1 Wie rezipiert man einen Klassiker?

Der Tod Max Webers am 14. Juni 1920 fällt in eine Zeit der beginnenden Institutionalisierung der deutschsprachigen Soziologie. Die ersten Lehrstühle an deutschen Universitäten werden eingerichtet. Ein Jahrhundert Rezeptionsgeschichte des Klassikers spiegelt zugleich die Entwicklung des Faches und umgekehrt, ohne freilich aufeinander reduziert werden zu können. Die Soziologiegeschichtsschreibung erfreut sich in den letzten Jahren wieder einer gesteigerten Aufmerksamkeit (Dayé und Moebius 2015; Moebius und Ploder 2017/2018).Footnote 1 Die neueren Arbeiten, aber auch schon die älteren (Lepenies 1981), zeigen die vielfältigen Möglichkeiten auf, die Geschichte eines Faches zu schreiben. In diesen Arbeiten findet man jedoch keinen Aufsatz, der sich der Aufnahme von Webers Werk nach seinem Tod widmen würde.

Hundert Jahre Rezeptionsgeschichte nach Webers Tod zu verfolgen, sieht sich mit der Schwierigkeit konfrontiert, auf was man hierbei zu achten, was man hervorzuheben hat. Der Ausdruck „Rezeption“ ist nicht eindeutig. So hat sowohl Webers Werk als auch seine Person gleichermaßen Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Aus den zahlreichen Vorschlägen (Schluchter 2006, S. 1 ff.; Levine 2015; Camic 2015, S. 308 ff.) entnehme ich vier Arten, wie man sich zu einem Klassiker verhalten kann:

1. Man kann die Theoriegeschichte des Faches hinter sich lassen und ganz neu ansetzen. Das ist die Option von Niklas Luhmann (1984, S. 8 ff.). Soziologie über Rezeptionsgeschichte zu betreiben führe nur zu „tribalen Verhältnissen“. Von ihm „gibt es die bissige Bemerkung, dass die Klassiker fettig und schwarz sind: fettig vom vielen Anfassen und schwarz vom Rauch der Opferkerzen“ (Kaube 2014, S. 430). Zu einer sich „selbsttragenden Konstruktion“ soziologischer Theorie komme man nur, wenn man die Verbindung zur Soziologiegeschichte kappe, die allenfalls noch die „erloschenen Vulkane“ zu kartieren vermag (Luhmann 1984, S. 11, 13).

2. Man kann eine Theoriegeschichte in systematischer Absicht schreiben. Beispiele hierfür sind Talcott Parsons (1968 [1937]), Jürgen Habermas (1981) und Wolfgang Schluchter (2006, 2007). Theoriegeschichte und Theoriesystematik stehen in Wechselwirkung, ohne dabei die Differenz zwischen Theoriegenese und Theoriegeltung aufzuheben (Merton 1968; Schluchter 2006, S. 3 ff.). Man benötigt ein theoretisches Programm, um Theoriepositionen der Vergangenheit auswählen und systematisch in Beziehung zueinander setzen zu können. Das klassische Angebot ist kein überholter Ballast, aber es muss erst durch Theoriearbeit zum Sprechen gebracht werden. Die Theoriesystematik kann nicht aus der Theoriegeschichte einfach abgeleitet werden. In der Regel haben die Vertreter dieser Position ein geringes Interesse für die Person des Klassikers. Von Talcott Parsons wird berichtet, dass er glaubte, Weber sei bereits 1914 gestorben (Radkau 2005, S. 829). „Einer gern zitierten Anekdote zufolge soll Martin Heidegger seine Freiburger Vorlesung über Aristoteles mit folgenden Sätzen begonnen haben: ‚Aristoteles wurde geboren, arbeitete und starb. Und nun zu seinen Werken!‘“ (Kaesler 2015a, S. 7). Wissenschaftler haben keine Biografie, sondern eine Bibliografie.

3. Die reine Theoriegeschichtsschreibung reiht klassische Autoren enumerativ und weitgehend unverbunden nebeneinander. Beispiele hierfür sind Raymond Aron Main Currents in Sociological Thought (1965); Friedrich Jonas Geschichte der Soziologie (1968); Lewis A. Coser Master of Sociological Thought (1971) oder Dirk Kaesler Klassiker der Soziologie (2006a), in dessen drei Bänden mittlerweile 44 Denker und Theorieansätze aufgeführt werden. Man erfährt etwas über das Werk, die Person, die historische und soziale Einbettung des Denkens und die Wirkung des behandelten Autors.

4. Schließlich gibt es eine gerade zu Max Weber charakteristische Biografieforschung, wie zu kaum einem anderen WissenschaftlerFootnote 2. Hier dominiert ein gesteigertes Interesse für die Person, mit dem Versuch, das Werk aus der Biografie heraus zu entfalten und verständlich zu machen (Radkau 2005; Kaesler 2014b; Kaube 2014). Scaff (2013, S. 11) bezeichnet seinen Ansatz als „radikal ‚historistisch‘, in dem Sinne, dass ich unser Verständnis von Webers Denken zu fördern versuche, indem ich seinem Werden in der konkreten geschichtlichen Situation von Webers Leben und seiner Zeit, seiner sozialen Bindungen und geistigen Auseinandersetzungen nachgehe. Es ist mittlerweile üblich, einen solchen Ansatz als ‚genealogisch‘ zu bezeichnen“. Auch in Kaubes Biografie dominiert dieser radikale Kontextualismus: Weber „war nicht Soziologe und stellte diese Frage[n] aus beruflichem Interesse. Er wurde vielmehr durch diese Frage[n] in etwas hineingezogen, was sich dann als Soziologie herausstellte“ (Kaube 2014, S. 428). In dieser biografischen und sozialkontextualistischen Perspektive wird der Klassiker aus den kontingenten Umständen, in denen sein Werk entstanden ist, „entschlüsselt“. Das Werk selbst biete dafür keine zufriedenstellende Antwort und entsprechend stehen der Inhalt und die Systematik des Werkes auch nicht im Fokus des Interesses. „Man kann nicht einfach sagen: Er wurde so berühmt, weil es so zutreffend war, was er schrieb … Es ist also nicht so, dass Webers Werk einfach beeindruckender oder gar ‚richtiger‘ war als das seiner Zeitgenossen. Eine sehr pragmatische Erklärung, weshalb es deshalb so unvergleichlich wirksam wurde, lautet, dass Max Weber mit Marianne Weber verheiratet war. Ihr Einsatz, die Schriften ihres Mannes publik zu machen, zu ordnen und zu editieren, ist ein Fall immenser Nachsorge“ (Kaube 2014, S. 431).

