1 Einleitung

It’s a balmy night in Manhattan’s financial district, and at a sports bar called Stout, everyone is Tindering. The tables are filled with young women and men who’ve been chasing money and deals on Wall Street all day, and now they’re out looking for hookups. Everyone is drinking, peering into their screens and swiping on the faces of strangers they may have sex with later that evening. Or not. “Ew, this guy has Dad bod”, a young woman says of a potential match, swiping left. Her friends smirk, not looking up. “Tinder sucks”, they say. But they don’t stop swiping.

In diesem kurzen Absatz, mit dem die Journalistin Nancy Jo Sales (2015) den im Magazin Vanity Fair veröffentlichten, viel diskutierten Artikel „Tinder and the Dawn of the ‚Dating Apocalypse‘“ einleitet, kann man einige der Themen identifizieren, die die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Online-Dating bestimmen. Kritisiert wird die Oberflächlichkeit, mit der die Nutzerinnen der App über die Gesichter auf ihrem Bildschirm wischen, ihre Orientierung auf „hookups“ und ihre Konzentration auf die Bewertung der Körper potenzieller Partnerinnen. Außerdem wird eine allgemeine Unzufriedenheit mit diesem Modus der Partnerinnensuche diagnostiziert, die aber nicht zu einer konsequenten Abkehr von Dating-Apps führt. Die Leute wollen eigentlich nicht, können aber anscheinend nicht anders, wenn sie einmal an der Nadel der Datinganbieter hängen. Und schließlich wird die Nähe dieser Datingpraxis zur Ökonomie hervorgehoben. Beobachtet werden Leute, deren Berufsleben darin besteht, dem Geld hinterherzulaufen. Und jetzt, am Abend in der Bar, sind sie auf der Suche nach der nächsten Affäre. Die Diagnose ist klar: „Dating apps are the free-market economy come to sex“ (Sales 2015).

Gerade wenn sich Soziologinnen nicht nur als Sozialberichterstatterinnen verstehen oder ihre Analysen auf die Mikrologik sozialer Praktiken konzentrieren, sondern, gesellschaftstheoretisch informiert, die Kulturbedeutung sozialer Phänomene rekonstruieren wollen, schließen sie gerne an solche Beobachtungen an. „Das Internet hat sich zu einem Markt entwickelt, in dem man die mit Menschen verbundenen ‚Werte‘ vergleichen und sich für das ‚beste Angebot‘ entscheiden kann“, lautet etwa die Diagnose von Eva Illouz (2012, S. 331). Darin liegt allerdings die Gefahr, die über den Gegenstand vorliegenden Informationen zeitdiagnostisch zu überziehen. Ich möchte deshalb in diesem Artikel gegenüber solchen Diagnosen einen Schritt zurücktreten und die Voraussetzungen von Praktiken des Onlinedatings empirisch klären. Im Sinn einer rekonstruktiven Gesellschaftsanalyse (Peetz 2020) frage ich nach den Möglichkeiten, die Infrastrukturen des Onlinedatings ihren Nutzerinnen bieten.Footnote 1 Fokussiert wird also der infrastrukturelle Kontext der Praxis und nicht die Praxis des Onlinedatings selbst.

Ich werde im Folgenden davon ausgehen, dass Praktiken intimer Bewertung ein zentrales Moment der Nutzung von Onlinedatingangeboten sind. Die systematische Frage, die die Analysen dieses Artikels anleitet, ist die nach den Möglichkeiten, die Datinginfrastrukturen für Beobachtung, Vergleich und Bewertung von potenziellen Intimpartnerinnen bereitstellen. Ich werde dazu zunächst allgemeiner auf den Zusammenhang von Bewertung und Digitalisierung eingehen und dabei die theoretischen Instrumente darstellen, die die vorliegende Untersuchung orientieren (Abschn. 2). Um die Eigentümlichkeiten digitalisierter intimer Bewertung besser hervortreten zu lassen, streife ich kurz die Geschichte der Infrastrukturen der Paarbildung (Abschn. 3), bevor ich mich digitalisierter intimer Bewertung an einem konkreten Fall nähere: der Dating-App Tinder. Nach einer kurzen Einführung in den Fall (Abschn. 4) frage ich nach den Möglichkeiten der Beobachtung und Bewertung von Personen, die die App ihren Nutzerinnen bietet und auch danach, wie sie selbst beobachtet, vergleicht und bewertet (Abschn. 5).

2 Digitalisierte Bewertung

Bewertungen schreiben Bewertungsobjekten spezifische, inhaltlich unterschiedlich bestimmte Wertigkeiten zu (Dewey 1939; Heinich 2020). Sie verwandeln z. B. Personen, denen gegenüber man indifferent eingestellt ist, in wertvolle Personen, die „attraktiv“, „interessant“, „toll“, „sexy“ etc. sind. Bei der Formulierung eines Bewertungsurteils werden dabei analytisch zu unterscheidende Praktiken zusammengezogen: Es werden soziale IdentitätenFootnote 2 geformt, kategorisiert, in Beziehungen gestellt und inwertgesetzt (Peetz 2021).

Dass in Bewertungsprozessen die „Identität“ von Personen erst festgestellt werden muss, also relativ stabile Erwartungen darüber gebildet werden müssen, wer genau diese Person ist, ist in vielen Fällen intimer Bewertung offensichtlich. Unbekannte lernen sich kennen und müssen zunächst herausfinden, mit wem sie es zu tun haben. Eine Unbekannte wird dann zu einer Person, die pünktlich zu Dates erscheint, an der Universität V das Fach W abgeschlossen hat, während eines Praktikums in X gelebt hat und jetzt schon seit längerer Zeit wieder in Y lebt, wo sie am Institut für Soziologie der Universität Z arbeitet, Techno mag und gerne tanzen geht. Beim Kennenlernen werden so die Grenzen der Person gezogen (vgl. Abbott 1995), aus der Unbekannten wird A.

Die Person A kann dann nicht nur als Identität beobachtet werden, sondern auch als Mitglied einer Kategorie, als „Soziologin“ z. B. oder auch als „Partymaus“. Durch diese Kategorisierung wird sie in einen Äquivalenzraum vergleichbarer Identitäten eingestellt (Boltanski und Thévenot 1983; Mervis und Rosch 1981), mit der Konsequenz, dass die der Kategorie zugeschriebenen Eigenschaften auch ihr zugeschrieben werden können – ein Interesse für gesellschaftliche Zusammenhänge z. B. oder eine Affinität zu MDMA (3,4-Methylendioxy-N-methylamphetamin).

Zwischen kategorisierten Identitäten können dann Verbindungen hergestellt werden. Es können z. B. Vergleiche gezogen werden, indem unterschiedene, aber als vergleichbar beobachtete Identitäten miteinander in Beziehung gesetzt werden (Heintz 2010, S. 164): A kann mit ihrer Freundin B, der eigenen Expartnerin C, der Kollegin D etc. verglichen werden. Aber der Vergleich ist nicht die einzige Form der Relationierung, die relevant werden kann. A kann z. B. mit anderen Identitäten assoziiert werden, den Filmen, die sie sieht, und den Büchern, die sie liest, ihren interessanten Freundinnen oder der Soziologie als Fach – alles selbst Identitäten, denen man einen Wert zuschreiben kann.

Ihren spezifischen Bewertungssinn bekommen Identifizierung, Kategorisierung und Relationierung durch Praktiken der Inwertsetzung, deren Material sie einerseits sind, deren Möglichkeiten sie andererseits aber auch einschränken. Inwertsetzung kann über Narrationen stattfinden, die eine gegebene Identität mit Beziehungen und Kategorien verknüpfen und so ihren Wert rechtfertigen (Boltanski und Esquerre 2018, S. 220 ff.), aber auch schlicht durch Formen visueller Präsentation wie eine hierarchisierende Tabellierung (Brankovic et al. 2018, S. 275) oder die Verknüpfung mit Sternchen. Durch solche Geschichten oder Darstellungen werden die geformten Identitäten „veredelt“ (Hutter 2020). „Gründungsmythen“ (Burkart 2009) von Intimbeziehungen werden voll von Erzählungen sein, die den Wert der Partnerinnen füreinander narrativ rechtfertigen.

