1 Einleitung

Starke Metaphern wecken Aufmerksamkeit. Dies mag erklären, warum der 1985 erschienene Aufsatz von Jens Alber über die „politischen Chancen der Grünen“ (Alber 1985, S. 211) große Beachtung fand. Wurden in ihm die GrünenFootnote 1 doch sehr drastisch als eine „Partei frustrierter akademischer Plebejer“ (Alber 1985, S. 220) bezeichnet. Ebenfalls große Beachtung fand im Jahr 2012 eine polemische Streitschrift von Manfred Güllner, in der die Grünen als „eine Partei für die Minorität der oberen Bildungs- und zunehmend auch der oberen Einkommensschichten“ (Güllner 2012, S. 171–172) beschrieben wurden, die dem Rest der Gesellschaft angeblich ihre Weltsicht diktiere. Anknüpfend an die Metapher von Alber könnte man aus dieser Perspektive die Grünen der Gegenwart als eine Partei des gesellschaftlichen „Patriziats“ beschreiben. Die kontrastierende Gegenüberstellung der beiden Metaphern wurde als Titel des vorliegenden Beitrags gewählt, da sie deutlich macht, welch gravierende Veränderungen die Grünen und ihr Elektorat seit der Parteigründung im Jahr 1980 durchlaufen haben. Die Entwicklung der grünen Wählerschaft im Zeitverlauf empirisch nachzuzeichnen, ist das Anliegen des vorliegenden Beitrags. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Separierung von Alters‑, Perioden- und Generationseffekten, da dieser in der bisherigen wissenschaftlichen Diskussion eine herausgehobene Bedeutung zukam. Gleichzeitig soll aber auch die klassenstrukturelle Bedingtheit der Grünen-Wahl in den Blick genommen werden.

Anlässe für eine umfassende empirische Analyse der Entwicklung der grünen Wählerschaft gibt es gleich mehrere. So blickten die Grünen im Jahr 2020 auf 40 Jahre Parteigeschichte zurück. Darüber hinaus konnte die Partei in jüngster Zeit markante Erfolge vermelden. So war sie bei der Europawahl 2019 zum ersten Mal in ihrer Geschichte bei einer bundesweiten Wahl stärker als die SPD. Kurz danach wurde sie in einer bundesweiten Meinungsumfrage als stärkste Partei gemessen, was ebenfalls ein Novum darstellte.Footnote 2 Vor dem Hintergrund dieser neu gewonnenen Stärke schien es dann fast zwangsläufig, dass die Grünen bei der Bundestagswahl 2021 mit einer eigenen Kanzlerkandidatin antraten. Auch wenn ihr Ergebnis bei dieser Wahl deutlich hinter den hochgesteckten Erwartungen zurückblieb, war es dennoch das beste Bundestagswahlergebnis in der Geschichte der grünen Partei. Für die Wahlforschung stellt sich die Frage, wie die im Zeitverlauf steigende Unterstützung der Grünen in der Bevölkerung zu erklären ist. Dieser Frage soll im Rahmen des vorliegenden Beitrags nachgegangen werden.

Im Folgenden wird zunächst der Forschungsstand zur Wählerschaft der Grünen systematisch aufgearbeitet, um daraus Schlussfolgerungen für die Konzeption der eigenen empirischen Analyse abzuleiten (Abschn. 2). Es folgen Beschreibungen der analysierten Daten sowie der Logik der Datenanalyse (Abschn. 3). Nach der Präsentation der Analyseergebnisse (Abschn. 4) werden die erzielten Befunde abschließend kurz eingeordnet (Abschn. 5).

2 Forschungsstand

Die wissenschaftliche Diskussion über die Wählerschaft der Grünen in Deutschland lässt sich in vier klar voneinander abgrenzbare Phasen unterteilen, die im Folgenden beschrieben werden.

2.1 Die Grünen als Partei der nichtetablierten akademischen Jugend

In den 1980er-Jahren lag der Fokus der Diskussion auf dem jugendlichen Alter des grünen Elektorats. Ferdinand Müller-Rommel schrieb 1984 in einer Übersicht über den Forschungsstand: „Die Wählerschaft der GRÜNEN setzt sich – im Vergleich zu der der anderen Parteien – überdurchschnittlich stark aus Jugendlichen zusammen“ (Müller-Rommel 1984, S. 128). Fogt und Uttitz bezeichneten im selben Jahr das Alter als „den bedeutendsten Einflussfaktor für die Wahlentscheidung zugunsten der Grünen“ (Fogt und Uttitz 1984, S. 215). Mit dem geringen Alter der grünen Wählerinnen und Wähler ging naturgemäß eine Reihe weiterer Eigenschaften einher: So waren unter ihnen „viele Schüler, Studenten und Auszubildende zu finden“ (Müller-Rommel 1984, S. 129). Auch war in Folge der Bildungsexpansion der formale Bildungsgrad der grünen Wählerinnen und Wähler deutlich höher als im Rest der Bevölkerung (Müller-Rommel 1984, S. 130).

Müller-Rommel wies in seiner Übersicht über den Forschungsstand aber auch darauf hin, dass in einer Bevölkerungsumfrage aus dem Jahr 1982 „der Anteil der Arbeitslosen bei den GRÜNEN höher als bei den Wählern der anderen Parteien“ (Müller-Rommel 1984, S. 131) war (vgl. auch Fogt und Uttitz 1984, S. 219 f.). An diesen Befund knüpften Jens Alber und Wilhelm Bürklin in einer Reihe von Publikationen an, die Mitte bis Ende der 1980er-Jahre erschienen und die Diskussion über die Wählerschaft der Grünen zunächst maßgeblich prägten (Alber 1985; Bürklin 1981, 1984, 12,13,a, b, 1987, 1988). Hier entfalteten sie das Argument, dass das Elektorat der Grünen im Wesentlichen aus jungen, hochgebildeten Personen bestünde, die den Schritt in den Beruf und die gesellschaftliche Integration noch nicht erfolgreich bewältigt hätten und deshalb eine in Opposition zum etablierten System stehende Partei wählen würden (Bürklin 1987). Zwei Effekte seien dabei für „die Verstopfung der Aufstiegskanäle“ (Alber 1985, S. 216) dieser Personengruppe ursächlich: Zum einen die in Folge der Bildungsexpansion und des Babybooms der 1950er- und 1960er-Jahre deutlich gestiegene Zahl von Hochschulabsolventinnen und -absolventen, die nun auf den Arbeitsmarkt drängen, sowie zum anderen die aufgrund der Finanzierungsprobleme der öffentlichen Haushalte gesunkenen Einstellungszahlen des öffentlichen Dienstes, der normalerweise einen großen Teil der akademisch gebildeten Personen aufgenommen hätte (Alber 1985, S. 220 f.). Alber formulierte diese Position zugespitzt wie folgt: „Zusammenfassend lässt sich sagen, daß der typische Anhänger der Grünen jung, gut gebildet und arbeitslos ist oder außerhalb des Arbeitsmarktes steht. Schlagwortartig lassen sich die Grünen demnach … als Partei frustrierter akademischer Plebejer charakterisieren“ (Alber 1985, S. 220). Bürklin formulierte etwas freundlicher, dass „the vote for the Greens can be explained predominantly by the difficulties of the new educated classes in becoming socially integrated“ (Bürklin 1987, S. 109). In Bezug auf die Zukunftschancen der Grünen kam Alber zu der Prognose, „dass das Wählerpotential der Grünen in dem Maße schrumpfen wird, in dem die geburtenschwachen Jahrgänge Einzug in die höheren Bildungsinstitutionen halten und die heutigen Absolventengruppen im Wirtschaftsleben Fuß fassen“ (Alber 1985, S. 221). Bürklin sagte den Grünen vor diesem Hintergrund einen „inevitable decline“ (Bürklin 1987, S. 109) voraus.

