1 Einleitung

Eine gegenwärtig im journalistischen Diskurs verbreitete Erzählung des Entstehens einer „digitalen Gesellschaft“ ist die der Disruption.Footnote 1 Lose die ursprünglichen Ideen von Karl Marx und Friedrich Engels (1970, S. 62) zur „fortwährende[n] Umwälzung der Produktion“ oder Joseph Schumpeters (2020, S. 103) Begriff der „schöpferischen Zerstörung“ aufgreifend, hebt das Konzept der Disruption auf die Vorstellung ab, dass einzelne Medientechnologien die Gesellschaft grundlegend neu ordnen können. Folgt man Adrian Daub (2020), geht es nicht einfach nur um den Umstand, dass eine „disruptive Technologie“ eine umwälzende Neuerung ist. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass „jegliche Kontinuität, die durchbrochen wird, die Disruption verdient hat“ (Daub 2020, S. 120).

Als einer der Hauptträger dieser disruptiven Veränderungen wird in einem solchen Narrativ das Start-up angesehen. Dieses sei die Form von Organisation, über die Disruption in einzelnen Domänen der Gesellschaft realisiert wird, ob bei Unterkünften (Airbnb), der Dateiablage (Dropbox) oder beim Transport (Uber). Die Überlegung ist, dass Acceleratoren wie der im Silicon Valley beheimatete Y Combinator die oft vagen Ideen der GründerFootnote 2 auf eine solche Disruption ausrichten. Start-ups sind in diesem Narrativ Unternehmungen, die durch ihr exponentielles Wachstum, 5–7 % pro Woche (Graham 2012, S. 7), nach kurzer Zeit eine bestimmte Domäne dominieren (Unterkünfte, Dateiablage, Transport usw.), was sie zu einem beherrschenden (Technologie‑)Unternehmen macht, oder aber die wegen des mit ihrem exponentiellen Wachstum verbundenen Renditeversprechens von einem anderen Technologieunternehmen aufgekauft werden.

Dieses Narrativ von Disruption und Start-up ist in der Wissenschaft sowohl empirisch als auch normativ kritisiert worden. Ein empirischer Kritikpunkt ist, dass es den typischerweise inkrementellen Prozessen sowohl der Entwicklung von Technologien als auch ihrer Einbettung in gesellschaftliche Veränderungen widerspricht (u. a. Dolata 2011). Erforscht wird daneben die „kulturelle Praxis“ (Werning 2019, S. 210–214) des Start-ups, die in den meisten Fällen mit deren Narrativ bricht. Stärker normative Positionen in der Wissenschaft, beispielsweise der Plattformkooperativismus, betonen, man müsse weitere Exitstrategien von Start-ups jenseits von Marktdominanz oder Übernahme durch andere Unternehmen berücksichtigen, insbesondere den „exit to community“ (Alleyne et al. 2020, S. 9), d. h. das Aufgehen eines Start-ups in einem Gemeinschafts- oder Genossenschaftsmodell (u. a. Scholz und Schneider 2017). Schließlich wird normativ reflektiert, inwieweit Vorstellungen von Disruption und Start-up mit impliziten neoliberalen Wertsetzungen verbunden sind (u. a. Zukin 2020).

Mit diesem Beitrag soll einer solchen kritischen Betrachtung ein weiteres Argument hinzugefügt werden, nämlich dass man das Narrativ von Disruption und Start-up im Kontext der Gruppierungen sehen sollte, die entsprechende Imaginationen einer medientechnologischen Veränderbarkeit von Gesellschaft verbreiten und selbst mit solchen Technologien experimentieren. Dieser Blickwinkel hilft zu verstehen, warum trotz aller wissenschaftlich begründeten Kritik sich die Vorstellung der Disruption durch Medientechnologien und der Relevanz von Start-ups in der Gesellschaft hält. Die Gruppierungen, um die es geht, sollen im Folgenden als „Pioniergemeinschaften“ (Hepp 2016) bezeichnet werden.

In einer ersten Annäherung lassen sich Pioniergemeinschaften als Gruppen von Menschen verstehen, die in einer bestimmten Domäne eine Vorreiterrolle innehaben, als „Intermediäre“ zwischen verschiedenen Bereichen von Gesellschaft agieren (Technologieentwicklung, alltägliche Nutzung, Technikjournalismus, Politik usw.), in ihren Praktiken experimentieren und Vorstellungen von möglichen, technologiebezogenen Zukünften entwickeln. Ein historisches Beispiel für solche Pioniergemeinschaften wäre das Whole Earth Network, das sich im San Francisco Bay Area um den Whole Earth Catalog entwickelte, eine Zusammenstellung von „Tools und Ideen“, so der Untertitel des Katalogs, die die amerikanische Gegenkultur mit der entstehenden Cyberkultur zusammenbrachte. Aus diesem Netzwerk ist mit dem WELL nicht nur eine der ersten Online-Plattformen hervorgegangen, sondern es war auch zentral für das Entstehen des für lange Zeit im Technologiesektor meinungsbildenden Magazins Wired sowie des Homebrew Computer Clubs, in dem Ideen des Personal Computers entwickelt wurden (siehe dazu Turner 2006). Jüngere Beispiele für Pioniergemeinschaften wären die Maker-Bewegung (eine Gemeinschaft, deren Mitglieder auf die Herstellung neuer und das Basteln mit bestehenden (Medien‑)Technologien orientiert sind), die Quantified-Self-Bewegung (eine Gemeinschaft, deren Mitglieder auf die technologiebasierte Selbstvermessung und Selbstoptimierung orientiert sind) oder die Hacks/Hackers-Bewegung (eine Gemeinschaft, deren Mitglieder auf öffentliche Kommunikation und innovativen Journalismus orientiert sind). Trotz aller Unterschiede dieser Pioniergemeinschaften gibt es ein wichtiges verbindendes Element zwischen ihnen: Zum Teil weit vor dem Aufgreifen in Start-ups oder etablierten Unternehmen entstehen in diesen Pioniergemeinschaften Imaginationen von möglichen technologischen Entwicklungen und vor allem Hoffnungen, wie sich mit ihnen Gesellschaft verändern soll.

Erweitert man die Betrachtung gesellschaftlicher Veränderung mit Medientechnologien auf solche Pioniergemeinschaften, bewegt man sich jenseits des Narrativs von Disruption und Start-up, ohne aber deren Rolle bei medientechnologiebezogenen Veränderungen aus dem Blick zu verlieren. „Jenseits“ heißt hier also, zu vermeiden, voreilig dem Narrativ der Veränderung der Welt durch einzelne disruptive Medientechnologien und Start-ups aufzusitzen, die Durchsetzung dieses Narrativs aber gleichzeitig als einen Aspekt des Einflusses von Pioniergemeinschaften in Prozessen medientechnologiebezogener Transformation von Gesellschaft zu sehen. Dabei ist es mitunter unerheblich, ob die experimentellen Praktiken und Imaginationen einzelner Pioniergemeinschaften zu erfolgreichen Geschäftsmodellen führen oder nicht. Entscheidend ist vielmehr, dass diese Praktiken und Imaginationen Räume für die Veränderung im Denken eröffnen und damit Wegbereiter in die „digitale Gesellschaft“ sind.

