1 Einführung

Schon längere Zeit beherrschen Krisendiagnosen den öffentlichen Diskurs über die Digitalisierung. Dabei ist die Öffentlichkeit nicht nur jener Kontext, in dem gesellschaftliche Krisen verhandelt werden (Imhof 2011), sondern sie ist auch selbst durch den digitalen Wandel in die Krise geraten. Die Liste der Symptome ist lang; interpretieren lassen sie sich als Defizite beim Erreichen liberal-demokratischer Werte wie Freiheit (Netzzensur, Konformitätsdruck und Abschreckungseffekte, beschränkte Datensouveränität), Gleichheit (Digital Divide), Integration (Echokammern, Filterblasen), Deliberation (Hassrede, Propaganda, Polarisierung), Wahrheit (Fake News, Verschwörungsmythen) und Sicherheit (Cybermobbing, Shitstorms, Verletzung von Privatheit) (statt vieler Benkler et al. 2018; Bennett und Livingston 2018; Entman und Usher 2018; Chadwick 2018). Empirische Studien in der Kommunikationswissenschaft haben diese Diagnosen teils bestätigt, teils aber auch, wie im Fall von Echokammern und Filterblasen (Bruns 2019), infrage gestellt (Jungherr et al. 2020; Neuberger 2018a; Van Aelst et al. 2017).

Zurückgeführt wird diese Krise der digitalen Öffentlichkeit wesentlich auf das Fehlen oder die Schwäche vermittelnder Akteure und Institutionen (Jarren und Neuberger 2020). Im Internet kann an professionell-journalistischen Vermittlern vorbei publiziert werden (Disintermediation). Damit verliert der professionelle Journalismus sein Monopol als prüfender und selektierender Gatekeeper. An die Stelle der linearen Massenkommunikation tritt eine Vielfalt an Konstellationen zwischen Akteuren, die sich nicht mehr mit einem fixen Modell beschreiben lassen, sondern nur in Form eines dynamischen Netzwerks. Zwar können Vermittler in der digitalen Öffentlichkeit leichter umgangen werden, aber sie verschwinden keineswegs. Vielmehr entstehen neue Formen der Vermittlung (partizipativ, algorithmisch) sowie neue Vermittlungsleistungen (Moderation, Navigation). Besonders Plattformen ermöglichen anderen Akteuren Partizipation und Interaktion, ohne selbst Inhalte zu produzieren oder die Qualität des Publizierten systematisch zu prüfen. Zugleich steuern ihre Betreiber oder Dritte öffentliche Kommunikation algorithmisch. Die dominanten US-Plattformen folgen dabei eher einem ökonomischen als einem gemeinwohlorientierten Leitbild und werden daher als wesentliche Verursacher der Krise gesehen.

Mit Vermittlung ist hier allgemein gemeint, dass ein drittes Element zwischen (mindestens) zwei anderen Akteuren steht und für eine oder beide Seiten Leistungen erbringt (oder zumindest erbringen soll). Als Beispiele für eine vermittelnde Rolle werden in diesem Beitrag der Journalismus und digitale Plattformen diskutiert. Die Figur des Dritten ist in der Soziologie und den Kulturwissenschaften in zahlreichen Ausprägungen untersucht worden (z. B. Fischer 2010; Hildebrandt und Schmitt 2014; Koschorke 2010a). Durch den Dritten als externen Beobachter (zweiter Ordnung) wird die „Dyade zum Gegenstand“ (Lindemann 2010, S. 167). Das Zweier-Verhältnis von alter und ego kann so objektiviert, kritisiert und beeinflusst werden. Neben personalen Dritten sind Institutionen „auf Dauer gestellte und zum abstrakten Prinzip erhobene Figuren des Dritten“ (Koschorke 2010b, S. 53). Simmel (1992, S. 125–126), der den Dritten in seiner relationalen Soziologie eingeführt hat, merkt dazu an:

Die Zwei stellte, wie die erste Synthese und Vereinheitlichung, so auch die erste Scheidung und Antithese dar; das Auftreten des Dritten bedeutet Übergang, Versöhnung, Verlassen des absoluten Gegensatzes – freilich gelegentlich auch die Stiftung eines solchen.Footnote 1

Simmel (1992, S. 117–150) unterscheidet vermittelnde (Unparteiische, Vermittler), trennende (etwa Herrschende, die dem Motto „divide et impera“ folgen) und begehrte (lachende) Dritte. Diese Typisierung lässt sich erweitern, etwa um den parasitären und ausgeschlossenen Dritten (Herrmann 2018, S. 143). Nähert man sich dem Vermittlungsbegriff assoziativ, so geht es darum, Verbindungen herzustellen, Komplexität zu reduzieren, Differenzen zu vermindern, Spannungen abzubauen, Einigkeit herzustellen, Nachfrage zu befriedigen und Entscheidungen anzuleiten oder stellvertretend zu fällen. Das Vermittelnde steht nicht nur in der Mitte, sondern führt auch zur Mitte.Footnote 2 Seine Notwendigkeit steht gegen die Annahme, dass sich Dinge spontan, ohne Eingriff und unvermittelt durch eine „unsichtbare Hand“ regeln. Stattdessen bedarf es des vermittelnden, d. h. intentionalen Handelns von Akteuren, gestützt auf Institutionen und Techniken (Medien).

Ein erheblicher Teil des Vermittlungsgeschehens findet im Kontext der Öffentlichkeit statt (Abschn. 2), über die gesellschaftsweit Beobachtungs- und Beeinflussungsbeziehungen verlaufen. Dafür muss zunächst ein allgemeines Konzept des vermittelnden Dritten entwickelt werden (Abschn. 3). Während der Journalismus für die massenmediale Vermittlung ein Monopol besitzt, gewinnt in der digitalen Öffentlichkeit unvermittelte Kommunikation an Bedeutung (Abschn. 4). Zugleich lassen sich neben der professionellen Vermittlung neue Formen beobachten. Dies wirft auch die Frage auf, wie journalistische Vermittlungsleistungen neu bestimmt werden müssen (Abschn. 5). Abschließend wird die Krise der digitalen Öffentlichkeit als Vermittlungskrise diskutiert (Abschn. 6).

