Der Aufsatz von Revers/Traunmüller unterliegt einem großen Irrtum. Denn dieser geht davon aus, dass das Recht auf Meinungsfreiheit quasi grenzenlos ist und auch das Recht umfasst, andere zu diskriminieren.
Uns ist unverständlich, wie Lars Meier zu diesem Schluss kommt. Weder wir noch irgendjemand hat jemals den Standpunkt vertreten, dass Meinungsfreiheit keinerlei Grenzen kenne. Selbst vehementeste Vertreter eines „free speech absolutism“ erkennen an, dass es gewisse Einschränkungen geben muss („... falsely shouting fire in a theatre and causing a panic“). Es handelt sich demnach um ein reines Strohmann-Argument. Die Leichtigkeit, mit der Lars Meier selbst über komplexe normative Fragen hinwegfegt und mit welcher Selbstverständlichkeit er dabei etwa den Wert der Freiheit anderen Werten unterordnet, ist bemerkenswert, sei ihm aber ebenfalls unbenommen.
Auffallend an Meiers Replik ist aber vor allem die legalistische Engführung des Begriffs der Meinungsfreiheit und damit des kritischen Maßstabs, den er an uns und unseren Beitrag heranträgt. Davon sind wir weder normativ noch analytisch überzeugt. Aus normativer Sicht ist es einerseits fraglich, ob man Entscheidungen über die Grenzen des Sagbaren wirklich in die Hände des Staates oder gar einer einzelnen staatlichen Behörde, wie der Antidiskriminierungsstelle, legen möchte. Andererseits scheint es uns durchaus plausibel, die Grenzen der Meinungsfreiheit im Universitätskontext sogar noch enger zu ziehen, als der gesetzliche Rahmen es erlauben würde. Das maßgebliche Kriterium scheint uns dabei durch das von uns präferierte, primäre universitäre Telos – Suche nach Wahrheit – vorgegeben.
Das legalistische Verständnis von Meinungsfreiheit als Grundrecht überzeugt uns aber vor allem soziologisch nicht und erscheint uns analytisch völlig unbrauchbar. Denn dass die Freiheit, seine Meinung zu äußern, nicht primär formal durch den Staat oder das Recht, sondern vornehmlich durch informelle soziale Normen und Mechanismen reguliert wird, ist eine klassische sozialwissenschaftliche Einsicht, die wir Größen unserer Disziplin von Alexis de Tocqueville (1981[1835/1840]) über Elisabeth Noelle-Neumann (1974) bis Glenn C. Loury (1994) verdanken. Auch ist Meinungsfreiheit kein binär codiertes Konstrukt, welches entweder voll und ganz gegeben („speaker’s corner“, Ausnahme: Beleidigung der Queen) oder völlig abwesend (Nordkorea) ist, sondern ein graduelles Phänomen, welches mehr oder weniger vorliegen kann. Der Grad der Meinungsfreiheit bemisst sich am Ausmaß ihrer Regulierung oder anders ausgedrückt daran, mit wieviel Kosten die freie Meinungsäußerung belegt oder „besteuert“ ist. Diese Kosten können physischer, ökonomischer und sozialer Art sein und sind direkt verhaltensrelevant.
Ein dezidiert sozialwissenschaftliches Verständnis von Meinungsfreiheit enttarnt nicht nur den weitverbreiteten und auch von Lars Meier bemühten Strohmann eines angeblichen „logischen Paradoxes“ als völlig substanzlos – niemand kann bestreiten, dass ein Thilo Sarrazin durch seine umstrittenen Äußerungen mit sozialen Kosten, etwa in Form von Ausladungen und sozialer Ächtung, belegt würde. Diese sozialen Kosten kann man im Falle von Thilo Sarrazin für angemessen und gerechtfertigt halten oder auch nicht, aber dass es sie gibt, scheint uns ganz evident.
Wichtiger scheint uns, dass ein solches analytisches Verständnis von Meinungsfreiheit auch besser dafür sensibilisiert, worin die eigentlichen Risiken und Gefahren ihrer Einschränkung bestehen. Aus der Ökonomie wissen wir, dass bereits kleine Veränderungen in den Kosten maßgebliche, verhaltensrelevante Folgen haben können. Anders ausgedrückt: Es geht nicht darum, in alarmistischer Manier vor Zuständen zu warnen, in denen Angehörigen der Universität das Grundrecht auf Meinungsfreiheit genommen wird. Das tut auch niemand. Es geht darum, zu verstehen, welche Formen der Sprachregulierung im Universitätskontext vorherrschen, mit welchen Kosten sie verbunden sind und welche Konsequenzen sie haben.