Diese auch im Titel dieses Beitrags gewählte Formulierung, die entstehende „digitale Gesellschaft“, ist aus Sicht der Kommunikations- und Medienforschung eine Chiffre für einen komplexen Transformationsprozess, der als „tiefgreifende Mediatisierung“ bezeichnet wird.Footnote 3 Es ist offensichtlich, dass eine Gesellschaft nicht „digital“ in dem Sinne sein kann, dass sie sich gänzlich in Prozessen digitaler Kommunikation konstituieren würde. Bei genauerem Blick geht es beim Entstehen der sogenannten digitalen Gesellschaft um die zunehmende Durchdringung der verschiedenen Domänen einer Gesellschaft mit digitalen Medien und ihren Infrastrukturen und der damit einhergehenden zunehmenden „Verschränkung“ (engl. „entanglement“, Scott und Orlikowski 2014) ihrer kommunikativen Konstruktion mit genau solchen Technologien. Die damit verbundene Transformation von Gesellschaften lässt sich gleichwohl nicht als eine einfache „Wirkung“ dieser Technologien beschreiben. Wir haben es vielmehr mit einem komplexen Prozess der rekursiven Transformation zu tun, bei dem sich die Art und Weise der Konstruktion von Gesellschaft mit dem Aufkommen von Medientechnologien ändert, wobei diese selbst in ihrer Materialität sozial konstruiert sind. Als tiefgreifend wird das aktuelle Stadium der Mediatisierung deswegen bezeichnet, weil mit der Ausdifferenzierung der unterschiedlichen digitalen Medien, ihrer zunehmenden Interkonnektivität, der steigenden Innovationsdichte und Omnipräsenz dieser Medien und der mit ihrer Nutzung zunehmenden Datafizierung das Maß ihrer „Verschränkung“ mit Alltagspraxis im Vergleich, beispielsweise mit vorherigen Massenmedien, deutlich zugenommen hat.

In diesem Rahmen soll der vorliegende Beitrag die Rolle von Pioniergemeinschaften für die tiefgreifende Mediatisierung näher betrachten. Dabei nehme ich einen der Prozesssoziologie entlehnten Zugang ein (u. a. Elias 1993). Im Kern eines solchen Denkens steht das Konzept der Figuration, das Elias selbst als ein „einfaches begriffliches Werkzeug“ (Elias 1993, S. 141) bezeichnet hat, um sinnhafte Verflechtungen zwischen Menschen, wie beispielsweise Gruppen, Gemeinschaften oder Organisationen, zu fassen. Figurationen werden in einem fortlaufenden Prozess artikuliert, wobei, wie wir an anderer Stelle argumentiert haben (u. a. Couldry und Hepp 2017, S. 66–68; Hepp und Hasebrink 2017, S. 337–341; Hepp 2021, S. 146–151), es grundlegend ist, die Akteurskonstellation einer Figuration im Blick zu haben, ihre zunehmend mit digitalen Medien verschränkten Praktiken sowie ihre Relevanzrahmen, d. h. die insgesamt bestehende Handlungsorientierung der in einer Figuration eingebundenen Menschen. Im Folgenden möchte ich von Einzelfällen abstrahierend die Grundmuster der Figuration von Pioniergemeinschaften rekonstruieren und deren Artikulation als einen Prozess fassen, der sich entlang eines Lebenszyklus beschreiben lässt.Footnote 4 All dies dient wiederum dazu, ein Verständnis dafür zu bekommen, welche Rolle Pioniergemeinschaften bei der Refiguration von Gesellschaft spielen können.

Um das zu verdeutlichen, werde ich in drei Schritten argumentieren. Zuerst werde ich den grundlegenden Begriff von Pioniergemeinschaften näher darlegen. Hieran schließt sich eine Betrachtung des Lebenszyklus von Pioniergemeinschaften an, um deutlich zu machen, dass sich der Einfluss von Pioniergemeinschaften in der Refiguration von Gesellschaft insbesondere aus ihrem selbsttransitiven Charakter ergibt. Abgeschlossen wird der Beitrag durch ein Fazit, das Pioniergemeinschaften als kollektive Akteure der tiefgreifenden Mediatisierung reflektiert.

2 Vom Pionier zur Pioniergemeinschaft

In der sozialwissenschaftlichen Forschung ist der „Pionier“ nicht unbekannt. Klammert man einmal die selbstbezüglichen Diskurse aus, die sich mit den Pionieren der Sozialwissenschaften im Sinne ihrer Begründer befassen (u. a. Boudon 2011) oder soziologische Beschreibungen der „Pioniere der Westwanderung“ in den USA (u. a. Bogue 1960), wird gemeinhin mit dem Begriff Pionier das Vorreitertum in einer bestimmten gesellschaftlichen Domäne verbunden. Bemerkenswert ist, dass der Begriff eher en passant von einem Alltagsverständnis aus eingeführt und selten weiter theoretisiert wird. Man spricht beispielsweise von „Zeitpionieren“ (Hörning et al. 1990) und bezeichnet damit solche Personen, die versuchen, selbstbestimmte Zeitvorstellungen im Beruf und Alltag zu realisieren. Sie sind in dem Sinne Pioniere, dass sie sich von alten Denkmodellen der Erwerbsarbeit lösen und einen „neuen Lebensstil“ flexibler Arbeitszeiten realisieren. Als „Mobilitätspioniere“ (Kesselring und Vogl 2004) wurden Menschen bezeichnet, die einen hoch mobilen Lebensstil mit verschiedenen Wohnorten pflegen und deswegen als pionierhaft gelten, weil sie verschiedene (Kommunikations‑)Technologien dazu verwenden, ihre Sozialbeziehungen in der Mobilität aufrechtzuerhalten. „Digitale Pioniere“ (Kangas 2011) wurden Menschen genannt, die sich digitale Medientechnologien früh aneignen und in ihre Alltagskultur integrieren. Wird in solchen Publikationen also von Pionieren gesprochen, geht es darum, auszudrücken, dass die jeweils betrachteten Menschen in ihrer aktuell realisierten Lebenspraxis zukünftige Veränderungen vorwegnehmen. Wir haben es also nicht einfach mit „early adopters“ zu tun, wie sie in der Diffussionsforschung diskutiert werden (Rogers 2003). Der Begriff des Pioniers hebt eher darauf ab, dass es sich hierbei um Menschen handelt, die den Raum für zukünftige Entwicklungen eröffnen und sich dabei auch Medientechnologien bedienen.

Inwieweit Pioniere eine besondere Rolle bei der tiefgreifenden Mediatisierung spielen, belegen historische Studien. Wie Fred Turner gezeigt hat, können wir die Entwicklung des Internets und der daraus entstandenen „New Economy“ nicht verstehen, ohne das bereits erwähnte Whole Earth Network als eine außerordentlich einflussreiche Gruppe von Aktivisten, Journalisten und Unternehmern aus der San Francisco Bay Area zu berücksichtigen (Turner 2006, S. 3). Dieses Netzwerk stellte sich eine Welt vor, die von Computern und Computernetzwerken geprägt ist, lange bevor letztere für andere zur Normalität wurden. Der Name dieses Netzwerks bezieht sich auf den Whole Earth Catalog, eine buchartige Publikation, die zwischen 1968 und 1972 von Stewart Brand herausgegeben wurde. Ursprüngliches Ziel des Katalogs war es, den AussteigernFootnote 5 der US-Gegenkultur die „Werkzeuge“ an die Hand zu geben, die hilfreich für das Leben in einer ländlichen Kommune sein konnten. Im Laufe der Jahre wurde der Katalog zu einer immer umfangreicheren Publikation, die das Lebensgefühl der Gegenkultur breiteren Publika nahebrachte. Der Katalog präsentierte ein Gesamt aus wissenschaftlicher Forschung, Hippie-Produkten, militärischer Überlebensausrüstung, Ökologie sowie Mainstream-Konsumkultur und schuf so etwas wie ein „Netzwerkforum“ (Turner 2006, S. 5) des Austauschs und der Begegnung.

Mit dem schrittweisen Zusammenbruch der gegenkulturellen Kommunen in den frühen 1970er-Jahren wandte sich das Whole-Earth-Netzwerk dann der Computertechnologie als einer weiteren Möglichkeit zu, um die eigenen Vorstellungen von einer neuen Gemeinschaft zu verwirklichen. Es gibt beispielsweise Verbindungen zum Homebrew Computer Club, in dem Mitte der 1970er-Jahre Visionen des Personal Computers entwickelt wurden,Footnote 6 zur Hacker-BewegungFootnote 7 und später zum MIT Media Lab als idealisierter Institution einer Veränderung der Gesellschaft durch Medientechnologien.Footnote 8 In den 1980er- und 1990er-Jahren wurde dann nach der Einstellung des Whole Earth Catalogs das WELL (Whole Earth Lectronic Link) gegründet, ein Online-Netzwerk mit Sitz in der San Francisco Bay AreaFootnote 9 und eine der ältesten Online-Communities, und damit ein wichtiges Medium des Netzwerks. Später kam das 1993 gestartete Wired-Magazin hinzu, in dem die Vorstellung eines deregulierten, sich selbst organisierenden Internets dominierte und das mit ungebremstem Enthusiasmus Imaginationen einer digitalen „New Economy“ voranbrachte.Footnote 10 Schließlich wurden aus dem Umfeld des Netzwerks fortlaufend Konferenzen zu verschiedenen Themen von neuen, der Unterstellung nach disruptiven Technologien abgehalten. Teil dieser enthusiastischen Atmosphäre war auch eine enge Beziehung zu Politik und politischer Beratung.