2 Der digitale Wandel der Öffentlichkeit

Allgemein wird Öffentlichkeit als offener, d. h. allen zugänglicher Raum der Beobachtung und Beeinflussung verstanden. Sie besitzt (ähnlich wie der Markt) nur schwache Strukturen und damit eine hohe Offenheit für die Dynamik von Themenkarrieren und Meinungsbildung. Diese Offenheit, sowohl in der Sozial- als auch in der Sachdimension, macht Öffentlichkeit und die sie konstituierenden Medien zum Unruheherd der Gesellschaft. Sie dienen der „Erzeugung und Verarbeitung von Irritation. … Massenmedien halten, könnte man deshalb auch sagen, die Gesellschaft wach. Sie erzeugen eine ständig erneuerte Bereitschaft, mit Überraschungen, ja mit Störungen zu rechnen“ (Luhmann 1996, S. 46–47; vgl. auch Marcinkowski 1993; Mölders 2019). Medien orientieren sich an den unruhigen Rändern, von denen „Erregtheit in die Mitte hineingespiegelt wird“, was „einen unverzichtbaren Beitrag zu deren innerer Stabilisierung leistet“ (Münkler 2012, S. 11; ähnlich bereits Enzensberger 1991, S. 273–275).

Traditionell stellen Massenmedien Öffentlichkeit her, indem sie standardisiert für ein disperses (verstreutes) und weitgehend passives (nur rezipierendes) Massenpublikum aktuelles (Nachrichten‑)Wissen über die Gesellschaft produzieren, prüfen und verbreiten. Die gemeinsame Themenagenda ergibt sich aus dem professionell-journalistischen Verständnis des Nachrichtenwerts, was die Unterstellung erlaubt, dass als allgemein bekannt angenommen werden kann, was publiziert worden ist (Luhmann 1996, S. 43). Massenkommunikation ist aber nicht nur durch die professionelle Einhegung relativ strukturiert und in ihren Wirkungen kalkulierbar, sondern auch deswegen, weil Beteiligung und Sichtbarkeit nicht beidseitig, sondern nur einseitig möglich sind. Das Publikum bleibt in dieser halbierten Öffentlichkeit aufgrund seiner Passivität weitgehend im Dunkeln und ist daher als Kollektiv „stets eine abstrakte, anonyme, im Einzelnen unbekannte Figur, die nicht selbst in Erscheinung tritt“ (Albert et al. 2019, S. 9), aber als operative Fiktion, als generalisierter Dritter (Werron 2010, S. 309), als „imagined audience“ (Litt 2012) wirksam ist. Gerade die Unsichtbarkeit führt zur Imagination von Publikumsbildern, die eine integrierende und disziplinierende Wirkung haben (Merten 1978, S. 578). Die öffentliche Meinung ist eine Form sozialer Kontrolle und signalisiert, was mit Zustimmung rechnen kann (Noelle-Neumann 2001, S. 332–335).

In der Ära der Massenmedien besaß der Journalismus ein Gatekeeper-Monopol, erklärbar durch die begrenzte Verbreitungskapazität der wenigen Presse- und Rundfunkmedien. Im digitalen Kontext wachsen Variabilität und Dynamik öffentlicher Kommunikation gegenüber der starren Massenkommunikation, die linear von den Quellen über die prüfenden und selektierenden Gatekeeper-Medien zum dispersen Publikum führt. Ein wesentliches Merkmal des digitalen Wandels ist der Zuwachs an Handlungsmöglichkeiten. Das technische Potenzial des Internets übertrifft jenes seiner Vorgängermedien Presse und Rundfunk in der Sozial‑, Raum‑, Zeit- und Zeichendimension (Neuberger 2009, S. 22–31). Akteure verfügen über zahlreiche Optionen für rezeptives und – nun auch – kommunikatives Handeln, durch das sie untereinander flüchtige oder stabile, explizite oder implizite Verbindungen knüpfen können. Von dieser Erweiterung profitieren nicht nur die wenigen professionellen Journalisten,Footnote 3 sondern prinzipiell alle Akteure, die über einen Zugang zum Internet verfügen. Beschreiben lässt sich diese variablere Kommunikation als dynamisches Netzwerk (Friemel und Neuberger 2021, S. 89–92). Für die Erklärung der kollektiven und volatilen Dynamik der oft weitläufigen Interaktionszusammenhänge, die aus der breiten Beteiligung sowie dem Einfluss von Algorithmen resultiert, reichen einfache Kausalmodelle nicht mehr aus, wie sie in der Forschung über Wirkungen der Massenmedien auf einzelne, passive Rezipienten gängig sind. Kommunikationsnetzwerke können als selbstorganisierte, komplexe Systeme verstanden werden (Monge und Contractor 2003, S. 79–98; Neuberger 2017a, S. 558–564; Waldherr 2017; Waldherr et al. 2021, S. 158–161). Vor allem Plattformen, zu denen soziale Medien und Suchmaschinen zählen, haben Beteiligungsmöglichkeiten für ein breites Publikum erweitert. Die Ausdehnung der Handlungsoptionen wird von der Automatisierung öffentlicher Kommunikation begleitet: Algorithmen ersetzen, ergänzen und lenken menschliches Handeln, wenn sie z. B. Angebote personalisieren oder Texte generieren (Diakopoulos 2019).Footnote 4 Beim Sammeln und Auswerten von Daten für Verhaltensprognosen folgen Plattformen ökonomischen Imperativen (Zuboff 2018).

Insgesamt entsteht durch die Digitalisierung eine hybride Öffentlichkeit, in der unterschiedliche Logiken neben- und miteinander wirken (Chadwick 2013). Dabei werden Grenzen überschritten oder unscharf. Durch den Kollaps der Kontexte im Internet (Davis und Jurgenson 2014) werden Grenzen durchlässiger, z. B. zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, zwischen Journalismus, Werbung, politischem Aktivismus und Lebenswelt, sodass es in vielen Situationen an eindeutigen Erwartungsstrukturen mangelt. Welche Regeln gelten und wechselseitig Anerkennung finden, ist in der digitalen Öffentlichkeit oft nur schwer erkennbar. Ablesbar ist diese Institutionalisierungsschwäche auch an Angeboten mit uneindeutiger Identität (z. B. „Influencer“, „alternative Medien“, „Native Advertising“) und Formen der Identitätstäuschung (z. B. Nygaard 2019).