Um diesen zentralen Punkt zu verdeutlichen: Sprachliche Maßregelungen im Seminarraum zielen zwar zunächst auf den „Verursacher“, können aber weitere Konsequenzen für Unbeteiligte haben, die sich in Folge der Sanktionierung einfach gar nicht mehr zu bestimmten Themen äußern. Ein mit Lärm verhinderter Vortrag, der zunächst für den Vortragenden selbst mit Kosten verbunden ist, kann in Zukunft andere davon abhalten, Veranstaltungen zu bestimmten Themen überhaupt noch zu organisieren. Wie Marie Jahodas Forschung über den McCarthyismus (Jahoda und Cook 1952) gezeigt hat, reagieren auch Unverdächtige in Situationen erhöhter Konformitätsforderungen mit weiterreichenden selbstauferlegten Verhaltenseinschränkungen. Nicht jeder ist gewillt, sich (öffentlichen) Anfeindungen auszusetzen. Diese verschiedenen Schattierungen der Einschränkung von Meinungsfreiheit sind zwar nicht grundrechtlich, aber umso mehr soziologisch relevant. Sie einfach als Kollateralschäden der vermeintlichen Diskriminierungsbekämpfung abzutun, erscheint uns nicht akzeptabel.
Etwaige Sorgen um und konkrete negative Erfahrungen mit Sprachregulierung mit dem Hinweis auf lediglich „angenommene Nachteile“ wegzuwischen, wirkt auf uns arrogant und aus dem Mund von jemandem, der selbst vorgibt, sich gegen Diskriminierung und für reflektierten Sprachgebrauch im Seminarraum einzusetzen, inkonsequent. Wir finden es eigenartig, dass Lars Meier mit keinem einzigen Wort auf unseren zentralsten Befund eingeht: Dass gut ein Drittel der von uns befragten Studierenden sich in Seminardiskussionen unwohl fühlt, sich zu politischen Themen zu äußern und ihre ehrliche Meinung zu sagen, und dass dieser Anteil bei Studierenden rechts der Mitte (und bei Frauen, nicht aber bei ethnischen Minderheiten) noch einmal signifikant höher liegt. Warum sollten diese Studierenden benachteiligt werden? Wer selbst Artikel 3 des Grundgesetzes bemüht, sollte dies in seiner Gänze tun und anerkennen, dass Absatz 3 auch ganz explizit „politische Anschauung“ beinhaltet.
Weiter gibt Lars Meier eine andere Itemformulierung verkürzt und damit verzerrt wieder – die Studierenden wurden eben gerade nicht, wie von ihm behauptet, danach gefragt, ob ihre Meinungen kritisiert werden, sondern ob sie für ihre Meinungen persönlich kritisiert werden. Damit fällt auch der nächste Strohmann in sich zusammen, wir würden Meinungsfreiheit mit dem Recht gleichsetzen, nicht kritisiert zu werden. Weder wir noch irgendjemand hat jemals ein solches Argument formuliert. Dass Meier außerdem in seiner Replik geflissentlich unterschlägt, dass ebenfalls ein Drittel der befragten Studierenden der Ansicht ist, man solle Bücher mit kontroversen Inhalten aus der Unibibliothek entfernen, zeugt zumindest von selektiver Rezeption unserer Befunde. Ein „diskursives Ringen um Wahrheiten“ und ein „Argumentieren auf Grundlage von wissenschaftlichen Studien“ stellen wir uns jedenfalls anders vor.
Der ganze Versuch, die empirische Erforschung eines Themas, welches gegenwärtig international in Medien, Politik und Wissenschaft ernsthaft und kontrovers diskutiert wird (z. B. Lackey 2018), als direkten Anschluss an ein nicht genehmes „Narrativ“ zu deuten, ist intellektuell unbefriedigend und zeugt von einem Mangel an soziologischer Neugier. Meier ignoriert nicht nur geflissentlich, dass die Wahrnehmung einer zunehmenden Diskursverengung nicht nur von „rechter“, sondern auch linksliberaler Seite kommt (z. B. Harper’s Letter 2020), sondern auch, dass wir unseren Beitrag explizit mit Hinweis auf zwei widerstreitende Positionen motivieren, die sich beide durch einen Mangel an belastbarer empirischer Evidenz auszeichnen: jene, die ein restriktives Diskussionsklima an der Universität beklagen und jene, die dies in Abrede stellen. Dass die von uns vorgelegte Evidenz in ihrer vorläufigen Form offenbar nicht die von Lars Meier und Teilen der deutschsprachigen Soziologie präferierte Position begünstigt, können wir leider nicht ändern.
Wie wurde aber in der Studie Meinungsfreiheit überhaupt getestet und verstanden?