Die These von den akademischen Plebejern wurde aber bereits sehr früh sehr grundlegend kritisiert. Helmut Fogt und Pavel Uttitz bezeichneten sie als „wenig überzeugend, da das Problem, daß im Zeichen der Ausweitung der akademischen Bildung für die höher gebildete Mittelschichtsjugend die Karrierechancen nicht mehr im traditionellen Umfang zur Verfügung stehen, nicht erst seit dem Aufkommen der grünen Partei besteht. Lebensaltertypische Unsicherheiten der individuellen sozialen Situation sind nur schwer in einen schlüssigen Zusammenhang mit der Sympathie vieler Abiturienten und Studenten für die Grünen zu bringen“ (Fogt und Uttitz 1984, S. 213). Sie schlugen vor dem Hintergrund dieser Kritik die Lebenszyklus- und die Generationenthese als alternative Erklärungen für das jugendliche Alter der grünen Wählerschaft vor. Erstere interpretiert „das Engagement für die Grünen als Ausdruck des politischen Protests …, wie er für die (höher gebildete) Jugend heute in dieser spezifischen Lebensphase nicht untypisch ist“ (Fogt und Uttitz 1984, S. 212). Letztere interpretieren sie „als einmalige Haltung einer ganz bestimmten Jugendgeneration, die aus einem singulären zeittypischen Problemkontext und dessen Verarbeitung durch die Jugendlichen erwachsen ist“ (Fogt und Uttitz 1984, S. 212).

Fogt und Uttitz leiteten aus diesen beiden Erklärungsansätzen auch Prognosen für die Zukunft der Grünen ab: „Der Lebenszyklus-These zufolge müßte sich bei den jüngeren Grünwählern mit fortschreitendem Alter die Bindung an die Partei wieder lockern, wobei allerdings die nachwachsenden Jungwähler eine ähnlich überproportionale Disposition für die Partei besitzen würden. Der Generationenthese zufolge bliebe die Präferenz für die Grünen bei der gegenwärtigen Jugendgeneration auch über den weiteren Lebenslauf hin erhalten, ließe sich jedoch nicht auf andere Generationen übertragen. Die Alternative für die Grünen lautet demnach: Partei der Jugend oder der ‚Ökopax-Generation‘“ (Fogt und Uttitz 1984, S. 212 f.).

Auch Bürklin hat in einem seiner Aufsätze eine Lebenszyklus- und eine Generationenthese als alternative Erklärungsansätze für die Wahl der Grünen gegenübergestellt (Bürklin 1987, S. 111). Allerdings bezog er den Begriff der Lebenszyklusthese auf die oben bereits beschriebene Aufstiegsblockade des akademischen Nachwuchses Anfang der 1980er-Jahre. Hier handelt es sich aber letztlich um eine spezifische historische „Makrokonstellation“ (Alber 1985, S. 220), von der eine bestimmte Altersgruppe in besonderer Weise betroffen war und nicht um einen Lebenszykluseffekt, der unabhängig von konkreten historischen Umständen dauerhaft beobachtbar sein sollte. Die Generationenthese interpretierte Bürklin zudem als einen sich anbahnenden Wandel grundlegender politischer Prioritäten, der alle nachwachsenden Generationen betrifft und nicht nur die „Ökopax-Generation“. Bürklin sah durch seine Analysen die von ihm so genannte Lebenszyklusthese bestätigt, ohne die Generationenthese aber tatsächlich empirisch getestet zu haben.

2.2 Die Grünen als Partei der nachwachsenden Generationen

Mit dem Erscheinen des Aufsatzes „Das Ergrauen der Grünen“ von Wilhelm Bürklin und Russell J. Dalton beginnt im Jahr 1994 die zweite Phase der Diskussion über die Wählerschaft der Grünen (Bürklin und Dalton 1994). Ausgangspunkt war der zuvor schon von anderen Autoren berichtete Befund, dass sich das durchschnittliche Alter der Wählerinnen und Wähler der Grünen im Zeitverlauf erhöht hatte, sie also „mit der Partei gealtert“ (Poguntke 1993b, S. 196) waren (vgl. auch Veen und Hoffmann 1992, S. 98–102; Poguntke 1993a, S. 53 f.). Nicht eingetreten war folglich der vorhergesagte „inevitable decline of the greens“ (Bürklin 1987, S. 109). Dies wurde von Bürklin und Dalton dahingehend interpretiert, „daß die Unterstützung der Grünen als generationales Phänomen verstanden werden muß“ (Bürklin und Dalton 1994, S. 280). Die besondere Bedeutung des Aufsatzes für die wissenschaftliche Diskussion ist darin zu sehen, dass Bürklin sich mit ihm von seiner bisherigen, durchaus einflussreichen Argumentation abwandte: „Der dominante Charakter der Grünen liegt weder auf der 1968er Protestgeneration … noch auf der lebenszyklischen Aufstiegsblockierung der in den 1980er-Jahren jungen Akademikerschaft …, sondern weist deutliche Züge eines Wandels politischer Generationen auf“ (Bürklin und Dalton 1994, S. 297).

Ebenso gravierend wie die Sichtweise auf die Mechanismen hinter der Wahl der Grünen veränderte sich nun auch die Prognose für die Zukunft der Partei. Nachdem zuvor deren unausweichlicher Niedergang vorhergesagt worden war, wird nun im Zuge des generationalen Austauschs „sogar ein weiteres Anwachsen der Wählerbasis der Grünen erwartet“ (Bürklin und Dalton 1994, S. 270).

Hervorzuheben ist an dieser Stelle allerdings, dass die Generationen- oder Kohortenthese bereits seit den frühen 1980er-Jahren in der akademischen Diskussion präsent war. Dass die Grünen als Produkt eines intergenerationalen Wertewandels von materialistischen zu postmaterialistischen Werten angesehen werden können, wurde vor allem von Ronald Inglehart (1983) mit Nachdruck vertreten (vgl. auch Baker et al. 1981). Durchsetzen konnte sich diese Deutung im deutschen wahlsoziologischen Diskurs aber zunächst nicht. Ursächlich hierfür ist vermutlich gewesen, dass sie in der Frühphase der Grünen empirisch nicht überprüfbar war, da man für die Separierung von Lebenszyklus- und Generationseffekten Längsschnittdaten mit einer hinreichend langen zeitlichen Spannweite benötigt, die in den 1980er-Jahren noch nicht zur Verfügung standen (Bürklin und Dalton 1994, S. 297).

