primär in der sozialen Betreuung und Beratung. Seitdem hat sich die gesetzliche Rahmung der Integrationsräte auf Gemeinde- sowie Landesebene vielfältig ausdifferenziert, wodurch die regionalen Unterschiede hinsichtlich ihrer Verbreitung und institutionellen Verankerung teils sehr groß sind. Bis heute haben vier Bundesländer (Hessen, Saarland, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz) die Bildung von Integrationsräten in der Kommunalverfassung verankert. Andere Bundesländer weisen indes bis heute keine Regelungen hierzu auf (Gesemann und Roth 2015).

Seit der Verankerung der Integrationsräte in der nordrhein-westfälischen Kommunalverfassung in den frühen 1990er-Jahren nimmt NRW eine Vorreiterrolle ein, was deren Etablierung und Institutionalisierung betrifft. So ist in § 27 Gemeindeverordnung des Landes NRW gesetzlich geregelt, dass Gemeinden ab einer ausländischen Bevölkerung von 5000 Personen oder ab einer ausländischen Bevölkerung von 2000 Personen, sofern mindestens 200 kommunalwahlberechtigte Personen die Bildung eines Integrationsrates beantragen, verpflichtet sind, einen solchen zu bilden. Laut Gemeindeverordnung ist die politische Aufgabe von Integrationsräten neben der Interessenvertretung der ausländischen Bevölkerung die aktive Beratung des Gemeinderats rund um die Querschnittsthemen Migration und Integration. Integrationsräte sind für Nicht-EU-Ausländerinnen und -Ausländer ohne eigenes Wahlrecht folglich das derzeit einzige institutionalisierte Mittel zur Herstellung politischer Repräsentation im deutschen Mehrebenensystem. Aufgrund der ausschließlich beratenden Funktion der Integrationsräte liegt es jedoch nahe, dass die Art der Repräsentation vorrangig als symbolisch zu verstehen ist (vgl. Roth 2018). Insbesondere vor dem Hintergrund, dass Gremien anderer Bevölkerungsgruppen ohne Wahlrecht (bspw. Kinder und Jugendliche) weitreichendere Rechte innehaben, wiegt der Mangel an politischen Befugnissen von Integrationsräten umso schwerer. Zum Zeitpunkt der letzten Wahl im Jahr 2020 hatten 107 der 397 nordrhein-westfälischen Gemeinden einen Integrationsrat (siehe Abb. 1). Damit ist rund ein Viertel der bundesweit etwa 400 Integrationsräte in NRW verortet.

Abb. 1
figure 1

Wahlbeteiligung bei der Wahl der 107 Integrationsräte in NRW im Jahr 2020

Eine weitere Besonderheit in NRW ist die Aufteilung der Sitze des Gremiums in gewählte und ernannte Mitglieder. Während die gewählten Vertreterinnen und Vertreter bei der Integrationsratswahl durch die entsprechend wahlberechtigte Bevölkerung gewählt werden, fungieren ordentliche Ratsmitglieder der im Gemeinderat vertretenen Fraktionen als ernannte Ratsmitglieder. Die Idee dahinter ist eine Verbesserung der Kommunikation sowie Koordination zwischen Integrations- und Gemeinderat. Gleichzeitig entsteht dadurch wiederum ein Repräsentationsproblem, da nur ein Teil der Mitglieder durch Wahlen bestimmt wird. Die Gesamtanzahl an Integrationsratsmitgliedern sowie die Aufteilung der Sitze werden durch die Kommunen festgelegt. Zur letzten Integrationsratswahl hatten die Integrationsräte durchschnittlich 17 Sitze, wobei zwischen 50 und 80 % (durchschnittlich 63,9 %) der Sitze durch die Integrationsratswahl besetzt wurden.

Die Integrationsratswahlen in NRW finden seit 2014 zeitgleich mit den Kommunalwahlen im fünfjährigen Turnus statt. Während der letzten Wahlen erfuhr das aktive Wahlrecht Anpassungen, wodurch sich teilweise die Anzahl der Wahlberechtigten vergrößert hat. Zur Wahl 2014 wurde das Wahlrecht auf Spätausgesiedelte sowie Eingebürgerte übertragen. Im Vorfeld der Wahl 2020 wurde die Notwendigkeit der Vorregistrierung in ein Wahlregister durch eine automatische Registrierung abgeschafft. Die Anzahl der Wahlberechtigten in NRW entwickelte sich von 1,14 Mio. im Jahr 2010 über 2,0 Mio. im Jahr 2014 hin zu 2,86 Mio. im Jahr 2020. Folgende Bevölkerungsgruppen haben die Möglichkeit, sich an der Integrationsratswahl zu beteiligen: ausländische und staatenlose Personen, Deutsche mit einer zweiten ausländischen Staatsangehörigkeit, eingebürgerte Personen sowie Personen mit ausländischen Eltern, die nach dem 01.01.2000 in Deutschland geboren wurden und somit die deutsche Staatsbürgerschaft haben.Footnote 2

Das passive Wahlrecht bei Integrationsratswahlen ist hingegen weiter gefasst, sodass sich jede volljährige Person zur Wahl stellen kann. Neben der Aufstellung von Listen sind auch Einzelbewerberinnen und Einzelbewerber als Wahlvorschlag üblich. Indessen ist bei den letzten Wahlen 2020 in Ballungsgebieten eine zunehmende Involvierung etablierter Parteien zu verzeichnen. Beispielsweise kandidierten bei der letzten Integrationsratswahl in der Stadt Essen Kandidatinnen und Kandidaten aller auch im Kommunalrat vertretenen Parteien: Alternative für Deutschland (AfD), Die Linke, Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), Christlich-Demokratische Union (CDU) und Bündnis 90/Die Grünen (Grüne). Nach den von uns erhobenen Daten kandidierte im Jahr 2020 in 37 der 107 Gemeinden mindestens eine parteinahe Liste. Zudem beteiligte sich in 67,6 % der 37 Gemeinden mehr als eine parteinahe Liste, wodurch der Einstieg einer etablierten Partei die Wahrscheinlichkeit für die Beteiligung weiterer parteinaher Listen erhöht.

Weiter lässt sich konstatieren, dass sowohl vom aktiven als auch vom passiven Wahlrecht in einigen Regionen nur in geringem Maße Gebrauch gemacht wird. Während sich in einem Großteil der Gemeinden bei der letzten Wahl im Median fünf Listen oder Einzelbewerberinnen beziehungsweise Einzelbewerber aufstellen ließen (M = 6,8; SD = 6,2), konnten in einigen Gemeinden (bspw. Dormagen) aus Ermangelung an Kandidatinnen und Kandidaten nicht alle Sitze besetzt werdenFootnote 3. Auch ist der Umfang der Ausübung des aktiven Wahlrechts verglichen mit anderen Wahlen, wie der Kommunal- oder Landtagswahl, in NRW als gering einzustufen: 13,3 % in 2020, 14,01 % in 2014 und 12,9 % in 2010.

Die niedrige Beteiligung ist oft Auslöser von Debatten über die demokratische Legitimität der gewählten Gremien (z. B. Bausch 2011a) sowie über Erklärungen für deren Ursache. So können limitierte Entscheidungsbefugnisse der Räte entsprechend der sognannten Nebenwahl-These (oder „Wahlen zweiter Klasse“; siehe Reif et al. 1997) zwar als mögliche Ursache für ein geringes Ausmaß an politischer Beteiligung angeführt werden. Gleichzeitig können aber auch weitere Faktoren, wie wahlkampfspezifische Merkmale oder Eigenschaften der Kommunen, die Wahlbeteiligung entscheidend beeinflussen. Einen Hinweis für die Relevanz von Gemeindemerkmalen liefert die enorme Spannbreite der Wahlbeteiligung über Gemeinden hinweg, die bei der Wahl 2020 von 5,4 % in Marl bis 26,5 % in Monheim am Rhein reichte.