Nicht nur in der Horizontalen lösen sich Strukturen auf, sondern auch in der Vertikalen: Unterhalb der Ebene der massenmedialen Öffentlichkeit liegen weitere Ebenen der Öffentlichkeit, wobei die Teilnehmerzahl und Rollenfixierung von oben nach unten abnehmen: von Themen- oder Versammlungsöffentlichkeiten als organisierten Ereignissen bis hin zu Encounter-Öffentlichkeiten, die spontan entstehen und wieder zerfallen (Gerhards und Neidhardt 1993, S. 63–67). Bislang wurden diese Ebenen als getrennt angesehen, wobei für den Wechsel – besonders in die massenmediale Öffentlichkeit – Zugangsschwellen überwunden werden mussten. Diese Ebenenarchitektur wird durchlässig, da in sozialen Medien durch virale Effekte eine Botschaft, z. B. ein Tweet, sehr schnell eine hohe Reichweite und enorme Aufmerksamkeit erzielen kann. Neben der großen, d. h. massenmedialen Öffentlichkeit entsteht eine Vielzahl – mehr oder weniger vernetzter – kleiner Öffentlichkeiten, wobei auch der Übergang zur Privatheit fließend ist. Plattformen haben einen expansiven Drang über den bisherigen Bereich der Öffentlichkeit hinaus zur generellen „Kuratierung sozialer Verhältnisse und sozialen Verhaltens“ (Dolata 2019, S. 195; H. i. O.). Zwar kann nun jeder publizieren, doch findet der Großteil des Publizierten nur wenig Aufmerksamkeit (Long Tail). Im Digitalen sind damit auch die Sichtverhältnisse differenzierter als in der massenmedialen Öffentlichkeit, was die Vorstellung eines gemeinsamen Raums der Öffentlichkeit noch zweifelhafter erscheinen lässt (Friemel und Neuberger 2021, S. 83–85).

Daran schließt die Frage an: Wie ändern sich Vermittlungsstrukturen und -leistungen in der digitalen Öffentlichkeit, wenn Gatekeeper als vermittelnde Dritte umgangen werden können? Bevor diese Frage erörtert wird, muss zunächst (Abschn. 3) ein allgemeines Verständnis der Vermittlung von Öffentlichkeit entwickelt werden (als Vorarbeiten vgl. Beck und Donges 2020; Hildebrandt und Schmitt 2014).

3 Vermittelnde Dritte

3.1 Vermittlung in Akteurskonstellationen

Ein erster Schritt ist die Analyse vermittelnder Dritter innerhalb einer Akteurskonstellation. Eine solche entsteht, sobald „die Intentionen von mindestens zwei Akteuren interferieren und diese Interferenz von den Beteiligten wahrgenommen wird“ (Schimank 2016, S. 202), sodass sie durch handelndes Zusammenwirken, mit- oder gegeneinander, versuchen, ihre Intentionen zu realisieren (Schimank 2016, S. 207–215). Mithilfe von Interaktionsmodi lassen sich solche Konstellationen in der Öffentlichkeit als Beobachtungs- und Beeinflussungsbeziehungen typisieren, wie z. B. Diffusion, Mobilisierung, Konflikt, Kooperation, Konkurrenz und Skandal, die sich u. a. nach der (ein- oder wechselseitigen) Kommunikationsrichtung, der Teilnehmerzahl (Dyade, Triade) und den Rollen unterscheiden lassen (Neuberger 2014, S. 571–577; Werron 2019, S. 19–21). Auch hier lässt sich an Simmel (1992) anknüpfen, nämlich an seine Unterscheidung sozialer Formen.

In den antagonistischen Konstellationen Konflikt und Konkurrenz können Dritte vermittelnd eingreifen. In diskursiv ausgetragenen Konflikten, in denen, anders als in der Konkurrenz, die Widersacher direkt aufeinandertreffen und interagieren, bestimmen Moderatoren den Rahmen, achten auf die Einhaltung von Normen und strukturieren den Interaktionsverlauf (Edwards 2002). Journalistische Moderation soll die individuelle und öffentliche Meinungsbildung im Vorfeld einer politischen Entscheidung fördern. In anderen Fällen wird auch die Entscheidung selbst an Dritte delegiert (Simmel 1992, S. 131). Im Rechtssystem urteilen Richter nach Maßgabe von Normen zwischen streitenden Parteien, während in der Mediation beide Seiten dem Ergebnis zustimmen müssen (Bröckling 2017, S. 155–160). In Sportwettkämpfen entscheiden Schiedsrichter als unparteiische Dritte (Werron 2019, S. 32). Schon die bloße Beobachtung durch Dritte als Publikum kann eine disziplinierende Wirkung auf die Kontrahenten haben (Heck 2016).

In der Konkurrenz als triadischer Konstellation kämpfen mindestens zwei Anbieter um die knappe Gunst des Publikums als lachenden Dritten. Vermittelt werden Konkurrenzen durch neutrale Beobachtungs‑, Vergleichs- und Bewertungsinstanzen (Arora-Jonsson et al. 2020, S. 11–13; Werron 2012, S. 179). Dabei werden Vergleiche zwischen Leistungen der Konkurrenten gezogen, und zwar hauptsächlich standardisiert und quantifizierend (Heintz 2021; Mau 2017). Auch der Journalismus trägt dazu bei, indem er das Publikum über Qualität und Kosten verfügbarer Angebotsalternativen informiert. Dies ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass Konsumenten und Bürger als Publikum eine Wahl treffen sowie Wettbewerber wie Unternehmen und Parteien sich strategisch ausrichten können.

Die Konkurrenz ist jener Interaktionsmodus, der in allen Teilsystemen an Bedeutung gewinnt (Rosa 2006; Wetzel 2013, S. 21). Die Universalisierung des Wettbewerbs (Mau 2017, S. 17) darf nicht mit der Ökonomisierung gleichgesetzt werden, die davon nur eine spezifische Ausprägung ist (Schimank und Volkmann 2017, S. 34–49), da nicht nur um Geld als Tauschmittel, sondern auch um andere knappe Güter konkurriert wird, wie öffentliche Aufmerksamkeit und Akzeptanz, die ebenfalls leicht konvertierbar sind, z. B. in Macht und Geld. Als Prominenz und Reputation oder symbolisches Kapital können sie sich selbstbezüglich verstärken (Franck 1998, S. 115–126, 2005, S. 69–103). Konkurrenz expandiert in zuvor nicht vermessene Bereiche wie Bildung (Brankovic et al. 2018) und Lebenswelt (Mau 2017, S. 17). Forciert wird diese Expansion durch die Organisation öffentlich ausgetragener Wettbewerbe (wie im Fall von Rankings; Arora-Jonsson et al. 2020; Brankovic et al. 2018) und die leichte Verfügbarkeit digitaler Präferenzdaten (Mau 2017, S. 40–42), die in sozialen Medien algorithmisch aggregiert, publiziert und verglichen werden (z. B. Davidson und Ribak 2017).