An dieser Stelle muss man vorsichtig sein, die Entwicklung der Technologien im Silicon Valley allein dem Erfolg der „kalifornischen Ideologie“ (Barbrook und Cameron 1996) zuzuschreiben, in der amerikanische Gegenkultur und marktradikales Unternehmertum zusammenfanden. Es ist wichtig, andere Akteure zu berücksichtigen, einschließlich des Staates und seiner (militärischen) Investitionen in Hochtechnologie (Mazzucato 2013). Gleichwohl müssen wir die sich schnell verbreitenden Ideen des Whole Earth Network als eine wichtige Kraft in Prozessen der tiefgreifenden Mediatisierung im Blick haben. Die Einzigartigkeit dieses Netzwerks liegt einerseits in dem Glauben seiner Pioniere an die Veränderbarkeit der Gesellschaft durch Technologie begründet und andererseits in ihrer Position als Vermittler zwischen verschiedenen Welten der Technologieentwicklung, der Politik, der Wirtschaft, der Gegenkultur und der alltäglichen Mediennutzung. Wie Manuel Castells (2001) betont hat, kamen in einer besonderen historischen Situation Wissenschaft, Kommunitarismus, Hacker- und Unternehmertum in der Kultur derjenigen zusammen, die das Internet schufen.Footnote 11

Ein interessanter Aspekt dieser Dynamik ist, dass die neuen Gemeinschaften, über die die Mitglieder des Whole Earth Networks „berichteten“, nicht einfach „da“ waren und daher nicht Gegenstand einer „investigativen“ journalistischen Berichterstattung sein konnten. Immer wieder entstanden sie erst als Produkt der Berichterstattung über sie, aber auch durch die Konferenzen, die ihre imaginären Mitglieder versammelten. Insofern handelt es sich beim Engagement des Whole Earth Networks nicht einfach um Technologiejournalismus im eigentlichen Sinne des Wortes. Vielmehr ging es bereits hier um ein Kuratieren von technologieorientierten Gemeinschaften: um die Definition der Relevanzrahmen dieser Gemeinschaften, um die Auswahl potenzieller Mitglieder als Teil ihrer Akteurskonstellationen, um das Arrangieren einzelner Statements und deren Präsentation gegenüber verschiedenen Publika (sowie der entstehenden Pioniergemeinschaft selbst).

Welchen Einfluss diese Pioniergemeinschaften auf das Zustandekommen der tiefgreifenden Mediatisierung hatten, wird an den expliziten Verweisen von Vertretern führender Technologieunternehmen etwa auf den Whole Earth Catalog oder die Homebrew-Computer-Club-Treffen deutlich.Footnote 12 Aber auch heute gibt es derartige Pioniergemeinschaften. Dazu gehören die bereits genannte Maker-Bewegung mit ihrer Orientierung auf experimentelle Praktiken und Imaginationen des Machens, die Quantified-Self-Bewegung mit ihrer Orientierung auf experimentelle Praktiken und Imaginationen des Selbst oder die Hacks/Hackers-Bewegung mit ihrer Orientierung auf experimentelle Praktiken und Imaginationen der Veröffentlichung. Es lässt sich eine Entwicklungslinie zwischen diesen und anderen heutigen Pioniergemeinschaften zurück zum Whole Earth Network ausmachen,Footnote 13 auch wenn man vermeiden sollte, jede Pioniergemeinschaft auf die kalifornische Ideologie rückzuführen. In China entstand beispielsweise eine spezifische staatsnahe Form der Maker-Bewegung (Lindtner 2020) und im sogenannten Global South entwickeln sich generell eigenständige Kontexte der experimentellen Technologieentwicklung (Arora 2019), deren Teil auch Pioniergemeinschaften sein können. Gleichwohl fällt gerade mit Blick auf Europa die Rolle von im San Francisco Bay Area verankerten Pioniergemeinschaften auf.

Pioniere sind in dem hier interessierenden Verständnis weniger außergewöhnliche Erfinder bestimmter Technologien, die in Innovationsdiskursen als „disruptiv“ verhandelt werden, sondern sie bewegen sich eher auf einer alltagsweltlichen Ebene des technologischen Wandels. Ebenso wichtig ist es, dass wir uns diesen Akteuren reflexiv und kritisch annähern und es vermeiden, ihre Ideologien einfach zu übernehmen (Hepp und Schmitz 2022). Pioniere in dem hier umrissenen Sinne können Professionelle sein (z. B. Journalisten oder Entwickler, die in einer bestimmten beruflichen Sparte arbeiten) oder Amateure (Menschen, die z. B. als Maker in ihrer Freizeit basteln).Footnote 14 Eine solche Unterscheidung von „Professionellen“ und „Amateuren“ ist gleichwohl stets relativ, indem „amateurhafte Pioniere“ in ihrer jeweiligen Domäne ein sehr umfassendes Wissen und ebensolche Kompetenzen erwerben können, wodurch diese auch zum Bereich ihres beruflichen Engagements werden kann. Ein Beispiel hierfür wäre ein Maker, der sich so professionalisiert, dass er mit seinen Pionierideen seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Darüber hinaus sind „amateurhafte Pioniere“ nicht unbedingt Amateure im Hinblick auf ihre berufliche Sozialisation: Sie sind oft als Ingenieure, Programmierer oder in anderen verwandten Bereichen professionell ausgebildet. Aber wenn sie als Teil der Pioniergemeinschaft agieren, geschieht dies nicht ausgehend von ihrer beruflichen Rolle und sie sind typischerweise nicht oder nur in Teilen auf Gelderwerb ausgerichtet.

Allgemein gesprochen können wir den Begriff Pionier im hier verwendeten Sinne anhand von folgenden vier Punkten festmachen (Hepp 2021, S. 61; Hepp und Loosen 2021, S. 581 f.):

  1. 1.

    Pioniere konstruieren ihre Identität auf Basis der Idee, dass sie eine Vorreiterrolle innerhalb einer bestimmten Domäne einnehmen und in dieser Rolle von anderen Mitgliedern der Domäne (aber nicht unbedingt von allen) akzeptiert werden.

  2. 2.

    Innerhalb ihrer Domäne agieren Pioniere als „Intermediäre“ (Bourdieu 2010, S. 151),Footnote 15 die in ihren Praktiken verschiedene Handlungsfelder (Technologieentwicklung, alltagsweltliche Mediennutzung, Politik etc.) miteinander verbinden und oft explizit für die Notwendigkeit plädieren, über das eigene Feld hinauszugehen.

  3. 3.

    Pioniere spielen aufgrund ihrer experimentellen Praktiken eine besondere Rolle für die (Weiter‑)Entwicklung ihrer Domäne (z. B. in dem Sinne, dass sie auch als Trainer oder Berater fungieren).

  4. 4.

    Pioniere verfügen über Vorstellungen möglicher Zukünfte, die sich als „soziotechnische Imaginationen“ (Jasanoff und Sang-Hyun 2015) medienbezogener Entwicklungen beschreiben lassen. Im Hinblick auf ihre Imaginationen werden diese Pioniere oft zu einem Thema des allgemeineren Mediendiskurses über den medien- und technologiebezogenen Wandel.

