Häufigkeit von Neuerungen und Innovationen
Nachfolgend soll das Repertoire der 22 Theater unseres Datensatzes für den Analysezeitraum (1995/96–2017/18) näher betrachtet werden: So ist die Anzahl aller Aufführungen pro Jahr von n = 5797 auf 5123 (−11,6 %) gesunken. Demgegenüber ist die Anzahl der mindestens einmal aufgeführten Theaterstücke von n = 361 bis auf n = 454 (um 25,8 %) und die Zahl der ur- oder erstaufgeführten Stücke von n = 42 auf n = 58 (um 34,9 %) gestiegen. Aus diesen Daten lassen sich einige deskriptive Befunde hinsichtlich der Häufigkeit von Neuerungen im Repertoire auf der Ebene des Organisationsfeldes aller NRW-Theater formulieren (AV1). Erstens ist die durchschnittliche Anzahl der Aufführungen eines Stückes im Analysezeitraum von 16 auf 11 gesunken. Einstudierte Stücke werden im Zeitverlauf also in abnehmender Häufigkeit zur Aufführung gebracht. In Übereinstimmung mit diesem Befund hat zweitens die Zahl unterschiedlicher Stücke und die Zahl neuer Stücke zugelegt. Im Zeitverlauf wird drittens sichtbar, dass die Zunahme verschiedener und neuer Stücke auf eine Trendwende Mitte der 2000er-Jahre zurückzuführen ist (Abb. 1). Lag die Anzahl unterschiedlicher (oder neuer) Theaterstücke zwischen 1995/96 und 2006/07 bei durchschnittlich n = 393 (bzw. 39), so lag sie in den Jahren 2006/07–2017/18 bei n = 500 (bzw. 64). Diese Trendwende wirft die Frage auf, wie sie hinsichtlich des künstlerischen und wirtschaftlichen Erfolgs des öffentlichen Theatersektors in NRW zu interpretieren ist.
Abbildung 1 zeigt, dass ab der Spielzeit 2005/06 die Anzahl der Stücke insgesamt auf jährlich mehr als 500 ansteigt, nachdem der Kurvenverlauf (mit Ausnahme von 2000/01) relativ konstant knapp unter 400 lag. Auch der zugehörige Kurvenverlauf der Neuerungen zeigt einen substanziellen Anstieg Ende der 2000er-Jahre um mehrere Prozentpunkte auf ein neues Plateau, das aber allmählich wieder abflacht. Beide Kurvenverläufe hängen zusammen und verlaufen ähnlich: Von den erfassten 10.327 Theaterstücken (über alle Spielzeiten hinweg summiert, inklusive Mehrfachaufführungen) sind 1195 Erst- und Uraufführungen, was 11,6 % entspricht. Die Prozentzahlen weichen über die Jahre nur geringfügig von diesem Durchschnittswert ab, woraus sich ableiten lässt, dass die Anzahl der Erst- und Uraufführungen von der Anzahl der Theaterstücke abhängt.
Eine Korrelationsanalyse (Pearson) untermauert diese Vermutung. Mit r = 0,731 besteht ein hoher positiver linearer Zusammenhang zwischen der Anzahl der unterschiedlichen, zur Aufführung gebrachten Theaterstücke (nicht zu verwechseln mit Aufführungen) und der Anzahl der Ur- oder Erstaufführungen. Es werden also besonders viele Neuerungen in denjenigen Jahren gespielt, in denen auch insgesamt viele verschiedene Theaterstücke gespielt werden.
Ebenfalls betrachtet werden soll der Kurvenverlauf des Anteils der Innovationen an allen Stücken sowie der Kurvenverlauf der Innovationen an den Ur- und Erstaufführungen. Zu den Innovationen liegen aufgrund des benötigten Berechnungszeitraums von zehn Folgejahren nur Werte für 1995/96–2007/08 vor (für die Berechnung der Innovationen vgl. Abschn. 4). Hierbei wird deutlich, dass der Kurvenverlauf des Anteils der Innovationen an allen Stücken sowie mit den beiden zuvor erläuterten Kurvenverläufen übereinstimmt. Dies spiegelt sich ebenfalls in einem hohen Korrelationswert zwischen der Anzahl der Erst- und Uraufführungen und der Anzahl der Innovationen wider (r = 0,573): Je höher die Anzahl der Neuerungen, desto höher ist auch die Anzahl der Innovationen. Jedoch erreicht der Anteil der Innovationen nur geringe Prozentwerte: Bis auf die Spielzeit 2000/01 liegen alle Anteilswerte unter 2 %. Dies deckt sich mit dem Befund von Gerlach-March (2011) für den Zeitraum 2000/01–2002/03, dass neue Stücke nicht so oft und lange gespielt werden wie bereits etablierte.