Neben Konflikt und Konkurrenz lassen sich weitere Akteurskonstellationen um die Rolle des vermittelnden Dritten ergänzen: Vermittlung bei der Diffusion von Nachrichten ist die basale Leistung des Journalismus. Der Bote übermittelt Mitteilungen vom Sender zum Empfänger (Fischer 2006; Krämer 2008, S. 108–111). Gegenüber der Mitteilung soll sich der Bote indifferent und neutral verhalten (Krämer 2008, S. 117–119). Einen Schritt weiter gehen die journalistischen Rollen des Gatekeepers (Engelmann 2016), der entsprechend dem Nachrichtenwert selektiert, und jene des Nachrichtenproduzenten, der Wissen über aktuelle Ereignisse recherchiert, prüft, auswählt und verbreitet (Neuberger et al. 2019).

Akteurskonstellationen sind in Teilsysteme eingebettet; so dominiert der Konflikt im politischen System und die Konkurrenz im ökonomischen System. Oder sie entstehen über ihre Grenzen hinweg (Schimank 2011). Die „gesellschaftsbildende Vermittlung“ (Simmel 1992, S. 125) muss daher vor allem an den Naht- und Bruchstellen der gesellschaftlichen Differenzierung ansetzen (Luhmann 1997, S. 612–613; Schimank 2007, S. 138–140). Der Journalismus besitzt die Funktion der aktuellen Selbstbeobachtung der Gesellschaft (Luhmann 1996, S. 173–175). Sachlich ist sein Themenspektrum daher universell: Nachrichten werden aus allen Teilsystemen aufgegriffen. Aktualität bemisst sich an der Gegenwartsnähe von Ereignissen und ihrer Relevanz (Merten 1973). Durch die periodische, zunehmend kontinuierliche Berichterstattung synchronisiert und koordiniert der Journalismus das gesellschaftliche Beobachten und Beeinflussen sowohl zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen (Luhmann 1996, S. 29, 124–128) als auch innerhalb von Teilsystemen, d. h. zwischen Trägern von Leistungs- und Publikumsrollen. Dies führt zur Frage, wie intra- (3.2) und intersystemisch (3.3) vermittelt wird.

3.2 Intrasystemische Vermittlung

In allen gesellschaftlichen Teilsystemen lassen sich Vermittlungsrollen identifizieren, die intrasystemisch zwischen Akteuren in Leistungs- und Publikumsrollen vermitteln (Burzan et al. 2008, S. 15–44; Stichweh 2005, S. 20–31). Sie sind bislang nur jeweils spezifisch (in der jeweiligen Fachdisziplin) behandelt worden; es fehlt also eine übergreifende Systematik. Eine Recherche erbringt eine Fülle an Hinweisen auf „Tripolarismus“ (Helmstetter 2012, S. 968), beispielsweise in Politik, Wirtschaft und Kunst:Footnote 5

  • Im politischen System stehen intermediäre Organisationen, wie Parteien, Verbände und Bewegungen, zwischen Bürger und Staat (Peters 1993, S. 339–340; Rucht 2007; Steiner und Jarren 2009). Sie transformieren individuelle Präferenzen in kollektive Entscheidungen, indem sie die Vielzahl der Einzelinteressen bündeln, vertreten und durchsetzen (Donges und Jarren 2017, S. 99–109). Neben dieser Interessenvertretung gibt es neutrale journalistische Intermediäre für die Bereitstellung von Nachrichten und die Moderation des politischen Diskurses (Edwards 2002). Der Grad an Vermittlung durch Akteure und Verfahren kann variieren; niedrig ist er in der direkten Demokratie.Footnote 6

  • Im ökonomischen System werden Marktinformationen (u. a. durch Medien, Ratingagenturen, Börsendienste und Verbraucherberatung) und Markttransaktionen (u. a. durch den Handel und Auktionen) zwischen Produzenten und Konsumenten vermittelt (Hess und von Walter 2006). Zwischen Unternehmen und anderen Stakeholdern gibt es weitere Intermediäre wie Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, Advocacy Groups, Regierungsstellen und Consulting-Firmen (Frandsen und Johansen 2015).

  • Im Kunstsystem vermitteln etwa Museen, Galerien, Konzertagenturen, Kuratoren, Lektoren und Kritiker zwischen Künstlern und Publikum, indem sie Kunstwerke öffentlich präsentieren und vermarkten, über sie informieren und sie bewerten (z. B. Bhaskar 2016, S. 70–74; Reckwitz 2012, S. 115–119; Schmidt 1991, S. 272–286). Das Publikum benötigt Erläuterungen, um „komplexe, schwierige, unkonventionelle Kunst schätzen zu lernen“ (Gay 2008, S. 112). Kunstexperten besitzen zudem eine intersystemische „Maklerfunktion zwischen Wert und Sinn“ (Schmidt 2012, S. 941). Sie weisen nicht nur Reputation zu, sondern beeinflussen auch den Marktpreis (Beckert und Rössel 2004).Footnote 7 Vermittlung bleibt nicht auf den engeren Bereich der Kunst beschränkt. Die Ästhetisierung und Singularisierung des Alltags hat die Bedeutung kultureller Intermediäre gesteigert (Bourdieu 1987, S. 510–511; Hesmondhalgh 2006; Smith Maguire und Matthews 2012, 2014), die bei der Kuratierung des eigenen Lebens helfen (Reckwitz 2017, S. 295–298) und „Bewertungsdiskurse“ (Reckwitz 2017, S. 14) über die Verteilung von symbolischem Kapital führen.

Eine Gemeinsamkeit der hier aufgezählten Vermittlungsrollen in Politik, Wirtschaft und Kunst besteht darin, dass sie zu großen Teilen in der Öffentlichkeit wirken. Auch der Journalismus vermittelt zwischen Leistungs- und Publikumsrollen (Neidhardt 1994, S. 12–17; Reich 2012), wobei er auch die anderen Vermittlungsakteure im Blick hat; damit leistet er eine Art Metavermittlung. Der Vermittlungsbedarf ist besonders in Politik, Wirtschaft, Kunst und Sport hoch, weil hier Anbieter für ein Massenpublikum standardisierte Leistungen bereitstellen. Das Verhältnis zum Publikum ist distanziert und anonym, vermittelt über Massenmedien und -märkte, wobei Abwanderung (exit) und Widerspruch (voice) als Reaktionen des Publikums nur aggregiert erfasst werden können (Bongaerts 2011, S. 123; Stichweh 2005, S. 20–25). Erst digital, d. h. gestützt auf Daten und Algorithmen, lassen sich Angebote massenhaft individualisieren.