Die Formulierung und Kommunikation von Bewertungen findet in Situationen statt, in „moments of valuation“ (Berthoin Antal et al. 2015). Sie geht aber nicht in der Situation auf, ist eingebettet in Bewertungskonstellationen (Meier et al. 2016; Waibel et al. 2021). Bewertungen werden dadurch beeinflusst, wie das Verhältnis der Positionen der Bewertenden und Bewerteten austariert ist, und welches Publikum wie Zugang zum Bewertungsgeschehen hat – so kann heterosexuelle intime Bewertung z. B. eine Angelegenheit sein, bei der eine (weibliche) Umworbene einen (männlichen) Werbenden vor den Augen der Familie bewertet, oder eine, bei der zwei Personen sich wechselseitig unter Beobachtung durch die Peergroup bewerten (Goode 1959, S. 44 f.; Illouz 2012, Kap. 1). Bewertungsregeln können Bewertungen dahingehend orientieren, was als wirklich angesehen wird, welche Verfahrensschritte einzuhalten und welche Kriterien anzulegen sind, und wer als Teilnehmerin am Geschehen infrage kommt. Ein klassisches Beispiel aus dem Feld intimer Bewertungen ist die Frage, was die Liebenswürdigkeit einer Person ausmacht: ihre „gesellschaftliche … Stellung oder de[r] Vermögensstand …“ z. B. oder vielleicht doch „emotionale Intimität und psychologische Vereinbarkeit“ und „erotische Ausstrahlung“ (Illouz 2012, S. 67, 82). Mit dem Begriff der Infrastrukturen (Larkin 2013; Star und Ruhleder 1996) kann man schließlich die materiellen Voraussetzungen von Bewertungen in Bewertungskonstellationen fokussieren. Infrastrukturen der Bewertung (Kornberger et al. 2017; Meier et al. 2016, S. 319 ff.; vgl. auch Mennicken und Kornberger 2021) ermöglichen spezifische Praktiken der Bewertung, beeinflussen die relationale Struktur von Konstellationen sowie die Formulierung und Anwendung von Regeln. Das ist zunächst ganz unabhängig vom Stand der Technikentwicklung. Ob der Wert einer Identität auf Zettel und Papier kalkuliert und qua Brief oder Fernsprecher übertragen wird oder ob Computer, Glasfaserkabel und „algorithmische Systeme“ (Seaver 2017, 2019b, S. 418 f.) eine Rolle spielen – Infrastrukturen ermöglichen spezifische Formen von Bewertung und schließen andere aus.

Es ist das Konzept der Infrastrukturen, das sich als Ausgangspunkt der Analyse digitalisierter intimer Bewertung auf Dating-Apps anbietet. Bevor ich dies im weiteren Verlauf dieses Artikels tun werde, möchte ich vorbereitend auf einige Ergebnisse der Literatur zu digitalisierter Bewertung im Allgemeinen eingehen. Durch Prozesse der Digitalisierung haben Infrastrukturen der Bewertung in mindestens drei, empirisch nicht immer klar unterscheidbaren, Hinsichten einen größeren Stellenwert erlangt.

Durch die Digitalisierung von Infrastrukturen der Bewertung werden Bewertungsgelegenheiten sachlich und sozial ausgeweitet. Es werden also einerseits immer mehr Identitäten zu potenziellen Bewertungsobjekten, unter anderem auch die Bewertenden selbst – wie z. B. Amateurkritikerinnen, die von Amazon.com bewertet werden (Waibel et al. 2021, S. 50ff.). Andererseits qualifizieren sich immer mehr Identitäten zur Bewertung von Bewertungsobjekten. Dieses Phänomen wird unter dem Stichwort des Amateurs diskutiert. Wo früher professionelle Kritikerinnen autoritative Bewertungsinstanzen waren, z. B. im Tourismus und der Gastronomie oder bei der Literaturkritik, reden nun auf einmal auch einfache Leute mit (David und Pinch 2006; Frisch 2019; Jeacle und Carter 2011) – mit teilweise immensen Folgewirkungen in den betroffenen Feldern (Orlikowski und Scott 2014).

Eng damit verbunden sind neue Möglichkeiten, die Bewertungen von Leuten zu aggregieren und mit ihnen zu kalkulieren. Das ist nicht nur dann der Fall, wenn Algorithmen auf der Grundlage von Klicks die „Popularität“ oder über die Anzahl und Art der Verlinkung von Internetseiten ihre „Autorität“ bestimmen (Cardon 2017, S. 132) – und dadurch Klicks und Verlinkung als implizite Bewertungen menschlicher Akteure verstehen. Es ist vor allem auch dann der Fall, wenn sie auf der Grundlage einer Vielzahl individueller Ratings oder „likes“ – also von expliziten Bewertungen – die „Reputation“ (Cardon 2017, S. 133) von Bewertungsobjekten bestimmen. Kalkulationen auf der Basis individueller Bewertungen durch Algorithmen sind Grundlage der „like-economy“ (Gerlitz und Helmond 2013, S. 1353) der neuen Medien.

Über die bloße Aggregation von und Kalkulation mit Bewertungen gehen digitale Infrastrukturen dann hinaus, wenn sie dazu genutzt werden, um mehr oder weniger autonom agierende digitale Bewertungsinstanzen zu kreieren: Wenn algorithmische Systeme selbst als Bewertende auftreten. Beispiele dafür sind Bewertungsalgorithmen von Recommendersystemen (Seaver 2019a; siehe dazu auch Unternährer 2021), die etwa den Nachrichtenwert von Nachrichten für die Nutzerinnen von Facebook kalkulieren und die bewerteten Nachrichten entsprechend in deren Timelines präsentieren (Bucher 2012). Grundlage sind hier nicht mehr nur implizite oder explizite Bewertungen individueller Akteure. Vielmehr werden eigenständige Bewertungen vollzogen, die Verhalten umfassender berücksichtigen können (Cardon 2017, S. 134, 146). Zentrales Kriterium ist das der Relevanz von Beiträgen, Filmen, Songs für je bestimmte individuelle Identitäten (Bucher 2018, S. 2).

Material der Identifizierung von Bewertungsobjekten durch Algorithmen kann das Verhalten der Nutzerinnen von Apps und Plattformen im Internet sein. Ein gutes Beispiel dafür sind die von Robert Prey (2017) untersuchten Recommendersysteme des Musikstreamingdienstes Spotify, die von der Vorannahme Abstand nehmen, dass hinter einem Account ein einziges Individuum steht, dessen Sein zu erkennen wäre. Stattdessen wird von beobachteten Ereignissen auf die beobachtete(n) Identität(en) geschlossen. Auf die Verwendung soziodemografischer Kategorien scheinen Algorithmen in ihrer Bewertung verzichten zu können. Individuen erscheinen als „data patterns“ (Fisher und Mehozay 2019, S. 1186), die dann allerdings wieder miteinander verglichen und unterschieden, also auf Basis ihres Verhaltens kategorisiert werden können (vgl. auch Heintz 2021).

Der Grundmodus der Relationierung, der von Plattformen und Algorithmen verwendet wird, entspricht daher dem des Vergleichs. Beobachtet werden Ereignisse, die identifizierten Identitäten zugeordnet werden. Und gesucht wird nach vergleichbaren Profilen und ihnen zuordenbaren Ereignissen, die Ausgangspunkt von Empfehlungen ähnlicher Identitäten werden können. Die Inwertsetzung geschieht dann meist in wenig elaborierter Form, z. B. durch die Verwendung von Symbolen – wie Sternen (in Form von Ratings) – oder aber dadurch, dass Bewertungsobjekte auf Listen eingetragen und diese Listen hierarchisch geordnet werden. Wenn zum Beispiel Algorithmen auf Google und Facebook die Relevanz von Informationen für Nutzerinnen inwertsetzen (Gillespie 2014), dann geschieht dies schlicht durch die Positionierung der identifizierten Informationen auf der jeweiligen Seite.