Wie in Tab. A2 im Online-Anhang dokumentiert, spielen im Zeitraum 1996/96–2017/18, absolut gesehen, besonders viele neue Stücke das Düsseldorfer Schauspielhaus (n = 140), die Bühnen der Stadt Köln (n = 128) und das Dortmunder Theater (n = 126). Mit etwas Abstand folgt das Bonner Theater (n = 90). Schlusslichter sind das Landestheater Dinslaken (n = 18), das Theater in Mülheim an der Ruhr (n = 11) und das Gelsenkirchener Musiktheater (n = 7). Betrachtet man die Anteile der Neuerungen an allen Aufführungen der jeweiligen Theater, zeigt sich hingegen ein differenzierteres Bild. Zwar erreichen Köln (20 %) und Dortmund (18 %) auch hier hohe Werte, aber Gelsenkirchen belegt nunmehr den sechsten Platz (14 %). Die in Tab. A2 gezeigte Gesamtübersicht über die absoluten und relativen Verteilungen der Neuerungen sowie die sich daraus ergebenden Rangplätze bildet die Basis für die Berechnung des Rangkorrelationskoeffizienten nach Spearman. Zwischen beiden Rängen lässt sich ein mittelstarker positiver Zusammenhang (r = 0,578) feststellen. Dies bedeutet, dass je höher die absolute Anzahl an Neuerungen ist, desto höher ist auch der Anteil der Neuerungen an allen Stücken.
Die Frage, ob sich neue Stücke im Repertoire nordrhein-westfälischer Theater etablieren können (AV2), soll mithilfe einer einfachen Berechnung zunächst deskriptiv untersucht werden. Dafür wurde ermittelt, wann die Ur- oder Erstaufführung eines Stückes im Zeitraum 1995/96–2007/08 verzeichnet wurde, um anschließend in den nachfolgenden zehn Spielzeiten zu ermitteln, ob das jeweilige Theaterstück erneut gespielt wird. Für die Stücke, welche in der Spielzeit 1995/96 als Ur- oder Erstaufführung verzeichnet sind, bedeutet dies, dass die Spielzeiten 1996/97–2005/06 überprüft wurden; für 1996/97 die Spielzeiten 1997/98–2006/07, für 1997/98 die Spielzeiten 1998/99–2007/08 usw. Anschließend wurde die ermittelte Zahl in Relation zur Anzahl aller Spielzeiten gesetzt, in denen das Theaterstück hätte auftauchen können. So wurde das Stück „Norway.Today“ (Igor Bauersima) in der Spielzeit 2000/01 uraufgeführt. Danach tauchte es noch in 14 von 18 weiteren Spielzeiten auf, was einer Abdeckung von 77,8 % entspricht. Gefolgt wird „Norway.Today“ von „Das Fest“ (Thomas Vinterberg), welches in 11 von 18 möglichen Spielzeiten auftaucht (61,1 %), und „Ehrensache“ (Lutz Hübner), das in 7 von 13 möglichen Spielzeiten auftaucht (53,9 %). Bei Berechnung der Korrelation der Variablen Anzahl der Spielzeiten, in denen das neue Stück auftaucht und Anzahl der Spielzeiten, in denen das Stück hätte gespielt werden können, lässt sich ein Wert von r = 0,070 ermitteln, womit kein linearer Zusammenhang zwischen den beiden Variablen besteht. Diejenigen Theaterstücke, welche als Ur- oder Erstaufführung in der untersuchten Zeit gespielt wurden, werden somit kaum erneut gespielt. Es gelingt den NRW-Theatern nur sehr selten, neue Stücke im Repertoire zu etablieren.