Alle vier Möglichkeiten im Umgang mit dem Klassiker Weber sind anzutreffen. Und für die jeweiligen Thematisierungsvarianten hat sich ein eigenes Expertentum herausgebildet. Allein die Fülle der Biografien, die durch die Veröffentlichung von Webers Briefen in der Max-Weber-Gesamtausgabe neuen Stoff bekommen haben, ist für den Nichteingeweihten kaum noch bewältigbar. Freilich sind Webers Biografen selten auch relevante Figuren in der soziologischen Theoriediskussion und umgekehrt. Joachim Radkau ist Historiker, Jürgen Kaube Publizist und Dirk Kaesler ist als Soziologe mehr an werk- und biografiegeschichtlichen denn an theoriesystematischen Fragen interessiert. Auch laufen die Aufmerksamkeitskonjunkturen für Werk und Person in der 100-jährigen Rezeptionsgeschichte nicht immer parallel. In den letzten ein bis zwei Jahrzehnten ist das Interesse für die Biografie Webers enorm gewachsen.Footnote 3

Die vier Typen provozieren die Frage, wie man sich zu einem Klassiker verhalten soll. Position 1 und 4 führen zu extrem unterschiedlichen Vorgehensweisen – ignorieren versus Wiedergabe jedes biografischen Details. Beides ist keine sinnvolle Strategie. Für Merton (1968, S. 30) gehört die Kenntnis und wiederholte Auseinandersetzung mit den Arbeiten der Gründerväter zum elementaren Prozess der „soziologischen Alphabetisierung“ und nach Kaesler (2015b, S. 193) sollte die „Strategie, Originalität durch historische Ignoranz erreichen zu wollen, … in der Wissenschaft keine sein, die belohnt wird“. In Disziplinen mit einer prekären theoretischen und methodologischen Identität „erfüllen Klassiker die zentrale Funktion der Stiftung und Begründung von Identität“ (Kaesler 2015b, S. 197; vgl. a. Peter 2015, S. 125).

Wenn man diesen Gedanken akzeptiert, stellt sich die weitere Frage, wie man eine „Hagiographie von ‚Kirchenvätern‘ des eigenen Faches“ (Rehberg 2015, S. 454) vermeidet. Die dem vierten Typus zuzurechnenden Arbeiten sind nicht immer gegenüber der Gefahr, Heiligen- oder Heldengeschichten, oder wie Johannes Winckelmann sie verächtlich nannte „Tantengeschichten“ (Kaesler 1989, S. 36), zu schreiben, gefeit. Warum erfährt man, wie Karl Jaspers über Max Weber träumte und davon Hannah Arendt berichtete (Scaff 2013, S. 288; Radkau 2005, S. 857)? Radkaus und Kaeslers Biografien gleiten nicht selten in Psychologismus ab. Bei ersterem ist die psychische Belastung Webers, sein Leiden, ein Leitfaden der Darstellung und bei letzterem sind Kindheitserfahrungen Webers – „Muttersohn“ im Titel! – mit prägend. Nicht nur mit psychologistischem, sondern auch kontextualistischem Reduktionismus kämpft die Biografieforschung: Wie bedeutsam ist das Herkunftsmilieu Webers – Kaesler widmet Max Webers Vater über 50 Seiten, auf denen vom Sohn keine Rede ist – oder das akademische Milieu; welche Bedeutung hat Webers Nervenzusammenbruch und seine anschließende Amerikareise und -erfahrung 1904 (Scaff 2013)? Das ergibt unausräumbare Zurechnungsschwierigkeiten zwischen Person, Kontext und Werk.Footnote 4 Obwohl diese Art von Rezeptionsgeschichte durchaus wertvolle Einsichten zutage förderte, entzündet sie zugleich einige „Opferkerzen, die eine Menge Rauch erzeugen“. Das Werk ist aus der Biografie nicht erschließbar.Footnote 5

Die Biografieforschung legitimiert sich durch eine Prämisse: In Webers Werk gäbe es keine Theoriesystematik und eine solche zu entwickeln, sei eine vergebliche Anstrengung und gehe nur auf Kosten der enormen Spannweite von Webers Denken (Hennis 1987, 1996, Scaff 2013, S. 240, 298 ff., 2014, S. 170; Kaesler 2014a, S. 276). Am entschiedensten ist Wilhelm Hennis der Vereinnahmung Webers durch die Soziologie entgegengetreten. Eine sozialwissenschaftliche Systematik habe Weber nicht interessiert (Hennis 1996, S. 12 f.), vielmehr seien seine Arbeiten durch eine Fragestellung angeleitet. Neugierig, welche diese wohl sei, erfährt man etwas verdutzt: „Die Entwicklung des Menschentums“ (Hennis 1987, S. 8) oder „Max Webers Thema: Die Persönlichkeit und die Lebensordnungen“ (Hennis 1987, S. 59). Diese Art von Anti-Soziologie führt zu einem Sich-Zurückziehen auf Einflussforschung, was Weber wann von wem übernommen hat, bis hin zu den Randnotizen des Gymnasiasten „– immer interessant, immer lesenswert, immer marginal“ (Breuer 2006, S. 6).

An die Stelle von Theoriearbeit tritt dann nicht selten eine existenzialistische Interpretation von Webers Person und Werk, wie sie typisch für die Bewunderung durch seine Ehefrau Marianne Weber (1984 [1926]) und den Philosophen Karl Jaspers (1988) war.Footnote 6 Der Klassiker gewähre Zugang zu basalen Erfahrungen des Lebens, zu permanent wichtigen Seiten der Existenz, die nicht durch abstrakte Theorie „ausgedrückt, sondern nur durch das Freilegen zutiefst persönlicher Erfahrungen von Personen mit außergewöhnlichem Gespür und Intellekt erfasst werden können“ (Levine 2015, S. 224).Footnote 7 Im Gegensatz zur zweiten Position, Theoriegeschichte in systematischer Absicht, lassen sich der Klassiker und sein Werk kontextualistisch und psychologistisch erzählen. Diese Erzählungen werden durch keine vorauslaufende und begleitende Systematik der Theorie diszipliniert und sie werden in der Regel sehr lang, da es an Auswahlkriterien mangelt.Footnote 8 Eine saubere Trennung von Entdeckungs- und Begründungszusammenhang vermisst man. So ist es nachvollziehbar, dass Weber nach seinem Nervenzusammenbruch neue Themen entdeckt und für diese empfänglich wird. Wie er die ökonomische Arbeitsethik und die damit verbundene Lebensführung der „Protestantischen Ethik“ soziologisch begründet und konzeptionell entfaltet, ist nur theoretisch zu klären und nicht biografisch. Die Rationalität des wissenschaftlichen Produktes muss keineswegs mit der Rationalität der Umstände des wissenschaftlichen Produzierens identisch sein (Lepenies 1981, S. XIII f.).

Es ist hier nicht der Raum, die Rezeptionsgeschichten getrennt nach den unterschiedenen Typen genau nachzuzeichnen. Es wäre zu verfolgen, wie Webers Werk theoriesystematisch interpretiert und weitergeführt wurde. So war Talcott Parsons wichtig für die Verbreitung Webers, nicht nur in den USA, es ist aber mittlerweile Konsens, dass er dies auf eine höchst eigenwillige Weise tat, die den theoretischen und methodologischen Grundlagen von Webers Soziologie nicht gerecht wird (Zaret 1994; Kalberg 1997). Die systemtheoretische Aneignung durch Parsons muss man von der kommunikationstheoretischen Interpretation und Kritik Webers durch Jürgen Habermas unterscheiden und beide von Wolfgang Schluchters strukturalistisch-individualistischer Theoriesystematik, die er aus Webers Werk entfaltet. Dieser zweite und auch der dritte Rezeptionstypus sind charakteristisch für die noch darzulegende Rezeptionsphase ab den späten 1960er-Jahren.