Den ersten Versuch, die Wahl der Grünen auf der Grundlage einer längsschnittlichen Datenbasis zu untersuchen, stellt der Aufsatz „Grau in Grau“ von Markus Klein und Kai Arzheimer aus dem Jahr 1997 dar, in dem kumulierte Umfragedaten für den Zeitraum 1980–1996 analysiert werden. Klein und Arzheimer knüpften explizit an den Aufsatz von Bürklin und Dalton an und gehen der Frage nach, „ob das ‚Ergrauen‘ der grünen Wähler womöglich primär das ‚Ergrauen‘ der grünen Partei reflektiert und nicht, wie Bürklin und Dalton dies annehmen, das Ergebnis eines Kohorteneffektes darstellt“ (Klein und Arzheimer 1997, S. 670 f.). Hintergrund dieser Fragestellung ist die seit Mitte der 1980er-Jahre zu beobachtende „zunehmende Pragmatisierung“ (Bürklin und Dalton 1994, S. 267) der Programmatik und des konkreten politischen Handelns der grünen Partei. Diese könnte nach Klein und Arzheimer „eine notwendige Voraussetzung für ihren Einbruch in ältere Wählerschichten“ (Klein und Arzheimer 1997, S. 650) dargestellt haben. In ihren empirischen Analysen untersuchen sie daher „die Alterseffekte der Wahl der Grünen unter gleichzeitiger Kontrolle des sich über die Zeit verändernden programmatischen Profils der grünen Partei“ (Klein und Arzheimer 1997, S. 651) und versuchen dabei Interaktionen zwischen dem Alter und dem programmatischen Profil aufzudecken. Empirisch können sie einen Lebenszykluseffekt dahingehend nachweisen, dass jüngere Menschen häufiger die Grünen wählen als ältere. Die Stärke dieses Effekts schwächt sich aber mit der realpolitischen Ausrichtung der Grünen ab, d. h. die Grünen gewinnen nun für ältere Wahlberechtigte an Attraktivität. Gleichzeitig verbessert die realpolitische Neuausrichtung der Grünen aber auch ihre Wahlchancen bei allen anderen Wahlberechtigten. Schließlich konnten außerdem „kohortenspezifische Mechanismen der Grünen-Wahl“ (Klein und Arzheimer 1997, S. 671) nachgewiesen werden, in dem Sinne, dass nachwachsende Generationseinheiten eine höhere Affinität für die Grünen haben.

Der zentrale Verdienst des Beitrags von Klein und Arzheimer ist darin zu sehen, dass in ihm erstmals ein Versuch zur Separierung von Lebenszyklus- und Generationseffekten auf die Grünen-Wahl unternommen wurde, auch wenn dieser methodisch kritikwürdig ist, da die Kohortenzugehörigkeit nur indirekt im Modell berücksichtigt wurde (Müller 1998, S. 25; Kohler 1998). Darüber hinaus machte der Beitrag darauf aufmerksam, dass Generations- und Lebenszykluseffekte sich nicht notwendigerweise wechselseitig ausschließen, sondern auch überlagern können.

2.3 Die Grünen als Partei der sozialen und kulturellen Dienstklasse

Kurz nach dem Aufsatz von Klein und Arzheimer erschien 1998 eine Analyse von Walter Müller, die sich mit dem „Wandel der Klassenspaltung im Wahlverhalten“ beschäftigte und weite Beachtung fand. Müller versuchte in dieser Abhandlung zu zeigen, „daß auch die sog. Neue Politik über die Kohortendifferenzierung hinaus in einem erheblichen Umfang eine klassenstrukturelle Grundlage hat“ (Müller 1998, S. 6).Footnote 3 Dass die erwerbsstrukturellen Hintergründe der Wahl der Grünen erst relativ spät einer detaillierten Analyse unterzogen wurden, erklärt sich vermutlich daraus, dass ein großer Teil der grünen Wählerinnen und Wähler bis Mitte der 1980er-Jahre als Schülerinnen und Schüler, Studierende, Auszubildende oder Arbeitslose außerhalb der Erwerbssphäre standen. Erst im Zuge des Alterns der Wählerschaft und ihres Einrückens in das Erwerbsleben bildete sich dann ein klares klassenstrukturelles Profil des grünen Elektorats heraus.

In seiner Analyse differenzierte Müller „Goldthorpes Dienstklasse in drei Segmente …: die administrative Dienstklasse, die Experten sowie … [die] Berufe in den sozialen und kulturellen Diensten“ (Müller 1998, S. 3). Die soziale und kulturelle Dienstklasse als Teilgruppe des Neuen Mittelstands bildet dabei seiner Ansicht nach „eine Art sozialstrukturellen Kern einer interessenbasierten Wahl der Grünen“ (Müller 2000, S. 790). Sie wird gebildet aus Beschäftigten in den Bereichen „medizinische Versorgung, Bildung, Sozialarbeit, verschiedenen Dienste im Bereich der kulturellen Aktivitäten, der Künste, der Medien etc.“ (Müller 1998, S. 8), die in besonderer Weise durch „den Austausch mit Klienten und die entsprechenden Sorgenormen“ (Müller 1998, S. 8) geprägt seien. Aus der Tatsache, dass die Effekte der Zugehörigkeit zur sozialen und kulturellen Dienstklasse auf die Grünen-Wahl in seinen Modellen auch bei Kontrolle des Postmaterialismus erhalten blieben, folgerte er, dass die Berufsgruppenzugehörigkeit nicht im Sinne einer Art „Selbstselektion“ (Müller 1998, S. 34) einfach die Wertorientierungen der Menschen widerspiegelt, wie dies beispielsweise von Inglehart (1990, S. 67) behauptet wurde, sondern vielmehr einen „ausgeprägten eigenständigen Effekt“ (Müller 1998, S. 41) auf die Wahlentscheidung besitzt. Allerdings erscheint die Behauptung, dass die Studienfach- und die spätere Berufswahl eines Menschen weitgehend unabhängig von seinen grundlegenden Wertorientierungen erfolgen soll, einigermaßen unrealistisch. Und tatsächlich verschwindet in einer Analyse von Wolfgang Rüdig zur Bundestagswahl 2009 der Effekt der Zugehörigkeit zu den „social and cultural service professionals“ (Rüdig 2012, S. 118) auf die Wahl der Grünen, wenn für politische Einstellungen und Wertorientierungen kontrolliert wird. Im Hinblick auf die klassenstrukturelle Bedingtheit der Grünen-Wahl besteht folglich noch weiterer Forschungsbedarf.

Müllers Analysen basieren ebenso wie die Analysen von Klein und Arzheimer auf kumulierten Umfragedaten, in seinem Fall für den Zeitraum 1976–1994. In einer späteren „Reanalyse“ schrieb er die Analyse dann bis zum Jahr 1998 fort (Müller 2000). Seine Datenbasis erfüllte also die notwendigen Voraussetzungen für die simultane Analyse von Lebenszyklus- und Generationseffekten. Tatsächlich aber wurde das Alter in Müllers Modellen nicht als Prädiktor berücksichtigt (Müller 1998, S. 15), während gleichzeitig die Einteilung der Geburtskohorten theoretisch unterkomplex blieb (Müller 1998, S. 15 f.). Müller richtete in seiner Analyse also den Blick auf die klassenstrukturelle Bedingtheit der Wahlentscheidung, ohne aber gleichzeitig systematisch an den bisherigen Forschungsstand zur Wählerschaft der Grünen anzuknüpfen. Dies soll im Rahmen des vorliegenden Beitrags nachgeholt werden.