Auch bei den Neuerungen stellt sich die Frage, inwieweit diese auf Vorlagen wie Büchern, Filmen oder anderen Theaterstücken beruhen. Betrachtet wurden hierfür die 50 am häufigsten gespielten Ur- oder Erstaufführungen (Tab. 2 und 3 dokumentieren die Top-20). Für diese Stücke wurde ermittelt, ob es sich um ein völlig neues Stück oder um die Verarbeitung einer vorhandenen Vorlage handelt. 13 der 50 untersuchten Stücke basieren auf einer Vorlage (26 %), wovon neun einen Roman und jeweils zwei einen Film oder ein anderes Theaterstück zur Vorlage hatten. Zur Illustration dieses Befundes werden die Spielhäufigkeiten der erfolgreichsten Neuerungen denjenigen Stücken gegenübergestellt, die im Zeitraum 1995/96–2017/18 allgemein am meisten aufgeführt wurden (Tab. 2 und 3). Deutlich wird, dass die „Kassenschlager“ alle auf klassische Theaterstücke zurückgehen, die zumeist in der Zeit vom 17. Jhd. bis Anfang des 20. Jhds. verfasst wurden. „Antigone“ von Sophokles geht sogar auf die Antike zurück. Solche Klassiker scheinen beim Publikum so beliebt, dass sie zum Teil jährlich auf den nordrhein-westfälischen Spielplänen stehen. Die höchsten Aufführungszahlen (892) erzielt „Kabale und Liebe“ von Friedrich Schiller (aus dem Jahr 1784). Demgegenüber ist „Norway.Today“ von Igor Bauersima (aus dem Jahr 2000) mit 369 Aufführungen die am häufigsten gespielte Neuerung.
Tab. 2 Top-20 aufgeführte Stücke (Neuerungen) Tab. 3 Top-20 aufgeführte Stücke (alle) Auch die durchschnittlichen Aufführungszahlen pro gespielter Spielzeit sowie die Besucher pro Aufführung verdeutlichen, dass die Top-20 Neuerungen (durchschnittlich 32 Aufführungen und 209 Besucher pro Spielzeit) weniger häufig als die Top-20 aller Stücke (durchschnittlich 40 Aufführungen und 399 Besucher pro Aufführung) gespielt werden und damit weniger hohe Besucherzahlen erreichen können. Die niedrigere durchschnittliche Besucherzahl der Neuerungen kommt zum einen dadurch zustande, dass die Stücke durchschnittlich weniger oft aufgeführt werden (minus 20 %) und zum anderen könnte ein weiterer Grund sein, dass neue Stücke eher auf Nebenbühnen aufgeführt werden im Sinne einer Risikokalkulation, falls das Stück nicht genügend Publikum anzieht.
Weiterhin ist auffällig, dass es sich bei zahlreichen der am häufigsten gespielten Stücke um Kinder- oder Jugendtheaterstücke handelt (Tab. 2 und 3, Titel kursiv). In der Gruppe aller Theaterstücke lassen sich sieben von den gelisteten Top-20 (35 %) dem Kinder‑/Jugendtheater zuordnen und in der Gruppe der E‑/U-Stücke acht (40 %). Dieser Befund ist für die Interpretation einer Innovationskrise bedeutsam, denn ein großer Teil der Top-20-Stücke adressiert Eltern mit Kindern sowie Jugendliche und erzielt damit eine Nachfrage, welche sich nicht nur in den hohen Aufführungszahlen, sondern auch in den vor allem in der Listung enthaltenen Top-20 aller Stücke (Tab. 3) hohen Besucherzahlen niederschlägt: Die sieben gelisteten Kinder‑/Jugendstücke erreichen insgesamt eine Besucherzahl von 1.965.578 und die restlichen Stücke 2.611.298, womit die durchschnittliche Besucherzahl von Kinder‑/Jugendstücken deutlich höher liegt (280.797 zu 200.869).
Hier schließt die Frage an, ob die Erneuerung des Theaterprogramms durch die Aufnahme von Erst- und Uraufführungen sowie die Wiederaufführung jener Neuerungen (= Innovationen) tatsächlich ausreichend ist, um neues Publikum zu gewinnen und der Nachfragekrise in Form des Besucherdefizits entgegenzuwirken, wenn es doch vor allem die konventionellen Klassiker sind, die durchschnittlich viele Besucher anlocken (Tab. 2 und 3). Diese Frage soll mithilfe von Tab. 4 beantwortet werden, welche auf Basis der Daten aus Tab. A3 im Online-Anhang berechnet wurde: Hierfür haben wir die Veränderung zwischen den beiden Zeiträumen 2005/06–2009/10 und 2013/14–2017/18 hinsichtlich der Anzahl an Besuchern insgesamt von Neuerungen (Ur- und Erstaufführungen) sowie Innovationen und vergleichend dazu die Publikumszahlen der restlichen Stücke (also exklusive der Neuerungen und Innovationen) betrachtet (Tab. 4). Die Innovationen sind in Anlehnung an die abhängige Variable 2 (AV2) folgendermaßen definiert: Wird eine Ur- oder Erstaufführung innerhalb der nachfolgenden zehn Jahre erneut gespielt, ist es eine Innovation. Wird eine Neuerung mehr als zehn Jahre nach ihrer Premiere nochmals gespielt, wird sie nicht mehr als Innovation gewertet, sondern als ein Stück, welches sich im Repertoire der nordrhein-westfälischen Theater etabliert hat. Hieraus ergibt sich ein beobachtbarer Zeitraum von 2005/06 bis 2017/18, da erst für die Spielzeit 2005/06 rückwirkend zehn Jahre (1995/96–2004/05) hinsichtlich der Ur- und Erstaufführungen analysiert werden können.