3 Theoretischer Rahmen

3.1 Theorien der Wahlbeteiligung

Die Wahlforschung vereint diverse, allgemeine Erklärungsansätze für das Wahlverhalten von Bürgerinnen und Bürgern. Besonders prägend sind ökonomische Theorien des Wahlverhaltens (Downs 1957), die von rational agierenden Wählerinnen und Wählern ausgehen, die ihre Präferenzen kennen und bei der Wahlentscheidung zwischen Kosten des Wahlgangs und dem zu erwarteten Nutzen abwägen. Diese Annahme, die in der Wahlsoziologie als „Calculus of Voting“ bekannt ist, kann als erster Ausgangspunkt für eine theoretische Systematisierung motivationaler Faktoren individueller Wahlbeteiligung dienen (Franklin 2004). Die Grundannahme dieses Ansatzes ist, dass ein Wahlvorgang nur dann erfolgt, wenn das sogenannte Nutzendifferenzial zwischen Einsatz von Ressourcen (z. B. Zeit für den Wahlgang, Informationskosten vor einer Wahl) und Erwartung (d. h. Nutzen durch die politische Repräsentation eigener Interessenslagen) positiv ist. Da der Nutzen einer einzelnen Wahlentscheidung in Bezug auf die Gesamtheit der abgegebenen Stimmen bei einer Wahl und insbesondere bei nachgeordneten Wahlen wie der Integrationsratswahl verschwindend gering erscheint (Hossain et al. 2016), stellt sich hierbei die Frage, warum Wahlberechtigte dennoch den mit einer Wahl verbundenen Aufwand (z. B. politische Informationen akquirieren, der Wahlgang selbst) auf sich nehmen.

Nach dem „Civic-Voluntarism-Modell“ von Verba et al. (1995) lassen sich Motive der Wahlbeteiligung maßgeblich über drei Faktorenbündel erklären: individuelle Ressourcen, politische Selbstwirksamkeit und soziale Netzwerke. Erstens hat die individuelle Ressourcenausstattung, worunter Geld, Bildung, Wissen und Zeit fallen, einen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit politischer Partizipation. So haben beispielsweise Bürgerinnen und Bürger mit hoher Bildung und Vorwissen geringere Transaktionskosten, um neue politische Informationen zu sammeln und eine informierte Entscheidung zu treffen. Aber auch wenn diese Ressourcen eine wichtige Voraussetzung für politische Partizipation darstellen, kann damit nicht vollständig erklärt werden, warum die Ressourcen gerade in politische Sachverhalte „investiert“ werden.

Das zweite Faktorenbündel umfasst politisches Interesse und politische Selbstwirksamkeit, die in Verbindung mit ausreichenden Ressourcen als hinreichende Bedingung für politische Beteiligung gelten können. Die politische Wirksamkeit wird dabei in eine interne Dimension, d. h. die eigene Kompetenzwahrnehmung politisch partizipieren zu können, und eine externe Dimension, d. h. die Wahrnehmung des politischen Systems als responsiv bezüglich der Belange der Bürgerinnen und Bürgern, unterschieden. Drittens kann die Einbettung in soziale Netzwerke als Impulsgeber für politische Beteiligung dienen, sei es durch einen aktiven Aufruf zur Wahlbeteiligung oder durch indirekt wirkende Mechanismen wie den Erwartungsdruck sozialer Normen (Verba et al. 1995; Brennan und Lomasky 1997). Hier lässt sich auch die Brücke zu soziologischen und sozialpsychologischen Ansätzen der Wahlforschung schlagen, die Prozesse der sozialen Beeinflussung durch relevante Bezugspersonen und eine auf sozialer Zugehörigkeit fußende Parteiidentifikation als Treiber von Wahlentscheidungen in den Vordergrund rücken (Kühnel und Fuchs 2000; Schoen 2014).Footnote 4

In empirischen Studien zum allgemeinen Wahlverhalten findet sich Evidenz für die Relevanz zahlreicher Einflussfaktoren, insbesondere sozioökonomische Ressourcen sowie demografische und politisch-identifikative Faktoren (Smets und Van Ham 2013 als Überblicksstudie). So sind beispielsweise Alter, Bildung, Medienkonsum, Parteiidentifikation, politisches Interesse und politisches Wissen positiv mit Wählengehen assoziiert. Faktoren wie Geschlecht, ethnische Herkunft, ausgeübter Beruf, Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft oder Staatsbürgerschaft zeigen hingegen keinen systematischen Erklärungsgehalt. Folglich kann von einem multikausalen Erklärungsmodell ausgegangen werden, in dessen Zentrum politische Involvierung steht.

Mit Bezug auf Migrantinnen und MigrantenFootnote 5 als spezifische Wahlbevölkerung in allgemeinen Wahlen lassen sich die genannten Einflüsse um die Faktoren ethnische Netzwerke, Diskriminierungserfahrungen und ethnische Identität erweitern (Müssig 2020; Spies et al. 2020). Unklar ist allerdings ihre Wirkrichtung. So können ethnische Netzwerke, die sich auf ein Eingebundensein von Zugewanderten in Sozialzusammenhänge ihrer Herkunftsgesellschaft im Aufnahmeland beziehen (z. B. Freundschaften mit Personen aus dem Herkunftsland), zwar für die Integration am Arbeitsmarkt förderlich sein, ob sie aber die politische Partizipation in Wahlen ebenfalls fördern, ist offen. Auch wenn sie sogenannte staatsbürgerliche Kompetenzen (engl. „civic skills“) (Zukin et al. 2006) – und damit auch politische Beteiligung – stärken können, kann gleichzeitig eine starke Einbindung in ethnischen Netzwerken Anreize für die Integration in die Aufnahmegesellschaft und damit auch das Interesse an politischer Partizipation verringern (Smith et al. 2016; Maliepaard und Alba 2016).

Des Weiteren können sich Diskriminierungserfahrungen entweder negativ auf die politische Beteiligung auswirken, indem sie Entfremdungsgefühle fördern und verhindern, dass sich diskriminierte Personen als Teil der politischen Gemeinschaft identifizieren (Schildkraut 2005), oder auch positiv, indem ein Anreiz geschaffen wird, gegen die Ursache der Benachteiligungserfahrung vorzugehen (Oskooii 2020). Die scheinbar widersprüchliche Befundlage deutet auf die Relevanz von Randbedingungen (z. B. das Vorhandensein politischer Parteien, die sich für die Belange von ethnisch Diskriminierten einsetzen) hin.

Schließlich ist plausibel, dass Personen mit Migrationshintergrund, die sich (zumindest teilweise) mit der Aufnahmegesellschaft identifizieren, eine höhere Wahrscheinlichkeit für politische Beteiligung aufweisen (Fischer-Neumann 2014). Sie haben einen größeren Anreiz, sich mit der politischen Ausgestaltung der Gesellschaft auseinanderzusetzen, was die Akquirierung politischer Informationen begünstigt und damit auch die Wahlbeteiligung erhöht (Spies et al. 2020). Hingegen kann davon ausgegangen werden, dass Personen, die sich eher mit ihrem Herkunftsland identifizieren, eine geringe gesellschaftspolitische Involvierung aufweisen und eher indifferent gegenüber den politischen Belangen in der Aufnahmegesellschaft sind.