In professionalisierten Teilsystemen, die sich mit der personalen Umwelt der Gesellschaft befassen (u. a. Religion, Erziehung, Gesundheit und Recht), ist journalistische Vermittlung dagegen weniger nachgefragt. Dort bearbeiten Professionsvertreter Probleme zumeist individuell, in direkter Interaktion und unter Ausschluss der Öffentlichkeit (Neuberger 2016, S. 351–355). Allerdings haben Skandale in den letzten Jahren auch in diesen Teilsystemen zu mehr Transparenz geführt.

3.3 Intersystemische Vermittlung

Neben der Sozialintegration des Einzelnen in die Gesellschaft stellt sich die Frage nach der Systemintegration (Schimank 2013, S. 60–61). In der funktional differenzierten Gesellschaft fehlt eine ordnende Hand, die Leistungsbeziehungen zwischen Teilsystemen abstimmt: „Die Einheit der Gesellschaft löst sich polyperspektivisch und -kontextural auf. … Es gibt kein gesamtgesellschaftliches Medium oder Subsystem für die Wahrnehmung der Teilsysteminterdependenzen“ (Schwinn 2011, S. 35–36). Akteure sind in eine Vielzahl von Teilsystemen über Leistungs- und Publikumsrollen eingebunden. Daraus ergibt sich die „multiple Partialinklusion des modernen Menschen in ein Dutzend Teilsysteme, die alle einer je eigenen selbstreferentiellen Operationslogik folgen“ (Burzan et al. 2008, S. 28). Weil er damit unterschiedliche, oft widersprüchliche Rollen übernimmt, verlagert sich die Integration der Teilsysteme in seine Lebensführung (Schimank 2003, S. 289–293; Schwinn 2003, S. 250–253).

Die „Disparatheit der unterschiedlichen Logiken“ der Teilsysteme führt zu einem „Übersetzungsproblem“ (Nassehi 2015, S. 258; zur Frage der Übersetzung vgl. auch Renn 2010). Diese Perspektivendifferenzen sollen sich am besten organisationsförmig übersetzen lassen (Nassehi 2017, S. 208) oder mithilfe von „netzwerkförmigen Querlogiken“ (Nassehi 2021b, S. 73), so der (allerdings noch recht vage) Vorschlag, der an das Konzept neokorporatistischer Verhandlungssysteme erinnert, in denen intersystemische Diskurse zur nichthierarchischen politischen Steuerung geführt werden (Scharpf 1988, 1991; Schimank 1992).

Dagegen ist die Frage noch wenig diskutiert worden, inwiefern der Journalismus intersystemisch vermittelt (Mölders 2019). Der Journalismus nimmt das eigene Publikum dominant als Publikum anderer Teilsysteme wahr. Universelle Medien, wie Tageszeitungen, bilden in ihren Binnenstrukturen (Ressorts, Sparten) die funktionale Differenzierung nach. Sie fassen jene Themen zu einem Produkt zusammen, z. B. einer Zeitungsausgabe oder Nachrichtensendung, die für das Rollenbündel von Relevanz sind, das sich aus der Partialinklusion in eine Vielzahl von Teilsystemen ergibt.

Weil jedes Teilsystem aus seiner spezifischen Perspektive Ereignisse konstruiert (Burzan et al. 2008, S. 18–19; Luhmann 1997, S. 753), sind journalistische Nachrichten dann am besten anschlussfähig, wenn sie sich auf die „rohen“ Fakten beschränken (orientiert an professionellen Normen wie Objektivität, Sachlichkeit und Neutralität), die dann erst teilsystemspezifisch weiterbearbeitet, d. h. bewertet und eingeordnet werden können. Redaktionen greifen daher „Ereignisse mit Mehrsystemzugehörigkeit“ (Kohring 2005, S. 262; H. i. O.) auf. Nachrichten zählen zu den „intermediären Wissenstypen, das heißt Wissen, das erforderlich ist, um Übersetzungen bzw. zumeist nur temporäre Verständigungen zwischen verschiedenen Handlungsbereichen zu ermöglichen“ (Weingart 2005, S. 352). Da Akteure aller Teilsysteme in verschiedenen Rollen über die universell berichtenden Massenmedien ihre Umwelt beobachten und beeinflussen, treffen im Journalismus vielfältige Ansprüche an die Rechtfertigung von Wissen und Wertungen aufeinander. Die journalistische Rationalität muss daher ein gesellschaftsweit akzeptierter, in alle Richtungen anschlussfähiger Minimalstandard sein (Neuberger 2017b, S. 417–420). Durch Vielfalt und Ausgewogenheit sollen diese Perspektiven zudem angemessen repräsentiert werden. Der investigative Journalismus geht zusätzlich von einer geteilten Moral aus, wenn er Missstände in der zivilen Öffentlichkeit skandalisiert (Alexander 2018) und durch Publizität zur Korrektur der Folgen funktionaler Differenzierung anregt (Mölders 2019).

4 Der digitale Wandel der Vermittlung von Öffentlichkeit

4.1 Digitalisierung des Journalismus

Die Spurensuche hat zu einer Vielzahl an Hinweisen auf Vermittlungsrollen in der funktional differenzierten Gesellschaft geführt, wobei der Journalismus lange Zeit zentral für die Vermittlung via Öffentlichkeit gewesen ist.Footnote 8 Das Gatekeeper-Paradigma (charakterisiert durch die journalistische Profession, die Redaktion als Produktionsorganisation, den Einsatz von Massenmedien sowie die einseitige Diffusion (Nachrichtenfluss)) etablierte sich mit dem Aufkommen der Massenpresse im 19. Jahrhundert. Redaktionen traditioneller Massenmedien hatten bis Mitte der 1990er-Jahre ein Monopol, über den Zugang zur aktuellen Öffentlichkeit zu entscheiden. Erst das Internet hat das technische Nadelöhr beseitigt.