Tab. 4 Veränderungen von Angebot und Nachfrage Folgendes Beispiel soll die Definition des hier genutzten Innovationsbegriffs illustrieren: Das Stück „Kochen mit Elvis“ von Lee Hall wurde in der Spielzeit 1999/00 im Schauspiel Essen als Erstaufführung gespielt, womit es in dieser Spielzeit eine Neuerung ist. In den nachfolgenden zehn Spielzeiten (2000/01–2009/10) wurde das Stück noch in drei weiteren Spielzeiten aufgeführt (2000/01, 2001/2002 und 2002/2003). 2017/18 wurde das Stück nochmals aufgeführt. Da dieser Zeitpunkt allerdings nicht in dem Zeitraum von zehn Jahren ab Premierenjahr liegt, handelt es sich in der Spielzeit 2017/18 auch nicht mehr um eine Innovation, sondern um ein Stück des Repertoires in NRW.
Tabelle 4 zeigt die auf diese Weise berechneten Gesamtzahlen, wobei wir unseren Fokus auf die relativen Zahlen legen: Im ersten Zeitraum 2005/06–2009/10 liegt die Anzahl an Besuchern von Neuerungen/Innovationen insgesamt bei 152.108 und für die übrigen Stücke (also exkl. Neuerungen und Innovationen) bei 1.249.072. Im Vergleichszeitraum 2013/14–2017/18 wächst die Anzahl der Besucher von Neuerungen/Innovationen um 18 % auf 179.193 (plus 27.084) an, während sich die Besucherzahl der restlichen Stücke um minus 12 % auf 1.102.134 (minus 146.937) verringert. Im Vergleich dazu ist die Anzahl der Neuerungen/Innovationen pro Spielzeit um 36 % von 79 auf 108 angestiegen. Gleichzeitig sind die restlichen Stücke um minus 12 % von 430 auf 363 gesunken.
Unterstrichen wird der schon in Abschn. 2 mithilfe der Strukturdaten aufgeworfene Befund, dass auf der einen Seite das Angebot (Anzahl Stücke) erhöht wurde, während die Nachfrage (Anzahl Besucher) kontinuierlich sinkt. Jedoch lässt sich dieser Befund nun differenzierter betrachten: Auf den ersten Blick wirkt es so, als gäbe es eine Überproduktion an Theaterstücken (Schmidt 2017). Jedoch kann mittels Tab. 4 gezeigt werden, dass Neuerungen und Innovationen neues Publikum erschließen, wenn auch das Angebot auf dieser Ebene ausgeweitet wird. Um eine Überproduktion zu vermeiden, müssten systematisch alte Stücke aus dem Repertoire entfernt und durch Neuerungen ersetzt werden. Eine Kürzung des Angebots würde darüber hinaus Ressourcen freisetzen (Haselbach et al. 2012).
Gerlach-March (2011) findet in dem Zusammenhang im Rahmen einer Fallstudie heraus, dass der britische Theatersektor hinsichtlich der Anzahl der Uraufführungen innovativer abschneidet als der deutsche Sektor. Ihre Deutung lautet, dass obwohl der deutsche Theatersektor stärker staatlich subventioniert wird, dies nicht automatisch in Neuerungen mündet. Es spielen also vor allem kulturpolitische Vorgaben und Traditionen eine Rolle. So ist beispielsweise das Autorentheater in Großbritannien weit verbreitet, bei welchem Autoren einen großen Einfluss auf die Spielplangestaltung nehmen, während in Deutschland vor allem das Regietheater vorzufinden ist, bei welchem Regisseure großen Einfluss auf die Inszenierungen nehmen. Möglicherweise führen kulturpolitische Vorgaben wie in Großbritannien dazu, dass Theater mehr Neuerungen in ihre Repertoires aufnehmen.