Den genannten Faktoren wurde bislang allerdings nur in solchen Situationen nachgegangen, in denen es sich um allgemeine Wahlen handelt. Das spezifische Verhalten sonstiger nichtwahlberechtigter Personen (z. B. Ausländerinnen und Ausländer) oder Personen in spezifischen Wahlsituationen (z. B. Integrationsräte) ist noch ungeklärt. Einen ersten Blick auf mögliche Einflussfaktoren soll die vorliegende Studie geben.

3.2 Theoretische Fundierung der Wahlbeteiligung bei Integrationsratswahlen

Die beschriebenen theoretischen Ansätze beziehen sich weitgehend auf individuelle Ressourcen und Motive. Auch wenn empirische Forschungsarbeiten zur allgemeinen Wahlbeteiligung oftmals auf strukturelle Erklärungsfaktoren der Aggregatebene (z. B. ökonomische und institutionelle Merkmale) rekurrieren, bleiben vermittelnde soziale Mechanismen in der Regel auf Ebene der Individuen verortet (Opp 2009). Ebenso ist ein solcher methodologischer Individualismus für die Anwendung wahlsoziologischer Theorien auf den Untersuchungsgegenstand Wahlbeteiligung bei Integrationsratswahlen der präferierte Ansatz. Für die empirische Analyse wäre das optimale Design daher eine Verknüpfung von Strukturdaten mit Einstellungsdaten aus Zufallsstichproben (Schmitt-Beck 2019). Gleichzeitig liegen Daten zu Integrationsratswahlen momentan nur auf Aggregatebene vor.Footnote 6

Um dennoch erste Erkenntnisse über Determinanten der Wahlbeteiligung bei Integrationsratswahlen zu erlangen, ist der empirische Ansatz dieser Studie die Analyse von Aggregatdaten auf Gemeindeebene. Ein solches Untersuchungsdesign zieht möglicherweise das Problem des ökologischen Fehlschlusses nach sich, d. h. ein Zusammenhang auf Aggregatebene bildet nicht zwangsläufig einen Mechanismus auf Ebene der Individuen ab. Somit sind die Ergebnisse im Analyseteil mit Vorsicht zu interpretieren (also eher im Sinne von statistischen Zusammenhängen und weniger im Sinne strikter Kausalität). Gleichzeitig soll diese Studie als ein explorativer Ausgangspunkt für weitere Studien dienen, die stärker individuelle Motive für die Wahlentscheidung in den Blick nehmen. Aufbauend auf Theorien der Wahlbeteiligung und entsprechenden empirischen Befunden fokussieren wir im Weiteren auf politisch-institutionelle, migrationsspezifische und normative Faktoren und leiten Hypothesen über deren Einfluss auf die Wahlbeteiligung bei Integrationsratswahlen ab.

3.2.1 Politisch-institutioneller Kontext

Erklärungsansätze zum politisch-institutionellen Kontext beziehen sich auf die politische Angebotsseite, also Faktoren, die sich auf Merkmale staatlicher Organisation, Organisationsprinzipien politischen Wettbewerbs, die Parteienlandschaft sowie Charakteristika des Wahlkampfes beziehen (Schmitt-Beck 2019; Spies und Franzmann 2019). Diese Faktoren wurden bereits in klassischen empirischen Studien zur Wahlbeteiligung in den Fokus gestellt und haben direkte Bezüge zur Theorie des „Calculus of Voting“ und dem „Civic-Voluntarism-Modell“, da sie einerseits Anreize für die politische Partizipation von Bürgerinnen und Bürgern mitprägen und sich andererseits auf die Wahrnehmungen politischer Responsivität auswirken. So fand beispielsweise Powell (1986) in einem nationalen Vergleich westlicher Demokratien der 1970er-Jahre, dass politischer Wettbewerb innerhalb von Wahlbezirken sowie die Politisierung von organisierten Interessenvertretungen (wie Gewerkschaften) mit einer höheren Wahlbeteiligung in Verbindung stehen. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass Faktoren wie Wahlpflicht, Organisationsprinzipien der Legislative oder Merkmale der Wahl (z. B. Anzahl der Wahltage, Möglichkeiten der Briefwahl) mit der Wahlbeteiligung bei nationalen Wahlen in Zusammenhang stehen (siehe Blais 2006 als Überblick).

Mit Bezug auf die Integrationsratswahlen in NRW kann davon ausgegangen werden, dass die geringen politischen Befugnisse den wahrgenommenen Nutzen des Wahlgangs und damit die politische Selbstwirksamkeit von Wählenden verringern. Dies dürfte zu einer insgesamt geringen Wahlbeteiligung führen. Da dieser Umstand auf alle Integrationsräte zutrifft, ist dieser wenig relevant für die Erklärung lokaler Unterschiede in der Wahlbeteiligung. Im Gegensatz dazu sind wahlspezifische Organisationsprinzipien theoretisch relevante politisch-institutionelle Merkmale, die über Gemeinden hinweg variieren. Konkret untersuchen wir die Anzahl der angetretenen Parteien und die Anzahl der Sitze, die gewählt (und nicht von Gemeinderäten bestimmt) werden. Das Verhältnis von gewählten und von Gemeinderäten bestimmten Mitgliedern des Integrationsrates ist ein politisch-institutionelles Merkmal, das sich über Städte hinweg unterscheidet. Es existieren keine konkreten Vorgaben über das Verhältnis von gewählten und bestimmten Mitgliedern, in der Gemeindeverordnung wird jedoch eine Besetzung aus zwei Dritteln gewählter und einem Drittel bestellter Ratsmitglieder empfohlen. Die Zahl der zu wählenden Mitglieder sollte dabei die Zahl der bestellten Mitglieder übersteigen, wobei in der Mehrheit der Gemeinden in NRW gemäß der Empfehlung zwei Drittel der Ratsmitglieder durch die Wahl bestimmt werden. Vor dem Hintergrund ökonomisch-rationaler Erklärungen der Wahlbeteiligung, die einen größeren Anreiz zur politischen Partizipation durch ein entsprechend größeres Gewicht der eigenen Stimme sehen, kann angenommen werden, dass in Gemeinden mit einem höheren Anteil an gewählten Mitgliedern die Wahlbeteiligung größer ist.Footnote 7

H 1

Je höher der Anteil an gewählten (im Vergleich zu bestellten) Sitzen, desto höher ist die Wahlbeteiligung bei Integrationsratswahlen.

Ein weiterer, möglicherweise relevanter Faktor ist die Anzahl an Parteien und Listen, die bei Integrationsratswahlen antreten. Im Sinne eines (deskriptiven) Repräsentationsarguments entsteht durch die Verfügbarkeit mehrerer Parteien zunächst für die Wahlbevölkerung eine höhere Wahrscheinlichkeit, sich mit einer Partei und den politischen Forderungen zu identifizieren und eigene Interessen repräsentiert zu sehen (Ladner und Milner 1999). Wird die Heterogenität der ausländischen Bevölkerung auf der politischen Angebotsseite möglichst breit abgebildet, sollte dies folglich Anreize setzen, sich bei der Integrationsratswahl zu beteiligen. Zudem führt eine größere Anzahl an Parteien und Listen möglicherweise zu einem intensiveren und sichtbareren Wahlkampf und damit zu einer höheren Wahlbeteiligung (Banducci und Karp 2009).

H 2

Je höher die Anzahl an Parteien und Listen bei Integrationsratswahlen, desto höher ist die Wahlbeteiligung.