In der Netzwerköffentlichkeit des Internets kann nun auch an den journalistischen Vermittlern vorbei publiziert werden. Das Umgehen vermittelnder Dritter trifft auch andere Vermittler, wie politische Parteien und Handelsintermediäre (Shapiro 1999). Neben dem professionellen Journalismus sind außerdem neue Formen der partizipativen (Citizen Journalism) und algorithmischen Vermittlung (Computational Journalism) entstanden (zum Folgenden Neuberger 2009, S. 61–76, 2018b, S. 22–35). Nach den empirischen Befunden ist nicht von einer erheblichen Konkurrenz durch Laienkommunikatoren oder automatisierten Angeboten auszugehen. Amateure ergänzen den professionellen Journalismus (Bosshart 2017, S. 180–227; Engesser 2013, S. 53–104), etwa als Kulturkritiker (Knörer 2012) oder Lokalberichterstatter (Hyperlocal Journalism), oder sie verbinden sich mit ihm zu Hybridformen. Das Publikum wird in die verschiedenen Phasen der redaktionellen Produktion eingebunden (Bruns 2008; Engelke 2019) und kommentiert nach der Publikation journalistische Beiträge.Footnote 9 Dadurch entsteht eine permanente Interaktion zwischen Journalismus und Publikum (Neuberger 2018b, S. 25–29). Auch der Computer wird in den Arbeitsprozess integriert: Im Computational Journalism wird er für das Finden von Themen, die Recherche, Verifizierung, Textproduktion, Distribution, Moderation und Publikumsbeobachtung eingesetzt (Diakopoulos 2019; Haim 2019).

An professioneller, partizipativer und algorithmischer Vermittlung sind auch Plattformen wie Facebook (und andere soziale Medien) sowie Google (und andere Suchmaschinen) beteiligt (Dolata 2019; Gillespie 2018; Jarren 2020): entweder direkt durch eigene algorithmische Selektion und Aggregation von – oft auch personalisierten – Nachrichten (z. B. im News Feed oder in Trending Topics) oder indirekt, indem Dritte Plattformen für die Produktion und Verbreitung von Nachrichten einsetzen. Auch der professionelle Journalismus bedient sich der Plattformen in vielfältiger Weise, z. B. für Recherche, Publikation, Publikumsmonitoring und Publikumsinteraktion (Neuberger 2018b, S. 22–35), außerdem fördern Plattformen den Journalismus finanziell (Bell 2018). Dadurch ist er in ein starkes Abhängigkeitsverhältnis von Plattformen geraten. Daneben aber verliert der Journalismus auf dem Werbemarkt durch die Konkurrenz zu den Plattformen in erheblichem Maße Umsätze. Deren ökonomisch motivierte Betreiber stehen der Qualität der präsentierten Inhalte mit einer „radikalen Indifferenz“ (Zuboff 2018, S. 577–586) gegenüber. Dennoch verschiebt sich die Nachrichtennutzung zunehmend von den Massenmedien ins Internet und dort wiederum in die sozialen Medien (Newman et al. 2021). Plattformen bieten eine offene, dezentrale, von einzelnen Gatekeepern nicht kontrollierbare Fläche, auf der Akteure auch unvermittelt und in variablen Konstellationen interagieren können.

4.2 Ziviler Umgang in der digitalen Öffentlichkeit

Digitale Plattformen integrieren auch die tieferen Ebenen von Öffentlichkeit. Während sich in der massenmedialen Öffentlichkeit publizistische Teilsysteme wie Journalismus und Unterhaltung mit professioneller, redaktionell organisierter Leistungserbringung herausgebildet haben, vermitteln in den kleinen, flüchtigen Encounter-Öffentlichkeiten meist keine personalen Dritten (eine Ausnahme stellt z. B. der Gastgeber auf einer Party dar), sondern die im Alltag als bekannt unterstellten, aber wenig formalisierten Höflichkeitsregeln (Takt, Benehmen) die Interaktionen unter Fremden, also die „Arten situativen Wohlverhaltens“, die man dem „sozialen Anlass schuldig ist“ (Goffman 2009, S. 201–202).

Diese vermittelnde Leistung der Regeln des zivilen Umgangs betont Plessner (2002, S. 40–41, 58–61) in seinem Essay über die „Grenzen der Gemeinschaft“, in dem er das Ethos der Gemeinschaft jenem der Gesellschaft gegenüberstellt,Footnote 10 die er ebenfalls auf Zwei- und Dreiheit, auf Unvermitteltes (Rückhaltlosigkeit, Aufrichtigkeit, Authentizität und Reinheit nach innen, Dualismus, Radikalismus und Kompromisslosigkeit nach außen) und Vermitteltes (Öffentlichkeit, Distanz, Mitte, Maske, Rolle, Form, Nimbus, Takt, Zeremoniell, Kultivierung, Diplomatie) bezieht: „Immer ist Gemeinschaft kreishaft gegen ein unbestimmtes Milieu abgeschlossene Sphäre der Vertrautheit. Ihr wesensnotwendiger Gegenspieler, Hintergrund, von dem sie sich abhebt, ist die Öffentlichkeit, der Inbegriff von Leuten und Dingen, die nicht mehr ‚dazugehören‘, mit denen aber gerechnet werden muß“ (Plessner 2002, S. 48). In der Öffentlichkeit gelten die Regeln des Taktes, dort ist die „Hygiene größtmöglicher Schonung“ erforderlich: „Alles Ausdrückliche, jede eruptive Echtheit wird vermieden. Unwahrheit, die schont, ist immer noch besser als Wahrheit, die verletzt, Verbindlichkeit, die nicht bindet, aber das Beste“ (Plessner 2002, S. 107). Ähnlich diagnostizierte Sennett (1986[1974], S. 425) einen Verfall des öffentlichen Lebens, weil Intimität als „einziges Wahrheitskriterium“ betrachtet werde, und kritisierte eine „Kultur, die vom Glauben ans Unmittelbare, Immanente, Empirische geleitet ist“ (Sennett 1986, S. 350). Stattdessen sah er wie Plessner die Notwendigkeit einer Öffentlichkeit, in der sich Fremde mit Distanz, Höflichkeit, Geselligkeit, Ritual und Masken begegnen (Sennett 1986, S. 30–31; vgl. auch Simmel 2008, S. 161–162).