Zusammenfassend können die vorangegangenen deskriptiven Befunde als Beleg für eine Innovationskrise der staatlichen NRW-Theater interpretiert werden. Es gelingt den Theatern nur selten, neue Stücke zu Publikumserfolgen zu machen. Zwar werden einige Stücke (z. B. „Norway.Today“, „Das Fest“ oder „Shakespeares sämtliche Werke“) zu Publikumserfolgen, aber im Verhältnis zur Zahl aller Neuerungen schaffen es nur wenige Stücke ins Repertoire, obwohl Tab. 4 zeigt, dass eine Nachfrage nach neuen, innovativen Theaterstücken existiert. Zudem konnten wir zeigen, dass vor allem Jugendliche sowie Kinder und ihre Eltern eine Zielgruppe sind. Mandel (2021) bestätigt jene Nachfrage mithilfe einer Bevölkerungsumfrage sowohl unter Theater- als auch Nichttheatergängern hinsichtlich ihrer Erwartungen an die Theater. Die meistgenannte Erwartung (89 %) hinsichtlich der Spielplangestaltung war der Wunsch nach „Programmen für Kinder und Jugendliche“. Darüber hinaus gaben 66 % der Befragten an, dass sie sich „aktuelle Stücke und künstlerische Experimente“ wünschen. Zusätzlich fand Mandel (2020) heraus, dass es vor allem die 18- bis 39-Jährigen sind, die sich aktuelle und experimentelle Stücke wünschen. Möglicherweise könnten aufbauend auf dieser Erwartungshaltung mehr Theaterbesucher gewonnen werden, wenn erstens vor allem mehr Ur- und Erstaufführungen (im Sinne aktueller Stücke und künstlerischer Experimente) und zweitens mehr Kinder- und Jugendstücke auf die Bühnen gebracht würden.
Erklärung von Neuerungen und Innovationen
Zur Hypothesenprüfung wurden Regressionen mittels STATA (Version 16) durchgeführt. Wir erläutern nachfolgend zunächst unsere Analysestrategie zur Untersuchung der AV1 und gehen anschließend näher auf die Ergebnisse anhand der zuvor aufgestellten H 1 bis H 4 ein. Danach erläutern wir unsere Analysestrategie zur AV2 und benennen die Ergebnisse für H 5.
Für die Analyse der AV1 haben wir eine OLS-Regression (Tab. 5), mehrere Robustheitstests und eine Fixed-Effects-Regression (FE) gerechnet. Die UVs unserer Hauptanalyse (Tab. 5) sind links beginnend in absteigender Reihenfolge ihres univariaten R2-Werts aufgeführt, nachdem in Modell (1) und (2) zunächst die Kontrollvariablen aufgeführt werden. Für die Modelle wurden die robusten Standardfehler geschätzt, da nach dem Breusch-Pagan-Test die Annahme der Homoskedastizität der Regressionsresiduen verletzt ist. Dies gilt auch für die nachfolgenden OLS-Robustheitsanalysen. Unsere Hauptmodelle (6) und (7)Footnote 2 in Tab. 5 weisen einen R2-Wert von 0,435 bzw. 0,420 und sehr niedrige p-Werte auf, wodurch sie eine signifikante Erklärungsgüte bei einem Signifikanzniveau von α = 0,001 erhalten. In dem genannten Modell sind alle UVs signifikant: Anzahl der Aufführungen, Subventionen, Wettbewerbsdruck, Anzahl der Abonnements und Anzahl der Privattheater. Zudem sind auch die zwei Kontrollvariablen signifikant: Anzahl der gespielten Stücke und Anzahl der Spielstätten. Darüber hinaus haben wir überprüft, ob die Logarithmierung der Variablen der OLS-Analyse (Tab. 5) zu veränderten Ergebnissen führt, was jedoch nicht der Fall ist. Eine Variation der OLS (Tab. 5) besteht darin, für die AV1 anstelle der absoluten Anzahl von Neuerungen die Anteilswerte von Neuerungen an allen Stücken zu nutzen (Tab. A5 im Online-Anhang): Modell (6) und (7) erzielen hierbei geringere R2-Werte als in Tab. 5 und die Signifikanzen der einzelnen UVs bleiben mit Ausnahme der Abonnements erhalten.