Im Folgenden werde ich die Konjunkturen der Rezeptionsgeschichte Max Webers skizzieren und dabei drei Phasen unterscheiden: eine erste personen- und ereignisbasierte (Abschn. 2), eine zweite institutionell abgesicherte, in der der Klassiker „gemacht“ wird (Abschn. 3) und die jüngste, dritte Phase, in der Tendenzen einer „Klassikerdämmerung“ feststellbar sind (Abschn. 4). Diese Ausführungen können ihre allgemeine Rechtfertigung aus einer Reihe von Arbeiten zur Soziologiegeschichtsschreibung ziehen, die die Orientierung an Klassikern oder Personen als eine notwendige und erkenntnisfördernde Analysestrategie empfehlen, ohne freilich in eine „Geschichte der großen Männer“ abzugleiten (Merton 1968; Lepenies 1981; Levine 2015; Peter 2015; Rehberg 2015). Die Rezeption Webers wird in die zeitspezifische Entwicklung der Soziologie eingebettet, die für seine Wahrnehmung wichtig ist. Seine Aufnahme durch kultur- und geisteswissenschaftliche Disziplinen wäre Thema einer eigenen Abhandlung.

2 Schlüsselfiguren und Schlüsselereignisse

Webers heutige Prominenz und sein Prestige ist im Rückblick nicht selbstverständlich. Seine Rezeption in der Weimarer Republik ließ dies nicht erwarten. „Dem Gelehrten bescheinigte der Philosoph Karl Löwith 1932, dass seine ‚theoretischen Arbeiten‘ zur Soziologie, Sozialpolitik, Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie ‚nicht einmal in ihrem eigenen Bereich – dem der Fachwissenschaften und der zeitgenössischen Politik – fruchtbar geworden‘ seien, dass Max Weber vielmehr ‚bereits kurz nach seinem Tode als der überlebte Repräsentant des politischen und wissenschaftlichen ‚Liberalismus‘, als der widerspruchsvolle Repräsentant einer zu Ende gelebten Epoche des Bürgertums‘ erschienen sei. Im selben Jahr fragte sich Karl Jaspers, … ‚warum blieb er so wirkungslos?‘“ (Borchardt 2006, S. 8; vgl. a. Zingerle 1981, S. 6 ff.). Auch wenn die Wirkungsgeschichte in der Weimarer Zeit heute etwas differenzierter gezeichnet wird (Fogt 1981; Borchardt 2006, S. 8 f.), hatte Webers Werk bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg keine systematische Aufmerksamkeit erhalten oder gar einen Traditionsstrang begründet. Noch in den 1960er-Jahren war keineswegs absehbar, dass Weber zum festen Bestandteil des Lehr- und Forschungsbetriebs gehören würde.

Die mangelnde Aufmerksamkeit in den Jahren nach seinem Tod verdankt sich dem Zustand der Soziologie in dieser Zeit und weberspezifischen Faktoren. Das Fach weist einen geringen Institutionalisierungsgrad auf (Fogt 1981; Lepsius 2017, S. 3 ff.; Lichtblau 2018). Es gibt erheblichen Widerstand der Vertreter der traditionellen Geistes‑, Rechts- und Staatswissenschaften, die Soziologie als neue Disziplin mit eigenen Professuren und Instituten zu etablieren. Die akademischen Soziologen dieser Zeit waren nach Ausbildung und Karriere in diese traditionellen Disziplinen eingebunden. Deren Kontroversen werden in das neue Fach hineingetragen. Institute und Disziplinen im heutigen Sinne von kooperierenden Wissenschaftsgemeinschaften waren für die Weimarer Zeit nicht typisch. Professoren verstanden sich als Einzelwissenschaftler, als „schöpferische Monaden“ in Rivalität mit den Fachgenossen. Die kognitive Institutionalisierung der Soziologie im Sinne einer verpflichtenden intellektuellen Ordnung war nur schwach ausgeprägt. „Ihre Exponenten hatten überwiegend Lehrstühle in den erwähnten ‚Mutterdisziplinen‘ inne und betrieben Soziologie in entsprechenden Kombinationen oder über ergänzende Lehraufträge. Zumindest in der Weimarer Republik präsentiert sich die Soziologie nicht als festgefügtes Fach, sondern als wissenschaftliche Orientierung individueller Gelehrtenarbeit. Eine klar umgrenzte Wissenschaftsgemeinschaft, eine Gruppe eindeutig identifizierbarer Fachvertreter der Soziologie, die Max Webers Werk als Leistung eines Außenseiters hätte definieren können, existierte nicht. Von der disziplinären Herkunft wie von der akademischen Konsensfähigkeit her gesehen, waren alle deutschen Soziologen zu jener Zeit ‚Außenseiter‘“ (Fogt 1981, S. 246 f.).

Es gab nur die vage Vorstellung einer „soziologischen Perspektive“. Holistische, historistische, idealistische, materialistische, biologistische Ideen bestimmen das Selbst- und Fremdverständnis der Soziologie. Angesichts der ideellen Heterogenität und den wenigen Professuren führte jeder personelle Wechsel zu schwer kalkulierbaren Veränderungen. Das zeigte sich auch in der 1909 gegründeten Deutschen Gesellschaft für Soziologie (Lepsius 2016; Dörk et al. 2019). Die Mitbegründer Max Weber und Georg Simmel treten nach wenigen Jahren wieder aus. Die Diffusität und Heterogenität des Faches bot keinen geeigneten Kontext, um einen Klassiker auf den Weg zu bringen. Lepsius (2017, S. 8) traute Max Weber zwar zu, das Fach ideell und institutionell in der Weimarer Republik zu festigen, durch den frühen Tod 1920 bleiben dies jedoch Spekulationen. Im Gegensatz zu Emile Durkheim in Frankreich hatte Weber keine Schule gebildet, die sein Programm einer Soziologie hätte weitertragen können. Webers Arbeiten waren in der frühen deutschen Soziologie zwar immer gegenwärtig, aber die Rezeption verlief stark selektiv und fragmentarisch auf einzelne Lehrstücke fixiert (Fogt 1981, S. 252 ff.). Zudem war das Werk Webers selbst fragmentiert, erst nach 1925 in wesentlichen Teilen gut zugänglich und von seinem Charakter her nicht leicht erschließbar. Eine systematische Rezeption war nicht vor den 1930er-Jahren erwartbar. Karl Löwiths Aufsatz Max Weber und Karl Marx (1932) und Alexander von Scheltings Studie Max Webers Wissenschaftslehre (1934) sind jedoch die letzten wichtigen Arbeiten zu Weber in Deutschland in dieser Zeit, die bis heute Bestand haben.Footnote 9 Beide emigrieren.