Ohne vermittelnde Dritte ist nicht nur die Kommunikation unter wenigen Anwesenden, sondern auch die sich spontan bildende Präsenzmasse (McPhail 1991). Im Internet sind unvermittelte Formen öffentlicher Kommunikation weit verbreitet (Neuberger 2017a, S. 557–558). Mobilisierten Massen (Chaotic Pluralism) mangelt es zumeist an der Fähigkeit zur organisatorischen Verstetigung, sie können aber zumindest kurzzeitig erhebliche Reichweite und Relevanz gewinnen (Margetts et al. 2016, S. 196–219; Neuberger 2017a). Das Zurückweichen traditioneller Vermittlungsstrukturen im Internet wird von einem Lob des Unvermittelten begleitet: Im digitalen Kontext werden das Authentische und die Geborgenheit „virtueller Gemeinschaften“ gesucht (Rheingold 1994, S. 16). Im Politischen zeigen sich Parallelen zwischen Populismus und Cyberaktivismus (de Saint Victor 2015, S. 31), weil beide vermittelnden Institutionen misstrauen (Müller 2016, S. 56–57; de Saint Victor 2015, S. 39). Vogl (2021, S. 157–182) diagnostiziert zudem eine Koinzidenz zwischen kommerziellen Plattforminteressen und Populismus, zwischen Kapitalismus und Ressentiment. Der „Verlockung des Unvermittelten“ gibt nach Möllers (2020, S. 141) bereits Carl Schmitt mit seiner Vorstellung einer Volksversammlung nach, „in der die Grenzen zwischen Volk und Herrscher im Akt der Akklamation aufgehoben werden“.

Die zivilisierende Kraft der Regeln des situativen Wohlverhaltens ist in sozialen Medien durch Bedingungen wie Anonymität, Deindividuation, das Fehlen sozialer Hinweise und Ausstrahlungseffekte einer negativen Diskussionskultur geschwächt (Kümpel und Rieger 2019, S. 14–15). Die empirische Deliberationsforschung zeigt, dass Respekt im Umgang zwischen Fremden und andere deliberative Qualitäten im Internet stark variieren und eher in professionell-journalistischen Angeboten zu finden sind als in sozialen Medien (z. B. Esau et al. 2020; Friess und Eilders 2015; Wessler 2018, S. 82–108). Als Reaktion auf die Verrohung des öffentlichen Diskurses finden sich neben journalistischer Moderation auch Formen des bürgerschaftlichen Engagements zur Zivilisierung des digitalen Raums wie Citizen Curation (Pedersen und Burnett 2018), Collective Civic Moderation (Friess et al. 2020), Corrective Action (Wintterlin et al. 2021), Civic Intervention (Porten-Cheé et al. 2020) und Peer-to-Peer Counter Propaganda (Haigh et al. 2018).

5 Neukonzeption von Vermittlungsleistungen

Daran schließt die Frage an, welche Vermittlungsleistungen in der digitalen Öffentlichkeit notwendig sind und wie geeignete Vermittlungsstrukturen beschaffen sein müssen (Neuberger 2020). Betrachtet man zunächst Akteurskonstellationen, so sind Diffusion und Konkurrenz zwei Interaktionsmodi, für welche einseitige Kommunikation ausreichend ist, weshalb sie eine hohe Affinität für Massenmedien besitzen (Neuberger 2014, S. 578–580). Partizipation und Interaktion, d. h. breite Beteiligung und wechselseitige Kommunikation, sind hingegen notwendige Voraussetzungen für Konflikt und Kooperation. Dafür schafft das Internet günstigere Voraussetzungen als Presse und Rundfunk, weshalb auch die Moderation als Vermittlungsleistung an Bedeutung gewonnen hat. Dabei geht es darum, zur Teilnahme an Konflikten in der demokratischen Meinungsbildung zu motivieren und Interaktionen zwischen den Diskutierenden so zu lenken, dass sie deliberativen Qualitätsansprüchen wie Rationalität, Respekt, Responsivität und Kohärenz gerecht werden. Die empirische Deliberationsforschung zeigt, dass die Diskursqualität von der Gestaltung von Online-Foren und den Teilnehmenden abhängt. Sie wird positiv beeinflusst, wenn die Kommunikation asynchron, nichtanonym, moderiert und thematisch fokussiert ist, wenn die Teilnehmer eine Diskussion als beeinflussbar wahrnehmen und wenn korrekte und relevante Informationen gepostet werden (Friess und Eilders 2015, S. 325–328). Auch der Moderationsstil beeinflusst die Diskursqualität (Friess und Eilders 2015, S. 326–327; Ziegele et al. 2018). Kooperation bedarf ebenfalls der moderierenden Vermittlung. Im Fall der Online-Enzyklopädie Wikipedia sind es die Beteiligten selbst, die die Regeln aushandeln, die für ihre Wissensarbeit gelten, und die ihre Einhaltung prüfen (Frost-Arnold 2019).

Im Internet adaptiert der Journalismus die PlattformlogikFootnote 11 und begreift sich zunehmend als Netzwerkjournalismus (Russell 2016), d. h. als Knoten in einem weit verzweigten, dezentralen und dynamischen Netzwerk, in dem er im permanenten Austausch mit Quellen und Publikum steht. Dadurch entwickelt sich auch die journalistische Basisleistung der Diffusion von Nachrichten von einem periodischen, einseitigen Vorgang, der nach Redaktionsschluss immer wieder von Neuem beginnt, zu einem kontinuierlichen Kreislauf, der an vielen Stellen durchlässig für Publikumsbeteiligung ist (Bruns 2018, S. 28–32; Engelke 2019). Journalistisches Selektieren und Prüfen erstreckt sich auch nicht mehr nur auf eigenes, sondern auch auf fremdpubliziertes Material. Weil nun jeder im Internet publizieren kann, steigt die Informationsmenge. Rezipienten haben zwar einen ungefilterten Zugriff auf eine Fülle von Angeboten, müssen aber Such‑, Prüf- und Interpretationsaufgaben übernehmen – oder sie wieder an Vermittler delegieren. Der Unterschied zwischen dieser Navigationsleistung (Kuratieren; Bhaskar 2016; Gatewatching; Bruns 2018) sowie dem klassischen Gatekeeping besteht darin, dass extern (und nicht intern), nach der Veröffentlichung (und nicht vorher) sowie weich (und nicht hart) selektiert wird. Mit „weich“ ist gemeint, dass dem Publikum metakommunikative Empfehlungen in Form von Wegweisern oder Warnschildern (Fact-Checking) gegeben oder Auswahloptionen unterschiedlich auffällig und zugänglich platziert werden, ohne dass einzelne völlig ausgeschlossen werden (Nudging). Weiches Selektieren kann auf professioneller, aber auch partizipativer und algorithmischer Prüfung basieren (Keyling 2017).