3 Infrastrukturen heterosexueller intimer Bewertung

Gegenüber anderen Formen sozialer Beziehungen zeichnen sich intime Beziehungen dadurch aus, dass sie sich auf die ganze Person der Beteiligten beziehen (Davis 1973, S. XIX; Luhmann 1982, S. 14). Unter diese Kategorie fällt ein breites Spektrum sozialer Beziehungen: einmalige sexuelle Kontakte, Freundschaften (mit oder ohne „Plus“), Romanzen, Affären, Liebesbeziehungen und Ehen. All diese Formen sozialer Beziehungen unterscheiden sich in genau dieser Hinsicht nicht, nämlich dass die füreinander Anderen sich total beanspruchen.Footnote 3

Fragen der Bewertung werden, wie in anderen Sphären des gesellschaftlichen Lebens auch, in der Sphäre intimen Lebens – dem Sinn- und Wertzusammenhang, in dem sich konkrete Intimbeziehungen bilden – ständig relevant: von der „Sexualsphäre“ (Weber 1988, S. 560) bis hin zu Fragen der Ehe.Footnote 4 Besonders bedeutend sind sie aber in der Phase, in der die Intimsystembildung als solche auf dem Spiel steht, d. h. in der Phase der „Paarbildung“ (Burkart 2018, S. 73 ff.). Das sind Momente, in denen die Frage, ob die Anderen der Freundschaft oder Liebe wert sind, entweder höchst thematisch wird oder bereits emphatisch als geklärt gilt. Die Objekte des Begehrens werden nicht nur wertgeschätzt – sie erfahren nicht nur „prizing“ (Dewey 1916, S. 353) –, sondern werden im Hinblick auf ihren intimen Wert bewertet. Ihr intimer Wert wird in solchen Situationen also gebildet.

Wenn Bewertungen durch Infrastrukturen ermöglicht und eingeschränkt werden, dann stellt sich auch für die Intimsphäre die Frage, wie Infrastrukturen an der intimen Bewertung von Personen beteiligt sind sowie auch die, wie sich infrastruktureller Wandel bemerkbar macht. Um die Stoßrichtung des Wandels genauer zu klären, um herauszufinden, welche Bedeutung digitale Technologien, Plattformen und Algorithmen für intime Bewertung in Prozessen der Paarbildung haben, muss zunächst allerdings die Ausgangslage geklärt werden. Tatsächlich hat die Vermittlung der Paarbildung über mediale Infrastrukturen eine lange Geschichte (Ahuvia und Adelman 1992; Cocks 2015; Finkel et al. 2012, S. 9 ff.). Welche Infrastrukturen der Paarbildung werden also durch Onlinedating ergänzt, verdrängt oder abgelöst?

Das klassische Medium des medial vermittelten Kennenlernens ist die Heirats- oder Kontaktanzeige. Heiratsanzeigen tauchten, wenige Jahrzehnte nach dem Aufkommen von Zeitungen, zuerst Ende des 17. Jahrhunderts in England auf. Sie etablierten sich zunächst eher zögerlich, fanden aber schon im 18. Jahrhundert eine weite Verbreitung (Cocks 2015; Kaupp 1968, S. 9 ff.). Im Jahr 1870 erschien, ebenfalls in England, die erste „Heiratszeitung“, die ausschließlich Heiratsanzeigen publizierte (Kaupp 1968, S. 16). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts geht der Bezug auf die gesellschaftliche Institution der Ehe zunehmend verloren (Cocks 2009). Gegen anfangs starken moralischen Widerstand etabliert sich die Kontaktanzeige, die intime Beziehungen auch unabhängig vom Ziel der Eheschließung als medial vermittelbar ansieht. Wie stark institutionalisiert die Kontaktanzeige wurde, kann man dann daran erkennen, dass man selbst in linken Szenepublikationen in den 1970er und 1980er-Jahren nicht auf sie verzichten mochte (Reichardt 2014, S. 659 ff.).Footnote 5

Die Inserentinnen von Heirats- und Kontaktanzeigen nutzen sie, um potenziellen Partnerinnen ein Bild von sich selbst zu geben sowie um ihre Erwartungen an diese und an die zu etablierende Beziehung zu formulieren (Riemann 1999, S. 49 f.). Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts haben sie einen entschieden ökonomischen Charakter, geben explizit das eigene Auskommen an und formulieren entsprechende Erwartungen an die Gegenüber. Georg Simmel (2000, S. 524) zufolge liegt genau darin die Tragik der Heiratsannonce, da „diejenigen Stände, welche ihrer eigentlich am dringendsten bedürften“ – die „Schichten der differenzierteren Persönlichkeiten“ – ihr gegenüber durch das „Eingeständnis des bloßen Geldinteresses“ unempfänglich sind. In der Folge nehmen sie aber zunehmend auch eher beziehungs- und persönlichkeitsorientierte Motive auf (Buchmann und Eisner 2001; Riemann 1999) – sie werden also entökonomisiert.

Medieninnovationen gingen am Genre der Kontaktanzeige nicht spurlos vorüber. Mit dem Aufkommen von Videos entstehen Vermittlungsagenturen, die aufgezeichnete Interviews mit Nutzerinnen zur intimen Bewertung bereitstellen (Woll 1986). Und sobald der Computer auf den Plan tritt, werden Angebote entwickelt, die dessen Rechenleistung in den Dienst der Partnerinnensuche stellen (Gillmor 2007; Hicks 2006; Strimpel 2017). Die Anbieter von Computerdating operierten auf der Grundlage eingesandter Fragebögen. Ein zentrales Kriterium des Matchings von Nutzerinnen war die Ähnlichkeit der potenziellen Partnerinnen. Das von den Diensten artikulierte Versprechen war das der mathematisch-wissenschaftlich fundierten Partnerinnensuche (Homberg 2020). Auch mit dem Internet entstehen neue Möglichkeiten der Partnerinnensuche. In Internetforen, Chatrooms und Anzeigenwebseiten, wie Craigslist.com, finden Suchende neue Möglichkeiten, um Partnerinnen kennenzulernen. Sie bleiben aber lange Zeit eher ein Randphänomen.

Bei der medial vermittelten Paarbildung über Zeitung, Computer oder Internet ermöglichen Infrastrukturen die Paarbildung, indem sie Gelegenheiten zu ersten intimen Bewertungen bieten. Mit Blick auf die Positionsstruktur der Bewertungskonstellation unterscheidet sie sich vor allem hinsichtlich der Position des Publikums von interaktionsbasierter Paarbildung: Sie findet in ihrer Anfangsphase ohne Publikum – das z. B. aus Familie, Arbeitskolleginnen oder Freundinnen bestehen kann – statt. Es ist eine Form der Paarbildung unter der Bedingung der Abwesenheit von Beobachterinnen. In der Form des Computerdatings deuten sich dann Entwicklungen an, die im Zeitalter des Onlinedatings zentral werden sollen: das Versprechen der algorithmisch vermittelten Paarbildung.

4 Digitalisierte intime Bewertung: Der Fall Tinder

Die gesellschaftlichen Nischen, in denen die medial vermittelte Intimsystembildung bis vor Kurzem existierte, haben sich in den letzten Jahren deutlich ausgeweitet. Mit (mobilem) Onlinedating ist sie Teil des gesellschaftlichen Mainstreams geworden. Ganz deutlich ist diese Entwicklung in den Vereinigten Staaten nachzuvollziehen. Dort haben sich z. B. 39 % der heterosexuellen Paare, die sich 2017 gebildet haben, zunächst online kennengelernt (Rosenfeld et al. 2019, S. 4).Footnote 6

Onlinedating spielt sich in einer Umwelt ab, in der viele Angebote unterschiedlichste Zielgruppen ansprechen. Neben Anbietern, die sich auf ein heterosexuelles Mainstreampublikum konzentrieren, gibt es differenzierte Angebote für schwules und lesbisches Dating, für Seitensprünge und „casual sex“, für Menschen unterschiedlichen Alters und Religionszugehörigkeit, für spezifische Lebensstile und sexuelle Vorlieben.Footnote 7 Meine weitere Analyse wird sich auf die App Tinder konzentrieren und Bezüge zu anderen Datingseiten und -Apps nur dort herstellen, wo durch den Vergleich spezifische Eigenschaften der App herausgearbeitet werden können. Die Konzentration auf genau diese App liegt nicht nur deshalb nahe, weil Tinder weltweit eine der populärsten Dating-Apps darstellt. Tinder wird in über 190 Ländern angeboten und hat im Jahr 2019 einen Umsatz von 1,15 Mrd. USD gemacht (Match Group 2020b, S. 3) bei weltweit durchschnittlich 5,89 Mio. zahlenden Nutzerinnen im vierten Quartal (Match Group 2020b, S. 9). Laut Angaben von Match Group (2020a, S. 2) – dem Mutterkonzern – ist Tinder die am meisten heruntergeladene Dating-App weltweit.Footnote 8 Die App ist auch deshalb von besonderem Interesse, weil sie im gesellschaftlichen Diskurs pars pro toto für die Welt des (mobilen) Onlinedatings steht.