2.4 Die Grünen als Partei der Jugend und der Generation(en) ihrer Gründer

Die erste vollwertige APK-Analyse der Wahlentscheidung zugunsten der Grünen wurde im Jahr 2009 veröffentlicht (Klein 2009). Sie leitete eine neue Phase der Diskussion über die Wählerschaft der Grünen ein, weil ihre Ergebnisse das Bild von den Grünen als Partei der nachwachsenden Generationen entscheidend modifizierten.Footnote 4

Unter dem Begriff der APK-Analyse wird die gleichzeitige Berücksichtigung des Alters, der Periode und der Kohorten- oder Generationszugehörigkeit im Rahmen eines multivariaten Erklärungsmodells verstanden. In den zuvor veröffentlichten multivariaten Analysen der Wahl der Grünen waren entweder nur das Alter und die Periode (Klein und Arzheimer 1997) oder aber die Kohortenzugehörigkeit und die Periode (Müller 1998, 2000) berücksichtigt worden. Die zu einer vollständigen APK-Analyse jeweils fehlende Variable wurde in beiden Fällen nur durch Surrogatvariablen erfasst. Ursächlich für dieses Vorgehen mag gewesen sein, dass APK-Analysen mit einigen nicht trivialen methodischen Problemen behaftet sind (vgl. hierzu Abschn. 3.2 dieses Beitrags).

Die Datengrundlage der Analysen von Klein (2009) bildeten die kumulierten ALLBUS-Erhebungen der Jahre 1980–2006. Für West- und Ostdeutschland wurden jeweils getrennte Modelle geschätzt, da die in der wissenschaftlichen Diskussion präsentierten Erklärungsansätze zunächst für die alte Bundesrepublik entwickelt worden waren und deshalb nicht unbesehen auf die neuen Bundesländer übertragen werden konnten. Der Vergleich der Befunde für die beiden Landesteile diente bei einigen Erklärungsansätzen außerdem als eine Art zusätzlicher empirischer Test: „So sollten sich beispielsweise Effekte der generationalen Prägung durch APO und Neue Soziale Bewegungen nur im Westen aber nicht im Osten nachweisen lassen“ (Klein 2009, S. 441 f.). Die neuen Bundesländer wurden in der Analyse folglich als eine Art „Kontrastfolie“ (Klein 2009, S. 441) genutzt.

Die Ergebnisse der empirischen Analysen weisen dann in der Tat deutliche Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland auf: In den alten Bundesländern zeigen sich neben einem erwartungskonformen Lebenszykluseffekt generationenspezifische Muster, wobei diese nur auf die APO-Generation und die Generation der Neuen Sozialen Bewegungen zurückgehen. Nur diese und nicht alle nachwachsenden Generationseinheiten weisen eine erhöhte Affinität zur Wahl der Grünen auf. Die Grünen können in Westdeutschland folglich plakativ als Partei der Jugend und der Generation(en) ihrer Gründer bezeichnet werden. Bei den Befragten aus den Neuen Bundesländern hingegen lassen sich weder lebenszyklische noch generationenbezogene Effekte nachweisen. In beiden Landesteilen zeigen sich Effekte der Bildung und des Postmaterialismus, die jeweils den theoretischen Erwartungen entsprechen. Bei Kontrolle des Postmaterialismus verschwinden im Westen allerdings die Generationseffekte, was dahingehend zu interpretieren ist, dass diese ursprünglich auf die höhere Verbreitung postmaterialistischer Wertorientierungen in den betreffenden Generationen zurückzuführen waren.

Die Prognose für die Zukunft der Grünen fällt bei Klein nicht mehr ganz so optimistisch aus: „Die Grünen können … nicht auf ein in der Generationensukzession stetig wachsendes Wählerpotential hoffen. Kurz- bis mittelfristig kann das Wählerpotential der Grünen vielmehr als in der Tendenz stabil angenommen werden. In langer Frist wird das Ableben der Angehörigen der APO-Generation und der Generation der Neuen Sozialen Bewegungen das Wählerpotential der Grünen verringern“ (Klein 2009, S. 449).

Die Arbeit von Klein (2009) weist allerdings eine ganze Reihe von Schwächen auf. So wird in ihrem Rahmen das Geschlecht nicht als Kontrollvariable berücksichtigt, obgleich sich der Anteil von Frauen in der grünen Wählerschaft im Zeitverlauf stetig erhöht (Rüdig 2018, S. 943). Darüber hinaus wird der Alterseffekt linear modelliert, was im Widerspruch zu der Annahme steht, dass die durch die Kumulation privater und beruflicher Verantwortungsrollen ausgelösten lebenszyklischen Zwänge eines Individuums in der Lebensmitte am größten sind (Klein und Arzheimer 1997, S. 653). Schließlich knüpfte Klein in seinen Modellen auch nicht an die von Müller angestoßene Diskussion um die klassenstrukturellen Grundlagen der Grünen-Wahl an (Müller 1998, 2000), obgleich er mit denselben Daten arbeitete.

Seit der Analyse von Klein (2009) ist keine weitere APK-Analyse der Wählerschaft der Grünen mehr veröffentlicht worden. Güllner (2012, S. 103) beschränkt sich in seinen Analysen auf die Beschreibung der Entwicklung der altersmäßigen Zusammensetzung der Wählerschaft der Grünen (Güllner 2012, S. 89–92) sowie auf die Schätzung des Alterseffekts auf die Wahl der Grünen im Rahmen einer Querschnittsanalyse (Güllner 2012, S. 103). Generationseffekte hingegen untersucht er nicht. Demgegenüber gibt Andreas Stifel (2018) zwar vor, Generationseffekte zu analysieren, kann mit seinen multivariaten Analysen von Querschnittsdaten diese aber letztlich nicht von Lebenszykluseffekten trennen (Stifel 2018, S. 143–148).

2.5 Schlussfolgerungen für die Konzeption der eigenen empirischen Analyse

Die Grünen haben in den letzten Jahren deutlich an Unterstützung in der deutschen Bevölkerung gewonnen. Dies steht im Widerspruch zur Prognose von Klein (2009), der eine Stagnation der grünen Stimmenanteile vorausgesagt hatte. Vor diesem Hintergrund soll im vorliegenden Beitrag erneut eine APK-Analyse der grünen Wählerschaft präsentiert werden, um die Gültigkeit der älteren Befunde zu überprüfen. Diese Analyse kann sich nun auf einen Untersuchungszeitraum von insgesamt 38 Jahren stützen, 12 Jahre mehr als noch in der Analyse von Klein (2009). Dies ist insofern vorteilhaft, als die Separierung von Alters‑, Perioden- und Generationseffekten umso verlässlicher gelingen sollte, je länger die den Analysen zugrunde liegende Zeitreihe ausfällt. Dies gilt umso mehr, wenn Lebenszyklus- und Generationseffekte gleichzeitig auftreten. Ein weiterer Grund für die erneute Durchführung einer APK-Analyse der grünen Wählerschaft ist in der Tatsache zu sehen, dass mit der Hierarchischen APK-Analyse (HAPK) nunmehr ein neuartiges Analyseverfahren zur Verfügung steht, das verlässlichere Ergebnisse verspricht (Lois 2019).