Zusätzlich zur Anzahl der Parteien gehen wir davon aus, dass die Involvierung etablierter politischer Parteien zu einer höheren Wahlbeteiligung bei Integrationsratswahlen führt. Zum einen bündeln die etablierten Parteien Interessen der Wahlbevölkerung und weisen einen eindeutigen Bezug zur deutschen Gesamtbevölkerung auf. Es kann angenommen werden, dass dies insbesondere bei stärker integrierten Bevölkerungsgruppen (oder solchen, die sich nicht durch die herkunftsspezifischen Parteien und Listen repräsentiert sehen) zu einer höheren Wahlbeteiligung führt. Darüber hinaus kann angenommen werden, dass die Involvierung etablierter Parteien zu einer stärkeren Professionalisierung des Wahlkampfes führt. Dies geht mit einer zunehmenden Sichtbarkeit politischer Akteure und verstärkten Mobilisierung von Wählerinnen und Wählern einher, was wiederum die Wahlbeteiligung erhöht.

H 3

Die Involvierung etablierter Parteien geht mit einer zunehmenden Wahlbeteiligung bei den Integrationsratswahlen einher.

3.2.2 Migrationsspezifischer Kontext

Vorherige Studien konnten überzeugend zeigen, dass eine zunehmende Integration von Zuwanderern deren politische Partizipation fördert. So zeigen beispielsweise Hainmueller et al. (2015) anhand eines natürlichen Experiments in der Schweiz, dass eine Einbürgerung zu einer stärkeren (und langfristigeren) politischen Beteiligung führt. Dies machte sich insbesondere bei der Wahlbeteiligung, der politischen Selbstwirksamkeitswahrnehmung und dem politischen Wissen bemerkbar, nicht jedoch bei der informellen politischen Beteiligung (z. B. Teilnahme an Demonstrationen oder Unterstützung einer Petition). Im Kontext der vorliegenden Studie gehen wir auf Basis der genannten Evidenz davon aus, dass die Anzahl an Einbürgerungen (als Verhältnis von Einbürgerungen zur Anzahl der Ausländerinnen und Ausländern) das Ausmaß an Integration in einer Gemeinde anzeigt und damit positiv mit der Wahlbeteiligung bei Integrationsratswahlen assoziiert ist.Footnote 8

H 4

Je höher die Einbürgerungsrate in einer Gemeinde, desto höher die Wahlbeteiligung bei Integrationsratswahlen.

Mit Blick auf ethnische Netzwerke kann davon ausgegangen werden, dass ethnisches Sozialkapital den Organisationsgrad und damit die politische Beteiligung von Zuwanderern fördert (Fennema und Tillie 1999). Diese Annahme geht von Lerneffekten innerhalb ethnischer Communities und Organisationen (z. B. effiziente Interessenorganisation, stärkere Identifikation mit der Gemeinde) aus, die sich dann positiv auf das politische Engagement auswirken. Diese Annahme bezieht sich vorrangig auf den Vernetzungsgrad ethnischer Gruppen, wobei die vorliegende Datenlage nicht zulässt, spezifische Gruppengrößen und deren Vernetzung mit entsprechenden Indikatoren abzubilden. Als Proxy hierfür kann allerdings die Größe der ausländischen Bevölkerung verstanden werden: Mit zunehmender Größe kommt es zu einer zunehmenden Vernetzung und damit einem größeren Potenzial für die Organisation und Bündelung kollektiver Interessen. Dies sollte sich wiederum verstärkend auf das Ausmaß und die Professionalität des Wahlkampfes (z. B. mehr Listen, größere Anzahl an Kandidatinnen und Kandidaten) auswirken (Vermeulen et al. 2020)Footnote 9 und in der Folge zu einer zunehmenden Wahlbeteiligung führen.

H 5

Je höher der Anteil an Ausländerinnen und Ausländern in einer Gemeinde, desto höher die Wahlbeteiligung bei den Integrationsratswahlen.

Die Integration von Zugewanderten ist ein zweiseitiger Prozess, bei dem soziale Ungleichheit und Diskriminierung, beispielsweise am Arbeitsmarkt, eine bedeutsame Rolle spielen (Zschirnt und Ruedin 2016). Um Diskriminierungs- und Benachteiligungserfahrungen über Strukturindikatoren abzubilden, nutzen wir den kommunalen Anteil an Ausländerinnen und Ausländern an der arbeitslosen Bevölkerung. Wird dieser Indikator gleichzeitig mit dem allgemeinen Anteil der ausländischen Bevölkerung einbezogen, vergleichen wir in den empirischen Modellen also Kommunen mit gleichem Anteil an Ausländerinnen und Ausländern aber unterschiedlicher Niveaus sozialer Ungleichheit zwischen einheimischer und ausländischer Bevölkerung.Footnote 10 Im Sinne einer Unterdrückungsthese (Oskooii 2020) gehen wir davon aus, dass Benachteiligungserfahrungen sich negativ auf die Wahlbeteiligung von Zuwanderern auswirken. Die Unterdrückungshypothese ist dabei einer Mobilisierungshypothese vorzuziehen, weil letztere voraussetzungsreicher und von der Art der Diskriminierung, dem Organisationsgrad und sozialen Status der diskriminierten Gruppe sowie den politischen Gelegenheitsstrukturen abhängig ist. Zudem sind Mobilisierungseffekte eher für unkonventionelle politische Partizipation zu erwarten (Bilodeau 2017) und treffen somit weniger auf die Situation der Integrationsratswahlen zu.

H 6

Je höher der Anteil an Ausländerinnen und Ausländern an der arbeitslosen Bevölkerung in einer Gemeinde, desto geringer ist die Wahlbeteiligung bei Integrationsratswahlen.

3.2.3 Die Rolle sozialer Normen

Neben politisch-institutionellen und migrationsspezifischen Faktoren heben Theorien zur Wahlbeteiligung die Rolle sozialer Normen für die Wahlgangsentscheidung hervor. Soziale Normen werden gemeinhin in sogenannte injunktive soziale Normen (d. h. Wahrnehmung von sozial akzeptiertem Verhalten in einer gegebenen Situation) und deskriptive soziale Normen (d. h. Wahrnehmung von typischerweise gezeigtem Verhalten von Mitmenschen in einer gegebenen Situation, welches auf eine soziale Norm hindeutet) unterschieden (Cialdini et al. 1990). Mit Bezug auf das Wahlverhalten ist die Wahrnehmung, dass es „gut für die Demokratie“ sei, wenn möglichst viele wählen gehen, eine injunktive Norm. Die Wahrnehmung, dass die meisten Bürgerinnen und Bürger sich an Wahlen beteiligen, spiegelt die deskriptive Norm wider. Feldexperimente haben gezeigt, dass insbesondere deskriptive soziale Normen verhaltenswirksame Konsequenzen haben (z. B. beim Thema Wasser sparen oder Umweltschutz, siehe Cialdini et al. 1990). Auch belegen Feldexperimente eine wahlbeteiligungsfördernde Wirkung insbesondere von ausgeprägten deskriptiven sozialen Normen (z. B. der Information, dass die meisten Personen im persönlichen Umfeld wählen gegangen sind, siehe Gerber und Rogers 2009; Haenschen 2016).Footnote 11 In räumlicher Perspektive haben Studien zu Nachbarschafts- und Gemeindekontexten die Rolle von Sozialkapital (Putnam 1993), staatsbürgerliche Normen (Knack 1992) oder kollektive Wirksamkeit („collective efficacy“ nach Sampson 2012) als förderlich für das politische Engagement hervorgehoben. Im Grunde beziehen sich alle Ansätze auf das Ausmaß an Solidarität und kooperativer Verhaltensbereitschaft in einer Kommune.