Tab. 5 OLS-Regression für Ur- oder Erstaufführungen (AV1) mit geschätzten robusten Standardfehlern Weiterhin sind mehrere Robustheitstests für die Ergebnisse der OLS-Regressionsanalyse (Tab. 5) Teil unserer Analysestrategie. Erstens wurden die Werte der AV1 und UVs durch dreijährige und fünfjährige gleitende Mittelwerte ersetzt (Tab. A6 und A7 im Online-Anhang). Diese Berechnung glättet die jährlichen Schwankungen, welche unter Umständen das Modell stören können. Die Ergebnisse blieben jedoch unverändert, was für die Robustheit der mit dem OLS-Modell ermittelten Ergebnisse spricht (Tab. 5). Zweitens wurde die OLS-Regression (Tab. 5) in zwei Variationen durchgeführt (Tab. A8 und A9 im Online-Anhang): Zum einen wurde Köln als einwohnerstärkste und zum anderen Dinslaken als einwohnerschwächste Stadt aus der Analyse ausgeschlossen, um zu überprüfen, inwiefern ihr Ausschluss zu einer Veränderung der Ergebnisse führt. Ihr Ausschluss führte jedoch zu keiner Veränderung des R2-Werts des Modells, ebenso wenig, wie sich die Signifikanzwerte der UVs verändern. Die Ergebnisse der Tab. 5 sind somit sehr robust.
Zusätzlich haben wir eine Fixed-Effects-Regression gerechnet, in welcher die robusten Standardfehler (Driscoll-Kraay) geschätzt wurden (Tab. A10 im Online-Anhang). Für die FE sprach der Hausman-Spezifikationstest, welcher eine Random-Effects-Regression ablehnte. Mittels der FE haben wir jahres- und theaterspezifische Effekte überprüft. Die Signifikanzwerte der Variablen aus Modell (6) und (7) verschlechtern sich bei den theatergebundenen Variablen im FE-Modell gegenüber dem OLS-Modell leicht, im Wesentlichen wird das OLS-Modell mit Ausnahme der Privattheater bestätigt. Weiter wurden auf Ebene der kategorialen Variablen Spielzeiten (= 23 Jahre) und Theater (n = 20) Dummy-Variablen erzeugt. Die jahres- und theaterspezifischen Effekte der Dummy-Koeffizienten, welche mittels entsprechender Regressionen berechnet wurden, zeigen keinen nennenswerten Einfluss auf die Modelle. Dies spricht zusätzlich für die Robustheit der OLS, da die Einflüsse über die Theater und Spielzeiten hinweg gleichbleiben. Im Folgenden werden die Ergebnisse der Regressionsanalysen mithilfe der Hauptmodelle (6) und (7) (Tab. 5) auf die Hypothesen bezogen.
H 1: In Modell (6) übt die Variable Aufführungen einen positiven Einfluss (p < 0,001) auf die AV1 aus. Der Koeffizient in Modell (6) beträgt 0,888 und die UV ist auf 100 skaliert, was bedeutet, dass 113 zusätzliche Aufführungen mit einer zusätzlichen Neuerung einhergehen.Footnote 3 Je höher die Anzahl der Aufführungen, umso höher ist die Möglichkeit (oder der Bedarf) für neue Stücke. Zugleich übt die Kontrollvariable Stücke einen signifikant negativen Einfluss (p < 0,001) auf die AV1 Erst‑/Uraufführungen aus. Der Koeffizient beträgt −0,126, was bedeutet, dass wenn acht bereits bekannte Stücke dem Spielplan hinzugefügt werden, ein neues Stück weniger inszeniert wird. Je mehr Stücke gespielt werden, umso mehr neue Stücke werden aus dem Spielplan gedrängt. Theater, die wenige unterschiedliche Stücke auf den Spielplan setzen und diese besonders häufig aufführen, sind somit besonders offen für Neues.
Zwei Beispiele mögen diesen Sachverhalt verdeutlichen. Das Düsseldorfer Schauspielhaus führte über den Analysezeitraum (1995/96–2017/18) insgesamt 923 verschiedene Stücke auf, davon 140 Ur- und Erstaufführungen. Obwohl die Variable Stücke in der OLS einen negativen Einfluss hat und in dem genannten Beispiel quantitativ hoch ausfällt, wird ihr Einfluss im Falle von Düsseldorf durch die hohe Anzahl an Aufführungen (N = 15.682) kompensiert. Im Kontrast dazu weist das Schauspielhaus in Bochum deutlich mehr Stücke als Düsseldorf auf (N = 1023), aber gleichzeitig weniger Aufführungen (N = 11.322). Düsseldorf hat daher einen höheren Rangplatz als Bochum (Tab. A2).