So, wie es in der empirischen Toleranzforschung und politischen Psychologie seit nunmehr über 65 Jahren, angefangen mit Samuel Stouffer (1955), mit großem Erfolg getan wird (s. dazu auch Gibson und Bingham 1982; Gibson 1992, 2006, 2013) und auch als Standardinstrument Eingang in den General Social Survey gefunden hat. Wir haben die Stouffer-Methode („fixed group approach“) adaptiert, um Toleranz gegenüber kontroversen Ideen zu Geschlechtergleichheit, Einwanderung, Islam und Homosexualität zu messen.Footnote 2 Dabei schreiben wir selbst: „Es sollte also betont werden, dass diese Maße nicht die Toleranz im Allgemeinen erfassen ..., sondern nur in Bezug auf diese sehr spezifischen Ziele“ (Revers und Traunmüller 2020, S. 481, unsere Übersetzung). In ihrer klassischen Kritik an diesem Ansatz schlagen Sullivan et al. (1979) daher vor, die Befragten selbst auswählen zu lassen, welche Gruppe sie am stärksten ablehnen, um ihre Toleranz ausschließlich gegenüber dieser „least liked group“ zu testen. Unsere Vermutung ist, was allerdings zu verifizieren wäre, dass Studierende hier ganz ähnliche Inhalte gewählt hätten, aber dadurch sicher nicht toleranter erschienen wären.
Dass sich mit dem Stouffer-Ansatz der politischen Toleranzmessung aber prinzipiell unterschiedliche normative Vorstellungen von Meinungsfreiheit operationalisieren lassen, zeigt sich einerseits an Mondak und Sanders (2003), die, einem sehr „amerikanischen“ Verständnis folgend, Befragte nur dann als tolerant bezeichnen, wenn sie die Redefreiheit ausnahmslos für jede Zielgruppe unterstützen. Andererseits hat jüngst Boch (2020) vorgeschlagen, eine eher „europäische“ Operationalisierung zu verwenden und Zielgruppen mit explizit hasserfüllter Rhetorik von solchen, die lediglich unpopuläre Ideen vertreten, zu trennen. Dies dürfte auch eine Operationalisierung von Toleranz und Meinungsfreiheit sein, die stärker Lars Meiers Vorstellungen entspricht. Es ist daher instruktiv, den Wortlaut der beiden Items, welche Boch (2020) aus dem etablierten Umfrageinstrument des General Social Survey ausschließt, genauer zu betrachten. Sie lauten: „jemand, der glaubt, dass Schwarze genetisch minderwertig sind“ und „ein muslimischer Geistlicher, der Hass auf die Vereinigten Staaten predigt“.
Die von uns verwendeten Items dagegen geben solche hasserfüllten Inhalte schlicht nicht her. Hier lässt Meier die notwendige Differenzierung vermissen, und die leichtfertig verwendeten Schlagworte wie „rassistisch“, „antifeministisch“ oder „homophob“ erscheinen uns dafür ebenso symptomatisch, wie sie exemplarisch für die von uns problematisierte universitäre Diskussionskultur sind. In den von uns formulierten Items ist nämlich überhaupt nicht von Menschengruppen die Rede, sondern von Konzepten (also von „Einwanderung“, nicht von „Einwanderern“; von „Islam“, nicht von „Muslimen“; von „Homosexualität“, nicht von „Homosexuellen“). Diese Unterscheidung ist keine bloße Haarspalterei, sondern ein entscheidendes Kriterium in der philosophischen und rechtswissenschaftlichen Begründung von sogenannten „Hate-speech“-Gesetzen sowie der darauf beruhenden europäischen Rechtsprechung (vgl. Garton Ash 2016). Ganz unabhängig davon, wie man im Einzelnen selbst zu diesen Aussagen steht – das ist und war zu keinem Zeitpunkt unser Thema –, so sind sie selbstverständlich durch das Grundgesetz gedeckt und haben mit Diskriminierung nichts zu tun. In der vermutlich größten politischen Streitfrage des 21. Jahrhunderts darf es mehr als eine, auch eine dezidiert einwanderungskritische Meinung geben. Man darf angesichts der eklatanten Menschenrechtsverletzungen in islamisch geprägten Staaten den Islam als inkompatibel mit dem westlichen Lebensstil erachten. Und man darf aus tiefer innerer religiöser Überzeugung, ganz gleich welcher Couleur, auch Homosexualität als unmoralisch empfinden. Konzepte und Ideen können nicht diskriminiert werden und sind keine geschützten Kategorien – und im wissenschaftlich-universitären Kontext am allerwenigsten.
Aber auch unser viertes Item („jemand, der glaubt, dass es biologische Unterschiede in den Talenten zwischen Männern und Frauen gibt“) taugt nicht zur moralischen Empörung – es sei denn, man möchte sich über Jahrzehnte an psychometrischen und experimentellen Erkenntnissen aus Evolutionspsychologie, Biologie und Neurowissenschaften empören (s. dazu ausführlich Pinker 2003). Uns scheint eine solche wissenschaftsfeindliche Einstellung an der Universität fehl am Platz. Diskriminierung kann hier nur jemand wittern, der nicht zwischen Aussagen über Populationsdifferenzen und individueller Eignung unterscheidet und auch sonst keinerlei Verständnis für statistische Verteilungen aufbringt. In einem solchen Fall sollte man sich aber möglicherweise auch mit Aussagen zur Quantenmechanik nicht zu weit aus dem Fenster lehnen.