Um sozialen Normen auf Gemeindeniveau mit Strukturindikatoren abzubilden, wurde in bisherigen Untersuchungen oftmals auf die Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen zurückgegriffen (siehe Coffé und Geys 2005 mit Verweisen auf weitere Studien). Je höher die Wahlbeteiligung, insbesondere bei solchen nachgeordneten Wahlen,Footnote 12 desto stärker ist die (durchschnittliche) Orientierung hin zur Erhaltung und Verbesserung des Gemeinwohls. In Bezug auf die vorliegende Studie nutzen wir die Wahlbeteiligung bei der vorangegangenen Kommunalwahl als Proxy für soziale Normen bezogen auf das aggregierte Ausmaß an staatsbürgerlichen Normen (d. h. die kooperative Verhaltensbereitschaft in Bezug auf das Erreichen politischer Ziele) in einer Gemeinde. Würden wir die Wahlbeteiligung zum Zeitpunkt der Integrationswahl (hier 2020) nutzen, könnten wir möglicherweise die Rolle sozialer Normen nicht von situativen Faktoren, wie einem umstrittenen Thema im Wahlkampf oder einem zu erwartenden knappen Wahlausgang, trennen. Hinzu kommt, dass Integrationsratswahlen zum gleichen Zeitpunkt (und zumeist am gleichen Ort) wie Kommunalwahlen stattfinden. Da eingebürgerte Personen bei beiden Wahlen wählen dürfen, könnte eine zusätzliche Mobilisierung bei der Kommunalwahl auch zu einer höheren Beteiligung bei der Integrationsratswahl führen, jedoch nicht aus Ansteckungsgründen, sondern durch den geringen zusätzlichen Aufwand neben dem Kommunalwahlgang auch gleichzeitig bei der Integrationsratswahl mitzuwählen. Die Bezugnahme auf eine in der Vergangenheit liegende Kommunalwahl mildert diese Vermischung von Argumenten zumindest ab.Footnote 13

H 7

Je höher die Wahlbeteiligung bei der vorangegangenen Kommunalwahl, desto höher ist die Wahlbeteiligung bei der aktuellen Integrationsratswahl.

Als einen zusätzlichen Test des Normenarguments, der sich stärker auf eine Mobilisierung der Wahlbevölkerung bei der Integrationsratswahl bezieht, untersuchen wir die Interaktion zwischen dem Anstieg der Wahlbeteiligung zwischen der letzten und der aktuellen Kommunalwahl (als Differenzwert, der die zeitliche Veränderung in der politischen Mobilisierung widerspiegelt) und das Ausmaß der Wahlbeteiligung bei der letzten Kommunalwahl (als Indikator für staatsbürgerliche Normen). Die Grundannahme ist hierbei, dass sich in Gemeinden mit stark ausgeprägten staatsbürgerlichen Normen ein Anstieg der Wahlbeteiligung bei der nächsten Kommunalwahl proportional in eine höhere Wahlbeteiligung bei den Integrationsratswahlen übersetzt. Umgekehrt kann davon ausgegangen werden, dass in Kontexten mit einer geringen Ausprägung staatsbürgerlicher Normen die Beteiligung bei Integrationsratswahlen niedrig bleibt, selbst wenn es eine Mobilisierung entlang von Sachthemen gibt und die Wahlbeteiligung bei der Kommunalwahl merklich zunimmt. In solchen Kontexten herrscht (der Annahme nach) ein eher instrumentalistisches Kalkül politischer Mitbestimmung vor, welches zwar durch Kommunalwahlen bedient wird, jedoch nicht durch die Wahl der Integrationsräte, die durch mangelnde politische Befugnisse geprägt sind.

H 8

In Gemeinden mit einer hohen Beteiligungskultur (d. h. hohe Wahlbeteiligung bei der vorangegangenen Kommunalwahl) überträgt sich eine Zunahme der Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen in stärkerem Ausmaß auf die Wahlbeteiligung bei Integrationsratswahlen als in Gemeinden mit einer geringen Beteiligungskultur.

Über diese auf soziale Normen bezogenen Argumente hinausgehend beziehen wir weitere Erklärungsfaktoren in unsere empirische Untersuchung ein, die nicht unmittelbar theoretisch relevant sind, sondern vorrangig dazu dienen, die untersuchten Kommunen (im Sinne von Kontrollvariablen) besser vergleichbar zu machen. Diese werden im nächsten Kapitel zu Daten und Methode besprochen.

4 Daten und Methode

Die empirische Analyse basiert auf Daten von 107 Kommunen in NRW, in denen im Jahr 2020 ein Integrationsrat oder Integrationsausschuss gewählt wurde. Die Fokussierung eines Bundeslandes birgt den Vorteil, institutionelle und historische Faktoren konstant zu halten. Weiterhin hat NRW die höchste absolute Anzahl an Integrationsräten in Deutschland, was eine empirische und systematisch-vergleichende Betrachtung ermöglicht. Als abhängige Variable dient die prozentuale Wahlbeteiligung bei der Integrationsratswahl im Jahr 2020. Die Wahlergebnisse wurden den öffentlichen Bekanntmachungen des Dachverbandes der Integrationsräte NRW entnommen. Die Wahlen werden in jeder Gemeinde auf Grundlage einer eigenen Wahlordnung organisiert und durchgeführt. Die Ergebnisse haben somit amtlichen Charakter, werden jedoch nicht durch den Landeswahlleiter, sondern den Landesintegrationsrat bereitgestellt.Footnote 14

Zur Berücksichtigung politisch-institutioneller Faktoren nutzen wir als Indikatoren die Anzahl der wählbaren Parteien bei der Integrationsratswahl (absolute Zahl), das Verhältnis gewählter zu ernannter Ratssitze (in Prozent), und ob etablierte Bundesparteien bei der Wahl involviert waren. Letztere ist eine binäre Variable, die den Wert eins annimmt, wenn eine Liste oder einzelne Kandidatinnen beziehungsweise Kandidaten einer der etablierten Bundesparteien (AfD, SPD, Die Linke, CDU, Grüne) antreten (andernfalls null).

Die Überprüfung der migrationsspezifischen Hypothesen findet mittels dreier Indikatoren statt. Die Einbürgerungsrate wird als Relation von absoluter Einbürgerungsanzahl zu 10.000 Ausländerinnen und Ausländer berechnet. Der Anteil an Ausländerinnen und Ausländern wird als Verhältnis der ausländischen Bevölkerung zur absoluten Gesamtbevölkerung einbezogen. Auch der Anteil an Ausländerinnen und Ausländern an der Gruppe der Arbeitslosen einer Gemeinde wird als Verhältnis der absoluten Arbeitslosen bei Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit zu solchen Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit berücksichtigt. Um in zusätzlichen Analysen die mögliche Rolle unterschiedlicher migrantischer Gruppen (sowie von Diversität versus Konzentration von Gruppen via eines Herfindahl-IndexesFootnote 15) zu testen, sind wir auf Zensusdaten (differenziert nach griechisch, italienisch, jugoslawisch, türkisch, andere EG-Staaten, sonstige Nationalitäten) aus den 1980er-Jahren angewiesen.Footnote 16 Auch wenn diese Daten veraltet sind, gehen wir von einer hinreichend hohen Approximation aktueller Verhältnisse aus. Wir sind uns der Schwächen der Messung durchaus bewusst und möchten betonen, dass die Daten nur zum Zwecke zusätzlicher Robustheitsanalysen genutzt werden.

