Der „gender wage gap“ aus soziologischer und ökonomischer Perspektive
Die vermutlich längste Tradition zur Erklärung von Lohnungleichheiten haben die ökonomischen Theorien, insbesondere die Humankapitaltheorie (Becker 1975; Mincer 1958; Mincer und Polachek 1974). Das Humankapital bezeichnet die Akkumulation von Fähigkeiten, Erfahrungen und Bildungsabschlüssen, die ein Individuum besitzt und die sich – zumindest gemäß Theorie – positiv auf seine Produktivität auswirken. Demnach werden Lohnungleichheiten damit erklärt, dass sich Menschen durch ihr Humankapital und folglich durch ihre Produktivität unterscheiden. Insgesamt hat sich das Bildungsniveau zwischen Frauen und Männern über die letzten Jahrzehnte angeglichen. Beispielsweise haben 28 % der 25- bis 64-jährigen Frauen in der Schweiz einen Hochschulabschluss. Bei den Männern sind es knapp 30 %. Unter den 25- bis 34-Jährigen haben mit 42 % inzwischen deutlich mehr Frauen als Männer (35 %) einen Hochschulabschluss (BFS 2019a). Entsprechend sollte sich auch der „gender wage gap“ verringern.
Die Theorie geht aber noch einen Schritt weiter: Da Frauen eine eher diskontinuierliche Erwerbslaufbahn antizipieren, treffen sie entsprechende Bildungsentscheidungen und wählen z. B. Berufe, in denen die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie einfacher möglich ist oder in denen Erwerbsunterbrüche mit einer geringen Entwertung des Humankapitals einhergehen, so etwa die Argumentation von Polachek (1981). Diese ungleiche Verteilung der Geschlechter auf Berufe und Tätigkeiten – horizontale Segregation genannt – ist in der Schweiz, wie auch in vielen anderen Ländern, tatsächlich sehr ausgeprägt und hat sich über die Zeit nur wenig verändert (Buchmann und Kriesi 2012; Charles 2005; Schwiter et al. 2014). Gemäß der sogenannten Devaluations-Hypothese (England et al. 1988; Liebeskind 2004) wird von Frauen ausgeübte Arbeit zudem gesellschaftlich weniger hoch bewertet als typisch männlich konnotierte Arbeit. Die Abwertung erfolgt z. B. dadurch, dass Qualifikationen, die für die häufig von Frauen ausgeübten Berufe erforderlich sind, nicht wahrgenommen werden. Folglich schlagen sich diese Qualifikationen auch nicht in einem höheren Lohn nieder (England 1992, 2005; Gottschall 1995). Die geschlechtsspezifische Prägung eines Berufes kann sich über die Zeit ändern, und tatsächlich gibt es Forschung, die einen negativen Zusammenhang zwischen der Feminisierung (verstanden als Zunahme des Frauenanteils) eines Berufs und dessen durchschnittlichem Einkommen findet (z. B. Levanon et al. 2009; Murphy und Oesch 2016).
Die bessere Ausbildung und die Zunahme der Erwerbstätigkeit der Frauen haben einen Beitrag zur Verminderung der Lohnungleichheit zwischen den Geschlechtern geleistet (für die Schweiz s. z. B. Jann und Engelhardt 2008). Der Umstand, dass Frauen weiterhin öfter Teilzeit arbeiten und für einen Großteil der unbezahlten Haus- und Familienarbeit zuständig sind, verhindert jedoch ihre gleichwertige Arbeitsmarktteilnahme. Während die geschlechtsspezifische Rollenverteilung von einigen Vertreterinnen und Vertretern der neoklassischen Ökonomie als rationale Kosten-Nutzen-Überlegung dargestellt wird („Spezialisierungs-Hypothese“, Becker 1981), kritisieren Soziologinnen und Soziologen dies als strukturelles Problem. Die „doppelte Vergesellschaftung“ (Becker-Schmidt 2008), ein Produkt der Industrialisierung, bezeichnet eine doppelte Einbindung der Frauen in das Sozialgefüge, einerseits auf dem Arbeitsmarkt und andererseits im Haushalt. Abgesehen von der geringeren Bewertung der Haus- und Familienarbeit behindert die Doppelbelastung die Integration in den Arbeitsmarkt und insbesondere auch das Fortkommen in Karriereberufen.