H 3: Subventionen haben einen positiven Koeffizienten (p < 0,001). Der Koeffizient von 0,089 besagt, dass rechnerisch 11,2 Mio. € notwendig wären, damit ein Theater ein weiteres neues Stück in den Spielplan aufnimmt. Damit wird H 3 zwar bestätigt, allerdings ist die Effektstärke dieser UV sehr gering. Eine Erhöhung von Neuerungen mithilfe zusätzlicher Subventionen wäre nur unter Inkaufnahme sehr hoher Kosten möglich. Zugleich weist die Kontrollvariable Spielstätte einen positiven Koeffizienten (p < 0,001) auf. Der Koeffizient von 0,161 besagt, dass sechs zusätzliche Spielstätten notwendig wären, um ein neues Theaterstück auf den Spielplan zu setzen.
In diesem Zusammenhang ist noch einmal der deskriptive Befund zu nennen, dass seit Mitte der 2000er-Jahre die Anzahl der Spielstätten der NRW-Theater und die Zahl der Neuerungen substanziell ansteigt. Die Regressionsanalyse bestätigt somit den deskriptiven Befund. Allerdings ist die Effektstärke dieser UV relativ gering. Eine Erhöhung von Neuerungen mithilfe neuer Spielstätten ist (aus Kostengründen) nur in einem eher begrenzten Umfang möglich. Theater, welche viele Spielstätten betreiben und in hohem Maße subventioniert werden, erscheinen somit grundsätzlich offener für Neues als Theater mit nur einer Spielstätte und wenig staatlicher Unterstützung. Allerdings sollte man hier die geringen Effektstärken berücksichtigen. Im FE-Modell (Tab. A10) sind diese beiden UVs auch nur schwach signifikant. Ihre Bedeutung ist somit eher zu relativieren. Auch kulturpolitisch wäre es aufgrund der hohen Kosten keine vielversprechende Idee, die Produktion neuer Stücke bloß mit zusätzlichen Spielstätten und Subventionen zu fördern.
H 4Footnote 4: Eine deutlich effektivere Möglichkeit, neue Stücke zu generieren, ergibt sich durch die UV Wettbewerb, die einen signifikant positiven Einfluss (p < 0,001) auf AV1 ausübt. Unseren Ergebnissen zufolge versuchen Theater, welche einem erhöhten Wettbewerbsdruck ausgesetzt sind, sich von der Konkurrenz durch Neuerungen im Programm abzuheben. Den höchsten durchschnittlichen CPI-Wert (1995–2018) erreichen das Bochumer Schauspielhaus (1,04), das Düsseldorfer Schauspielhaus (0,83) und das Schauspiel Essen (0,70). Diese drei Theater sind somit dem stärksten Wettbewerbsdruck ausgesetzt. Sie liegen zentral in NRW und weisen eine hohe räumliche Nähe zueinander sowie auch zu anderen Theatern auf. Am wenigsten Wettbewerb sind dagegen die Bielefelder Bühnen (0,07), das Landestheater Detmold (0,06) und das Aachener Grenzlandtheater (0,04) ausgesetzt, was sich mit ihrer Randlage in NRW erklären lässt. Betrachtet man in dem Zusammenhang die Anzahl der Neuerungen (Tab. A2), wird deutlich, dass vor allem Düsseldorf (Rang 1), Bochum (Rang 5) und Essen (Rang 8) nicht nur einem erhöhten Wettbewerb ausgesetzt sind, sondern auch besonders viele Neuerungen verzeichnen können, während Detmold (Rang 16) und das Aachener Grenzlandtheater (Rang 18) deutlich weniger Neuerungen aufweisen. Damit widerlegen wir H 4, welche von Jensen und Kim (2014) abgeleitet wurde. Jedoch sei an dieser Stelle nochmals anzumerken, dass die Autoren in ihrer Studie Konventionalität (und nicht Neuerungen wie im vorliegenden Beitrag) untersuchen.