Solche Pioniere sind typischerweise in Pioniergemeinschaften als „communities of practice“ (Wenger 1999) engagiert. Diese Gemeinschaften sind auf die Zukunft und den Wandel ausgerichtet und konstituieren sich um bestimmte experimentelle Praktiken. Im Hinblick auf diese Gemeinschaften teilen ihre Mitglieder ein „Wir-Gefühl“ und haben „Strukturen“ (Knoblauch 2008, S. 75–77) jenseits situativer Zusammenkünfte entwickelt. Innerhalb von Pioniergemeinschaften nehmen professionelle Pioniere oft die Rolle einer „organisatorischen Elite“ (Hitzler und Niederbacher 2010, S. 22) ein: Sie sind umfassend in diesen Gemeinschaften engagiert, haben ein detailliertes Wissen über den thematischen Kern, das dominierende Thema dieser Gemeinschaften ausgebildet und sind typischerweise verantwortlich für die Organisation der Aktivitäten dieser Gemeinschaften.

Auch wenn sich Pioniergemeinschaften gerne als Bewegung bezeichnen, wäre es verkürzend, sie mit sozialen Bewegungen im soziologischen Sinne gleichzusetzen. Soziale Bewegungen stehen typischerweise in einer konflikthaften Beziehung zu klar identifizierten Gegnern (Rucht und Neidhart 2002; Touraine 2002). Sie sind durch dichte informelle Netzwerke verbunden und teilen eine ausgeprägte kollektive Identität (Porta und Diani 2006, S. 20). Medien spielen seit Langem eine wichtige Rolle in der Selbstorganisation sozialer Bewegungen und werden auch genutzt, um eine breitere Öffentlichkeit für ihre politischen Ziele zu gewinnen.Footnote 16 Wie soziale Bewegungen haben Pioniergemeinschaften informelle Netzwerke, eine kollektive Identität und ein gemeinsames Handlungsziel. Insbesondere kommen sie „technologie- und produktorientierten Bewegungen“ (Hess 2005, S. 516), wie der Open-Source-Bewegung (Schrape 2019a), sehr nahe. Allerdings sind Pioniergemeinschaften in der Regel nicht in vergleichbare konfliktträchtige Beziehungen mit identifizierbaren Gegnern verwickelt, wie es bei sozialen Bewegungen der Fall ist. Es geht ihnen auch nicht um eine politische Auseinandersetzung im engeren Sinne des Wortes.

Pioniergemeinschaften sind viel offener als soziale Bewegungen für neue Formen des Unternehmertums und der Politikgestaltung, was ihnen eine Nähe zu Thinktanks verleiht (McGann und Sabatini 2011). Im Allgemeinen sind Thinktanks „politikorientierte, wissensintensive Ideenproduzenten und -verarbeiter“ (Hart und Vromen 2008, S. 136). Präzisere Definitionen betonen ihren Charakter als „nicht-staatliche Institutionen“, die „die Politik beeinflussen wollen, aber keine formale Entscheidungsmacht haben“ (Pautz 2010, S. 276). Pioniergemeinschaften teilen mit Thinktanks die Fähigkeit, Ideen zu produzieren und auch den Aufwand, der betrieben wird, um Politik und Öffentlichkeit zu beeinflussen. Außerdem besteht eine weitere Ähnlichkeit zwischen jüngeren Thinktanks und Pioniergemeinschaften in der Art und Weise, wie sie sich digital organisieren (Pautz 2010, S. 276). Der soziale Wandel, den sie zu fördern versuchen, ist immer mehr technisch und weniger politisch orientiert.

Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen lassen sich Pioniergemeinschaften als ein Hybrid von sozialer Bewegung und Thinktank charakterisieren. Sie bringen typischerweise Produzenten und Entwickler mit Nutzern zusammen, verbinden Forschung, Politik, Journalismus und Industrie. Sie stellen eine „verbindende Schicht“ zwischen verschiedenen korporativen Akteuren wie etablierten Medien- und Technologieunternehmen und staatlichen Behörden dar. Als Intermediäre sind Pioniergemeinschaften grundlegend für das laufende Kuratieren von Zukunftsvorstellungen über heutige digitale Medientechnologien und Infrastrukturen, oft lange bevor sie als etablierte Produkte oder Dienstleistungen verfügbar sind. Sie sind zentrale kollektive Akteure beim Zustandekommen der tiefgreifenden Mediatisierung – und damit dem Entstehen der „digitalen Gesellschaft“.

3 Der Lebenszyklus von medienbezogenen Pioniergemeinschaften

Entscheidend für ein Verständnis der Pioniergemeinschaften im Prozess der tiefgreifenden Mediatisierung ist, ihren Lebenszyklus im Blick zu haben. Hier lassen sich typischerweise drei Phasen im „Leben“ einer Pioniergemeinschaft unterscheiden: die Formierungsphase, die Hochphase und die Ausklangphase. Diese drei Phasen verweisen auf die Prozesshaftigkeit von Pioniergemeinschaften, die durch deren Zukunftsorientierung ein besonderes Moment hat: Indem Pioniergemeinschaften getragen werden von Imaginationen der Zukunft und Praktiken des Experimentellen, verliert ein hinreichender Teil ihrer Mitglieder in dem Moment, wenn die Imaginationen und Praktiken beginnen eine breitere Akzeptanz zu finden, das Interesse an der Gesellschaft. Die Mitglieder wenden sich dann entweder einfach ab oder ziehen zur nächsten Pioniergemeinschaft weiter. Wir haben es also mit einem ständigen Formieren und Ausklingen von Pioniergemeinschaften zu tun. Der Stellenwert von Pioniergemeinschaften für Prozesse der tiefgreifenden Mediatisierung lässt sich nur dann angemessen erfassen, wenn man diese Gesamtdynamik im Blick hat.

Abbildung 1 fasst den typischen Lebenszyklus von gegenwärtigen medienbezogenen Pioniergemeinschaften.Footnote 17 Hierbei ist das Schaubild so zu lesen, dass die X‑Achse die Mitgliederzahl der jeweiligen Pioniergemeinschaft in ihrer relativen Entwicklung fasst, die Y‑Achse den Zeitverlauf.Footnote 18 Die näheren Beschreibungen innerhalb des sich so ergebenden Quadranten dienen der Charakterisierung des Lebenszyklus im Sinne der sozialwissenschaftlichen Typenbildung:Footnote 19 Pioniergemeinschaften durchlaufen typischerweise die Phasen der Formierung, des Hochs und des Ausklangs, wobei es im Hinblick auf die Spezifika von einzelnen Pioniergemeinschaften Abweichungen geben kann. Gerade solche Abweichungen führen aber vor Augen, wie hilfreich es ist, den typischen Lebenszyklus im Blick zu haben, denn anhand von ihm werden die Besonderheiten einzelner Pioniergemeinschaften deutlich.

Abb. 1
figure 1

Der typische Lebenszyklus von medienbezogenen Pioniergemeinschaften

3.1 Die Formierungsphase

Medienbezogene Pioniergemeinschaften entstehen als eine spezifische soziale Figuration in einem Geflecht von vielfältigen Kontext-Figurationen. Diese können bestehende Pioniergemeinschaften sein, so wie das Whole Earth Network ein wichtiger Bezugspunkt für das Entstehen verschiedener weiterer Pioniergemeinschaften gewesen ist (Turner 2006). Von Relevanz können aber auch verschiedene weitere technologiebezogene Gruppen und Bewegungen sein, wie beispielsweise Cyberpunks (Featherstone und Burrows 1995; Hafner und Markoff 1995), die Open-Source-Bewegung (Lewis und Usher 2013; Schrape 2019a) oder die Open-Data-Bewegung (Baack 2015; Milan 2017), die letztlich dem Gedankengut des Hackings nahestehen (Coleman 2013; Hunsinger und Schrock 2016). Wichtig ist daneben für viele Pioniergemeinschaften das breite Feld von do it yourself (Day 2016; Schrape 2019b) sowie weitergehende soziale Bewegungen, beispielsweise im Bereich von Umweltschutz und Nachhaltigkeit (Kannengießer 2018; Seyfang und Smith 2007). Die sich so ergebende Nähe zu technologiebezogenen sozialen Bewegungen als Kontextfigurationen wird von der Organisationselite gerne strategisch betont, gibt sie Pioniergemeinschaften doch eine besondere Legitimation: Sie erhalten dadurch den Anklang einer (kritischen) sozialen Bewegung. Gerade die strategische Inszenierung einer solchen Nähe sollte aber, wie bereits dargelegt, nicht über die Differenz zwischen beiden hinwegtäuschen.