Zur Abbildung der kommunalpolitischen Beteiligungskultur nutzen wir die Wahlbeteiligung bei der Kommunalwahl 2014 (in Prozent) als Indikator für staatsbürgerliche Normen und den Differenzwert der Wahlbeteiligungen an den Kommunalwahlen von 2014 und 2020 (Prozentpunktdifferenz). Die kommunale Wahlbeteiligung bezieht sich auf konventionelle politische Partizipation, was aufgrund des elektoralen Charakters der Integrationsratswahlen ein hinreichend valides Vorgehen darstellt (vgl. Klein 2018). Gleichzeitig kann dieses Vorgehen aufgrund mangelnder Verfügbarkeit vergleichender Indikatoren auf Gemeindeebene als alternativlos gelten. Darüber hinaus wird eine Reihe von weiteren Erklärungsfaktoren in der empirischen Analyse berücksichtigt, um die Heterogenität der Kommunen zu modellieren und möglicher Verzerrung der Koeffizienten aufgrund nicht berücksichtigter Drittvariablen entgegenzuwirken. Die ökonomische Lage einer Kommune wird durch die Arbeitslosenquote operationalisiert. Als Indikator für die infrastrukturelle Ausstattung eines Kontextes (die durchaus wahlrelevant sein kann, siehe Drilling und Kiess 2021) wird ein Mittelwertindex der durchschnittlichen Erreichbarkeit essenzieller Orte des täglichen Bedarfs (Supermarkt, Apotheke, Grundschulen, ÖPNV-Haltestellen) verwendet. Dieser gibt den Anteil der Bevölkerung an, die im Jahr 2017 im Radius von einem Kilometer zu den essenziellen Orten wohnte. Die Gesamtbevölkerung (in 10.000 Personen) einer Gemeinde ist ebenfalls von Relevanz, da der Grad der Urbanisierung ein gewichtiges Merkmal bei theoretisch bedeutsamen Faktoren wie der Anzahl der Parteien und Listen, die bei Integrationsratswahlen antreten, ist. Schließlich operationalisieren wir ein immigrationsfeindliches Meinungsklima mit dem Wahlerfolg der immigrationsablehnenden rechtspopulistischen Partei Alternative für Deutschland (AfD) bei der zuletzt stattgefundenen Kommunalwahl.Footnote 17 Ein Wahlerfolg immigrationsablehnender Parteien wurde auch in bisherigen Studien als Proxy für das Ausmaß eines negativen Meinungsklimas gegenüber Zugewanderten genutzt (Berning 2016; Sarrasin et al. 2012; Just und Anderson 2014). Wir gehen im Sinne der Unterdrückungsthese davon aus, dass sich ein negatives Meinungsklima gegenüber Zuwanderung negativ auf die Wahlbeteiligung von Zuwanderern auswirkt (Oskooii 2020).

Mit Ausnahme der politisch-institutionellen Merkmale sowie des Erreichbarkeitsindexes wurden die verwendeten Daten der Datenbank des Statistischen Landesamts IT.NRWFootnote 18 entnommen. Der Erreichbarkeitsindex wurde mit Daten der Datenbank des Bundesinstituts für Bau‑, Stadt, und Raumforschung (BBSR)Footnote 19 berechnet. Die politisch-institutionellen Charakteristika der Integrationsräte entstammen der Datenbank des votemanagersFootnote 20 sowie den jeweiligen Webpräsenzen der Integrationsräte und Gemeinden. Im Falle fehlender Werte wurden die Daten des vorherigen Jahres genutzt oder, sofern vorhanden, der Datenbank des BBSR entnommen. Die verwendeten Daten sowie Analysesyntax zur Replikation der Ergebnisse können der Plattform Havard Dataverse entnommen werden (https://doi.org/10.7910/DVN/ZOQ4LU). Eine Übersicht der verwendeten Variablen inklusive statistischer Kennzahlen zeigt Tab. 1. Eine Korrelationsmatrix der verwendeten Variablen findet sich in Tabelle A1 im Online-Anhang.

Tab. 1 Deskriptive Statistiken der verwendeten Variablen

Als Analyseverfahren zur Testung der Hypothesen nutzen wir OLS-Regressionsverfahren mit Daten aus 2020. Wir beginnen mit einem ersten Modell mit Kontrollvariablen und erhöhen die Komplexität der OLS-Regressionen (Modelle 2 bis 5) schrittweise durch die Hinzunahme von Variablenblöcken theoretisch ähnlicher Variablen. Dies hat den Vorteil, dass Effektverdrängungen durch neu hinzugenommene Variablen deutlich werden. Andernfalls wären relevante indirekte Effekte verschleiert. Um die Resultate dieser Querschnittsanalysen in einem zweiten Schritt hinsichtlich ihrer Robustheit zu überprüfen, haben wir zudem OLS-Regressionen mit verzögerter abhängiger Variable (LDV-Modelle), d. h. die Wahlbeteiligung bei der Integrationsratswahl in 2014, durchgeführt.Footnote 21 Die Grundannahme ist, dass die verzögerte abhängige Variable den Großteil der unbeobachteten Heterogenität absorbiert und damit die Wahrscheinlichkeit verzerrter Schätzer aufgrund eines Auslassens relevanter Variablen verringert (Omitted-Variables-Bias; siehe z. B. Angrist und Pischke 2009; Keele und Kelly 2006). Folglich dienen die OLS-Regressionen (Tab. 2, Modelle 1–5) der Daten von 2020 zur umfassenden Exploration der Determinanten, wohingegen die LDV-Modelle (Tab. 2, Modelle 6–7) die Ergebnisse hinsichtlich ihrer Robustheit überprüfen. Darüber hinaus wurden die technischen Voraussetzungen zur Berechnung der Regressionsmodelle inspiziert. Dabei zeigten sich keinerlei Auffälligkeiten hinsichtlich Multikollinearität, Normalverteilung der Residuen sowie ausgelassener Polynomialterme. Um Heteroskedastizität entgegenzuwirken, werden robuste Standardfehler ausgewiesen.

Tab. 2 Regressionsmodelle der Wahlbeteiligung bei der Integrationsratswahl 2020

5 Ergebnisse

Modelle 1–5 in Tab. 2 zeigen die Ergebnisse der OLS-Regressionsmodelle auf Basis der Querschnittsdaten von 2020. Alle kontinuierlichen Prädiktorvariablen wurden z‑standardisiert, um einen direkten Vergleich bezüglich der Effektstärken zu ermöglichen. Hinsichtlich der Kontrollvariablen (Modell 1) finden wir, dass ein hoher Stimmenanteil der AfD negativ mit der Wahlbeteiligung an der Integrationsratswahl assoziiert ist. In Bezug auf die Infrastruktur und Erreichbarkeit ist ein signifikant positiver Zusammenhang gegeben: Je besser die Nahversorgung in einer Gemeinde, desto höher ist die Wahlbeteiligung bei der Integrationsratswahl. Im zweiten Schritt werden in Modell 2 die migrationsspezifischen Hypothesen untersucht. Die Richtung der Effekte entspricht den formulierten Erwartungen der Hypothesen H 4, H 5 und H 6 (hohe Einbürgerungsrate, hoher Anteil Ausländerinnen und Ausländer und geringe ausländerspezifische Arbeitslosigkeit sind positiv mit politischer Partizipation assoziiert). Allerdings sind bis auf die ausländerspezifische Arbeitslosenquote die Koeffizienten statistisch insignifikant und daher sind wir hier zurückhaltend mit der Interpretation der Ergebnisse im Sinne eines substanziellen Zusammenhangs.Footnote 22 Um die Rolle der Herkunftsländer sowie der Zusammensetzung der ethnischen Netzwerke zu untersuchen, haben wir in zusätzlichen Modellen (siehe Modelle A1 und A2 in Tab. A2 im Online-Appendix) den Anteil der ausländischen Bevölkerung von 2020 mit differenzierten Herkunftsländern von 1987 ersetzt. Die Ergebnisse von Modell A1 zeigen jedoch keinen signifikanten Einfluss spezifischer Bevölkerungsanteile auf die Wahlbeteiligung bei Integrationsräten. Indes spielt die Konzentration der Bevölkerungsgruppen eine statistisch signifikante Rolle: In Kommunen mit einem höheren Herfindahl-Index, d. h. einer stärkeren Konzentration einzelner Bevölkerungsgruppen, ist die Wahlbeteiligung geringer als in Kommunen mit einer eher gleichmäßigen Verteilung der Bevölkerungsgruppen. Darüber hinaus bleiben die genannten und weiteren systematischen Variablenzusammenhänge robust bei Einbezug der Anteile einzelner Migrantengruppen.