Oesch et al. (2017) zeigen anhand von Paneldaten, dass Frauen starke Lohneinbußen erfahren, sobald sie Mütter werden. Auch wenn ein Großteil der Lohneinbuße auf die Reduktion der Arbeitszeit zurückgeht, bleibt dennoch ein unerklärter Anteil von bis zu 9 % des Lohnunterschieds zwischen Müttern und kinderlosen Frauen bestehen. Mit einem Vignettenexperiment bei Personalverantwortlichen zeigen die Autoren zudem, dass Mütter geringere Anstellungschancen haben als ansonsten vergleichbare Frauen ohne Kinder und ihnen von den Befragten im Experiment ein geringerer Lohn zugesprochen wird.
Die niedrigeren Frauenlöhne lassen sich allerdings nicht allein mit diesem sogenannten „motherhood penalty“ (Budig und England 2001) erklären. In ihrer neuen Studie finden Combet und Oesch (2019) Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern, lange bevor diese eine Familie gründen und beginnen, sich die Hausarbeit ungleich aufzuteilen. Dabei bleibt ein unerklärter Unterschied bestehen, auch wenn eine Vielfalt von möglichen Einflussfaktoren, darunter Humankapital, Job-Charakteristika und Werte in Bezug auf Arbeit und Familie, kontrolliert werden.
Ein Teil des geschlechtsspezifischen Lohnunterschieds erklärt sich weiterhin dadurch, dass Frauen seltener in Führungspositionen gelangen als Männer. Der Frauenanteil unter den Arbeitnehmenden mit Führungsfunktion betrug in der Schweiz im Jahr 2018 36 % (BFS 2019b). In den Geschäftsleitungen der 100 größten Schweizer Firmen befanden sich im selben Jahr nur 7 % Frauen. In Verwaltungsräten betrug ihr Anteil immerhin 19 % (Schillingreport 2018). Die Bildungserfolge der Frauen schlagen sich also noch nicht in entsprechenden Positionen auf dem Arbeitsmarkt nieder. Bei gleicher Ausbildung und gleichen Karriere-Aspirationen erreichen Frauen seltener eine Führungsposition als Männer (Zimmermann 2020). Es scheinen also weiterhin unsichtbare Barrieren vorhanden zu sein, die Frauen am Aufstieg hindern (eine sogenannte „gläserne Decke“). Erklärbar ist das Vorhandensein der gläsernen Decke unter anderem mit dem Einfluss sozialer Netzwerke, von denen Männer mehr profitieren als Frauen (für die Schweiz s. z. B. Rost 2010).Footnote 1 Auch homosoziale Reproduktion, also die Präferenz der meist männlichen Vorgesetzten, Untergebene des gleichen Geschlechts zu fördern, erhöht die Barrieren für Frauen, in Führungspositionen zu gelangen und damit höhere Einkommen zu erzielen (s. z. B. Bihagen und Ohls 2006; Holst und Wiemer 2010; Ochsenfeld 2012). Doch selbst wenn der Aufstieg gelingt, bestehen Lohnunterschiede zwischen den Geschlechtern, die auf den oberen Hierarchiestufen stärker ausgeprägt sind als auf den unteren Stufen der Karriereleiter (Blau und Kahn 2017; Strub und Bannwart 2017, S. 42).
Diskriminierung
Trotz umfassender statistischer Modelle zur Erklärung der Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern auf Grundlage der Humankapitaltheorie verbleibt in der Regel eine substanzielle Differenz, die nicht auf die besprochenen Faktoren zurückgeführt werden kann. In der Schweiz betrug dieser nichterklärte Teil im Zeitraum zwischen 1998 und 2016 im Durchschnitt etwa 40 % des Gesamtunterschieds (BFS 2019c; Strub und Stocker 2010).
Ähnliche Werte berichten ältere Arbeiten (Diekmann et al. 1993; Brüderl et al. 1993). Eine Ausnahme ist die Studie von Kugler (1988), die relativ tiefe Diskriminierungsschätzungen ermittelte. Dabei ist natürlich zu bedenken, dass die jeweils verwendeten Indikatoren des Humankapitals und ihre Messung die Diskriminierungsschätzung stark beeinflussen. Auch in internationalen Studien zeigt sich ein deutlicher „gender wage gap“; in der EU liegt die Spannbreite zwischen 1 % in Rumänien und 23,5 % in Estland. Deutschland liegt mit 21 % im oberen Bereich (Boll und Lagemann 2018). In fast allen Ländern ist ein Teil der Diskrepanz nicht „erklärbar“ und möglicherweise auch auf Diskriminierung zurückzuführen. Ob es sich bei der nichterklärten Differenz tatsächlich um Diskriminierung handelt oder lediglich um ein Artefakt unvollständig spezifizierter statistischer Modelle, wird kontrovers diskutiert. Theoretische Überlegungen sprechen jedoch durchaus dafür, dass Diskriminierung zumindest nicht auszuschließen ist.