Die Formierung von Pioniergemeinschaften und ihr weiterer Lebenszyklus sind in Bezug auf verschiedene unterstützende Institutionen zu sehen. Acceleratoren und Inkubatoren wurden eingangs bereits im Hinblick auf deren Bedeutung für Start-ups genannt. Für die Pioniergemeinschaften erscheinen aber eine Reihe von anderen Institutionen wesentlich entscheidender zu sein, weil diese einen wichtigen Unterstützungszusammenhang für ein generelles „Nachdenken“ über eine technologiegetriebene Zukunft darstellen. Dabei kann man eine Nähe von Zukunftsforschung oder Futurologie und dem Gedankengut von Pioniergemeinschaften ausmachen, operieren doch beide mit der Annahme, dass es in erheblichem Maße um eine planende Gestaltung der Zukunft auf Basis utopischer Entwürfe ginge.Footnote 20 Von Alvin Toffler als „prototype of the futurist think tank“ (Toffler 1970, S. 462) bezeichnet, kann das in Palo Alto liegende Institute for the Future (IFTF) seit 1968 als eine der wichtigen unterstützenden Institutionen gelten, indem hier immer wieder Workshops zu Themen, die nahe an den Ideen von Pioniergemeinschaften liegen, veranstaltet wurden.Footnote 21 Unterstützende Institutionen sind zudem wichtig, um die finanzielle Basis von Pioniergemeinschaften abzusichern. So haben beispielsweise sowohl die Quantified-Self- als auch die Maker-Bewegung, die sich zu dem Zeitpunkt in finanziell schwierigen Situationen befanden, im Frühjahr 2020 am von Lucy Caldwell organisierten „Building Bridges Salon“ teilgenommen, bei dem technologiebezogene Gemeinschaften mit möglichen Kapitalgebern in Kontakt gebracht werden. Für die Gründung der Hacks/Hackers war die Knight Foundation entscheidend, indem diese eine Konferenz finanzierte, bei der verschiedene Akteure der entstehenden Pioniergemeinschaft zusammen kamen. Gegenwärtig wird ein erheblicher Teil des Engagements der Hacks/Hackers über ein Projekt der Google News Initiative finanziert. Unterstützende Institutionen haben also in der Formierungsphase wie auch in den anschließenden Phasen im Lebenszyklus von Pioniergemeinschaften eine doppelte Funktion: Einerseits eröffnen sie einen weiteren intellektuellen Horizont, in dem sich das Engagement von Pioniergemeinschaften positioniert, andererseits helfen sie, die für die Pioniergemeinschaften notwendigen Ressourcen zu sichern.

In ihrer Formierungsphase werden Pioniergemeinschaften als eigenständige Figuration von der Gesamtheit ihrer kontextuellen Figurationen abgrenzbar. Das Entstehen von Pioniergemeinschaften ist kein zufälliger Akt, sondern ein von ihrer zukünftigen Organisationselite vollzogener Schritt, der auch die Namensgebung miteinschließt. Die Quantified-Self-Bewegung lässt sich beispielsweise zurückführen auf ein Treffen im Haus von Kevin Kelly im Jahr 2007, das dieser zusammen mit einem anderen ehemaligen Wired-Journalisten, Garry Wolf, ins Leben rief, um Interessierte am Thema Selbstvermessung in der Bay Area zusammenzubringen.Footnote 22 Der Name der Maker-Bewegung verweist auf die Zeitschrift Make: Magazin, die im Jahr 2005 durch Dale Dougherty (ehemals O’Reilly Media) gegründet wurde, der für sich in Anspruch nimmt, die Bezeichnung der Maker geprägt und so die lose verstreuten Gruppen von Menschen mit entsprechenden Interessen erst zusammen gebracht zu haben.Footnote 23 Die Hacks/Hackers wurden von Burt Herman, Rich Gordon, Aron Pilhofer und Chrys Wu 2009 in San Francisco offiziell gegründet, während Burt Herman nach einer Fellowship an der Stanford University selbst ein Start-up aufbauen wollte.Footnote 24

Die Kritik an dem Diskurs um Disruption und Start-ups zu Beginn dieses Beitrages hat aber bereits deutlich gemacht, dass man mit solchen Gründungsnarrativen und der damit verbundenen Zuschreibung von Ideen zu einzelnen wenigen Personen vorsichtig sein sollte. Wie der Hinweis auf die kontextuellen Figurationen zeigt, konstituieren sich Pioniergemeinschaften in einem weiteren Geflecht sozialer Gruppierungen. Der Kern ihrer Entstehung ist also weniger eine originäre Erfindung, sondern eher eine thematische Zentrierung: Aus den allgemeinen Diskursen der kontextuellen Figurationen um jeweils aktuelle, technologiebezogene Veränderungen wird ein einzelnes Themenbündel herausgegriffen, zum geteilten Bezug experimenteller Praktiken und Zukunftsimaginationen und so zum Kern der Pioniergemeinschaft. Über diese thematische Zentrierung beziehen Pioniergemeinschaften dann ihre inhaltliche Identität, wobei sie in vielen anderen Vorstellungen den weiteren kontextuellen Figurationen über ihren gesamten Lebenszyklus verbunden bleiben.

Typischerweise integrieren Pioniergemeinschaften von Beginn an Menschen aus unterschiedlichen sozialen Domänen. Dabei sind bestimmte Domänen augenfällig: (Technologie‑)Journalismus, (Technologie‑)Entwicklung, Politik und Wirtschaft sowie vom jeweiligen Thema begeisterte Alltagsnutzer. Je nach thematischer Ausrichtung der jeweiligen Pioniergemeinschaft, beispielsweise Selbstvermessung und Persönlichkeitsentwicklung im Falle von Quantified Self, kommen weitere Domänen hinzu, in dem Fall die des Gesundheitswesens. Wir haben es bei Pioniergemeinschaften also gerade nicht mit Expertenrunden einer einzelnen Domäne zu tun; ihr Potenzial entwickeln sie zu nicht unerheblichen Teilen daraus, dass sie in einer „Handelszone“ (Lewis und Usher 2016, S. 543) Menschen unterschiedlicher Herkünfte zusammenbringen, die durch die geteilte thematische Ausrichtung auf den Kern der jeweiligen Pioniergemeinschaft, Praktiken des Selbst (Quantified Self), der Herstellung (Maker) oder der Veröffentlichung (Hacks/Hackers) gleichwohl ein geteiltes Wir entwickeln, das die Basis für einen tiefergehenden Austausch ist.

Beim Entstehungsprozess selbst fällt ein weiteres Muster auf, das bereits vom Whole Earth Network bekannt ist und das sich als proklamierende Konstitution bezeichnen lässt. Damit ist gemeint, dass in einem ersten Schritt die Existenz eine „Bewegung“ unter einem bestimmten Namen (Quantified Self, Maker usw.) in einem journalistischen Beitrag, Blogeintrag oder Vergleichbarem unterstellt wird und dass auf dieser Basis dann in einem zweiten Schritt Menschen zu einer Veranstaltung (Meet-up, Tagung, Faire usw.) eingeladen werden. Diese werden so zumindest in Teilen erst miteinander in Kontakt gebracht und beginnen dann, zu der zuvor unterstellten „Bewegung“ zusammenzuwachsen. Die proklamierende Namensgebung ist also ein Akt des Schaffens der Vorstellung einer bestimmten Gemeinschaft, deren Mitgliedschaft erst ausgehend von dieser Namensgebung entwickelt wird. Die ersten entstehenden Texte dienen demnach nicht einfach dem Berichten über eine bestehende Pioniergemeinschaft, sondern vielmehr dem Schaffen einer Pioniergemeinschaft. Die proklamierende Konstitution hat, so sie erfolgreich ist, damit Momente einer „self-fulfilling prophecy“, ein Zusammenhang, wie wir ihn aktuell auch von Diskursen über Artificial Intelligence kennen (Bareis und Katzenbach 2021).