Auch die intrasystemische Vermittlung in den Teilsystemen steht durch die Digitalisierung vor neuen Herausforderungen. Digital wird der „Aufstand des Publikums“ (Gerhards 2001) weiter gestärkt. In der Rolle als Bürger oder Verbraucher kann nicht nur einfacher öffentlich Kritik geübt werden, sondern das Publikum kann auch zum Konkurrenten professioneller Leistungserbringung werden (do it yourself). Die Abgrenzung zwischen Leistungs- und Publikumsrolle wird unscharf (Krämer 2020, S. 279–283). Es entstehen Hybridrollen wie Produser (Bruns 2008), Prosumer (Ritzer 2014) oder arbeitender Nutzer (Voß 2020). Zugleich sind Akteure in Leistungsrollen leichter in der Lage, unter Umgehung des Journalismus das Publikum zu manipulieren (Benkler et al. 2018). Aus Sicht der journalistischen Vermittlung sind die Förderung der Publikumsemanzipation (Moderation) und die Aufklärung über Propagandamaßnahmen (Navigation) zusätzliche Aufgaben.

Die Digitalisierung ändert auch das Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen. Transparenz, Partizipation und Interaktion führen zu neuen grenzüberschreitenden Konstellationen. Dies lässt sich am Beispiel des Wissenschaftssystems erläutern (Neuberger et al. 2021). Einerseits öffnet es sich mithilfe des Internets gegenüber der Gesellschaft (z. B. durch Wissenschaftler, die in sozialen Medien kommunizieren, durch Open Access für wissenschaftliche Publikationen oder Citizen-Science-Projekte). Andererseits lässt es sich dadurch auch leichter beobachten, kritisieren und instrumentalisieren. Die Digitalisierung forciert die beiden gegenläufigen Tendenzen der Verwissenschaftlichung der Gesellschaft und der Vergesellschaftung von Wissenschaft (Weingart 2005). Phänomene, wie z. B. Plagiats-Wikis, können für beide Tendenzen stehen: Einerseits zeigen sie, dass die Geltung wissenschaftlicher Normen auch außerwissenschaftlich ernst genommen wird, wenn Dissertationen nach den systemeigenen Kriterien geprüft werden. Andererseits werden wissenschaftliche Normen politisch instrumentalisiert, wenn Kontrahenten durch einen Plagiatsnachweis skandalisiert werden sollen (Neuberger et al. 2021, S. 36–38). Digital werden Grenzverläufe zwischen den Teilsystemen auch deshalb unscharf, weil sich Pseudowissenschaft ungehindert verbreiten kann, die für Laien schwer als solche erkennbar ist (Oreskes und Conway 2012, S. 240–241). Konkurrenz durch „alternative“ Wissensformen, verbunden mit massiver Wissenschafts- und Medienkritik, ließ sich auch während der Coronapandemie beobachten (Pantenburg et al. 2021). Hier fällt (wissenschafts-)journalistischer Vermittlung die Aufgabe zu, Klarheit über Kontexte, Identitäten und Motive zu geben (Navigation) sowie einen offeneren Austausch mit der Wissenschaft zu moderieren.

6 Schluss

Wenn Signum der Moderne die Auflösung von Strukturen, die Dynamisierung von Prozessen und die Unsicherheit des Handelns sind (Beck et al. 2001), dann trägt die Öffentlichkeit als offener Raum der gesellschaftsweiten Beobachtung und Beeinflussung erheblich dazu bei. Darin entstehen Unruhe, Überraschung und Unsicherheit, zugleich werden sie darin auch bearbeitet. In der Ära der Massenmedien hat vor allem der professionelle Journalismus durch Umweltbeobachtung und Nachrichtenverbreitung Irritation in die Öffentlichkeit getragen, außerdem liefert er erste Deutungsangebote für das Tagesgeschehen (durch Kommentare und Hintergrundberichte). Die lineare Massenkommunikation, die sich an ein nur rezipierendes Publikum richtet, ist durch professionelle Gatekeeper-Medien vergleichsweise strukturiert. Seit Mitte der 1990er-Jahre trägt nun die Digitalisierung erheblich zur Dynamisierung, Grenzauflösung und Expansion von Öffentlichkeit bei. Damit verdoppelt sich die Verunsicherung, die über die Öffentlichkeit in die Gesellschaft getragen wird: Sie geht nicht mehr nur von den Nachrichten aus, die überraschende Ereignisse annoncieren, sondern von einer entfesselten Öffentlichkeit selbst, die den Eindruck erweckt, außer Kontrolle geraten zu sein (Pörksen 2018; Pörksen und Detel 2012).

Von hier lässt sich eine Linie zu den Krisensymptomen der digitalen Öffentlichkeit ziehen: Die Sicherung der Nachrichten- und Diskursqualität, die Vernetzung gegen einen Zerfall der Öffentlichkeit, die gleiche Beteiligung von Bevölkerungsgruppen, der Schutz der Privatheit und der respektvolle Umgang sind unzureichend bewältigte Aufgaben. Daran schließt die Ausgangsfrage nach Vermittlungsstrukturen und -leistungen in der digitalen Öffentlichkeit an. Die variablen und dynamischen intra- und intersystemischen Konstellationen müssen durch Moderation und Navigation vermittelt werden. Zugleich werden auch die Formen der Vermittlung vielfältiger; professionelle Vermittlung wird durch partizipative und algorithmische Formen ergänzt. Ein Journalismus, der sich ökonomisch in einer tiefen Krise befindet, und Plattformbetreiber, die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nicht stellen, sind dafür allerdings schlechte Voraussetzungen. Dies lässt Alternativen wie den Vorschlag einer gemeinwohlorientierten Medienplattform attraktiv werden (Gostomzyk et al. 2021).

Der Wandel vom Gatekeeper- zum Netzwerk-Paradigma ist in zweifacher Weise unter Anknüpfung an Simmel analysiert worden: Soziale Formen oder Interaktionsmodi helfen, die Dynamik zwischen Akteuren zu systematisieren. Zudem wurde Simmels Hinweis auf den vermittelnden Dritten aufgegriffen, der je nach Interaktionsmodus unterschiedliche Leistungen erbringen soll. Eine theoretische und methodische Herausforderung stellt besonders die Interaktionsdynamik in der digitalen Öffentlichkeit dar (Neuberger 2017a). Ein nicht vorstrukturiertes, endogen getriebenes, zeitlich verdichtetes Interaktionsgeschehen findet sich auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen, z. B. bei der Eskalation von Gewalt (Hoebel und Knöbl 2019) oder bei den Spielzügen in Ballsportarten (Alkemeyer 2009). Daran ließe sich anknüpfen, wenn Diffusion, Konflikt oder Kooperation in der digitalen Öffentlichkeit analysiert werden.