In der hier präsentierten Analyse soll außerdem eine Reihe von Fehlern korrigiert werden, die bei früheren Analysen gemacht wurden: So wird im Modell für das Geschlecht und die klassenstrukturelle Verortung der Befragten kontrolliert. Letzteres ermöglicht eine Überprüfung der Befunde von Müller (1998, 2000) im Rahmen eines umfassenden Modells der Grünen-Wahl. Darüber hinaus wird der Alterseffekt nunmehr nichtlinear modelliert. Gleichzeitig werden Auswertungsstrategien, die sich in der Vergangenheit als sinnvoll erwiesen haben, in der Analyse beibehalten. So werden beispielsweise erneut für West- und Ostdeutschland getrennte Analysen durchgeführt.

3 Methodik

3.1 Datenbasis

Die nachfolgend berichteten empirischen Analysen wurden auf der Grundlage der Erhebungen der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) durchgeführt. Im Rahmen des ALLBUS-Programms wurde zwischen 1980 und 2018 alle zwei JahreFootnote 5 eine repräsentative Bevölkerungsumfrage mit wechselnden Themenschwerpunkten in Form persönlicher Face-to-face-Interviews durchgeführt.Footnote 6 Im Jahr 2020 erfolgte coronabedingt keine Erhebung.Footnote 7 Die Daten der ALLBUS-Erhebungen 1980-2018 werden von der GESIS in Form eines kumulierten Datensatzes zur Verfügung gestellt.Footnote 8 Dieser liegt den im Folgenden berichteten empirischen Analysen zugrunde. Er umfasst insgesamt 21 Erhebungszeitpunkte und ca. 68.000 Befragte. Für die Auswertung wurden die Daten mit dem Transformationsgewicht gewichtet, um die zu einigen Erhebungszeitpunkten vorhandene Überrepräsentation von Einpersonenhaushalten auszugleichen. Die Codierung der im Rahmen der Analyse verwendeten Variablen ist im Anhang des Beitrags dokumentiert.

3.2 Logik der HAPK-FC-Analyse

Die simultane statistische Analyse von Alters‑, Perioden- und Kohorteneffekten wird als APK-Analyse bezeichnet. Unter Alterseffekten versteht man Auswirkungen des chronologischen Alters einer Person auf den zu erklärenden Sachverhalt. Diese Alterseffekte werden in aller Regel durch mit dem Prozess des Alterns verbundene biologische, soziale und psychologische Veränderungen verursacht. Mit dem Begriff des Periodeneffekts werden Einflüsse des Erhebungszeitpunkts und der mit ihm verknüpften konkreten historischen Ereignisse bezeichnet, die auf alle Menschen in gleicher Weise wirken. Kohorteneffekte schließlich sind Wirkungen, die von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Geburtskohorte ausgehen. Erfolgt die Kohorteneinteilung in Anlehnung an bestimmte prägende historische Phasen, so spricht man in diesem Zusammenhang auch von Generationseffekten.

Die Durchführung von APK-Analysen verlangt notwendigerweise Längsschnittdaten. Auf der Grundlage von Querschnittsdaten kann keine Effektseparierung erfolgen, da sich in diesem Fall das Alter eindeutig aus dem Geburtsjahr ergibt. Die Alters- und die Kohortenvariable beinhalten folglich die gleichen Informationen. Nicht sehr viel anders stellt sich die Situation dar, wenn zwar Längsschnittdaten vorhanden sind, diese aber in Form sogenannter Standardkohortentabellen (Glenn 1977) aufbereitet werden, wie dies in der Forschung lange Zeit üblich war (Bürklin und Dalton 1994, S. 274). Auch hier ist es zunächst nicht möglich, die Effekte von Alter, Periode und Kohorte voneinander zu trennen, da sich jede der drei Variablen als perfekte Linearkombination der anderen beiden darstellen lässt. Man verfügt also für die Schätzung der Effekte von drei Variablen letztlich nur über zwei voneinander unabhängige Informationsquellen. Dies wird als das sog. Identifikationsproblem bezeichnet.

Vor diesem Hintergrund ging man lange Zeit davon aus, dass sich Alters‑, Perioden- und Kohorteneffekte nicht voneinander trennen lassen (Glenn 1976). Legt man den in einem APK-Modell zu schätzenden Effekten allerdings kleinere Restriktionen auf, kann auch auf der Grundlage von Standardkohortentabellen eine Effektseparierung gelingen (Jagodzinski 1984). Darüber hinaus haben sich die Möglichkeiten zur Durchführung von APK-Analysen grundlegend geändert, seit längerfristige Umfragereihen verfügbar sind, deren Daten zu einem einzigen Datensatz kumuliert werden können. Auf der Grundlage solcher Daten erfolgt die Effektschätzung nun nicht mehr wie bei der Analyse von Standardkohortentabellen auf aggregierter, sondern auf individueller Ebene. Dies ermöglicht es, die Altersgruppen und Geburtskohorten unabhängig vom Abstand der Erhebungszeitpunkte einzuteilen. Dadurch wird auf Ebene der Befragten die perfekte Kollinearität der drei Variablen durchbrochen und somit eine Schätzung der Effekte von Alter, Periode und Kohorte möglich, auch wenn zwischen diesen drei Prädiktoren weiterhin Multikollinearität vorhanden ist.

Ältere APK-Analysen auf der Grundlage von Umfragedaten berücksichtigen im Rahmen der statistischen Auswertung neben dem Alter und der Kohorten- oder Generationszugehörigkeit die Erhebungszeitpunkte in Form von Dummy-Variablen (so z. B. Klein 2009). Dies ist aber insofern unangemessen, als der Erhebungszeitpunkt kein Merkmal der einzelnen Befragten ist. Vielmehr sind diejenigen Befragten, die zeitgleich interviewt wurden, gemeinsam eingebettet in den spezifischen historischen Kontext des Erhebungszeitpunkts. In der sogenannten Hierarchischen APK-Analyse (HAPK) werden daher die Erhebungszeitpunkte im Rahmen einer Mehrebenenanalyse als Einheiten zweiter Ebene behandelt (Yang und Land 2013). In der ursprünglichen Variante dieser HAPK-Modelle wurden auch die Kohorten in einem kreuzklassifizierten Mehrebenenmodell als Einheiten der zweiten Ebene behandelt. Neuere Analysen haben allerdings gezeigt, dass letzteres zu verzerrten Schätzergebnissen führt (Bell und Jones 4,5,a, b, 2015, 2018). In der HAPK-Fixed-Cohort-Analyse (HAPK-FC) wird die Kohortenzugehörigkeit daher wieder zu einer Level-1-Variable mit fixem Effekt (Lois 2019). Ein solches HAPK-FC-Modell werden wir im Rahmen unserer empirischen Analysen der Determinanten der Wahl der Grünen schätzen.