Ebenfalls signifikant ist die Variable Privattheater bei einem Koeffizienten von 0,185 (Modell 7), was bedeutet, dass fünf zusätzliche Privattheater in derselben Stadt mit einer zusätzlichen Neuerung einhergehen. Dies ist ein plausibler Wert, denn die Variable nimmt in unserem Datensatz einen maximalen Wert von 23 (Köln) an. Dennoch sei an dieser Stelle nochmals zu erwähnen, dass die Übermittlung der Daten für Privattheater auf freiwilliger Basis geschieht, weshalb erhebliche Datenlücken und eine Selbstselektion bei den Daten vorliegen können.
H 2: Die Variable Abonnements ist ebenfalls hochsignifikant (p < 0,001) und der Koeffizient fällt mit einem Wert von −0,025 je 1000 Abonnements negativ aus (Modell 6). Das bedeutet, dass 40.000 Abonnements pro Theater benötigt würden, um eine Neuerung zu erhalten. Allerdings ist dies sehr unrealistisch: Die durchschnittliche Abonnementszahl der Theater in NRW liegt bei 32.000 (max. 87.000). Daher gilt auch hier, wie bereits bei H 3, dass H 2 zwar bestätigt wird, die geringe Effektstärke aber die Absenkung von Abonnements nicht als sinnvolle Einflussgröße für die Produktion neuer Stücke erscheinen lässt.
In einem weiteren Schritt wurde die AV2 (Innovation) mithilfe einer Poisson-Regression untersucht (Tab. 6). Hierbei fällt N = 254 um knapp 200 Einheiten kleiner aus als bei der vorangegangenen OLS: Um nämlich zu ermitteln, ob eine Ur- oder Erstaufführung in den zehn Folgejahren in mindestens einem weiteren der untersuchten NRW-Theater aufgeführt wurde, konnten nur die Ur- oder Erstaufführungen der Spielzeiten 1995/96–2007/08 berücksichtigt werden, da nur für diese Spielzeiten zehn weitere Beobachtungsjahre zur Verfügung stehen. Dies bedeutet, dass wir für die Analyse der AV2 nur einen Ausschnitt des Gesamtdatensatzes betrachten (1995/96–2007/08). Die maximale Ausprägung der AV2 beträgt n = 2. Ein Theater führt also maximal zwei Neuerungen pro Spielzeit auf, welche in den nachfolgenden zehn Spielzeiten von mindestens einem anderen NRW-Theater übernommen wurden.
Tab. 6 Poisson-Regression für wiederaufgeführte Ur- oder Erstaufführungen (AV2) Für die Durchführung einer Poisson-Regression spricht der Pearson Goodness-of-Fit-Test, welcher auf einen soliden „model-fit“ hindeutet und von der Annahme abhängt, dass die bedingte Varianz und der Mittelwert der Beobachtungen gleich sind. Wie schon bei der OLS-Regression wurden auch hier zur Überprüfung der Robustheit Vergleichsanalysen mit gleitenden Mittelwerten gerechnet, die die Ergebnisse der nichtgeglätteten Daten weitgehend bestätigten (Tab. A12 und A13 im Online-Anhang). Um eine Überdispersion zu vermeiden und zur Überprüfung der Robustheit wurde eine negative Binomial-Regression durchgeführt, deren Ergebnisse kaum von denen in Tab. 6 abweichen, was ebenfalls für die Robustheit der Ergebnisse in Tab. 6 spricht (Tab. A14 im Online-Anhang).
H 5: Wie Modell (2) zu entnehmen ist, hat die bisherige AV1 in der Poisson-Regression einen positiven Einfluss auf die AV2 (p < 0,001). Dies bedeutet, dass mit steigender Zahl von Neuerungen in allen NRW-Theatern (Organisationsfeld) die Chance für eine konkrete Ur- oder Erstaufführung eines konkreten Theaters steigt, mittel- und langfristig ins Repertoire aufgenommen zu werden. Ein für Neuerungen offenes Organisationsfeld ist bei der Durchsetzung neuer Stücke somit wichtig. Das bedeutet zugleich aber auch, dass einzelne Theater nur wenig alleine ausrichten können, wenn andere Theater nicht auch Neuerungen auf ihren Spielplan setzen. Insoweit würde es nicht reichen, wenn nur wenige „Exzellenztheater“ viele Neuerungen produzierten, sondern diese sollten in der Breite des Theaterfeldes als kulturelles Muster vorhanden sein. Erst dann sind Innovationen möglich.