3.2 Die Hochphase

Die Hochphase ist der Abschnitt im Lebenszyklus von Pioniergemeinschaften, in dem sie eine Aufmerksamkeit weit über die Grenzen von Technologiekreisen hinaus erfahren, zu einem Thema der allgemeinen öffentlichen Berichterstattung werden und die größte Zahl ihrer Mitglieder haben. Auch in der Hochphase verlieren Pioniergemeinschaften gleichwohl nicht den Rückbezug zu ihren kontextuellen Figurationen. Diese bleiben ein Reservoir neuer Ideen und Mitglieder. Die Bewegung von kontextuellen Figurationen hin zu den jeweiligen Pioniergemeinschaften ist begründet durch den „Appeal“, den letztere in der Zeit ihrer Hochphase entfalten: Sie gelten als das neue „heiße Ding“, dem man sich, so man selbst seiner Zeit voraus sein möchte, zuwenden sollte.Footnote 25

Auch in dieser Phase inszeniert die Organisationselite die jeweilige Pioniergemeinschaft als eine „Bewegung von unten“ und bedient sich typischerweise der Sprache von sozialen Bewegungen, die Inklusivität, lokale Verankerung, offene Beteiligungsmöglichkeiten und den gemeinsamen Einsatz für eine Veränderung der Gesellschaft (oder gar der Welt) hin zum Besseren betont. Dies darf aber nicht übersehen lassen, dass Pioniergemeinschaften während ihrer Hochphase von ihrer Organisationselite kuratiert bleiben und meist – gerade was Fragen von Gender und Diversität betrifft – weit weniger inklusiv sind, als sie sich darstellen.Footnote 26 Die Kuratierung der Pioniergemeinschaften basiert auf verschiedenen Instrumenten, wobei insbesondere (Online‑)Publikationen und Veranstaltungen (Meet-ups, Tagungen, Messen) von Bedeutung sind.

Die Art der Kuratierung variiert zwischen unterschiedlichen Modellen. Bei der Quantified-Self-Bewegung geschieht diese beispielsweise mittels der Marke „Quantified Self“, die rechtlich nicht durchgesetzt wird, aber deren Verwendung durch andere zum Anlass genommen wird, um mit diesen in Austausch zu treten. Bei der Maker-Bewegung haben wir es mit dem Modell eines Franchising zu tun, d. h. die Konzepte oder die visuelle Aufmachung und der Markenname des Make: Magazins und der Maker Faire können gegen eine sehr geringe Gebühr von einzelnen Spaces, Gruppen und Verlagen genutzt werden, so lange bestimmte Prinzipien der Pioniergemeinschaft eingehalten werden. Die Hacks/Hackers basieren auf dem Modell des fortlaufenden Konnektierens, bei dem durch einen Newsletter und Veranstaltungen kontinuierlich Kontakte zwischen den interessierten Journalisten und Programmierern geschaffen werden. In ihrer Verschiedenheit verweisen diese Modelle auf die gleichen Grundprinzipien des Kuratierens. Dazu gehören: die Definition der Gemeinschaft und ihrer grundlegenden Ideen und Praktiken; die Auswahl von Personen, Themen und Praktiken, die die Gemeinschaft am besten repräsentieren und die entsprechend für sie sprechen können; sowie das Arrangieren und Präsentieren derselben für das Publikum und die Gemeinschaft selbst.

Typischerweise wird die Organisationselite in der Hochphase über den Kreis der ursprünglichen Gründer hinaus erweitert. Die Hochphase von Pioniergemeinschaften zeichnet sich durch eine intensive Vernetzung ihrer Organisationselite aus. Hierzu tragen die in dieser Phase häufigen Veranstaltungen bei, die einerseits Möglichkeiten schaffen, sich zu treffen, und die andererseits die Notwendigkeit mit sich bringen, sich im Vorfeld, Vollzug und Anschluss intensiv untereinander auszutauschen. Einzelne Vernetzungsmöglichkeiten werden direkt von der Organisationselite initiiert. Maker Media, Herausgeber des Make: Magazins und Initiator der Maker Faires, organisierte beispielsweise phasenweise ein jährliches Treffen der größeren Lizenzinhaber und damit lokalen Organisatoren der Maker Faires. Bei der Quantified-Self-Bewegung fanden während der großen europäischen Konferenzen in den Jahren 2013, 2015 und 2017 in Amsterdam neben dem allgemeinen Programm Vernetzungstreffen im kleinen Kreis statt. In Teilen lässt sich die Vernetzung der Organisationselite anhand von solchen Veranstaltungen rekonstruieren. Verschiedene Pioniergemeinschaften haben unterschiedliche Vernetzungsmuster ihrer Organisationselite, was sich auch an ihren Online-Kontakten zeigt (Schmitz et al. 2022). Im Falle der Quantified-Self-Bewegung basiert das Twitter-Netzwerk der QS-Organisationselite maßgeblich auf den personenbezogenen Accounts der Gründer, Meet-up-Organisatoren und Sprecher der Konferenzen. Zusätzlich werden Bezüge zur Tech- und Start-up-Szene deutlich. Das Twitter-Netz der Organisationselite der Maker ist hingegen, neben den eigenen Marken-Accounts, gekennzeichnet durch Accounts von heterogenen Organisationen, wie etwa Technologieunternehmen, Community-Plattformen, journalistische Outlets, größeren Maker-Zusammenschlüssen und den länderspezifischen oder regionalen Accounts der Maker Faires. In beiden Fällen teilen die Netzwerke eine deutliche Orientierung auf die Organisationselite in der San Francisco Bay Area, die so ihren transnationalen Einfluss entfaltet.

In ihrer Hochphase sind Pioniergemeinschaften Gegenstand einer allgemeinen Medienberichterstattung, die über die eher engen Grenzen des Technologiejournalismus hinausgeht. Dazu tragen auch die Veranstaltungen der Pioniergemeinschaften bei, die durch ihre zunehmende Größe das allgemeine Interesse des Journalismus erregen. Die Art und Weise, wie Pioniergemeinschaften in der Medienberichterstattung eingeordnet werden, unterscheidet sich zum Teil erheblich.Footnote 27 Während Artikel zur Maker-Bewegung beispielsweise deren Beitrag zu einer utopischen Zukunft voller Möglichkeiten des kreativen Zusammenarbeitens und neuer Formen des Wirtschaftens betonen und wir hier spezifische Bezüge zu einem allgemeinen „digitalen Utopismus“ (Dickel und Schrape 2017, S. 47) sehen, dominiert bei der Quantified-Self-Bewegung eher ein dystopischer Blick auf eine negativ gezeichnete Zukunft, bei dem die Überwachung und Ausbeutung individueller Daten im Vordergrund stehen. Über solche Unterschiede hinweg zeigen sich in der Berichterstattung über beide Pioniergemeinschaften allerdings zwei Zusammenhänge: Einerseits „übersetzt“ die Berichterstattung die experimentellen Praktiken und Imaginationen der Pioniergemeinschaften in einen gesellschaftlich breit anschlussfähigen Diskurs. Andererseits reproduziert die Berichterstattung die Annahme der einfachen technischen Gestaltbarkeit von Gesellschaft. Auf diese Weise wird über die Pioniergemeinschaft hinaus ein Imaginationshorizont konstruiert, in dem sich dann Menschen im Alltag mit ihrer Aneignung von digitalen Medien- und Kommunikationstechnologien positionieren können. Die von den Pioniergemeinschaften gesehenen Zukünfte werden so zu Fluchtpunkten der je eigenen Medienpraxis.