Webers Schriften wurden durch das NS-Regime nicht verbrannt. Eine offizielle Parteilinie gab es nicht (Klingemann 1996; Radkau 2005, S. 846 ff.). Weber war ein zitierfähiger Name und es war nicht karriereschädlich, an ihn anzuknüpfen. Das taten Arnold Gehlen und Hans Freyer, die sich mit dem Regime arrangierten. Bei Freyer ist ein Ton der Verehrung für Weber unverkennbar, genauso bei Walter Frank, dem Präsidenten des 1935 gegründeten Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands und bei Hans Frank, dem Generalgouverneur des sogenannten Rest-Polens, der zum 80. Geburtstag Webers 1944 eine Gedenkfeier plante, zu der es allerdings nicht mehr kam (Klingemann 1996, S. 175). Zu den bekanntesten Werken dieser Zeit, die sich auf Weber beziehen, zählt Christoph Stedings Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur, das 1944 in 5. Auflage erschien, eine Mischung aus Anerkennung von Webers Leistung und Kritik an seinem reichszersetzenden Liberalismus (Klingemann 1996, S. 200). Ein denunziatorischer Ton wird in dem Gutachten von Martin Heidegger für Eduard Baumgarten, dem Cousin zweiten Grades Webers, angeschlagen: „Der Baumgarten kommt verwandtschaftlich und seiner geistigen Haltung nach aus dem liberaldemokratischen Heidelberger Intellektuellenkreis um Max Weber. Während seines hiesigen Aufenthaltes war er alles andere als Nationalsozialist“ (zit. n. Klingemann 1996, S. 180).

Die ambivalente Bewertung von Werk und Person in der NS-Zeit kommt auch in den Nachkriegseinschätzungen zur Bedeutung Webers für und im Nationalsozialismus zum Ausdruck. Nach Jaspers hätten sich die Deutschen durch Weber gegen den Nationalsozialismus immunisieren können: „Er hat die Zeit des Nationalsozialismus nicht gekannt. Vielleicht wäre dieser, wenn Max Weber alle die Jahre vor 1933 noch sein Wort hätte sagen können, gar nicht zur Macht gelangt. Aber das ist unwahrscheinlich. Die Deutschen haben auf ihn nicht gehört“ (Jaspers 1988, S. 126).Footnote 10 Jürgen Habermas (1965) und Wolfgang Mommsen (1965) glaubten auf dem Heidelberger Soziologentag 1964 dagegen die geistige Nähe Max Webers zum Nationalsozialismus demonstrieren zu können; Carl Schmitt mit seinem Machtdezisionismus sei ein „legitimer Schüler“ und „natürlicher Sohn“ Max Webers.

Dagegen spricht die Rezeption Webers durch die Emigranten, die das Erbe der großen Entwürfe der deutschsprachigen Soziologie weitertragen (Radkau 2005, S. 835 ff.; Scaff 2013, S. 287 ff., 2014, S. 14 ff.; Lepsius 2017, S. 21 ff.). Neben maßgeblichen Interpretationen, wie denen von Reinhard Bendix, zählen dazu auch Übersetzungen von Webers Werken in die englische Sprache, die dadurch weltweit zugänglich wurden, z. B. der einflussreiche 1946 in erster Auflage von Hans H. Gerth und C. Wright Mills herausgegebene Band From Max Weber. Für die Lebenserfahrung im Exil hatte Max Weber mit seinem politischen Antiutopismus und seinem nüchternen Realismus ein passendes Deutungsangebot. Zudem bot seine Protestantische Ethik Hilfe bei der geistigen Bewältigung des Kulturschocks, den das deutsche Bildungsbürgertum in der Konfrontation mit dem amerikanischen Alltag erlebte. Man darf allerdings die Bedeutung der Emigranten für die Rezeption Max Webers und der deutschen Soziologie nicht überschätzen. Diese Rezeption setzte schon vor der Emigration ein und wäre auch ohne sie fortgeschritten, man denke an Talcott Parsons und Edward Shils. Ferner kann man nicht von einer „Emigrantengemeinschaft“ sprechen; die Emigranten waren verstreut, vielgestaltig und von Spannungen geprägt, sodass von ihnen keine spezifische Entwicklungsrichtung auf die US-amerikanische Soziologie ausging. Die sozialwissenschaftliche Emigration war mehr Verlust für die Herkunftsländer als Gewinn für die Aufnahmeländer (Lepsius 2017, S. 48).

Beim Wiederbeginn der Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die klassische Tradition eine geringe Bedeutung (Lepsius 2017, S. 43, 109 f.). Auch Max Weber wurde gar nicht oder nur höchst selektiv rezipiert. Die mangelnde Aufmerksamkeit, die ihm in der Weimarer Republik zuteil wird, setzt sich fort. Für die erste Rezeptionsphase zeichnet sich ein spezifisches Muster ab: In dem halben Jahrhundert nach Webers Tod waren es Schlüsselfiguren, die verhindert haben, dass er in Vergessenheit geriet (Borchardt 2006, S. 10 f.; Lepsius 2006, S. 23 f.). Von Person und Werk beeindruckte und begeisterte Personen haben die Voraussetzungen für seine Rezeption gelegt. Von außerordentlicher Bedeutung ist hier Marianne Weber, die überhaupt erst die Texte ihres Mannes verfügbar machte und mit ihrer Biografie Max Weber. Ein Lebensbild (1984 [1926]) das Gedächtnis an ihn lebendig zu halten suchte. In dieser Rolle folgte ihr später Johannes Winckelmann (König und Winckelmann 1963), dessen Gestaltungswille letztlich in die Max-Weber-Gesamtausgabe in den 1970er-Jahren mündete. Bemerkenswert ist, dass beide, Marianne Weber und Johannes Winckelmann, die Verbreitung des Werkes außeruniversitär vorantrieben. Dirk Kaesler (2006b) spricht hier von akademischen Außenseitern. Hierzu zählt auch Eduard Baumgarten, der wechselnde und heterogene Professuren innehatte. Nicht institutionalisierte Geltung, sondern persönliche Begeisterung ist die Grundlage ihrer Arbeit.Footnote 11

Auch in anderen Ländern ist dieses Rezeptionsmuster der ersten Phase feststellbar. Es sind Einzelfiguren, die sich der Sache Webers annehmen und zu seiner Verbreitung beizutragen suchen (Scaff 2013; Müller und Sigmund 2014, S. 7 f.; Tyrell 2014, S. XIVf.). In den USA sind vor allem Talcott Parsons und Reinhard Bendix zu nennen. Jener legte 1937 mit The Structure of Social Action die erste umfassende Analyse der Soziologie Max Webers vor und Bendix 1960 mit Max Weber. An Intellectual Portrait (Bendix 1960). In Frankreich widmete sich Raymond Aron schon früh dem deutschen Klassiker. Im Gegensatz zu den deutschen Promotoren waren dies Personen mit festen und prominenten universitären Positionen. Die Begeisterung für Weber, die diese Personen antreibt, bringt Edward Shils sehr plastisch zum Ausdruck: „Es war überwältigend zu erleben, wie in den von Webers Ideen eröffneten Perspektiven Dinge zusammenfanden, von denen ich bis dahin nie vermutet hatte, dass zwischen ihnen irgendein Zusammenhang bestehen könnte … Ich war nicht in der Lage, das alles aufzunehmen oder für mich befriedigend zu ordnen. Weber zu lesen, war jedoch im wörtlichen Sinne atemberaubend. Manchmal musste ich mitten im Lesen aufstehen und ein oder zwei Minuten herumlaufen, bis ich mich wieder beruhigt hatte“ (Shils, zit. n. Scaff 2013, S. 255). Diese Faszination beim Lesen von Webers Arbeiten, die sich bei vielen beobachten lässt,Footnote 12 ist der ausschlaggebende Faktor für die Wirkung und Rezeption seines Werkes. Sie garantiert, dass der Klassiker, noch fern einer kanonisierten und institutionalisierten akademischen Verankerung, nicht in Vergessenheit geriet. Diese Sichtweise widerspricht konstruktivistischen und kontextualistischen Interpretationen, die die Karriere des Klassikers nicht in der Qualität und dem analytischen Potenzial seiner Schriften sehen wollen (Kaesler 2006b, S. 169; Kaube 2014, S. 431). Es sind nicht primär die kontingenten Umstände, wie manche Biografen meinen, die Webers Wirkung und Verbreitung verständlich machen, sondern letztlich die Qualität seines Werkes an sich.