In Modell 3 zeigt die Aufnahme der politisch-institutionellen Faktoren, dass eine Beteiligung etablierter Bundesparteien bei der Integrationsratswahl einen statistisch signifikanten positiven Zusammenhang aufweist. Dies liefert Evidenz im Sinne der Hypothese H 3. In Kommunen mit einer Beteiligung etablierter Parteien liegt die Wahlbeteiligung durchschnittlich 1,7 Prozentpunkte höher als in Kommunen ohne eine solche Beteiligung. Eine weiterführende Analyse (siehe Modell A3 in Tab. A2 im Online-Appendix) mit einer metrischen Variable über die konkrete Anzahl der involvierten etablierten Parteien zeigt ebenso einen positiven und statistisch signifikanten Zusammenhang mit der Wahlbeteiligung (b = 0,756, SE = 0,27, p < 0,01). Zudem beeinflusst analog zu Hypothese H 2 die Anzahl der wählbaren Parteien die Wahlbeteiligung statistisch signifikant positiv (wobei die Signifikanz über Modelle hinweg variiert und die Effektstärke vergleichsweise gering ausfällt). Der Regressionskoeffizient des Verhältnisses von gewählten zu ernannten Sitzen (H 1) ist indes statistisch nicht signifikant.

Anschließend gehen wir der Frage nach, inwiefern die soziale Norm innerhalb eines räumlichen Kontextes einen Einfluss auf die Wahlbeteiligung bei der Integrationsratswahl ausübt (Modell 4 und 5). Die Ergebnisse zeigen, dass die Wahlbeteiligung an der Kommunalwahl 2014 ein positiver und statistisch signifikanter Prädiktor ist. Das bedeutet, dass gemäß Hypothese H 7 Gemeinden mit einer stark ausgeprägten sozialen Wahlnorm eine höhere Wahlbeteiligung bei der Integrationsratswahl aufweisen. Darüber hinaus finden wir einen signifikant positiven Zusammenhang zwischen dem Differenzwert und der Wahlbeteiligung bei der Integrationsratswahl. Nimmt die Kommunalwahlbeteiligung in einer Kommune zwischen zwei Wahlen zu, beispielsweise aufgrund eines politisch salienten Themas, ist dies mit einer Zunahme der Wahlbeteiligung bei der Integrationsratswahl assoziiert. Die Aufnahme der kommunalen Wahlbeteiligung in das Modell hat auch auf bereits berücksichtigte Prädiktoren eine Auswirkung: Während der Schätzer des AfD-Wahlanteils hinsichtlich Signifikanz und Stärke zurückgeht, zeigt sich nun ein statistisch signifikant negativer Koeffizient der Gesamtbevölkerung sowie des Ausländeranteils an der arbeitslosen Bevölkerung. Für die Variable des Anteils an Ausländerinnen und Ausländern finden wir in dieser Modellspezifikation einen positiven und signifikanten Koeffizienten (entsprechend H 5).

Um die Frage zu testen, inwiefern sich eine Zunahme der Wahlbeteiligung bei der Kommunalwahl in Abhängigkeit vom Normenkontext auf die Integrationsratswahl auswirkt, wird in Modell 5 eine Interaktion zwischen Kommunalwahlbeteiligung 2014 (Indikator für die staatsbürgerliche Norm) und dem Differenzwert zur zeitlichen Veränderung bei der Kommunalwahlbeteiligungen (Indikator für Mobilisierung, 2020 vs. 2014) in das Modell einbezogen. Der Koeffizient des Interaktionsterms ist positiv und statistisch signifikant (entsprechend Hypothese H 8). Um diesen interaktiven Zusammenhang inhaltlich zu interpretieren, ist dieser in Abb. 2 visualisiert: Während sich in Gemeinden mit hoher Kommunalwahlbeteiligung (respektive mit einer hohen staatsbürgerlichen Norm, Linie mit Dreiecken) eine starke Mobilisierung im Rahmen der Kommunalwahl auf die Integrationsratswahlen überträgt, ist in Kommunen mit einer geringen Kommunalwahlbeteiligung (Linie mit Rauten) dieser „Spill-Over-Effekt“ indes nicht zu erkennen. Eine stärkere Mobilisierung im Rahmen der Kommunalwahl hat hier also keine Auswirkung auf die Wahlbeteiligung bei der Integrationsratswahl. Entsprechend unserem theoretischen Argument hängt eine solche mangelnde Korrespondenz bei der Wahlbeteiligung mit mangelnden staatsbürgerlichen Normen zusammen, wonach sich Bürgerinnen und Bürger politisch auch um der Demokratie Willen beteiligen und nicht ausschließlich aus rational-instrumentalistischem Kalkül. Dies ist in Übereinstimmung mit Vorhersagen zum Verhältnis sozialer Normen und politischer Beteiligung, entsprechend dem „Civic-Voluntarism-Modell“. Gleichzeitig muss betont werden, dass der konkrete zugrunde liegende soziale Mechanismus mit den vorliegenden Daten nicht näher untersucht werden kann. Eine weitere Darstellung des Interaktionseffekts als marginale Effekte in Abhängigkeit von der Moderatorvariable ist im Online-Anhang in Abb. A1 zu finden. Auch hier zeigt sich, dass sich eine zusätzliche Mobilisierung insbesondere in Gemeinden mit hoher Ausgangswahlbeteiligung auf die Wahlbeteiligung bei der Integrationsratswahl auswirkt.

Abb. 2
figure 2

Vorhergesagte Werte der Wahlbeteiligung bei der Integrationsratswahl in Abhängigkeit der Veränderung der Kommunalwahlbeteiligung zwischen 2014 und 2020, jeweils für Kommunen mit hoher/niedriger Kommunalwahlbeteiligung im Jahr 2014; gestrichelte Linie = 95 %-Konfidenzintervall, basierend auf Modell M5

Modelle 6 und 7 dienen schließlich der weitergehenden Überprüfung der gefundenen statistischen Zusammenhänge durch die Anwendung eines LDV-Ansatzes. Der Einbezug der verzögerten abhängigen Variable aus dem Jahr 2014 bestätigt die gefundenen Zusammenhänge in Bezug auf die Rolle von Wahlnormen (H 7 und H 8) sowie des Engagements von Bundesparteien (H 3). Weitere Faktoren, die in den OLS-Modellen (Modelle 1–5) einen statistisch signifikanten Koeffizienten aufwiesen (insbesondere migrationsspezifische Faktoren), verlieren in diesen restriktiveren Modellen an systematischer Vorhersagekraft.