Ein vielbeachteter theoretischer Ansatz zur Erklärung von Diskriminierung wurde von Gary Becker mit der „economics of discrimination“ (Becker 1973) vorgeschlagen. Demnach erfolgt Diskriminierung aufgrund von Vorurteilen oder Abneigungen gegenüber bestimmten Gruppen („taste-based discrimination“). Als Konsequenz werden Mitglieder dieser Gruppen, beispielsweise Frauen, auch bei gleicher Produktivität seltener befördert oder erhalten einen niedrigeren Lohn. Die diskriminierende Haltung kann dabei von unterschiedlichen Akteuren ausgehen: den Arbeitgebenden, den anderen Mitarbeitenden oder den Kundinnen und Kunden des Unternehmens. Zumindest in den ersten beiden Fällen sollte auf Abneigung basierende Diskriminierung nach ökonomischer Theorie jedoch nicht vorkommen, da diskriminierende Unternehmen in einem kompetitiven Markt nicht konkurrenzfähig wären und aus dem Markt gedrängt würden. Nach Arrow (1972) sagt Beckers Modell also folglich genau die Abwesenheit des Phänomens voraus, das es zu erklären versucht (s. a. Guryan und Charles 2013).
Ohne die Annahme diskriminierender Präferenzen kommt das Konzept der „statistischen Diskriminierung“ (Arrow 1972; Phelps 1972) aus. Die unterschiedliche Behandlung von Frauen und Männern wird bei diesem Ansatz dadurch erklärt, dass sich Akteure wegen mangelnder Informationen bei der Festlegung des Lohns an statistischen Gruppenmerkmalen orientieren. Das bedeutet, dass diese Gruppenmerkmale umso mehr Gewicht erhalten, je weniger Informationen über die Produktivität eines bestimmten Individuums vorhanden sind. Bei perfekter Information müsste die Diskriminierung also verschwinden. Diese Theorie kann Lohnungleichheiten zwischen den Geschlechtern im Prinzip nur dann erklären, wenn sich die Produktivität der beiden Geschlechter effektiv unterscheidet. Soziologische und sozialpsychologische Studien zeigen allerdings, dass diese These nicht haltbar ist (z. B. Bielby und Bielby 1988). Im Gegenteil, auch wenn Frauen in Job-Evaluationen bessere Bewertungen erhalten, sind es die Männer, die dann trotzdem eher befördert werden (Blau und DeVaro 2007) oder größere Lohnerhöhungen erhalten (Castilla 2012). Interessant ist das Konzept der statistischen Diskriminierung jedoch, weil die herangezogenen Gruppenbewertungen auch auf Stereotypen beruhen können, die nicht zwingend den Tatsachen entsprechen, sich aber aufgrund selbstverstärkender Prozesse verfestigen oder im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung letztlich sogar bewahrheiten mögen.
In diese Richtung gehen auch die „status construction theory“ (Ridgeway 1997, 2001) und die „reward expectations theory“ (Auspurg et al. 2017; Berger et al. 1985). Den Theorien zufolge haben bereits existierende Status- und Ressourcenunterschiede zwischen verschiedenen sozialen Gruppen (insbesondere zwischen Frauen und Männern) Auswirkungen auf die Interaktionen zwischen den Individuen dieser Gruppen. Dabei entstehen sogenannte „status beliefs“, also Glaubenssätze über den Status der Mitglieder der jeweiligen Gruppen, die in Interaktionen laufend reproduziert werden (vgl. Goffman 1977). Diese Glaubenssätze über den sozialen Status von Frauen und Männern haben zur Folge, dass Frauen weniger kompetent eingeschätzt werden und ihnen ein tieferer Status zugesprochen wird, woraus eine ungleiche Behandlung auf dem Arbeitsmarkt resultieren kann (Ridgeway 1997). Es ist also eine Art Teufelskreis: Weil Männer öfter in höheren Positionen sind, wird ihnen ein gesellschaftlich höherer Status zugeschrieben, was es wiederum als legitim erscheinen lässt, dass sie höhere Positionen oder höhere Einkommen erhalten (s. dazu auch Berger et al. 1972).