Neben Schlüsselfiguren sind Schlüsselereignisse in der ersten Rezeptionsphase von Bedeutung (Borchardt 2006, S. 11; Weiß 1989, S. 17 ff.; Gerhardt 2003; Roth 2006; Ay 2006; Scaff 2013, S. 295 f.). Die Veranstaltungen zu Webers 100. Geburtstag 1964 stellen einen Einschnitt in der Rezeptionsgeschichte dar, wenn er auch nach wie vor unterschiedlich beurteilt wird. Mehrere Konferenzen zum Gedenken an Webers Geburt wurden auf beiden Seiten des Atlantiks abgehalten: Jene der Midwest Sociological Society in Kansas CityFootnote 13; die Weber-Sitzung im Rahmen des Treffens der International Sociological Association in MontrealFootnote 14 und der Heidelberger Soziologentag 1964, der dem Werk eines einzigen Klassikers gewidmet wurde (Stammer 1965). Schließlich gab es an der Universität München eine Gedenkfeier für und Ringvorlesung zu Max Weber (Engisch et al. 1966). Diese Veranstaltungen haben einen zahlenmäßig dokumentierbaren Anstieg des Bezugs auf Weber bewirkt (Borchardt 2006, S. 11; Scaff 2013, S. 295 f.). Insbesondere der Soziologentag in Heidelberg hat aber gleichermaßen zu einer Würdigung wie Entwürdigung Max Webers beigetragen. Der bis dahin größte Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie wurde in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1964 wie folgt kommentiert: „Der 15. Soziologentag war von einem merkwürdigen Unbehagen gekennzeichnet. Wusste man doch am Schluß nicht mehr, warum man eigentlich in Heidelberg zusammengekommen war, wie ein amerikanischer Kollege bemerkte … Wenn Reinhard Bendix vor einiger Zeit gefordert hat, man solle Max Weber erst einmal ‚erwerben‘, um ihn dann zu ‚besitzen‘, so ist das bestimmt an diesem Kongress … nicht geschehen … In Abwandlung der Grabrede des Marc Anton kann man wirklich die Frage stellen … ‚Did they come to bury Caesar or to praise him?‘“ (zit. n. Roth 2006, S. 382; vgl. a. Lepsius 2017, S. 122).Footnote 15 Eine fragmentierte Rezeption Webers dominierte, die zudem von den überhitzten Kämpfen der Zeit geprägt war, in denen Weber als Stellvertreter im Widerstreit gegensätzlicher Positionen fungierte. Zumindest Zugriffsansprüche unserer wissenschaftlichen Disziplin, der Soziologie, auf den Autor wurden in den Veranstaltungen und Publikationen um das Jahr 1964 grundgelegt (Ay 2006, S. 405).

3 Institutionalisierte Rezeption

Erst mit Beginn der zweiten Rezeptionsphase, ab den 1970er-Jahren, stellt man Bemühungen um eine Systematisierung seines Werkes fest, um darüber eine allgemeine theoretische Grundlegung und Selbstvergewisserung der Soziologie zu erzielen.Footnote 16 Mit der 1973 initiierten und 1976 offiziell konstituierten Max-Weber-Gesamtausgabe – die ersten Bände erschienen 1984 – wird dafür langfristig auch die umfassende Textgrundlage geschaffen (Schluchter 2020).

Seit den 1970er-Jahren haben Webers Schriften eine Ausstrahlungskraft und eine internationale Aufmerksamkeit gewonnen, die sie in der ersten Phase nie hatten. Gemessen an der Häufigkeit der Zitate und Verweise, dem „impact-factor“, der Anzahl von Artikeln, Monografien, Sammelbänden, Konferenzen, dem Best-of-Ranking der International Sociological Association und der neueren digitalen Verbreitung gehört Max Weber weltweit zu den meist rezipierten Autoren unseres Faches.Footnote 17 Kein Soziologe des 20. Jahrhunderts kann auf eine vergleichbare internationale Erfolgsgeschichte verweisen. Von einem durch Schlüsselfiguren getragenen Präsenthalten des Autors und seines Werkes hin zu einer institutionell gesicherten und sich verselbstständigenden Weberrezeption – manche sprechen von einer „Weber-Industrie“ – lässt sich diese Entwicklung grob charakterisieren. Das Ausmaß an institutionalisierter Verankerung dokumentiert sich in akademischen Curricula, wissenschaftlichen Karrierechancen und Publikationsmöglichkeiten, die der Bezug auf den Klassiker eröffnet.

Damit einhergehend konzentrierte sich die Weber-Forschung verstärkt auf die Entfaltung von „Weber’s writings largely on their own terms and, compared to the earlier conceptions far less in reference to intellectual debates in sociology. It dramatically broadened the understanding of his sociology among specialists on Weber“ (Kalberg 1997, S. 212; vgl. a. Zingerle 1981, S. 16 ff.). In den Nachkriegsjahrzehnten wurde Weber etwa eingespannt in die Kontroverse Integrations- versus Konflikttheorien. Während Parsons ihn für den Strukturfunktionalismus reklamierte, sah Bendix dagegen vor allem den Konflikttheoretiker. Ferner wird Weber in die neomarxistischen Auseinandersetzungen und den Positivismusstreit der 1960er-Jahre hineingezogen, in besonderer Weise auf dem Heidelberger Soziologentag 1964. In der Institutionalisierungsphase verlieren diese Interpretationen und Kontroversen an Bedeutung und die weberimmanente Werk- und Theoriesystematik rückt in den Mittelpunkt. Charakteristisch hierfür ist etwa „De-Parsonizing Weber: A Critique of Parsons’ Interpretation of Weber’s Sociology“ (Cohen et al. 1975). Friedrich Tenbrucks wichtiger, 1975 in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie veröffentlichter Aufsatz setzt sich kritisch von Bendix’ Interpretation ab.Footnote 18

Die internationale Rezeption Webers weist große Disparitäten auf (Max-Weber-Stiftung 2014; Hanke 2014a; Strazzeri 2016, S. 94 ff.). Während in Japan schon früh und in der Folge fast das komplette Werk übersetzt wurde und eine entsprechend breite und intensive Rezeption sich entfaltete (Schwentker 1998; Mommsen und Schwentker 1999),Footnote 19 sind in anderen Ländern keine oder nur ganz wenige Übersetzungen vorhanden. Bis heute gibt es ungleichgewichtige Rezeptionsverhältnisse, gleichsam Zentrum-Peripherie-Beziehungen zwischen den Ländern.Footnote 20 Der Dominanz der anglo-amerikanischen und deutschen Weber-Interpretationen steht z. B. keine ebenbürtige Wahrnehmung der immensen japanischen Literatur gegenüber. Auch die reiche italienische Weber-Forschung hat wenig Aufmerksamkeit erfahren. „Yet, other evidently missing connections are those outside of Anglo-German traditions on Weber, i.e., between Mexico and Japan or between Italy and Brazil and so on“ (Strazzeri 2016, S. 96). Die deutsch-amerikanische Forschung ist die Drehscheibe der internationalen Weber-Diskussion. Als dominante Referenzforschung vermittelt sie den Großteil der Weber-Rezeption in anderen LändernFootnote 21. Auch variieren die Thematisierungsschwerpunkte zwischen den Ländern und die Zeitpunkte, zu denen Diskussionen aufgenommen werden. In vielen Ländern handelt es sich um eine nachholende Rezeption.Footnote 22