6 Diskussion und Fazit

Integrationsratswahlen stellen für Nicht-EU-Ausländerinnen und -Ausländer die einzige Möglichkeit dar, sich an demokratischen Wahlen zu beteiligen. Auch migrantische Bevölkerungsgruppen sowie deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die per Geburtsprinzip (ius soli) die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten haben, können sich bei Integrationsratswahlen beteiligen und werden durch diese auf lokaler politischer Ebene repräsentiert. Trotz der Tatsache, dass Integrationsräte de facto über geringe politische Befugnisse verfügen, erfüllen sie aus demokratietheoretischer Sicht eine wichtige Funktion zur (ansatzweisen) Herstellung politischer Repräsentation für eine substanziell große Minderheit in Deutschland. Denn auch wenn der Mangel an politischen Befugnissen die faktische Repräsentation der migrantischen Bevölkerung einschränkt (und damit das demokratiefördernde Potenzial von Integrationsräten schmälert), kann von einem integrationsfördernden Potenzial von Integrationsratswahlen ausgegangen werden. Es gibt vielfach Belege dafür, dass es für wirksame Integrationsmaßnahmen ein Zeitfenster nach Ankunft in der Aufnahmegesellschaft gibt (Hainmueller et al. 2015). Daher scheint eine möglichst frühe politische Partizipation, auch in Form eines Wahlgangs bei Integrationsratswahlen, durchaus als Weichenstellung für die weitere politische Integration zu fungieren.

Vor diesem Hintergrund untersuchte die vorliegende Studie erstmals systematisch und vergleichend mögliche Determinanten für die Wahlbeteiligung bei Integrationsratswahlen in Nordrhein-Westfalen. Neben klassischen Erklärungsfaktoren, die sich vorrangig auf ökonomische, institutionelle und wahlspezifische Faktoren beziehen, haben wir zusätzlich migrationsspezifische und normbezogene Faktoren mit in die Analyse einbezogen.

Die Ergebnisse von Regressionsanalysen mit Daten aus 2020 für 107 Gemeinden in NRW zeigen, dass besonders das Engagement etablierter Parteien einen gewichtigen Prädiktor darstellt und mit einer höheren Wahlbeteiligung bei Integrationsratswahlen einhergeht. Im Vergleich zu keinem Engagement wird in Gemeinden mit einem Engagement etablierter Parteien eine im Durchschnitt ca. 2,1 Prozentpunkte höhere Wahlbeteiligung erreicht. Vergleicht man dies mit der Standardabweichung der Wahlbeteiligung von 3,7 Prozentpunkten, so entsprechen 2,1 Prozentpunkte einem Anstieg um 0,57, also fast zwei Drittel einer Standardabweichung. Somit liegt ein substanzieller Effekt vor. Dabei ist der genannte Effekt bereits für zahlreiche Kontrollvariablen bereinigt und hält auch dem Robustheitstest (z. B. mittels diffuser Kontrolle unbeobachteter Heterogenität im LDV-Modell) stand.

Die Ergebnisse deuten auf die Relevanz eines hinreichend großen Ausmaßes an Professionalisierung und Interessenbündelung auf politischer Angebotsseite hin. Möglicherweise gelingt es etablierten Bundesparteien (im Vergleich zu spezifischen, gruppenbezogenen Listen) besser, heterogene Interessen der ebenso heterogenen Wahlbevölkerung zu bündeln und dadurch einen höheren Grad an (wahrgenommener) Repräsentation zu erreichen. Auch wenn die konkrete Ausgestaltung der Involvierung mit den empirischen Daten nicht abgebildet werden konnte, deuten unsere Ergebnisse auf eine wichtige Scharnierfunktion etablierter Parteien bei der politischen Beteiligung von Zugewanderten hin. Dieser Befund kann als Ausgangspunkt für weiterführende (qualitative) Studien zur Rolle der Involvierung etablierter Parteien dienen.

Als weiteren gewichtigen Prädiktor hat unsere Studie staatsbürgerliche Normen herausgestellt. Je höher die Wahlbeteiligung bei einer früheren Kommunalwahl (als Indikator für jene staatsbürgerlichen Normen) war, desto höher ist die Wahlbeteiligung bei der Integrationsratswahl. Zudem übersetzt sich ein Anstieg in der Beteiligung bei Kommunalwahlen im Zeitverlauf eher in einen Zuwachs bei der Wahlbeteiligung bei Integrationsratswahlen, wenn es sich um Gemeinden mit stark ausgeprägten staatsbürgerlichen Normen (hohe Ausgangswahlbeteiligung) handelt. Beide Befunde deuten auf die Wichtigkeit einer lokalen politischen Beteiligungskultur hin, die bereits in Studien zur Rolle politischer Involvierung und Ressourcen hervorgehoben wurde (Verba und Nie 1987; Zukin et al. 2006). Gleichzeitig legt unsere Untersuchung nahe, dass die kommunale Beteiligungskultur sich auch auf die politische Beteiligung migrantischer Bevölkerungsteile auswirken kann, obwohl diese teilweise eine ganz unterschiedliche politische Sozialisation erfahren haben und in unterschiedlichem Ausmaß in die Aufnahmegesellschaft integriert sind.

Mit Blick auf migrationsspezifische Faktoren zeigen sich zwar die erwarteten Richtungen der Zusammenhänge hinsichtlich des Anteils der ausländischen Bevölkerung und des Anteils der Ausländerinnen und Ausländer an Arbeitslosen. Allerdings werden die Ergebnisse statistisch insignifikant, wenn für die verzögerte abhängige Variable im LDV-Ansatz kontrolliert wird. Daher können wir nicht ausschließen, dass es sich hier um einen kompositionellen Effekt handelt, der auf eine Veränderung der wahlberechtigten (größtenteils) ausländischen Bevölkerung (z. B. im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise 2014–16) zurückzuführen ist. In jedem Fall ist zu betonen: Um die Rolle migrationsspezifischer Faktoren (wie erfahrener Diskriminierung oder individueller Erfahrungen mit Demokratie oder Autokratie in den Herkunftsländern) direkt überprüfen zu können, sind Daten und Analysen auf Individualniveau nötig. Hier ist auch die Frage bedeutsam, inwieweit sich ein unterschiedliches Ausmaß an sozialer und kultureller Integration auf die Wahlbeteiligung auswirkt (Jones-Correa 2001). Entsprechend Arbeiten zum sogenannten Integrationsparadox ist nämlich keinesfalls gewiss, dass sich zunehmende Integration direkt in stärkere Identifikation mit und politische Partizipation in der Aufnahmegesellschaft übersetzt (Verkuyten 2016). So kann das Vertrauen in politische Eliten und der Wunsch nach Beteiligung anfänglich hoch sein und durchaus im Zeitverlauf oder über Generationen hinweg schwinden (Röder und Mühlau 2012) – ein Szenario, für dessen weitere Erforschung insbesondere Paneldaten auf Individualniveau vonnöten sind.

Auch stößt unser Ansatz an Grenzen, wenn es um den (potenziellen) Einfluss weiterer relevanter Wahrnehmungsindikatoren geht. Darunter fällt auch das Argument, dass die ausschließlich beratende Funktion von Integrationsräten und der damit verbundene Mangel an faktischer politischer Repräsentation sich möglicherweise hinderlich auf die Wahlbeteiligung auswirkt. Zwar deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass bei Integrationsratswahlen sozial-normative Faktoren einen erheblichen Einfluss haben, was diese Wahl als exemplarischen Fall für die Untersuchung symbolischer und expressiver politischer Beteiligung erscheinen lässt. Gleichzeitig muss auch hier betont werden, dass unsere Studie auf Aggregatdaten basiert und allenfalls als explorativer Ausgangspunkt dienen kann. Die zugrunde liegenden sozialen und psychologischen Mechanismen müssen indes mit Individualdaten in weiterführenden Studien eruiert werden.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass unsere Studie erstmals systematisch den Einfluss politisch-institutioneller, migrationsspezifischer und sozial-normativer Einflussfaktoren auf die Wahlbeteiligung bei Integrationsratswahlen in vergleichender Perspektive eruiert. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Involvierung etablierter Parteien sowie eine umfangreiche kommunalpolitische Beteiligungskultur sich förderlich auf die Wahlbeteiligung bei Integrationsratswahlen auswirken.