Verteilungsgerechtigkeit
Dass Frauen aufgrund ihres Geschlechts weniger verdienen als Männer, ist nicht nur gesetzeswidrig, sondern verletzt vermutlich auch das Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen. Sie würden dies somit als unfair bewerten. Doch was ist denn nun ein fairer Lohn? Welche Kriterien sollen entscheiden, wer wieviel von einem bestimmten Gut erhält? Diese Fragen stehen im Zentrum der Theorien über die Verteilungsgerechtigkeit.
Bereits in der Philosophie der Antike wurden Fragen zur Verteilungsgerechtigkeit diskutiert. Dabei haben sich mehrere, sich teilweise widersprechende Kriterien etabliert. Die drei bekanntesten Kriterien sind Gleichheit, Leistung und Bedürftigkeit (vgl. z. B. Deutsch 1975; Miller 1992; Sabbagh 2001). Dass Gleichheit, also „allen das Gleiche“, nicht immer gerecht ist, erkannte bereits Aristoteles. Sein in der Nikomachischen Ethik eingeführtes Gerechtigkeitsprinzip basiert auf einer „proportionalen Gleichheit“. Für ihn muss „eine gewisse Würdigkeit das Richtmaß der distributiven Gerechtigkeit sein“ (Aristoteles 1985, S. 107). Worin diese Würdigkeit nun besteht, lässt er weitgehend offen. In der philosophischen Literatur wird dieses Prinzip nun meist „Leistungsprinzip“ genannt und kann verschiedene Aspekte der Leistung enthalten, z. B. Anstrengung, Fähigkeiten oder Erfolg. Welche dieser Kriterien wie viel zählen sollen, darüber herrscht keine Einigkeit (Lamont 1994).
Das dritte Prinzip ist das der Bedürftigkeit. Demnach sollen diejenigen mehr von etwas bekommen, die einen höheren Bedarf danach haben. Dieses Prinzip hat seine Bedeutung heute hauptsächlich im Zusammenhang mit sozialstaatlichen Maßnahmen. So sind Leistungen, wie beispielsweise die Sozialhilfe, an die Bedürftigkeit der Leistungsbeziehenden geknüpft. Die Leistungen der Altersvorsorge hingegen basieren eher auf dem Leistungsprinzip und werden gemäß den durch Erwerbsarbeit erwirtschafteten Vorsorgeguthaben verteilt (i. d. R. kombiniert mit gewissen an Gleichheit und Bedürftigkeit ausgerichteten Korrekturmechanismen am unteren Ende der sozialen Leiter).
Dass askriptive Merkmale, wie Geschlecht, soziale Herkunft, ethnische Zugehörigkeit oder sexuelle Orientierung, in zeitgenössischen Theorien zur Verteilungsgerechtigkeit nicht vorkommen und bei der Beurteilung eines gerechten Einkommens keine Rolle spielen sollten, ist kein Zufall. Demzufolge können Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern erst einmal nicht gerecht sein, außer es gäbe Grund zur Annahme, dass Frauen entweder weniger leisten oder weniger benötigen als Männer. In Übereinstimmung mit der Humankapitaltheorie (Becker 1975; Mincer und Polachek 1974) soll eine höhere Produktivität zu einem höheren Einkommen führen. Damit also Frauen gerechterweise weniger erhalten als Männer, müsste ihre Produktivität niedriger sein. Dies wurde in einer Vielzahl empirischer Studien untersucht und konnte nicht belegt werden (Castilla 2012). Bei gleichen Voraussetzungen weisen Frauen die gleiche Produktivität auf wie Männer.