4 Empirische Analysen

4.1 Die Entwicklung der Wahlabsicht zugunsten der Grünen

In Abb. 1 ist zunächst die Entwicklung der Wahlabsicht zugunsten der Grünen in West- und Ostdeutschland zwischen 1980 und 2018 dargestellt. Die Wahlabsicht wurde über die klassische Sonntagsfrage erfasst. Die Prozentuierung erfolgte auf Basis der Wahlberechtigten, um den Rückhalt der Grünen in der Bevölkerung insgesamt analysieren zu können. In Westdeutschland lässt sich ein klarer Aufwärtstrend erkennen. Während der Stimmenanteil der Grünen im Jahr 1980 bei nur 5,8 % lag, steigt er bis zum Jahr 2018 auf 21,3 % an. Darüber hinaus gibt es zwei lokale „Peaks“ in den Jahren 1996 und 2010, die sich relativ eindeutig mit konkreten historischen Ereignissen in Verbindung bringen lassen. Der Anstieg im Jahr 1996 ist aller Wahrscheinlichkeit nach auf den Protest gegen die Castor-Transporte und die gescheiterten Atomkonsensgespräche zurückzuführen, die den Anti-Atom-Kurs der Grünen wieder stärker in die öffentliche Aufmerksamkeit treten ließen. Der gleiche Mechanismus bewirkte vermutlich den Peak im Jahr 2010. In diesem Jahr fällt die Entscheidung der schwarz-gelben Bundesregierung, die Laufzeit der deutschen Atomkraftwerke wieder zu verlängern und dadurch den von der rot-grünen Vorgängerregierung auf den Weg gebrachten Atomausstieg zumindest teilweise auszuhebeln.Footnote 9 Außerdem spielte im Jahr 2010 der Widerstand gegen das Projekt Stuttgart 21 in der Medienberichterstattung eine große Rolle. Der Verlauf der Wahlabsicht zugunsten der Grünen in Westdeutschland deutet also auf die Existenz starker Periodeneffekte hin.

Abb. 1
figure 1

Die Entwicklung der Wahlabsicht zugunsten der Grünen in West- und Ostdeutschland zwischen 1980 und 2018 (Angaben in Prozent der Wahlberechtigten). (Datenbasis: Kumulierte ALLBUS-Erhebungen 1980–2018)

Deutlich anders der Kurvenverlauf in Ostdeutschland. Hier startet die Unterstützung für die Grünen im Jahr 1991 ungefähr auf dem Niveau Westdeutschlands. Sehr schnell aber sinkt die Unterstützung auf ein Niveau, das durchgängig etwa 5 Prozentpunkte niedriger liegt als in Westdeutschland. Zum Ende des Beobachtungszeitraums entwickeln sich die beiden Kurven dann deutlicher auseinander. Im Jahr 2018 liegt die Wahlbereitschaft zugunsten der Grünen im Westen mehr als 10 Prozentpunkte höher als im Osten. Ein klarer Trend lässt sich in den Neuen Bundesländern in der Entwicklung der Wahlbereitschaft zugunsten der Grünen im Zeitverlauf nicht erkennen. Hierbei ist allerdings in Rechnung zu stellen, dass die Wahrnehmung der Grünen in Ostdeutschland zu Beginn noch sehr stark durch die Bürgerrechtspartei Bündnis90 geprägt war und sich der Fokus erst in den Jahren danach auf die gesamtdeutschen Grünen verschob.

In Abb. 2 ist getrennt für West- und Ostdeutschland die Entwicklung der Wahlbereitschaft zugunsten der Grünen in den verschiedenen Altersgruppen dargestellt. Um die Veränderung grundlegender Strukturen besser erkennen zu können und die Volatilität der Zeitreihen infolge von Periodeneffekten zu dämpfen, wurden die ALLBUS-Erhebungen in den einzelnen Dekaden des Untersuchungszeitraums jeweils zusammenfasst.

Abb. 2
figure 2

Die Entwicklung der Wahlabsicht zugunsten der Grünen in den verschiedenen Altersguppen über die letzten vier Dekaden (Angaben in Prozent der Wahlberechtigten). a Westdeutschland. b Ostdeutschland. (Datenbasis: Kumulierte ALLBUS-Erhebungen 1980–2018)

In Westdeutschland zeigen sich im Zeitverlauf gravierende Veränderungen in der Affinität der verschiedenen Altersgruppen zu den Grünen. In den 1980er-Jahren lässt sich ein klarer Alterseffekt beobachten. Je jünger die Altersgruppe, umso höher der Stimmenanteil der Grünen. Bei den über 35-Jährigen sinkt die Unterstützung für die Grünen dabei deutlich ab. Dies entspricht einer Beobachtung von Bürklin aus dem Jahr 1987, der eine „dividing line lying somewhere around the age of 35“ (Bürklin 1987, S. 114) sah. In den 1990er-Jahren bleibt die Grundstruktur des Alterseffekts zwar erhalten, der Stimmenanteil in der Gruppe der 35- bis 49-Jährigen steigt nun aber von 5,5 auf 12,4 % an. Eine grundlegend veränderte Struktur der Alterseffekte scheint dann in den 2000er-Jahren auf. Der Stimmenanteil der Grünen ist jetzt bei den 35- bis 49-Jährigen am höchsten, knapp gefolgt von den 25- bis 34-Jährigen und den 18- bis 24-Jährigen. In der Altersgruppe der 50- bis 64-Jährigen steigt die Unterstützung für die Grünen zudem von 5,1 auf 9,1 % an. In den 2010er-Jahren haben sich dann die Unterschiede in der Unterstützung der Grünen bei den Altersgruppen unter 65 Jahren bei ca. 20 % nahezu eingeebnet. Erstmals lässt sich in den 2010er-Jahren nun auch bei den über 65-Jährigen eine nennenswerte Unterstützung der Grünen beobachten. Der Stimmenanteil steigt hier von 3,4 auf 10,7 %. Die Veränderung der Alterseffekte in Westdeutschland entspricht damit in der Gesamtschau fast idealtypisch dem, was man erwarten würde, wenn die Unterstützung für die Grünen in der Generationenfolge ansteigt. Auf der Grundlage von Abb. 2 kann aber noch nicht ausgeschlossen werden, dass zusätzlich auch Lebenszykluseffekte existieren.

In Ostdeutschland stellt sich das Bild etwas anders dar. Hier lässt sich durchgängig ein in seiner Grundstruktur nahezu stabiler Alterseffekt dahingehend beobachten, dass je jünger die Altersgruppe ist, umso höher die Unterstützung für die Grünen. Insgesamt betrachtet sind die Unterschiede zwischen den Altersgruppen außerdem nicht so ausgeprägt wie im Westen der Republik. In der Gesamtschau lässt sich die Altersabhängigkeit der Grünen-Wahl in Ostdeutschland auf der Grundlage dieser Darstellung am ehesten im Sinne eines moderaten Lebenszykluseffekts interpretieren.

In Abb. 3 ist für West- und Ostdeutschland die Entwicklung der Unterstützung der Grünen in den verschiedenen Generationen abgetragen. Die vor dem Hintergrund der westdeutschen Gesellschaftsgeschichte entwickelte Generationseinteilung wurde von Lois (2019) übernommen, der wiederum an die Einteilung von Klein und Pötschke (2004) anknüpfte und diese weiterentwickelte. Im Rahmen dieser Einteilung wird zwischen den folgenden Generationen unterschieden: der Vorkriegsgeneration (bis 1921 geboren), der Kriegs- bzw. Nachkriegsgeneration (1922–1934 geboren), der Adenauer-Generation (1935–1945 geboren), der APO-Generation (1946–1953 geboren), der Generation der Neuen Sozialen Bewegungen (1954–1964 geboren), der Generation Golf (1965–1975 geboren), sowie der Generation Y (1976 und später).Footnote 10

Abb. 3
figure 3

Die Entwicklung der Wahlabsicht zugunsten der Grünen in den verschiedenen Generationen über die letzten vier Dekaden (Angaben in Prozent der Wahlberechtigten). a Westdeutschland. b Ostdeutschland. (Abgetragen sind nur Anteilswerte, die auf der Grundlage von mindestens 100 Fällen berechnet werden konnten. Datenbasis: Kumulierte ALLBUS-Erhebungen 1980–2018)