Bei Tinder handelt es sich um eine App, mit deren Hilfe einander unbekannte Personen in Kontakt treten können. Obwohl die Nutzung nicht auf den Aufbau von Intimbeziehungen beschränkt ist, legt sowohl die Selbstpräsentation der App als auch das Nutzungsverhalten nahe, dass sie entsprechend verwendet wird. So eröffnet z. B. die Homepage von Tinder mit dem Leitspruch „Matchen. Chatten. Daten.“Footnote 9 Wenn Nutzerinnen der App selbst ihre Erwartung für die aufzubauende Beziehung in der App kundtun, dann reicht das Spektrum von gemeinsamen Aktivitäten über Verabredungen zu Kaffee oder Drinks bis hin zu unterschiedlichsten Formen sexualisierter oder romantisierter Intimbeziehungen.Footnote 10 Die Leistung, die die App ihren Nutzerinnen bereitstellt, besteht also in der Eröffnung von Möglichkeiten der Intimsystemanbahnung.

Diese Leistung muss die App mit einem wirtschaftlichen Organisationsproblem vereinbaren. Bei Match Group, der Muttergesellschaft von Tinder, handelt es sich um ein börsennotiertes Unternehmen. Durch die Bereitstellung von Möglichkeiten zur Intimsystembildung muss Tinder damit also nicht nur zur Lösung des Refinanzierungsproblems beitragen (Kette 2017), sondern auch Gewinne erzielen. Folglich muss das Unternehmen Userinnen der App rekrutieren und versuchen, diese zum Abonnement der kostenpflichtigen Mitgliedschaft zu bewegen.

Leistungen und Probleme der App werden durch die Bereitstellung von Bewertungsmöglichkeiten bearbeitet. Wie genau dies geschieht, werde ich auf der Grundlage einer Analyse der App selbst – lose orientiert an Light et al. (2016) – nachzeichnen. Zusätzlich wurden frei verfügbare Dokumente von Tinder sowie gesellschaftliche Beobachtungen der App berücksichtigt.Footnote 11

Zugang zur App bekommen Personen, indem sie unter Verwendung ihrer Mobiltelefonnummer oder eines Accounts bei Facebook ein Profil in der App erstellen. Die Nutzerinnen sollen ihren Vornamen, Geschlecht und Alter angeben und haben die Möglichkeit, auch einen Beruf, besuchte Bildungsorganisationen und einen Wohnort hinzuzufügen.Footnote 12 Um sich selbst darzustellen, können sie ihrem Profil Bilder beifügen, einen Profiltext von bis zu 500 Zeichen verfassen und es mit den sozialen Netzwerken Snapchat und Instagram sowie dem Musikstreamingportal Spotify verbinden.

Im Vergleich zu anderen Angeboten ist der Zugang zu Tinder damit relativ voraussetzungslos. Die Plattform Parship z. B. lässt ihre Nutzerinnen einen umfangreichen Fragebogen ausfüllen, bevor sie Zugang zu Profilen erhalten. Dort werden neben dem Geburtsdatum, Beruf, Größe, Familienstand, Bildungsstand und jährlichem Bruttoeinkommen unter anderem Selbsteinschätzungen von Persönlichkeitsmerkmalen, Alltagsgewohnheiten, Beziehungsvorstellungen und Lebensstil abgefragt.Footnote 13 Psychologisch-experimentellen Charakter bekommen die Fragen dort, wo anhand von bildlichen Darstellungen von Wellenlinien gefragt wird: „In welche Bewegung können Sie sich besser einfühlen?“ (Screenshot, Parship-App, 07.04.2020).

Wenn der Anmeldevorgang abgeschlossen ist, werden die Profile anderer Nutzerinnen in der Form eines Stapels präsentiert. Auf den ersten Blick sind der angegebene Name, das Alter und die Entfernung von der Nutzerin (in Kilometern) zu sehen. Wenn vorhanden, wird auch eine Vorschau auf den Profiltext anzeigt. Mit einer Berührung des Bildschirms kann die Nutzerin dann gegebenenfalls Zugang zu weiteren Informationen über die dargestellte Person gelangen: Profiltexte, in denen die Nutzerinnen vor allem Angaben zu ihrer Person, der angestrebten Beziehung und den Erwartungen an potenzielle Partnerinnen machen;Footnote 14 weitere Profilfotos; gegebenenfalls „Meine Lieblingskünstler auf Spotify“ und „Neuste Instagram Fotos“.

Auf Grundlage dieser Informationen können die Nutzerinnen durch ein Wischen, den „Swipe“, ihre Bewertung des Profils („Like“ oder „Nope“) ausdrücken (vgl. Abb. 1). Korrekturen dieser Aktion sind in der kostenfrei zugänglichen Version der App nicht möglich. Treffen beide Nutzerinnen dieselbe Wahl, ergibt sich ein „Match“, das es ihnen ermöglicht, Textnachrichten über eine in die App integrierte Messengerfunktion auszutauschen. Nutzerinnen der App, die sich nicht für ein zahlungspflichtiges Abonnement der App entschieden haben, können so am Tag bis zu 100 „Likes“ vergeben und – ohne weitere Einschränkungen – mit „Matches“ Nachrichten austauschen.

Abb. 1
figure 1

Swiping – Negative und positive Bewertungen. (Screenshots, 24.04.2020)

Durch kostenpflichtige Abonnements können Nutzerinnen von Tinder ihre Handlungsmöglichkeiten auf der App ausweiten (vgl. Tinder o.J.).Footnote 15 In der Version „Tinder Plus“ haben Nutzerinnen die Möglichkeit, „Swipes“ rückgängig zu machen, ihren Standort zu wechseln sowie Alter und Entfernung nicht anzeigen zu lassen. Die Begrenzung positiver Bewertungen pro Tag fällt weg, sie können fünf (anstatt von einem) „Super-Likes“ pro Tag vergeben und mithilfe eines „Boosts“ die Häufigkeit, mit der ihr Profil anderen Nutzerinnen angezeigt wird, einmal im Monat für einen begrenzten Zeitraum erhöhen.Footnote 16 Außerdem werden den Nutzerinnen in dieser Version der App keine Werbeanzeigen angezeigt. Mit „Tinder Gold“ erhalten Nutzerinnen zusätzlich die Möglichkeit, diejenigen Nutzerinnen, die sie bereits mit einer positiven Bewertung bedacht haben, anzusehen und ihrerseits zu bewerten. „Tinder Platinum“ ermöglicht, vor einem Match Nachrichten zu versenden und privilegiert die Likes der Nutzerin gegenüber jenen der Nutzerinnen anderer Abonnements.

5 Beobachten und Bewerten im Medium des Digitalen

Von intimer Bewertung unter Anwesenden unterscheidet sich digitalisierte intime Bewertung durch die Abwesenheit eines menschlichen Publikums. Das ist offensichtlich, wenn der heimische Computer zur Partnerinnensuche verwendet wird. Aber selbst wenn Profile in der Öffentlichkeit bewertet werden, geschieht dies doch in einer exklusiven Beziehung zwischen Bewertenden und dem Bildschirm, die kommunikativ zu thematisieren für Außenstehende rechtfertigungsbedürftig wäre. Ein Großteil der Bewertungsarbeit, gerade mit mobilen Geräten, wird aber nicht unter direkter Beobachtung stattfinden, sondern zwischendurch auf dem heimischen Sofa oder auf stillen Orten.