Für eine erfolgreiche Rezeption und Verbreitung von Webers Arbeiten müssen mehrere Bedingungen erfüllt sein: „die Herausbildung von Netzwerken aus Fachleuten für die Förderung und Aufrechterhaltung des Interesses an seinen Schriften; die Übersetzung und Veröffentlichung der wichtigsten Teile des Werkes; und die ‚Institutionalisierung‘ seines Denkens, seiner Forschungsprobleme und seiner Begrifflichkeit“ in Lehre und Forschung an den Universitäten (Scaff 2013, S. 240 f., vgl. a. Scaff 2014, S. 13 f.; Morcillo 2009, S. 101). Die Expansion der Universitäten Ende der 1960er-Jahre war dafür förderlich. Ferner gab das Abebben des Marxismus in den 1970er-Jahren den intellektuellen Raum frei für alternative Theorien und Perspektiven. Die zunehmende Institutionalisierung und Etablierung der Soziologie als universitäre Disziplin schaffte einen Bedarf für klassische Texte und ihre Interpretation. „Disciplinarization produced a demand for theory writing of a particular kind: for a history with canonical texts, and for systematization, at least for the purposes of teaching a settled subject, and required theorists to pay attention to one another“ (Turner, St. 2016, S. 551). Erst ab dieser Zeit kann man wirklich vom Klassiker Weber reden. Durch Kanonisierung und Systematisierung wird ein intellektueller Traditionsstrang begründet, der bestimmte Frage- und Problemstellungen sowie einen theoretischen Rahmen vorgibt, an dem sich folgende Generationen orientieren können. Man kann dies auch als „Weber-Paradigma“ bezeichnen (Albert et al. 2003). Der in Abschnitt 1 unterschiedene zweite Rezeptionstypus, Theoriegeschichte in systematischer Absicht, ist charakteristisch für diese Phase. Gleichzeitig gewinnt mit der Institutionalisierung der Soziologie auch die Theoriegeschichtsschreibung an Bedeutung, das dritte Rezeptionsmuster. Nicht nur die Kanonisierung einzelner Autoren, sondern auch die des Theorienbestandes des Faches schreitet voran.

Zu diesen innerwissenschaftlichen Voraussetzungen tritt eine weitere Bedingung hinzu: Webers Texte und seine Gedanken sind anschlussfähig an zeitgeschichtliche Problemlagen; sie leisten für die Interpretation und Analyse der Probleme einer Gesellschaft einen Beitrag. Dabei weitet sich die Weber-Rezeption zu einer öffentlichen Debatte. „Im Fall Max Webers waren und sind dies sehr oft Intellektuelle, die mit Weber Umbrüche in ihrer eigenen Kultur kritisch reflektierend begleiten. In der Rückschau handelt es sich um tiefgreifende sozioökonomische und politische Transformationsprozesse … Im Fall Japans wurde der Umbau von einer traditional-agrarischen in eine modern-kapitalistische Gesellschaft durch eine intensive Rezeption Max Webers begleitet. Im Fall der Sowjetunion ging die Perestrojka mit einem wiedererwachten Weber-Interesse einher. Der folgende Beitrag geht von der Hypothese aus, dass Weber in Umbruchphasen – Stichwort ‚Modernisierung‘ – ein wichtiger Begleiter war und immer noch ist“ (Hanke 2014a, S. 286). Dieses Interesse ist auch in mehreren Ländern des Nahen Ostens während des sogenannten „Arabischen Frühlings“ vor ungefähr zehn Jahren feststellbar (Hanke 2014b, S. 1, 19 ff.).

Bei den Aufmerksamkeits- und Rezeptionskonjunkturen müssen auch die Verbotszeiträume berücksichtigt werden, „wie das in den Ostblockstaaten zur Zeit des Kalten Krieges der Fall war oder heute im Iran, wo es bei der persischen Übersetzung der Protestantischen Ethik beim Internet-Buchhändler lapidar heißt ‚Jetzt ist dieses Buch nicht vor Ort verfügbar‘“ (Hanke 2014b, S. 6). In China erschienen in der Reformzeit der 1980er-Jahre in kurzer Zeit Übersetzungen von und Arbeiten zu Max Weber. Die Protestantische Ethik war im Oktober 1986 in Peking innerhalb von wenigen Stunden ausverkauft. Nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Juni 1989 erstarb diese Reformdebatte schlagartig. Erst nach einer jahrelangen Pause erschienen ab 2002 wieder Weber-Übersetzungen. Die Protestantische Ethik stand 2006 weit oben auf den chinesischen Bestsellerlisten für Sachbücher (Hanke 2014b, S. 18 f.).

Damit sind wichtige Hinweise für den Erfolg des Klassikers gegeben. Da die Soziologie als Wissenschaft mit den „Gegenständen“ verbunden ist, die sie erfassen soll, besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Theorie und den zeitgeschichtlichen Problemlagen und Entwicklungen. Wenn das Licht der großen Kulturprobleme weiterzieht, muss auch die Wissenschaft ihren Standort und ihren Begriffsapparat überdenken und gegebenenfalls wechseln (Weber 1982, S. 214). Die Vitalität von Webers Forschungsprogramm hing und hängt nicht zuletzt von seiner Fähigkeit ab, die epochen- und zeitspezifischen Problemlagen zu begreifen, flexibel für länder- und kulturspezifische Variationen und aufnahmefähig für die Verschiebung der sich stellenden Probleme zu sein. Nach Webers eigenem Wissenschaftsverständnis müssen diese analytischen Grundlagen ständig neu durch Interpretation, Kritik und Explikation gewonnen werden. Scaff (2013, S. 293 f.) identifiziert diese Flexibilität von Webers Soziologie als eine Erfolgsbedingung in den Nachkriegs-USA. Er berichtet von den Seminaren an der Columbia University in New York 1946, die in Protokollen festgehalten sind. In den Veranstaltungen zu Politik und Demokratie war ein prominenter Teilnehmerkreis versammelt: Robert Merton, C. Wright Mills, Daniel Bell, Seymor Lipset, Richard Hofstatter, Franz Neumann, Karl Wittfogel. „Es war mehr und mehr diese Verwendung von Weber im Zusammenhang mit der Behandlung strittiger Themen, die nicht seine eigenen waren, die wesentlich mit dazu beitrug, dass seine Ideen ‚gesellschaftliche Karriere machten‘ und sich ein geistiges Umfeld herausbildete, in dem jene Ideen neu formuliert, kritisiert, neu ausgelegt und somit erneuert werden konnten“ (Scaff 2013, S. 294).