In Westdeutschland lassen sich im Zeitverlauf stabile Unterschiede zwischen den Generationen beobachten. In der Tendenz gilt dabei, dass je jünger die Generation, desto höher die Unterstützung der Grünen, wobei die APO-Generation die erste Generation mit einer deutlich erhöhten Wahlbereitschaft zugunsten der grünen Partei ist. Am höchsten liegt die Unterstützung der Grünen dann bei den drei jüngsten Generationen. Diese unterscheiden sich in den 2000er- und 2010er-Jahren nur noch marginal. Allerdings gibt es eine Auffälligkeit in Bezug auf die Generation Y. In den 1990er-Jahren weist diese mit 27,5 % eine deutlich erhöhte Bereitschaft zur Wahl der Grünen auf, die erst in den Folgedekaden auf das Niveau ihrer beiden Vorgängergeneration sinkt. Dies könnte einen zusätzlich zu den Generationsunterschieden existierenden Lebenszykluseffekt reflektieren, da die Mitglieder der Generation Y in den 1990er-Jahren maximal 22 Jahre alt sein konnten. Auffällig ist darüber hinaus, dass die Unterstützung für die Grünen in allen Generationen, insbesondere aber in der Kriegs- oder Nachkriegsgeneration und der Adenauer-Generation, in den 2010er-Jahren merklich steigt.

Auch in Ostdeutschland gilt, dass je jünger die Generation, desto höher die Unterstützung für die Grünen. Die Unterschiede zwischen den Generationen fallen hier aber deutlich schwächer aus als in Westdeutschland. Dies ist zunächst nicht weiter verwunderlich, da die verwendete Generationeneinteilung ja in erster Linie die westdeutsche Gesellschaftsgeschichte reflektiert. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Verwendung einer an die DDR-Geschichte angelehnten Generationseinteilung, wie beispielsweise die von Meulemann (2003) vorgeschlagene, Vorteile gebracht hätte. Denn die Logik dieser Generationseinteilung weist keinerlei Bezug zur Geschichte der grünen Partei auf. Es hätte sich dann die Frage gestellt, ob man für die Generation der „Phase der Verfestigung der DDR“ eine höhere oder eine niedrigere Bereitschaft zur Wahl der Grünen erwartet hätte als für die Generation der „Etablierung der DDR“.Footnote 11 Dann erscheint es aber in der Tat sinnvoller, die westdeutsche Generationseinteilung zu verwenden, da eine Art „Passivsozialisation“ durch den Konsum von West-Fernsehen und die Beobachtung der Bundesrepublik als positiver Systemalternative nicht auszuschließen ist. Hinzu kommt, dass eine geringere Erklärungskraft der Generationseinteilung in Ostdeutschland im Vergleich zu Westdeutschland ein zusätzlicher Beleg für die Tauglichkeit der Generationseinteilung in Westdeutschland sein kann (Klein 2009). Dass sich auch in Ostdeutschland Unterschiede zwischen den (westdeutschen) Generationen finden lassen, ist letztlich aber wohl vor allem darauf zurückzuführen, dass sich einige für die Wahl der Grünen relevante Prozesse des intergenerationalen sozialen Wandels wie die Bildungsexpansion und der Wertewandel, zumindest in abgeschwächter Form, auch in Ostdeutschland vollzogen haben.

4.2 HAPK-FC-Analyse der Wahl der Grünen

In Tab. 1 sind die Ergebnisse logistischer Mehrebenenanalysen zur Erklärung einer Wahlentscheidung zugunsten der Grünen in Westdeutschland dokumentiert. Um die verschiedenen hierarchisch verschachtelten Modelle angemessen miteinander vergleichen zu können, sind die Effekte der unabhängigen Variablen in Form von Average Marginal Effects dokumentiert (vgl. hierzu Best und Wolf 2012). Modell 1, das zunächst nur die Erhebungszeitpunkte als Level-2-Einheiten berücksichtigt, verweist auf die Existenz von substanziellen Periodeneffekten, die sich an der signifikanten Varianz der Level-1-Konstanten über die Einheiten der zweiten Ebene hinweg ablesen lassen. Vor der Schätzung der vollständigen HAPK-FC-Analyse (Modell 4) wird in den Modellen 2 und 3 zunächst nur das Alter oder die Generationszugehörigkeit als weiterer Prädiktor herangezogen. Hierdurch wird Multikollinearität weitgehend vermieden. In Modell 2 zeigen sich klare Effekte dahingehend, dass mit steigendem Lebensalter eine geringere Neigung zur Wahl der Grünen einhergeht. In Modell 3 lässt sich beobachten, dass je jünger die Generation, umso höher die Neigung zur Wahl der Grünen. Mit der Generation Y setzt allerdings wieder ein leichter Rückgang ein. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Vergleich der Pseudo-R2-Werte der Modelle 2 und 3. Modell 2 weist ein Pseudo-R2 von 3,5 % auf, Modell 3 von 5,5 %. Die Generationszugehörigkeit ist also für die Erklärung der Wahl der Grünen wichtiger als das Lebensalter. Dies bestätigt sich auch noch einmal, wenn man die Verbesserung der Modellanpassung betrachtet, die die Hereinnahme des Alters oder der Generationszugehörigkeit in ein Modell bewirkt, das die jeweils andere Variable bereits enthält. Die zusätzliche Hereinnahme des Alters steigert das Pseudo-R2 dabei nur um 0,1 Prozentpunkte (Modell 4 im Vergleich zu Modell 3), während die zusätzliche Hereinnahme der Generationszugehörigkeit das Pseudo-R2 um 2,1 Prozentpunkte steigen lässt (Modell 4 im Vergleich zu Modell 2). Das Lebensalter scheint für die Wahl der Grünen folglich von eher untergeordneter Bedeutung zu sein.

Tab. 1 Logistische Mehrebenenanalysen zur Erklärung einer Wahlentscheidung zugunsten der Grünen (Westdeutschland 1980–2018)

Modell 4, auf das eben bereits implizit Bezug genommen wurde, ist dann das vollständige hierarchische APK-Modell mit fixen Effekten der Generationszugehörigkeit (HAPK-FC). Es zeigt sich, dass bei simultaner Schätzung von Alters‑, Perioden- und Kohorteneffekten vom Alter keine signifikanten Effekte mehr ausgehen, während die Struktur der Generationseffekte weitgehend erhalten bleibt. Die Lebenszyklusthese ist damit an dieser Stelle für Westdeutschland empirisch widerlegt. In Modell 5 werden zusätzlich die formale Bildung und die Wertorientierungen im Modell berücksichtigt. Würden nun die Generationseffekte ihre Signifikanz verlieren, so würde dies bedeuten, dass sie ausschließlich über das in der Generationenfolge steigende Bildungsniveau und/oder eine analoge Ausbreitung postmaterialistischer Werte zustande gekommen sind. Tatsächlich schwächen sich die Generationseffekte bei Kontrolle der Bildung und des Postmaterialismus aber nur ab, ohne gänzlich zu verschwinden. Der Generationszugehörigkeit kommt folglich eine eigenständige Erklärungskraft zu. Die Hereinnahme der formalen Bildung und der Wertorientierungen führt zu einer deutlichen Verbesserung der Modellanpassung, was auf die besondere Bedeutung dieser beiden Variablen für eine Wahlentscheidung zugunsten der Grünen verweist. Zur Vervollständigung der Analysen wurde in Modell 6 schließlich noch das Geschlecht berücksichtigt. Hier zeigt sich, dass Frauen auch bei Kontrolle aller anderen im Modell enthaltenen Variablen eine höhere Neigung zur Wahl der Grünen besitzen als Männer.