Digitalisierte intime Bewertung steht damit in der Tradition medial vermittelter Paarbildung. Von ihrem funktionalen Äquivalent, der durch Schrift und Druck vermittelten Paarbildung über Kontaktanzeigen, unterscheidet sie sich dadurch, dass die Bewertenden, die Bewerteten und ihre Bewertungsoperationen kontinuierlich durch das vermittelnde Medium selbst beobachtet werden. Möglich wird diese Beobachtung durch die digitale Infrastruktur der Plattformen und Apps. Durchgeführt wird sie mit der Hilfe von Algorithmen oder algorithmischen Systemen (Seaver 2019b), die die Nutzerinnen der App und ihre Bewertungspraxis beobachten und auf der Grundlage algorithmisierter Vergleiche und Bewertungen auch selbst beeinflussen.

Wenn ich im Folgenden der Frage nachgehe, welche Möglichkeiten der Bewertung von Bewertungsobjekten (Kornberger et al. 2017) durch digitale Infrastrukturen auf der Dating-App Tinder ermöglicht werden, müssen deshalb zwei bewertende Typen von Identitäten fokussiert werden, „algorithmische Systeme“ (Seaver 2019b, S. 418 f.) und individuelle menschliche Identitäten.

5.1 Verborgene algorithmische Beobachtungen

Die Rekonstruktion der Rolle von Algorithmen in sozialen Zusammenhängen ist mit dem Problem konfrontiert, dass digitale Plattformen nur begrenzt auskunftsfreudig über die von ihnen verwendeten Rechenregeln sind. Begründet wird dies gewöhnlich damit, dass die Algorithmen ihre Geschäftsgrundlage darstellen und entsprechend schutzbedürftig sind (Kitchin 2017, S. 7). Unabhängig davon, ob hinter dem Schweigen der Plattformen tatsächlich ein geheimes Erfolgsrezept oder doch nur triviale Rechenregeln verborgen sind: Der Code selbst bleibt im Dunkeln. Eine Strategie, um auf dieses Problem zu reagieren, besteht darin, sich dem institutionellen Kontext zuzuwenden, in dessen Rahmen Algorithmen produziert und verwendet werden, und die Textproduktion zu den interessierenden Algorithmen zu beobachten (Kitchin 2017, S. 12).

Ich werde entsprechend in meiner Analyse Stellungnahmen und Dokumente von Tinder über ihren Algorithmus verwenden. Damit stoße ich zwar nicht zum Algorithmus „selbst“ vor – was auch immer das ist –, aber zumindest zu seiner öffentlich behaupteten und gerechtfertigten Funktionsweise. Die Frage lautet entsprechend, was der Algorithmus von Tinder leisten soll und wie die Leistungserfüllung öffentlich dargestellt wird. Neben journalistischen Quellen und der Selbstbeschreibung von Tinder nutze ich vor allem einen Patentantrag von Match Group, der Sean Rad, einer der Gründer der App, als einen der Erfinder ausweist (Rad et al. 2019).Footnote 17 Freilich werden die Rechenschritte, die von Tinder tatsächlich zur Empfehlung von Profilen genutzt werden, darin nicht im Detail offengelegt. Es wird aber der Rahmen skizziert, innerhalb dessen sie sich bewegen.

Algorithmen werden von Tinder verwendet, um Profile zu identifizieren, die in den Stapel einer Nutzerin gemischt werden sollen, und um ihre Reihenfolge festzulegen. Die algorithmisierte Vorselektion konstituiert so einen personalisierten Raum von Bewertungsobjekten, innerhalb dessen Nutzerinnen dann ihre eigenen Bewertungsurteile treffen können (s. dazu Abschn. 5.2). Sie erfüllen also ähnliche Funktionen wie die Algorithmen von Spotify oder Netflix, die ihren Nutzerinnen personalisierte Empfehlungen zu Musik und Filmen oder Serien geben und dazu den Pool der jeweils auf den Plattformen verfügbaren kulturellen Produkte sortieren und priorisieren (Unternährer 2020, S. 382) – mit dem Unterschied, dass die vorzuschlagenden Identitäten selbst eigensinnige Nutzerinnen der App sind.

Das Problem, das es durch die Algorithmen der App zu lösen gilt, wird dabei als ein Netzwerkproblem definiert: Es geht darum, Nutzerinnen zu verbinden, die einen spezifischen Bedarf an sozialen Beziehungen haben (Rad et al. 2019, S. 1). Um dieses Problem bearbeiten zu können, muss die App einerseits einen hinreichend großen Nutzerinnenpool bereithalten und andererseits jene Faktoren ausschalten, die Nutzerinnen die Verwendung der App verleiden: Präsentierte Ergebnisse dürfen nicht „irrelevant“ sein und Nutzerinnen nicht mit „large numbers of unwanted communication requests“ behelligt werden (Rad et al. 2019, S. 1). Die von den Algorithmen zu bearbeitende Aufgabe besteht also darin, herauszufinden, welche Nutzerinnen füreinander wechselseitig relevant sind, um zwischen ihnen matches und eine anschließende Kommunikation zu ermöglichen.

Zur Bearbeitung des so definierten Problems beobachtet die App die Nutzerinnen und das Geschehen auf der App. Dabei fokussiert die App drei analytisch zu unterscheidende Objekte: die Nutzerinnen als Bewertende und als Bewertete sowie ihr Bewertungsverhalten.

Wenn die Nutzerinnen von Tinder von der App als Bewertende beobachtet werden, identifiziert die App sie und vergleicht die konstruierte Identität mit anderen Nutzerinnen im Pool der vorhandenen Profile. Das Datenmaterial hierfür liefern die Nutzerinnen mit den Angaben, die sie in ihren Profilen machen, sowie über die von ihnen verknüpften sozialen Medien.Footnote 18 Bei dieser Identifizierung können demografische Variablen eine Rolle spielen, wie z. B. Alter, Bildungsstand, Ethnizität, Einkommen oder Lokalität (Rad et al. 2019, S. 6) – in der Selbstdarstellung der App wird allerdings betont, dass Ethnizität und Einkommen im Matchingalgorithmus selbst nicht verwendet werden (Tinder 2019). Zudem kann die App aber auch Algorithmen verwenden, die auf eine „deeper appreciation for the personality of entities in the system“ (Rad et al. 2019, S. 4) abzielen. Als Bezugspunkte solcher Analysen der „personality“ werden z. B. die Lesbarkeit der Profiltexte (Rad et al. 2019, S. 4), der „IQ of an entity, the grade level of writing, or how nervous the entity generally is“ (Rad et al. 2019, S. 5) oder auch in den Profiltexten verwendete „keywords that relate to things such as activities and interests“ erwähnt.

An die Identifizierung der Nutzerinnen als Bewertende können dann Vergleichsoperationen anschließen. Das Vergleichskriterium, das dabei verwendet wird, um relevante Profile für eine gegebene Nutzerin A zu identifizieren, ist das der „Ähnlichkeit“, z. B. nach dem Motto „people having similar and/or compatible character traits and values should be matched together“ (Rad et al. 2019, S. 1, Herv. T. P.). Wichtige Dimensionen der Bewertung von Relevanz anhand von Ähnlichkeit sind z. B. „Attraktivität“, „Präferenzen“ und „Aktivitäten“. Wenn Profile so auf Ähnlichkeit hin vergleichend beobachtet werden, wird ein Raum äquivalenter Profile aufgemacht; die Profile werden im Sinne von Rosch (1999, S. 191) kategorisiert. Ausgehend von der beobachteten Identität wird eine „‚Menschensorte‘“ (Hirschauer 2014, S. 174) der zu ihr „passenden“, „ähnlichen“ Identitäten erstellt, die ihr zur Bewertung vorgelegt werden.Footnote 19

Daneben werden die Nutzerinnen aber auch als Bewertete beobachtet. Hier geht es wieder darum, Identitäten für Vergleiche zu identifizieren, nur dass jetzt nicht die Bewertenden selbst Ausgangspunkt des Vergleichs sind, sondern die Profile, mit denen sie interagiert haben. Diese dienen als „seeds“ für entsprechende Vergleichsoperationen: „Seeds include, but are not limited to, profiles that user 14 has sent a message to or profiles that user 14 has expressed a preference for. Each seed is then compared to other entities to determine which entities will be included in pool 30“ (Rad et al. 2019, S. 4).Footnote 20 Der Vergleich wiederum kann über die Kalkulation eines „commonality score“ durchgeführt werden, der sich z. B. darauf beziehen kann, wie „physically similar“ die Profile sind, oder darauf, wie viele andere Nutzerinnen beide Profile positiv bewertet haben (Rad et al. 2019, S. 4). Auch hier geht es also um die Identifikation von Ähnlichkeit und damit um eine Form der Kategorisierung.