4 Max Weber im Kontext aktueller Entwicklungstendenzen der Soziologie

Wo steht die Weber-Rezeption heute? Wie sind die zurückliegenden zwei bis drei Jahrzehnte einzuschätzen? Dazu gibt es bisher keine überzeugende Darstellung. Bestandsaufnahmen in den 1980er-Jahren weisen auf das enorme Interesse an unserem Klassiker in der Soziologie (vgl. Weiß 1989) und in den Nachbardisziplinen hin.Footnote 23 Vergleicht man diese mit aktuelleren Einschätzungen, könnte man den Eindruck gewinnen: „alles wie gehabt“; die Weber-Rezeption läuft auf ungebrochen hohem Niveau weiter. Im Jahre 2000 wurde eine eigene Zeitschrift gegründet, die Max Weber Studies (Chalcraft und Whimster 2000, S. 7), 2014 erschien ein deutsches Max-Weber-Handbuch (Müller und Sigmund 2014; 2. Aufl. 2020) und 2019 ein englischsprachiges (Hanke et al. 2019). Das Interesse an der Person hat enorm zugenommen. Allein 2014 sind zwei Biografien erschienen, von Jürgen Kaube (2014) und von Dirk Kaesler (2014b). Zählt man dazu noch jene von Joachim Radkau (2005; 2. Aufl. 2014) und die biografisch orientierten Monografien von Guenther Roth (2001), Michael Sukale (2002) und Lawrence Scaff (2013), kommt man auf über 4000 Seiten, Sammelbände zur Person Webers nicht mitgezählt. Das biografische Bändchen von Norbert Fügen (1985) aus den 1980er-Jahren kam noch mit 150 Seiten aus. Diese und weitere Literatur (z. B. Ay und Borchardt 2006; Müller 2007; Chalcraft 2008; Scaff 2014; Kaesler 2014a; Max Weber Stiftung 2014; Hübinger 2019) stehen in, wie ein Titel heißt, Max Weber: „A Source of Endless Fascination“ (Adair-Toteff 2014).Footnote 24

Völlig falsch ist dieses Bild nicht, aber es ist unvollständig und gibt die heutige Situation nicht adäquat wieder. Guenther Roth (1989, S. 406) hat schon Ende der 1980er-Jahre darauf hingewiesen, dass „die routinemäßige Verarbeitung eines Werkes … auch dann noch weiterläuft, wenn die ursprünglichen Impulse ihre Frische verloren haben. Wenn einmal gewisse akademische Investitionen getätigt worden sind und eine gelehrte Industrie entstanden ist, nimmt diese ihren eigenen Lauf. Dies trifft nicht weniger auf die sekundäre Weberliteratur als auch auf die Durkheimsche zu und auch auf den akademischen Marxismus …“. Die Institutionalisierung der Weber-Forschung war sehr erfolgreich. Sie hat in Gestalt des Klassikers eine akademische Währung mit einem enormen symbolischen Kapital geprägt.Footnote 25 Das ist aber allmählich auf Kosten der lebendigen Auseinandersetzung gegangen. Sich des symbolischen Kapitals bedienend, dominiert nicht selten eine „Art von ritualisierten Reverenzen vor dem Klassiker ‚Weber‘ [die] jedoch keine andere Funktion als die einer ‚Legitimierung‘ des eigenen Unterfangens“ hat (Kaesler 2014a, S. 275; vgl. a. Sica 2004, S. 6; Zingerle 1981, S. 25). Die bloße Zitationshäufigkeit ist kein Beweis für die Vitalität eines Autors. Gegenstimmen zur Erzählung einer ungebrochenen Rezeption waren schon ab den 1990er-Jahren vernehmbar: Weber sei für die Theoriedebatten der US-amerikanischen Soziologie von schwindender Bedeutung (Zaret 1994, S. 357); Webers Schriften hätten an „disziplinärer Nützlichkeit und Ausbeutbarkeit für die Soziologie verloren“ und neue Strömungen zeigten fast kein oder höchstens ein negatives Interesse an Weber (Roth 2003, S. 29, vgl. a. 1999, S. 523; Lepsius et al. 2015, S. 564 ff.; Strazzeri 2016, S. 89 ff.; Filippov und Farkhatdinov 2019, S. 10 f.). Diese Einschätzung findet sich auch für einzelne Themenkomplexe. Während Weber in den 1980er-Jahren auch in der Geschichtswissenschaft eine Renaissance erlebte (Kocka 1986; Gneuss und Kocka 1988), geht heute sein Einfluss auf die historische Soziologie zurück (Maslovsky 2010, S. 7; Knöbl 2016). Für seine vergleichende Religionssoziologie zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen (Kaelber 2005, S. XXVIII, XXXII; Ertmann 2017, S. 4, 350) wird ähnliches festgestellt. Nach Johannes Berger werde Webers Kapitalismusanalyse und die damit verbundenen Grundprobleme der Moderne „der heutigen Problemlage nicht mehr gerecht“ (Berger 2014, S. 379 ff.; ähnlich Kocka 2015, S. 14). Und Webers Bürokratieanalysen seien durch die Organisationssoziologie „schrittweise demontiert“ worden (Meier und Schimank 2014, S. 358; a. Swedberg 1998, S. 42, 226).Footnote 26

4.1 Fragmentierungstendenzen der Soziologie und neue Studentengenerationen

Das nachlassende Interesse hat mit Entwicklungen der Weber-Forschung selbst zu tun, aber auch mit solchen der Soziologie im Allgemeinen. Zunächst zur allgemeinen Entwicklung der Sozialwissenschaften in den letzten Jahrzehnten. Dafür muss ich etwas weiter ausholen. Die Zeiten der begeisterten Klassikerrezeption und großen Theoriebildung sind vorbei (Camic 1997, S. 4 f.; Turner, B. 2016, S. 5 ff.; Turner, St. 2016; Müller und Sigmund 2017, S. 1 ff.). Ganz anders dagegen die Situation in den 1960er- bis in die 1980er-Jahre, eine Phase der Dominanz des Theorieinteresses und der Theoriedebatten. Noch 1987 sprach Jeffrey Alexander von „The Centrality of the Classics“ (1987; vgl. a. Levine 2015, S. 211 f.). Getragen von der gesellschaftlichen Aufbruchstimmung 1968 und der Ausbauphase der Wohlfahrtsgesellschaften bekam die Soziologie einen Vorschuss des Vertrauens in ihre Beratungskompetenz und ihre Orientierungsfunktion als quasi „Leitwissenschaft“ (Renn und Schützeichel 2012, S. 4 f.). Diese Welle der Theoriebegeisterung konnte ich in ihren Ausläufern noch während meines Studiums in den 1980er-Jahren erfahren.Footnote 27 Zu Beginn meines Studiums 1981 erschien Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns, 1982 folgten Die feinen Unterschiede von Pierre Bourdieu und 1984 Niklas Luhmanns Soziale Systeme. Im Jahr 1986 traf Ulrich Beck den Nerv der Zeit mit Risikogesellschaft und die Weber-Rezeption war in vollem Gange.