Die Hochphase von Pioniergemeinschaften ist auch der Abschnitt in ihrem Lebenszyklus, in dem das Entstehen von Start-ups (oder Spin-offs etablierter Unternehmen) die größte Dynamik erreicht. Hier erscheint es wichtig, die eingangs formulierte Kritik an einem einfachen Disruptionsnarrativ im Blick zu haben. Ein linearer Blickwinkel beispielsweise in der Form, Pioniergemeinschaften würden bestimmte disruptive Ideen hervorbringen, aus denen dann (wirtschaftliche erfolgreiche) Start-ups entstünden, wäre zu vereinfachend. Vielmehr lohnt es sich, nochmals die Metapher der „Handelszone“ (Lewis und Usher 2016, S. 543) aufzugreifen: Pioniergemeinschaften zeichnen sich dadurch aus, dass Angehörige unterschiedlicher sozialer Domänen, die das Interesse für ein bestimmtes, zukunftweisendes Thema teilen und so ein gemeinsames Wir entwickeln, zusammenkommen. Dies schafft Raum für sehr Unterschiedliches: das gemeinsame Experimentieren und Erproben, über das neue Ideen entstehen, die im Einzelfall zu einem Start-up führen können. In vielen Fällen entstehen aber erst einmal individuelle und kollektive Projekte, die (phasenweise) den Lebensunterhalt einer oder weniger Personen sichern. Pioniergemeinschaften bieten für diese Personen Treffpunkte oder im Falle der Maker Spaces auch Arbeitsmöglichkeiten für (Einzel‑)Selbstständige. Die Vielfalt der bestehenden Dynamiken unterscheidet sich kaum von allgemeinen Co-Working-Spaces.Footnote 28 Schließlich darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Pioniergemeinschaften auch ein Werbeumfeld für bereits etablierte Start-ups und Unternehmen sind. Hier ist vor allem an Konferenzen, wie die der Quantified-Self-Bewegung, zu denken, die Start-ups wie das finnische Oura Health Ltd. anziehen, das einen Tracking-Ring anbietet und solche Konferenzen als Möglichkeit der Werbung nutzte. Die wechselseitige Verflochtenheit von Pioniergemeinschaften und Start-ups zeigt sich auch bei den Hacks/Hackers, bei denen die Firmensitze von Start-ups immer wieder Orte der Meet-ups sind, bei denen sich dann wiederum bekannte Start-ups präsentieren.

3.3 Die Ausklangphase

Als eine dritte Phase lässt sich die Ausklangphase unterscheiden. Die Bezeichnung soll eine gewisse Ambiguität des Umstands ausdrücken, mit dem wir es zu tun haben: Pioniergemeinschaften „sterben“ nicht einfach. Nach ihrer Hochphase ändern sie aber ihren Aggregationszustand, schrumpfen gewissermaßen zusammen, rücken aus der öffentlichen Aufmerksamkeit und werden zu einem Teil des Reservoirs von kontextuellen Figurationen. In diesem Sinne kann man davon sprechen, dass sie mehr oder weniger langsam „ausklingen“ und damit in der Sichtbarkeit „verflüchtigen“.

Ein zentraler Aspekt dieser Ausklangphase ist im Sinne Max Webers die „Veralltäglichung“ des identitätsstiftenden Themas der jeweiligen Pioniergemeinschaft und damit der Verlust ihrer Besonderheit.Footnote 29 Exemplarisch lässt sich dies an der Quantified-Self-Bewegung verdeutlichen. Während ihres Entstehens waren Themen der Selbstvermessung oder darauf basierende Praktiken des Selbst und der Persönlichkeitsentwicklung in dem Sinne experimentell, dass die entsprechenden Technologien in ihrem Anfangsstadium waren. Erste Devices kamen von vergleichsweise kleinen Firmen, wie beispielsweise die Smartwatch Pebble, die 2009 als Studierendenprojekt startete und 2011 von dem bereits erwähnten Inkubator Y Combinator als Start-up entwickelt wurde, oder die Firma Fitbit, die ursprünglich Healthy Metrics Research hieß und 2011 noch vergleichsweise einfache Tracker vertrieb. Viele frühe Mitglieder der Pioniergemeinschaft entwickelten eigene kleine (Hardware- oder Software‑)Tools zum Self-Tracking oder „hacks“ zur Umnutzung bestehender Produkte. In der einsetzenden Medienberichterstattung erschienen die frühen Vertreter dieser Pioniergemeinschaft als irritierend, ihre Praktiken aber als zukunftsweisend. Innerhalb weniger Jahre änderte sich die Situation maßgeblich. Unternehmen wie Apple und Google erkannten Self-Tracking als einen wichtigen Markt, den sie mit eigenen Produkten wie der Apple Watch als Endgerät oder Android Wear (jetzt Wear OS) als Betriebssystem schnell dominierten. Pebble ging 2016 in Konkurs, wurde weitgehend von Fitbit übernommen, das seit 2021 Teil von Alphabet/Google ist. Self-Tracking ist nicht mehr eine experimentelle Praxis, sondern ein Breitenphänomen, und auch die Medienberichterstattung über Quantified Self wurde deutlich kritischer. Die Quantified-Self-Bewegung wurde zumindest in Deutschland und Großbritannien zunehmend als Dystopie einer Überwachungsgesellschaft und deren Datenausbeutung präsentiert. Viele der Mitglieder der Pioniergemeinschaft wandten sich anderen Gruppierungen zu, in denen sie wiederum das Experimentelle fanden, wie beispielsweise dem Biohacking. Die Organisationselite schrumpfte deutlich, die meisten Meet-ups sind eingestellt, größere Tagungen finden nicht mehr statt und Quantified Self wird derzeit insbesondere von seinem Gründer Gary Wolf und einem kleinen Team aufrechterhalten. Die Pioniergemeinschaft wurde damit Teil des Reservoirs anderer technologiebezogener Gruppierungen, die als Kontextfigurationen der Entstehungszusammenhang neuer Pioniergemeinschaften sind. Hier kann sich dann ein Zyklus neu entfalten.

Das Beispiel des Grinder zeigt aber auch, dass eine breite Veralltäglichung des identitätsstiftenden Themas von Pioniergemeinschaften nicht immer gegeben sein muss. Im Kern lassen sich die Grinder als eine Gemeinschaft begreifen, deren Mitglieder die grundlegende Idee des Transhumanismus auf extreme Weise in Form von körperlicher Modifikation realisieren, indem sie Technologieimplantation auf DIY-Ebene praktizieren. Dabei stehen sie mit der Idee der Körpermodifikation der Biohacking-Bewegung nahe, in der Art ihrer Realisierung der Maker-Bewegung. Bekannt geworden sind die Grinder insbesondere durch die Implementierung von RFID-Chips (über die Wired bereits 2006 berichtete; Newitz 2006) und durch Magnet-Implantate, die das „Fühlen“ von Elektromagnetismus ermöglichen (Doerksen 2017). Es muss als offen gelten, inwieweit mit einer Veralltäglichung solcher Praktiken zu rechnen ist. So zeichnet sich trotz einer Aktivität dieser Pioniergemeinschaft von über 15 Jahren noch keine weitere Verbreitung der Implementierung von Chips zur Erweiterung menschlicher Körperfunktionen ab. Insofern machen die Grinder als Extrembeispiel greifbar, dass die Veralltäglichung der (ehemals) experimentellen Praktiken kein zwangsläufiges Kennzeichen der Ausklangphase sein muss, in vielen Fällen diese aber dennoch beschleunigen kann.

Im engeren Sinne steht am Ende der Ausklangphase damit keine Pioniergemeinschaft mehr. Das Experimentelle und zumindest Teile der Zukunftsimaginationen der Pioniergemeinschaft haben ihren besonderen Status verloren. Aus diesem Blickwinkel kann man sagen, sie war „erfolgreich“. Aus Sicht der Angehörigen der Organisationselite wird die Ausklangphase aber im Einzelfall, wie unsere eigenen Interviews zeigen, auch als Niedergang erlebt, als Schwund von Mitgliedern, finanziellen Ressourcen und Aufmerksamkeit. Die Entscheidung, vor der sie dann stehen, ist entweder zur nächsten entstehenden Pioniergemeinschaft weiter zu ziehen (hier scheint es so etwas wie den Typus des „Berufspioniers“ zu geben), gänzlich den Kosmos vergleichbarer Gruppierungen zu verlassen (einen Rückzug in den Beruf und das Private, was immer wieder zu finden ist) oder aber zu einer Art Nachlassverwalter der ehemaligen Pioniergemeinschaft zu werden, was heißt, eine kleine Gruppe von Menschen zusammenzuhalten, die sich den ursprünglichen Ideen verpflichtet fühlen (ein Weg, den insbesondere Personen aus dem inneren Kreis der Organisationselite gehen).