Auch in Bezug auf das zweite Gerechtigkeitskriterium, Bedürftigkeit, wird nicht auf Anhieb klar, aus welchem Grund Frauen weniger verdienen sollten als Männer. Das häufigste diesbezügliche Argument ist, dass verheiratete Frauen auf das Einkommen ihres Mannes zählen können und deshalb weniger darauf angewiesen sind, ein gleichwertiges Einkommen zu erzielen. Diese Überlegungen basieren auf einer geschlechtsspezifischen Rollenteilung, die dem Mann die Erwerbsarbeit zuweist und die Frau für die Hausarbeit und Kindererziehung vorsieht. Auch wenn sich in den letzten Jahrzehnten diesbezüglich einiges verändert hat, die Grundfesten wurden nicht erschüttert. In der Schweiz waren im Jahr 2018 82,4 % der erwerbstätigen Männer Vollzeit (90–100 %) beschäftigt, hingegen traf dies lediglich auf 41 % der erwerbstätigen Frauen zu (BFS 2019d). Gleichzeitig waren Frauen für einen weitaus größeren Teil der unbezahlten Haus- und Familienarbeit verantwortlich. So leisteten 15- bis 64-jährige Frauen im Jahr 2016 im Mittel 30 h Haus- und Familienarbeit pro Woche; bei den Männern waren es nur 18 h (BFS 2017).
Dass Frauen weniger verdienen, wenn sie weniger bezahlte Erwerbsarbeit leisten, leuchtet ein. Dass sie aber für gleichwertige Arbeit (in Inhalt und Umfang) weniger Lohn erhalten, lässt sich vorerst nur schlecht damit erklären, dass sie mehr Zeit für die Familie aufwenden als Männer.Footnote 2 Auch die umgekehrte These, dass verheiratete Männer bei der Entlohnung einen sogenannten „Heiratsbonus“ erhalten, wird kontrovers diskutiert. Diverse Studien zeigen, dass verheiratete Männer im Durchschnitt mehr verdienen als alleinstehende Männer (Budig und Lim 2016; Killewald und Gough 2013). Gemäß Beckers (1981) Spezialisierungs-Hypothese lautet eine Erklärung, dass es für den Haushalt insgesamt ökonomisch von Vorteil sein könnte, wenn sich verheiratete Männer mit höherem Einkommenspotenzial als ihre Ehefrauen auf die Erwerbsarbeit konzentrieren und sich Frauen aufgrund komparativer Vorteile bei der Erziehung von Kindern auf die Haus- und Familienarbeit spezialisieren. Diese These und insbesondere die ihr zugrunde liegenden Annahmen sind allerdings umstritten. Die Untersuchungen von Ludwig und Brüderl (2018) sowie Jakobsson und Kotsadam (2016) zeigen etwa, dass ein Selektionseffekt vorliegt, nach dem Männer mit höherem Einkommenspotenzial mit größerer Wahrscheinlichkeit heiraten als Männer mit geringeren Einkommenschancen. Die „Heiratsprämie“ der Männer könnte ein Artefakt dieser Selektion sein. Alternativ wird vermutet, dass vonseiten der Arbeitgebenden eine positive Diskriminierung stattfinden könnte, in dem Sinne, dass diese bereit sind, verheirateten Männern aufgrund von traditionellem Rollendenken (Mann als Haupternährer) mehr Lohn zu bezahlen (Budig und Lim 2016; vgl. auch Killewald und Gough 2013). McDonald (2019) findet eine – wenn auch bescheidene – Heiratsprämie für Männer, und zwar sowohl in einer Paneldatenanalyse als auch bei Bewertungen in einem Vignettenexperiment. Traditionelle Rollenbilder mögen also dazu beitragen, dass den Frauen (zumindest, wenn sie verheiratet sind) gemäß dem Bedürftigkeitsprinzip weniger Lohn zugesprochen wird als den Männern – oder umgekehrt die Männer einen Heiratsbonus erhalten.
Empirische Gerechtigkeitsforschung
Um herauszufinden, wie die Menschen denken und welche Kriterien ihnen bei Verteilungsfragen wichtig sind, wurden in der empirischen Sozialforschung in den letzten Jahren vermehrt Vignettenexperimente (oder faktorielle Surveys) durchgeführt. Vorgeschlagen wurde die Methode aber bereits durch Peter H. Rossi (vgl. Rossi 1979; Rossi und Nock 1982). Aufbauend auf den Pionierarbeiten im Bereich der Einkommensgerechtigkeit (Jasso 1980; Jasso und Rossi 1977; Jasso und Webster Jr. 1997) wurden verschiedene Studien durchgeführt, die fast alle einen „just gender pay gap“ aufzeigten. Das heißt, wenn die Befragten die Löhne von Frauen und Männern beurteilen mussten, die sich in ihren Eigenschaften nicht unterschieden, empfanden sie für Frauen i. d. R. niedrigere Einkommen als gerecht als für Männer (Jasso und Webster Jr. 1997; Jann 2003a;Footnote 3 Gatskova 2015; Sauer et al. 2009). In einigen Studien, insbesondere wenn Studierende befragt wurden, fand sich kein solcher Effekt (Auspurg et al. 2009) oder sogar ein leichter Vorteil für die Frauen (Jasso und Webster Jr. 1999).