Die angesprochene Differenz zwischen der Beobachtung der Bewertenden oder der Bewerteten ist gerade aus soziologischer Perspektive wichtig. Durch die Beobachtung auch des Bewertungsobjektes besteht die Möglichkeit, dass heterophile Präferenzen der Nutzerin aufgenommen und verstärkt werden können. Wenn aktuelle Studien Anzeichen dafür finden, dass die Homophilie der Partnerinnenwahl abnimmt (Potarca 2017; Thomas 2020), dann könnte der erklärende Mechanismus für diese Entwicklung genau darin liegen, dass Dating-Apps eine inklusivere Öffentlichkeit darstellen als z. B. Bildungsinstitutionen. Dazu kommt, dass die intime Bewertungspraxis geringerer sozialer Kontrolle ausgesetzt ist, als dies bei einem Kneipenbesuch mit Freundinnen der Fall wäre, und dem Empfehlungsalgorithmus nicht nur ein Bias für ähnliche Partnerinnen eingeschrieben ist, sondern er auch heterophile Präferenzen aufgreift.

Neben den Bewertenden und den Bewerteten werden von Tinder auch ihre Bewertungen beobachtet. Im öffentlichen Diskurs hat die Verhaltensbeobachtung durch Tinder Aufmerksamkeit erregt, nachdem beschrieben wurde, dass Tinder auf der Basis von beobachteten Bewertungen ein Attraktivitätsrating der Nutzerinnen erstellt (Carr 2016; vgl. auch Erhardt 2016; Podszun 2017). Die nach dem Mathematiker Arpad E. Elo (2008, S. 20) benannten und ursprünglich zum Rating von Schachspielerinnen verwendeten Rechenregeln kalkulieren auf der Grundlage von Wettbewerbserfolg („performance ratings“) die relative Spielstärke der Wettbewerberinnen („current relative strength of the players“). Übersetzt auf das Feld des Onlinedatings bedeutet dies, dass der quantitative Wert der Begehrenswürdigkeit einer Nutzerin A auf der Grundlage der Likes und Nopes errechnet wird, die sie von anderen Nutzerinnen (B, C, D, …) erhält. Je höher der eigene Wert der A bewertenden Nutzerinnen (B, C, D, …) ist und je selektiver sie positiv bewerten, desto positiver wirkt sich ihre positive Bewertung auf den Wert von A aus. Je begehrenswerter die positiv Bewertenden sind, desto höher ist also der errechnete „desirability score“ der Bewerteten. Tinder (2019) kommentiert: „Basierend auf diesen Profileinschätzungen gab es einen ‚Score‘ – in dem Sinne, dass es in unserem System mit einem numerischen Wert angezeigt wurde, um in die anderen Aspekte unseres Algorithmus einkalkuliert zu werden.“

Mittlerweile hat Tinder selbst sich von der Verwendung eines solchen „Elo Scores“ distanziert. Zwar könne die App „nicht alle geheimen Zutaten preisgeben, mit denen wir köcheln“, die „Hauptzutaten“ bestünden aber in der aktiven Nutzung der App und der räumlichen Nähe der Nutzerinnen zueinander (Tinder 2019). Das ist plausibel, wenn man davon ausgeht, dass Tinder aktive Nutzerinnen, die sich auch relativ problemlos physisch treffen können, miteinander matchen will. Und es zeigt auch an, dass die digitale Bewertungsinfrastruktur Verhalten bei Nutzerinnen prämiert und provoziert, das sie für ihre algorithmisierte Bewertungspraxis verwenden kann. Gleichzeitig wird aber auch hervorgehoben, dass die Bewertungen von Nutzerinnen in den Selektionsalgorithmus eingehen: „Wir sind heutzutage nicht auf Elo angewiesen – aber es ist immer noch wichtig für uns, beide Seiten zu berücksichtigen, die Profile liken, um ein Match zu bilden. Unser aktuelles System passt die potenziellen Matches jedes Mal an, wenn dein Profil nach links oder rechts geswipt wird“ (ebd., Herv. T. P.). In der technischen Sprache des Patentantrags: Die App „may be capable of dynamically updating search results based on user activity“ (Rad et al. 2019, S. 1). Durch die Kalkulation von beobachteten Bewertungsurteilen ihrer Nutzerinnen wird die App selbst zu einer eigenständigen Bewerterin im oben diskutierten Sinn (vgl. Abschn. 2).

Zusammenfassend kann man festhalten, dass Tinder drei analytisch zu unterscheidende Objekte beobachtet und vergleicht: die Identität der Bewerteten auf der Suche nach ähnlichen Identitäten im Nutzerinnenpool, die Identität der Bewerteten als Anker, mit dessen Hilfe Profile gefunden werden können, die mit den Präferenzen einer Nutzerin übereinstimmen, und das Bewertungsverhalten, auf dessen Grundlage ein Attraktivitätswert kalkuliert werden kann, um Matches zwischen gleichwertigen Nutzerinnen zu ermöglichen. Wie genau auf Grundlage der Beobachtung dieser drei Objekte der Pool an Profilen, die einer Nutzerin vorgelegt werden, ausgewählt und strukturiert wird, darüber erfährt man in den öffentlich zugänglichen Dokumenten allerdings nichts. Der Algorithmus bleibt im Detail verborgen.

5.2 Möglichkeiten individueller Bewertung

Gegenüber analogen Bewertungssituationen ist die individuelle digitalisierte intime Bewertung dadurch gekennzeichnet, dass sie sowohl zeitlich als auch räumlich von der Anforderung der Kopräsenz von Bewertenden und Bewerteten entbunden wird. In vielen interaktionalen Bewertungssituationen sind Bewertungsobjekte physisch präsent, sei es als „Mensch“, der in einem Bewerbungsgespräch auf Passungsfähigkeit geprüft wird (Rivera 2012), sei es als „Objekt“, z. B. als literarisches Manuskript (Merriman 2015), in dem zur Begutachtung geblättert wird, bevor es beiseitegelegt oder zur Publikation empfohlen wird. Von dieser Bindung an Anwesenheit emanzipiert medial vermittelte Bewertung im Allgemeinen und digitalisierte Bewertung im Besonderen. An die Stelle anwesender Bewertungsobjekte tritt der Bildschirm als Interaktionspartner. Mit einem Begriff von Knorr Cetina (2009) kann man von „skopischen“ Bewertungen sprechen.Footnote 21

Gegenüber Bewertungsinteraktionen unter Bedingungen von Anwesenheit zeichnen sich skopische Bewertungssituationen digitalisierter intimer Bewertung dadurch aus, dass sie das Bewertungsgeschehen entsynchronisieren und in unterschiedliche, klar voneinander abgrenzbare Bewertungsstufen unterteilen (vgl. Abb. 2). Auf der ersten Stufe findet die oben schon angesprochene ereignishafte Bewertung der vorliegenden Profile durch die „Swipe“-Bewegung statt. In dieser Phase bewerten Nutzerinnen kontinuierlich die ihnen angezeigten Profile, indem sie ein Like- oder Nope-Urteil fällen. Im Fall eines Matches erreichen zwei Profile dann eine weitere, nun gemeinsame Bewertungsstufe. In diesem Prozess stehen den Nutzerinnen erneut all jene Informationen zur Verfügung, die über die Profile der anderen bereitgestellt werden. Am Ende dieser Bewertungsphase kann die Entscheidung stehen, per Chat mit der Person in Kontakt zu treten. In vielen Fällen resultiert das Match aber nicht in einer weiteren Kontaktaufnahme. In der textbasierten Interaktion im Chat prüfen sich die Beteiligten wechselseitig, woraufhin sie die Interaktion auslaufen lassen (indem sie nicht mehr kommunikativ aneinander anschließen – das ist der Regelfall im Onlinedating (Schulz et al. 2010, S. 496)), abbrechen (indem sie das „Match auflösen“), das Interaktionsmedium wechseln (indem sie z. B. zu einer Messenger-App wie Whatsapp, Threema oder Telegram wechseln) oder zu einer Face-to-Face-Interaktion überleiten.