4 Fazit: Horizonterprobung und Übersetzung

Ausgangspunkt für diesen Beitrag war eine Kritik an dem einfachen Narrativ der Disruption und des Start-ups, die dann zu einer Betrachtung von Pioniergemeinschaften und deren Stellenwert für die tiefgreifende Mediatisierung führte. Hierbei wurde die Prozesshaftigkeit der Pioniergemeinschaften deutlich, die sich in deren Lebenszyklus von Formierung, Hoch und Ausklang beschreiben lässt. Die Gründung von Start-ups spielt für medienbezogene Pioniergemeinschaften auch eine Rolle, wie die Vorstellung der Veränderbarkeit von Gesellschaft durch Technologie; ein weiterer Diskurs, der ebenfalls das Narrativ der Disruption trägt. Was lässt sich nun aber ausgehend von den bisherigen Darlegungen zur Rolle von Pioniergemeinschaften bei Prozessen der tiefgreifenden Mediatisierung sagen? Versucht man das bisher Gesagte weiter zuzuspitzen, sind es im Kern zwei grundlegende Prinzipien, entlang derer sich ihr Einfluss fassen lässt: Horizonterprobung und Übersetzung.

Betrachtet man die experimentellen Praktiken und Zukunftsimaginationen von Pioniergemeinschaften, geht es bei diesen letztlich um Horizonterprobung. Damit ist gemeint, dass die Mitglieder einer Pioniergemeinschaft bezogen auf ihren jeweiligen thematischen Kern ausloten, was die Horizonte zukünftigen möglichen Handelns und gesellschaftlicher Veränderungen sind. Es geht einerseits um die Frage, was sich mit verfügbaren (Medien‑)Technologien bereits jetzt realisieren lässt. Welche neuen Formen von sozialer Praxis werden damit möglich? Andererseits steht immer auch die Frage im Raum: Welche Vorstellungen von Zukunft werden damit verbunden? Welche Gesellschaft lässt sich ausmalen, wenn die eigenen experimentellen Praktiken „umfassender“ realisierbar wären? In einem solchen Sinne lassen sich Pioniergemeinschaften als Laboratorien des Zustandekommens der tiefgreifenden Mediatisierung verstehen. Oft scheitern ihre Versuche, gelegentlich entwickeln sie erfolgreiche Lösungen und Produkte. Entscheidend ist jedoch, dass sie mit Möglichkeiten experimentieren und so Vorstellungen einer tiefgreifend mediatisierten Zukunft und damit der entstehenden „digitalen Gesellschaft“ entwickeln.

Damit solche Horizonterprobungen gesellschaftliche Folgen haben können, sind umfassende Prozesse der Übersetzung notwendig,Footnote 30 sowohl innerhalb von Pioniergemeinschaften als auch jenseits von diesen. In gewissem Sinne lässt sich sagen, dass bereits mit der Formierung von Pioniergemeinschaften eine interne Übersetzung verbunden ist, kommen in ihnen doch Angehörige sehr unterschiedlicher sozialer Domänen zusammen, die in Bezug auf den jeweiligen thematischen Kern der Pioniergemeinschaften ihr Domänenwissen übersetzen müssen: Wissen als Entwickler, Alltagsnutzer, Journalist usw. Interne Übersetzungsleistungen sind auch vonnöten, sobald sich Pioniergemeinschaften lokal erstrecken und beginnen, mehr oder weniger globalisierte Netzwerke zu entwickeln. Hier geht es darum, den thematischen Kern der jeweiligen Pioniergemeinschaften, das Experimentieren mit Selbstvermessung, das Basteln, das Datenhacken usw. sowie damit verbundene Zukunftsimaginationen in den jeweiligen lokalen Kontext zu übertragen: den Meet-up vor Ort, das Space in der jeweiligen Stadt, das lokale Arbeitstreffen usw. Man kann die Stärke von Pioniergemeinschaften in ihrer relativen Fragilität sehen. Indem sie in ihrem Zusammenhalt eher lose von ihren Organisationseliten kuratiert werden, kann ihnen bei vergleichsweise beschränkten Ressourcen eine breite transnationale Erstreckung gelingen, wodurch ihre experimentellen Praktiken und Zukunftsimaginationen in sehr verschiedenen Regionen Verbreitung finden. Ihr vergleichsweise loser Charakter wird so zu deren Potenzial.

Eine externe Übersetzung ist insbesondere in der Hochphase immer dann vonnöten, wenn die experimentellen Praktiken und Zukunftsimaginationen den engeren Kreis der Pioniergemeinschaften verlassen: Wenn es nicht mehr um die Selbstvermessung begeisterter Mitglieder von Quantified Self geht, sondern um das Tracking im lokalen Sportclub, wenn die Idee des Making nicht mehr im Zirkel der Mitglieder eines Maker Spaces realisiert, sondern in pädagogischen Projekten der Schule aufgegriffen wird oder wenn Vorstellungen der Hacks/Hackers Teil der Arbeit in gewöhnlichen Nachrichtenredaktionen werden. Es geht in solchen Momenten in erheblichem Maße um die Anschlussfähigkeit des jeweiligen Experimentierens und Imaginierens. Auch ist die Organisationselite von Pioniergemeinschaften immer wieder eigenständig in Sachen externer Übersetzung aktiv. Dabei werden die Zukunftsvorstellungen der jeweiligen Pioniergemeinschaft in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft „angepriesen“, teils um Ressourcen für die eigenen Aktivitäten zu erwirken, teils weil die Organisationselite selbst von einer Verbesserung der Gesellschaft durch die je eigenen Ideen überzeugt ist und „etwas Gutes“ tun möchte. Eine besondere externe Übersetzungsleistung kommt in der Hochphase allerdings der Medienberichterstattung über Pioniergemeinschaften zu. Selbst oder vielleicht gerade, wenn in der Berichterstattung die Praktiken und Zukunftsimaginationen der Pioniergemeinschaften als „extrem“ gerahmt werden, wird ein Rückbezug zu dem, was in der jeweiligen Gesellschaft als „normal“ gilt, hergestellt und so das Anliegen der Pioniergemeinschaft anschlussfähig gemacht. Was aus Sicht von Mitgliedern der Pioniergemeinschaften immer wieder als „Verfälschung“ des eigenen Experimentierens erscheint, ist also im Kern eine wichtige Übersetzungsleistung. Durch solche Übersetzungsleistungen wird die Horizonterprobung der Pioniergemeinschaften zu einer möglichen Horizonterweiterung für eine Vielzahl von Menschen.

Und man kann selbst in der Ausklangphase besondere Übersetzungsleistungen sehen. In dem Moment, in dem Pioniergemeinschaften in den Gesamt der weiteren Kontextfigurationen aufgehen, werden ihre ursprünglichen Ideen in einen weiteren Diskurs möglicher neuer Pioniergemeinschaften übersetzt. Diese Dynamik findet man beispielsweise zwischen der Quantified-Self- und der Biohacking-Bewegung: Viele Vorstellungen von Quantified Self, beispielsweise was n = 1-Experimente, also das auf eine einzelne Person bezogene Experimentieren (Greenfield 2016), betrifft, finden sich in anderen Formen übersetzt in der Biohacking-Bewegung wieder.

Sowohl Horizonterweiterung als auch Übersetzung führen vor Augen, wie verkürzend eine „Rhetorik der Disruption“ (Daub 2020, S. 129) ist. Start-ups entstehen nicht einfach aus dem „Nichts“, entfalten nicht einfach getrieben von der Genialität der Gründer „disruptive Kräfte“. Als eine Form der Organisation sind Start-ups in Rückbezug auf vielfältige weitere soziale Institutionen zu sehen, unter denen Pioniergemeinschaften, was die Generierung von experimentellen Praktiken und Zukunftsimaginationen betrifft, wichtige Vertreterinnen sind. Statt einer einfachen „Rhetorik der Disruption“ aufzusitzen, sollten wir also wesentlich genauer die sich vollziehenden sozialen Transformationsprozesse analysieren, in denen Pioniergemeinschaften neben den großen Medien- und Technologieunternehmen vielleicht nicht die sofort sichtbaren Akteure sind, aber doch hoch relevante Figurationen darstellen.