Auspurg et al. (2017) testeten mehrere der in den vorherigen Abschnitten diskutierten Theorien mittels Vignettenanalyse. Um zu überprüfen, ob statistische Diskriminierung eine Ursache für niedrigere Frauenlöhne sein könnte, präsentierten sie den Befragten Vignetten mit unterschiedlich vielen Informationen, aus denen Rückschlüsse auf die Produktivität der beschriebenen Personen gezogen werden konnten. Trifft die Theorie zu, müsste der Lohnunterschied zwischen den bewerteten Frauen- und Männervignetten dann am größten sein, wenn am wenigsten produktivitätsrelevante Information vorhanden ist. Die Hypothese wurde allerdings nicht bestätigt: Mehr Information führte nicht dazu, dass für Frauen und Männer der gleiche Lohn als gerecht empfunden wurde. Der Lohnunterschied zuungunsten der Frauen blieb vorhanden. Weiter testeten sie, ob die Theorie zutrifft, dass Frauen und Männern ein unterschiedlicher Status zugeschrieben wird und dies zu einer ungleichen Bewertung der Frauen- und Männervignetten führt („rewards expectation theory“). Wenn es zutrifft, dass Männern mehr Fähigkeiten zugesprochen werden, sollte dies in männerdominierten Berufen eher der Fall sein, da dort Vorurteile über geschlechtsspezifische Kompetenzen besonders zum Tragen kommen. Weiter sollte der Unterschied ebenfalls größer sein, wenn die Befragten in Berufen mit hoher Lohnungleichheit arbeiten, da existierende Ungleichheiten sich in den Vorstellungen der Menschen verfestigen und sich somit auch immer wieder reproduzieren (Auspurg et al. 2017, S. 182). Diese Hypothesen wurden teilweise bestätigt. Es zeigte sich, dass Lohnunterschiede in der Branche der Befragten wie auch in derjenigen der Vignettenpersonen eine Rolle spielen: Je größer der reale Lohnunterschied ist, desto unterschiedlicher war auch die Bewertung der Frauen- und Männerlöhne. Hingegen hatte der Frauenanteil im Beruf keinen signifikanten Effekt. Insgesamt sprechen die Ergebnisse durchaus dafür, dass „gender status beliefs“ eine Rolle bei der Bewertung von Einkommen spielen können.
Weitere experimentelle Forschung untersuchte den Einfluss der verschiedenen Gerechtigkeitsprinzipien auf die Beurteilung eines gerechten Lohns (Jasso und Rossi 1977). Das Leistungsprinzip wird dabei u. a. anhand der Arbeitsleistung der beschriebenen Person evaluiert. So sollen Personen mit einer höheren Leistung mehr verdienen als solche, die eine geringere Leistung erbringen (Auspurg et al. 2017; Gatskova 2015; Jann 2003a). Die Beurteilung des Bedürftigkeitsprinzips wird oftmals über den Zivilstand oder anhand von Kindern im Haushalt ermittelt. Die Untersuchungen von Gatskova (2015) und Sauer et al. (2009) zeigten etwa, dass gemäß den Befragten Personen, die mit einer nichterwerbstätigen Person verheiratet sind, ein höheres Einkommen erhalten sollen als andere. Allerdings bleibt in diesen beiden Experimenten unklar, ob dies für Frauen und Männer gleichermaßen gilt. Shamon und Dülmer (2014) diskutieren diesen Aspekt und leiten die Hypothese her, dass den Männern aufgrund der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ein höheres Einkommen zugestanden wird als den Frauen. In ihrem Vignettenexperiment, in dem sie Frauen und Männer, die mit einer nichterwerbstätigen Person verheiratet sind, verglichen, ließ sich die Hypothese jedoch nicht bestätigen.
In einer neuen Studie mit den deutschlandweiten Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) zeigt sich hingegen ein sehr deutlicher Beleg für das „male breadwinner model“. Lang und Groß (2020) gelingt es zunächst, die Ergebnisse von Auspurg et al. (2017) zu replizieren. Darüber hinausgehend ist ihr Hauptergebnis, dass Vätern mit Kindern höhere Einkommen zugestanden werden als männlichen Verdienern ohne Kinder. Bei zwei Kindern beträgt der Einkommensbonus nach ihren Schätzungen 7 %, bei vier Kindern sogar 14 %. Auffallend ist, dass Frauen ein solcher Bonus nicht zugestanden wird. Der Breadwinner-Effekt sticht besonders in Westdeutschland hervor; im Osten ist er weniger stark ausgeprägt.