Abb. 2
figure 2

Aus dem Stapel in die Listen. (Screenshots, 24.04.2020)

Kennzeichnend für diese Bewertungspraxis ist, dass die Bewertungsobjekte in ihrem Verlauf in unterschiedliche Listen eingetragen oder aus ihnen gelöscht werden (vgl. Abb. 2). Ausgangspunkt ist der Stapel der Profile, in dem die Nutzerinnen die ihnen vorgelegten Bewertungsobjekte seriell bewerten. Kommt es zu einem Match, so wird das gematchte Profil in eine zweite Liste „Neue Matches“ übertragen. Über diese Liste ist es der Nutzerin bis zur Auflösung der Verbindung möglich, das entsprechende Profil aufzusuchen und die Person anzuschreiben oder von ihr angeschrieben zu werden. Hier können nun weitere Bewertungsprozesse anschließen, das Profil eingehender studiert und interpretiert werden. Und auch hier können die Nutzer wieder an der Bewertung des Profils arbeiten – nun mit der Möglichkeit, es mit anderen gematchten Profilen direkt zu vergleichen. Die Entscheidung, mit der Person schriftlich über die Chatfunktion der App Kontakt aufzunehmen, verschiebt das gematchte Profil schließlich in eine weitere Liste der „Nachrichten“.

Die Liste der gematchten Profile und die Liste der Chatverläufe sind strikt chronologisch geordnet. Für die Liste der Profile bedeutet das, dass gematchte Profile durch neu gematchte Profile aus dem Bildschirm verdrängt werden. Die Liste der Chatverläufe wird anhand des Neuigkeitsgrades der gesendeten oder empfangenen Nachrichten geordnet. Durch das Senden von Nachrichten können Nutzerinnen hier also Einfluss auf die Ordnung der Liste nehmen. Sie können Profile aber nicht unabhängig davon hierarchisieren oder kategorisieren, sondern lediglich aus der Liste löschen. Auch hier schiebt jeder neue kommunikative Kontakt die bestehenden Kontakte außer Sichtweite. Die Organisation des listenbasierten Bewertens in der App prämiert Neuheit und lässt ältere Profile in Vergessenheit geraten.

Die Nutzerinnen der Dating-App Tinder bewerten Profile also in einem dreistufigen Verfahren. Wenn man Bewertung, wie oben vorgeschlagen, als die Synthese von Identifizierung, Kategorisierung, Relationierung und Inwertsetzung versteht, stellt sich im Anschluss an diese Beschreibung des Bewertungsverfahrens die Frage, welche Möglichkeiten die App zur Bewertung bereitstellt.

Den Nutzerinnen der App stehen die oben diskutierten Informationen der anderen Nutzerinnenprofile als Material der Identifizierung zur Verfügung: Bilder und Profiltexte sowie (sofern angegeben) das Alter, der Beruf und die besuchte Bildungsinstitution. Aus diesen Informationen können sie individualisierte Erwartungen zu den in den je vorliegenden Profilen repräsentierten Personen bilden. Während im gesellschaftlichen Diskurs über Tinder häufig die Oberflächlichkeit der Auseinandersetzung mit anderen Personen beklagt wird, sind die von der App angebotenen Möglichkeiten der Identifizierung von Personen damit tatsächlich recht vielschichtig. Wenn auch die Anzahl der ihnen zur Verfügung stehenden Zeichen relativ beschränkt ist, bieten die Nutzerinnen doch teilweise diverses Material an, das interpretiert und zur Bewertung verarbeitet werden kann: ihre Verwendung von Emoticons, die Selbstbeschreibung der Personen und die Artikulation von Erwartungen an potenzielle Partnerinnen, die angestrebte Beziehungsform, die Verwendung von Zitaten, Witz, Humor etc. Auch durch ihre visuelle Selbstdarstellung können Nutzerinnen differenzierte Bilder von sich zeichnen: Sie stellen sich in unterschiedlichen Graden der Selbstinszenierung, von Schnappschüssen und Spiegel-Selfies bis zu offensichtlich überlegten Arrangements professionell produzierter Fotografien, dar. Die Nutzerinnen werden so in die Lage versetzt, durch Interpretation des Bild- und Textmaterials ein mehr oder weniger differenziertes Bild der Nutzerinnen zu konstruieren.

Beobachter digitalisierter intimer Bewertung können nicht davon ausgehen, dass immer klar ist, welches Objekt gerade Gegenstand der Bewertung ist oder in ihr identifiziert wird. Man muss sich z. B. fragen, ob die Profile oder die Personen hinter den Profilen bewertet werden – ein schönes Profil oder ein attraktiver Mensch. Oder ob sie selbst vielleicht gar nicht im Fokus der Bewertung stehen, sondern nur Objekte einer Nebenbewertung oder „Co-Valuation“ (Meier und Peetz 2021) sind, während die eigentliche Bewertung dem abgebildeten Jack-Russel-Terrier gilt.

Das Problem wird noch deutlicher, wenn die Frage gestellt wird, als was die Profile bewertet werden, welche Kategorien an das Bewertungsobjekt geheftet werden. Geht es um die hinter dem Profil erwartete „ganze“ Person? Wird diese als potenzielle Freundin, Liebhaberin oder Stadtführerin bewertet? Oder bezieht sich die Bewertung des Profils in diesem Moment gar nicht auf die Person, sondern auf die Gestaltung des Profils – wird sie also als Kuratorin bewertet? Die Verwendung dieser unterschiedlichen Kategorien wird auch einen Einfluss darauf haben, welche Elemente der Profile zur Identifizierung herangezogen und welche vernachlässigt werden. Welche Kategorien tatsächlich verwendet werden, muss Gegenstand weiterer Analysen werden.

Wenn in der Soziologie der Bewertung die Relationierung von Identitäten thematisiert wird, dann bezieht sich das häufig auf quantifizierende Vergleiche von Identitäten, auf deren Grundlage Urteile über die relative Wertigkeit von Identitäten gebildet werden (vgl. u. a. Brankovic et al. 2018; Espeland und Sauder 2007; Esposito und Stark 2019). Mit Blick auf diese Literatur fällt am Fall Tinder auf, dass durch die App zwar prinzipiell Vergleichsräume ausgeweitet werden – die Nutzerinnen können nahezu weltweit eine große Anzahl von Identitäten in kürzester Zeit auf ihre intime Wertigkeit hin einschätzen (Peetz 2019). Gleichzeitig werden durch die Struktur der App Vergleichsmöglichkeiten aber systematisch wieder eingeschränkt.

So liegt eine zentrale Eigenschaft von Tinder darin, dass die begutachteten Profile nach der initialen Bewertung verschwinden und selbst in der Bezahlversion nur der letzte Bewertungsakt rückgängig gemacht und damit lediglich zwei Profile direkt vergleichend bewertet werden können. Erst nach einem Match können die weiteren Bewertungsschritte intensiver vergleichend vorgehen. Vergleichsmöglichkeiten werden den Nutzerinnen der App also nicht konsequent zugänglich gemacht. Andere Dating-Apps gehen anders vor. Bei OkCupid oder Lovoo kann z. B. auf Profile, die in der Form eines Gitters präsentiert werden (vgl. Abb. 3), vergleichend zugegriffen werden.

Abb. 3
figure 3

Beispiele für Präsentation von Nutzerinnen in Apps mit Gitterdarstellung. Links: OkCupid, rechts: Lovoo. (Screenshots 18.12.2019 – zum Zeitpunkt des Drucks hat OkCupid die Gitterdarstellung aufgegeben)

Die Praktiken der Inwertsetzung von Nutzerinnen auf Tinder sind nicht Gegenstand dieses Artikels. Ihr Material haben sie in den Identifizierungen, Kategorisierungen und Relationierungen, die die App ermöglicht. Wie sie dies tun und wie die Fremdbewerterinnen diese Profile lesen, interpretieren und selbst narrativ inwertsetzen, welche Geschichten sie aus ihnen stricken, müsste Gegenstand weiterer Untersuchungen werden.