In Tab. 2 sind die Ergebnisse der gleichen logistischen Mehrebenenanalysen für Ostdeutschland dokumentiert. Sie sind in ihrer Struktur weitgehend identisch mit den Befunden für Westdeutschland. Allerdings fällt auf, dass die Generationseffekte hier deutlich schwächer ausfallen als in Westdeutschland. Die Generationseinteilung allein generiert ein Pseudo‑R2 von nur 2,4 % (Modell 3) und verbessert die Modellanpassung nur um 0,3 Prozentpunkte, wenn sie nach dem Lebensalter in das Modell eingeführt wird (Modell 4 im Vergleich zu Modell 2). Aus der Tatsache, dass sich die Generationseffekte mit der Einführung von Bildung und Wertorientierung in das Modell abschwächen und nur noch auf dem 5 %-Niveau signifikant sind, lässt sich außerdem ablesen, dass die mit den Generationen verbundenen historischen Prägungen für die Wahl der Grünen in Ostdeutschland von eher nachrangiger Bedeutung sind. Dies entspricht aber auch den theoretischen Erwartungen.

Tab. 2 Logistische Mehrebenenanalysen zur Erklärung einer Wahlentscheidung zugunsten der Grünen (Ostdeutschland 1991–2018)

In Tab. 3 sind schließlich HAPK-FC-Modelle dokumentiert, in deren Rahmen auch die klassenstrukturelle Verortung der Befragten berücksichtigt wurde. Dadurch wird an die Arbeit von Müller (1998) im Rahmen eines nunmehr strengeren Analysedesigns angeknüpft. Bei der Operationalisierung der Klassenzugehörigkeit wurde versucht, das Vorgehen von Müller (1998) möglichst exakt zu replizieren. Als Ausgangspunkt wurde folglich das CASMIN-Klassenschema herangezogen. Anschließend wurden die obere und die untere Dienstklasse zusammengefasst und in die von Müller unterschiedenen drei Fraktionen unterteilt (vgl. für weitere Details den Anhang). Ein Problem ergab sich dadurch, dass im Rahmen des ALLBUS das CASMIN-Klassenschema und die diesem zugrunde liegende ISCO 68-Klassifikation nur bis zum Jahr 2010 erhoben wurden. Danach konnte die von Müller verwendete Einteilung der Klassenstruktur nicht mehr repliziert werden. Die in Tab. 3 dokumentierten Analysen müssen sich daher auf den Zeitraum 1980–2010 (Westdeutschland) und 1991–2010 (Ostdeutschland) beschränken. Das Modell 6 in Tab. 3 ist zunächst eine Replikation von Modell 6 aus Tab. 2 für den nun kleineren Untersuchungszeitraum. Die substanziellen Befunde ändern sich durch die verkleinerte Datenbasis dabei nicht wesentlich.

Tab. 3 Hierarchische APK-Modelle mit fixen Generationseffekten (HAPK-FC) zur Erklärung der Wahlentscheidung für die Grünen mit Kontrolle der erwerbsstrukturellen Stellung (logistische Mehrebenenanalysen, Westdeutschland 1980–2010 sowie Ostdeutschland 1991–2010)

Modell 7, das zusätzlich die klassenstrukturelle Verortung berücksichtigt, bestätigt die Befunde von Müller: Auch in einem vollständigen APK-Modell mit zusätzlicher Kontrolle von Bildung, Postmaterialismus und Geschlecht lassen sich signifikante Effekte der Klassenstruktur nachweisen. In Westdeutschland neigen vor allem Angehörige der sozialen und kulturellen Dienstklasse zur Wahl der Grünen. In Ostdeutschland ergibt sich ein etwas anderes Bild. Hier neigen die Dienstklasse der Experten und die soziale und kulturelle Dienstklasse besonders stark zur Wahl der Grünen.

Eine interessante Beobachtung sowohl bei den Modellen für West- als auch bei den Modellen für Ostdeutschland besteht darin, dass sich durch die zusätzliche Berücksichtigung der klassenstrukturellen Verortung der Effekt des Postmaterialismus nur leicht abschwächt, während der Effekt der formalen Bildung etwas stärker zurückgeht. Die Zugehörigkeit zur sozialen und kulturellen Dienstklasse sowie zur Dienstklasse der Experten scheint also in erster Linie von der formalen Bildung einer Person abhängig zu sein und erst in zweiter Linie von ihren Wertorientierungen.

5 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Die Ergebnisse der in diesem Beitrag berichteten empirischen Analysen modifizieren das Wissen über die Mechanismen hinter der Wahl der Grünen in Deutschland. Ursache für die veränderten Befunde ist die deutlich verbesserte Datenbasis, die nunmehr einen Zeitraum von 38 Jahren umfasst. Die Grünen können angesichts der hier berichteten Befunde nicht länger als Partei der Jugend und der Generation[en] ihrer Gründer bezeichnet werden (Klein 2009), sondern müssen vielmehr (wieder) als Partei der nachwachsenden Generationen betrachtet werden. Das verändert auch die Prognose über die Zukunft der Grünen. Bislang war man mittelfristig von einer Stagnation der Unterstützung für die Grünen ausgegangen und in langer Perspektive aufgrund des unausweichlichen Ablebens der Gründergeneration(en) von einer Schrumpfung der grünen Wählerschaft. Nunmehr ist zu erwarten, dass sich die Unterstützung für die Grünen durch den Generationenaustausch mittelfristig sogar noch weiter erhöht, da die älteren Geburtskohorten mit ihrer nur geringen Affinität für die Grünen versterben und die nachwachsenden Geburtskohorten eine erhöhte Neigung zur Wahl der Grünen haben.

Drastisch verändert hat sich in den letzten Jahrzehnten das sozialstrukturelle Profil der grünen Wählerschaft. Die ursprünglich außerhalb der Erwerbssphäre stehenden Wähler der Grünen sind aufgrund ihres hohen Bildungsniveaus mit dem Eintritt in das Erwerbsleben zunehmend zu einem Teil des besserverdienenden Neuen Mittelstands geworden. Dass sie, wie unsere Analysen ebenfalls zeigen, besonders häufig in sinnproduzierenden Berufen der sozialen und kulturellen Dienstklasse sowie der Dienstklasse der Experten arbeiten, mag den Hintergrund für Güllners Lamento über eine vermeintliche „Grüne Diktatur“ (Güllner 2012, S. 135) bilden. So übertrieben und wirklichkeitsfremd Güllners Attacken auf die Grünen aber auch sein mögen, so richtig ist sein Befund, dass die Grünen und ihre Wähler aus der Nichtetabliertheit sukzessive in das Zentrum der Gesellschaft und das Zentrum der Macht gerückt sind. Dass die Grünen es vor der Bundestagswahl 2021 wagen konnten, eine eigene Kanzlerkandidatin zu nominieren, war insofern nicht das Ergebnis einer günstigen politischen Großwetterlage, sondern vielmehr Ausfluss eines langfristigen Erstarkens der grünen Partei.