Unsere Studie
Wir gehen in einer Sequenz von drei aufeinander aufbauenden Vignettenexperimenten dem Einfluss von Geschlecht, Familie, Kindern und dem Zusammenspiel dieser Merkmale auf die Wahrnehmung gerechter Entlohnung nach. Ziel dieser drei Experimente ist, die Mechanismen, die für die Beurteilung eines gerechten Lohns relevant sind, besser zu verstehen. Dabei orientieren wir uns an der bestehenden Forschung und entwickeln diese auch weiter. Einerseits replizieren wir die bisherigen Ergebnisse bezüglich des „just gender pay gap“ und untersuchen ebenfalls, welche Rolle die weiter oben genannten Gerechtigkeitsprinzipien bei der Beurteilung eines gerechten Lohns spielen. Bisherige Studien haben das Zusammenspiel von Bedürftigkeit und Geschlecht weitgehend vernachlässigt. Die Arbeiten von Gatskova (2015) und Sauer et al. (2009) verwendeten zwar ebenfalls den Zivilstand als Proxy für Bedürftigkeit, doch sie untersuchten nicht, ob es diesbezüglich Unterschiede zwischen Frauen und Männern gibt. Diese Lücke möchten wir mit unserer Studie füllen.
Die drei Experimente bauen aufeinander auf, doch sie gehören nicht zu einem von Beginn an konsistent geplanten Forschungsprogramm. Aufgrund der Ergebnisse eines Experiments wurde jeweils das nachfolgende geplant. Aus diesem Grund liegen die drei Experimente zeitlich auch etwas weiter auseinander. In der vorliegenden Arbeit fassen wir nun abschließend die Ergebnisse aller drei Experimente zusammen und setzen sie zueinander in Bezug. Auch methodisch ist unsere kumulative Forschungsstrategie von Interesse. So können wir nach der Verwerfung einer Hypothese weiteren Faktoren nachgehen und damit genauer die Mechanismen klären, die die unterschiedlichen Bewertungen der Einkommen hervorrufen.
In Experiment 1 untersuchen wir erstens, ob es einen Unterschied im „gerechten“ Lohn für Frauen und Männer gibt. Zweitens interessiert uns, ob Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit, namentlich Verdienst und Bedürftigkeit, bei der Beurteilung eines gerechten Lohns zur Anwendung kommen. Dank des experimentellen Designs können wir Diskriminierung (im Sinne eines „just gender pay gap“) von anderen Ursachen, wie beispielsweise unterschiedliches Humankapital, isolieren; wir können jedoch nicht genau sagen, wie diese Diskriminierung zustande kommt. Die Leistung operationalisieren wir anhand des beruflichen Engagements der beschriebenen Person. Wie hoch die Bedürftigkeit ist, variieren wir durch die familiäre und finanzielle Situation.
In Experiment 2 versuchen wir, die Ergebnisse von Experiment 1 in Bezug auf die Relevanz des Geschlechts zu replizieren. Um weitere mögliche Einflussfaktoren, die mit der familiären Situation zusammenhängen könnten, zu kontrollieren, halten wir in diesem Experiment den Zivilstand konstant. Alle Vignettenpersonen werden als alleinstehend und ohne Kinder beschrieben. Zweitens und damit zusammenhängend interessiert uns, ob die horizontale Segregation einen Einfluss auf die Einkommensbewertung hat. Ist der „just gender pay gap“ in einem typischen Frauenberuf anders als in einem typischen Männerberuf?
Als Reaktion auf die Ergebnisse der beiden vorhergehenden Experimente überprüfen wir in Experiment 3, ob das Bedürftigkeitsprinzip in Zusammenhang mit der Spezialisierungs-Hypothese und den damit einhergehenden Rollenbildern für den „just gender pay gap“ verantwortlich sein könnte. Konkret geht es darum, zu untersuchen, ob sich das „gerechte“ Einkommen von Frauen und Männern nur dann unterscheidet, wenn Hinweise auf eine andere Person vorliegen, die möglicherweise zum Haushaltseinkommen beiträgt.