6 Diskussion

Den Nutzerinnen von Tinder tritt die App als Beobachterin am deutlichsten dann gegenüber, wenn sie ihre visuelle Selbstdarstellung auf der App bearbeiten. Dort haben sie, neben der Möglichkeit bis zu neun Profilbilder in die App zu integrieren und selbst ihre Abfolge zu arrangieren, auch die Option, „Smart Photos“ zu nutzen. Diese Option „testet alle … Profilfotos regelmäßig und wählt das beste aus, um es zuerst anzuzeigen“ auf der Grundlage dessen, „wie die anderen Personen darauf reagieren“ (Tinder 2016). Dabei „berücksichtigt [es] das Wischverhalten von jedem einzelnen, wenn es das Foto auswählt, dass einer Person als erstes Bild gezeigt wird“ (Tinder 2016). Diese Selbstdarstellung Tinders impliziert, dass die App nicht lediglich ein globales Ranking der angezeigten Bilder erstellt, sondern – vermutlich auf der Grundlage einer algorithmischen Analyse der Profilbilder – individualisierte Profile basierend auf den visuellen Vorlieben der Nutzerinnen erstellt.

Ansonsten schweigt der Algorithmus. Die Nutzerinnen der App werden darüber informiert, wie viele Personen ihr Profil „liken“ – verbunden mit dem Hinweis, dass die Bezahlvariante Tinder Gold leichten Zugang zu diesen Profilen gewährt. Sie erfahren aber nicht, wie viele Personen ihr Profil gesehen und sie im wörtlichen Sinn zur Seite gewischt haben. Wenn Tinder den Elo-Score oder einen vergleichbaren Attraktivitätsscore kalkulieren sollte, dann wird er den Nutzerinnen nicht zur Verfügung gestellt; sie erfahren also ihren algorithmisch errechneten Wert nicht. Auch OkCupid, das den Übereinstimmungsgrad von Profilen kalkuliert und ihn den Nutzerinnen in Prozent und relativ prominent präsentiert („96 % Match“, vgl. Abb. 3), schweigt sich über ihren individuellen Wert aus. Die quantifizierenden Kalkulationen werden damit invisibilisiert. Das ist im Zeitalter des „metrischen Wir“ (Mau 2017), in dem allerorten das Arsenal an „weapons of math destruction“ (O’Neil 2016) aufgerüstet wird, an sich schon ein bemerkenswerter Sachverhalt.

Auffallend sind hier die Unterschiede intimer Bewertung zu anderen zeitgenössischen Formen der digitalisierten Bewertung von Personen oder ihrer Leistungen. Gerade in der digitalen Körperbeobachtung durch Self-Tracking oder in der Quantified-Self-Bewegung dienen digital gesammelte Daten dazu, den Nutzerinnen von entsprechenden Apps reduzierte Informationen zur Verfügung zu stellen, die sie als Orientierungspunkte für die Arbeit am eigenen Selbst verwenden können (Neff und Nafus 2016; Vormbusch 2019). In der digitalen Ökonomie werden Bewertungsscores zur Kontrolle von Dienstleistenden, aber auch von ihren Kundinnen eingesetzt. Auch hier können Optimierungsversuche anschließen. Bei Tinder bleibt die Optimierung aus. Die durch den Black-Box-Algorithmus vollzogene quantifizierende Bewertung der Person bleibt in der Black Box.

Abschließend kann man diesen Sachverhalt sicher erst dann beurteilen, wenn auch die Praktiken der Nutzung von Onlinedatingplattformen im Allgemeinen und Tinder im Besonderen mit in die Analyse einbezogen werden. Die vorliegenden Befunde nähren aber Zweifel an der Vorstellung einer alles durchdringenden Kraft der Zahlen, die in der Soziologie der Quantifizierung weit verbreitet ist (Espeland und Stevens 2008).Footnote 22 Auch wenn Zahlen eine große Überzeugungskraft haben und leichter als andere Medien die Grenzen zwischen sozialen Kontexten überschreiten können (Heintz 2010), stoßen sie anscheinend in der Intimsphäre an Grenzen der Anschlussfähigkeit.

Über die Motive der Entwickler, auf die Ermöglichung quantitativer Vergleiche zu verzichten, kann man nur spekulieren. Man könnte aber die Invisibilisierung der Zahlen, die Einschränkung der Vergleichsmöglichkeiten als eine implizite Verneigung vor einer Grundidee romantischer Liebe interpretieren: der Zufälligkeit und sich jeder Kalkulation entziehenden Anziehungskraft zwischen zwei Personen, die zu viel oder zu offensichtliche Rationalisierung dann eben doch nicht verträgt. Ohne extensive Vergleichsmöglichkeiten bleibt der Moment des digitalen Kennenlernens eine Quelle von „Gründungsmythen“ (Burkart 2009) der Paarbildung.

Man könnte darüber hinaus vermuten, dass die Publikation von Scores intimen Werts oder gar von Rankings gegen das Verwertungsinteresse der Apps steht. Sie sind ja auch darauf angewiesen, ihre Nutzerinnen bei der Stange zu halten. Und das könnte schwierig werden, wenn die zahlende Kundschaft im digitalen Spiegel die objektivierte eigene intime Wertigkeit vorgehalten bekommt, die möglicherweise unter den eigenen Erwartungen liegt.

7 Schlussbemerkung

Dieser Artikel hat sich mit den Möglichkeiten der Bewertung und des Vergleichs auseinandergesetzt, die die Datingapplikation Tinder selbst nutzt und ihren Nutzerinnen bietet. Die immer zahlreicher werdenden Nutzerinnen dieser, aber auch anderer Onlinedatingdienste und mobiler Dating-Apps, verfügen mit diesen über Instrumente, mit denen sie Zugang zu einer Vielzahl potenzieller Intimpartnerinnen erlangen. Vermittelt über den Bildschirm bewerten sie sich wechselseitig und bekommen im Fall übereinstimmender Positivbewertungen die Möglichkeit, eine kommunikative Beziehung aufzubauen. Im Vergleich zu modernen analogen Konstellationen intimer Bewertung fällt auf, dass menschliche Identitäten die Publikumsposition verlassen. An ihre Stelle treten Algorithmen, die die Nutzerinnen vergleichen, kategorisieren, bewerten und auf dieser Grundlage einander vorschlagen. Anders als in vielen Bereichen digitaler Bewertung bleiben die Ergebnisse der algorithmischen Bewertung allerdings in der Black Box. Sie werden den Nutzerinnen nicht zugänglich gemacht und können deshalb auch nicht deren Praktiken der intimen Bewertung und Selbstdarstellung direkt beeinflussen. Die Dating-App Tinder verhindert zudem, dass Nutzerinnen die angezeigten Profile selbst direkt vergleichen. Die algorithmischen Bewertungen und Vergleiche bleiben auf der digitalen Hinterbühne, die quantifizierenden Bewertungen im Dunkeln. Im „Zeitalter der Vergleichung“ (Heintz 2016) gibt es also durchaus Formen der Bewertung, die mit eingeschränkten Vergleichsmöglichkeiten arbeiten müssen. Das „metrische Wir“ (Mau 2017) kommt in der Sphäre intimer Bewertung noch ohne metrische Ichs aus.

Die Lehren, die die Soziologien des Vergleichs, der Quantifizierung und der Bewertung aus der Analyse der infrastrukturellen Möglichkeiten intimer Bewertung ziehen können, fallen dann recht ähnlich aus: Vergleiche sind eine wichtige Form der Gesellschaftsbeobachtung. Zahlen sind ein einflussreiches Medium der Kommunikation. Und Bewertungen ruhen häufig auf quantifizierenden Vergleichen. Aber im Einzelfall muss immer wieder geprüft werden, wie quantifizierende Vergleiche für Bewertungen genutzt werden oder genutzt werden können. Und im Fall von Tinder sind es eben nur die algorithmischen Systeme der Plattform, die quantifizieren und vergleichen. Den Nutzerinnen selbst geben sie dazu nur begrenzte Möglichkeiten.