Allmählich aber wendete sich das Blatt für unsere Disziplin, unter anderem aufgrund der enttäuschenden Erfahrungen hinsichtlich der Bedeutung sozialwissenschaftlichen Wissens (Turner, St. 2016, S. 552 f.). Wir stehen heute vor der Zersplitterung eines klassischen Kanons in unterschiedliche Schulen und Ansätze, Gender- und Black-Studies, Postmodernismus, Postkolonialismus und die unaufhörliche Verkündigung immer neuer Turns und die „Entdeckung“ vernachlässigter Theoriethemen wie etwa „Körper“, „Räume“, „Gefühle“ etc.Footnote 28 Manche dieser Strömungen gehen zudem mit einer erheblichen Politisierung der eigenen Perspektive einher, die anspruchsvolle Theoriedebatten schwierig machen oder gänzlich scheitern lassen. Die notorischen Schwierigkeiten unseres Faches, einen disziplinären Kern und eine Identität zu bestimmen, erfahren durch diese Fragmentierungstendenzen eine weitere Verschärfung. „In the context of taken-for-granted relativism, many sociologists would presumably have considerable difficulty with the idea of canonical sociology“ (Turner und O’Neill 2001, S. 7).

In einem „Call for Papers“ der European Sociological Association für eine Konferenz in Kopenhagen im August 2020 mit dem Titel Social Theory as a Vocation? State of Affairs of Sociological Theorizing in Europe wird auf den besorgniserregenden Zustand der soziologischen Theorie(‑Ausbildung) hingewiesen. So würde es heute in Skandinavien kein junger Soziologe mehr wagen, mit soziologischer Theorie eine akademische Karriere zu bestreiten (ESA 2020). Die Klassiker und Theorie generell haben ihre zentrale Bedeutung verloren (Camic 1997, S. 4 f.; Turner und O’Neill 2001; Renn und Schützeichel 2012; Nishihara 2014;Footnote 29 Turner, St. 2016; Vandenberghe und Fuchs 2019). Führende Vertreter des Faches in den USA verkünden gar mit großem Impetus, die „grand theory“ nicht mehr zu lesen – es lohne sich nicht (Abbott 2010).

Was ist hier geschehen? In den letzten Jahrzehnten hat sich das Verhältnis von Theorie und empirischer Forschung, den beiden zentralen Säulen unserer Disziplin, stark verschoben. Für die US-amerikanischen Soziologie-Departments gibt es mittlerweile empirische Untersuchungen und eine entsprechende anhaltende Diskussion (Chafetz und Saltzman 1993; Camic 1993; Calhoun 1996; Lamont 2004; Markovsky 2008; Lizardo 2015; Swedberg 2016, 2017). Blickt man zurück auf die Geschichte der empirischen Sozialforschung als ein Strang der Disziplingeschichte, so war sie in den unmittelbaren Nachkriegsjahren ein „Ein-Mann-Unternehmen“ (Lepenies 1981, S. XIV f.). Paul Lazarsfeld war bemüht, das Reputationsdefizit der Empirie gegenüber der Theorie abzubauen. Darin war er und in der Folge viele andere sehr erfolgreich. Das Reputationsgefälle hat sich nicht nur eingeebnet, sondern umgekehrt. Für die US-amerikanische Soziologie wird eine Deprofessionalisierung und Entwertung der Theorieforschung und -lehre an den wichtigsten Departments diagnostiziert.Footnote 30 Zunehmend verlieren Theorieprofessuren ihre Eigenständigkeit und die Theorielehre wird von den speziellen Soziologien und dem Lehrpersonal der empirischen Ausbildung übernommen. „The old ideal of every department having its own expert on the classics and contemporary theory is long since gone. Today it is often argued that you do not need to be an expert in theory to teach classes in theory. If you are a good researcher, then you know how to use theory, and you are also qualified to teach it. In the top sociology departments, theory is currently taught in this way at the graduate level … Advocates of this way denounce the old system, with its ‚theory experts,‘ and argue that ordinary researchers can do a better job“ (Swedberg 2017, S. 201; vgl. a. Chafetz und Saltzman 1993; Lamont 2004; Markovsky 2008; Turner, St. 2016, S. 558). Diese Entwicklung wird von manchen begrüßt, obwohl sich abzeichnet, dass dabei die (klassischen) Theorien unter die Räder kommen.Footnote 31

Die Auseinanderentwicklung von Theorie und Empirie schlägt sich auch im Zeitschriftenmarkt nieder.Footnote 32 Es kommt zu Neugründungen, die sich der einen oder anderen Seite annehmen, so etwa die Max Weber Studies im Jahre 2000, das Journal of Classical Sociology 2001 oder die Zeitschrift für Theoretische Soziologie 2012; im Jahre 2015 folgt Zyklos. Jahrbuch für Theorie und Geschichte der Soziologie. Aber auch bestehende Zeitschriften sortieren oder reinigen sich thematisch. Zählt man die Artikel seit dem Jahrgang 2000, die sich explizit und ausführlich Max Weber und seinen Themen widmen, so findet man in den deutschsprachigen Journalen der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie zwei, in der Zeitschrift für Soziologie drei und in der Sozialen Welt einen, im Berliner Journal für Soziologie dagegen 22 Artikel. Diese Sortierung der Fachzeitschriften entlang der beiden zentralen Säulen der Disziplin ist mit Sorge festzustellen, sie kappt die Verbindung von Theorie und Empirie. Die Anregungen durch neue Themen und Problemstellungen aus der empirischen Forschung erreichen die Theorien nicht mehr oder schwerer, die sich in ihre Spezialdiskurse zurückziehen und z. T. mit marginalen Problemen beschäftigen. Und die Problemwahrnehmung der empirischen Forschung schrumpft „on narrow puzzles within closed horizons, and unfazed apparently by what is occurring in their larger field … Those who define themselves primarily as empirical researchers (ethnographers and stats people) are not really bothered by theoretical and conceptual issues. All to often, theories have a merely decorative and ceremonial significance for them. Conceptual issues are quickly resolved and dissolved through a series of obligatory references to a few contemporary schools of thought“ (Vandenberghe und Fuchs 2019, S. 140 f.; vgl. a. Camic 1997, S. 5; Münch 2018; Kieser 2020, S. 589; Müller 2020, S. 424; Schwinn 2020b). Nach beiden Seiten geht so die Anschlussfähigkeit verloren, weil geeignete Plattformen fehlen.

Man kann sich natürlich fragen, ob die beiden Bereiche jemals „integriert“ waren und wie eine solche Integration aussehen könnte? Das führt in wissenschaftstheoretische Fragen hinein, die hier nicht thematisiert werden können. Orientiert man sich an einer wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive, hat sich die empirische Forschung, wie zuvor erläutert, aus der zunächst sehr stark theoriegeprägten Soziologie entwickelt. Der Theoriebezug, so lässt sich vermuten, war dadurch in dieser Phase eher gegeben. In dem Maße, wie sich die empirische Sozialforschung entwickelt, zunehmend methodische Kompetenzen ausbildet, gewinnen diese eine Eigendynamik. Wissenschaftliche Karrieren vor allem mit methodischen Kenntnissen der empirischen Sozialforschung verbreiten sich und sind heute erfolgversprechender. Der Anschluss an die ebenfalls komplexer werdende Theoriediskussion wird problematisch oder geht verloren. Ein weiterer Grund für Desintegrationstendenzen von Theorie und Empirie ist in dem gestiegenen Leistungs- und Publikationsdruck zu suchen, der heute alle wissenschaftlichen Disziplinen, nicht nur die Soziologie, antreibt. „Dieser Wettbewerbsdruck veranlasst nicht wenige Hochschullehrer, ‚Gap-Spotting‘ statt innovativer Forschung zu betreiben. Sie spüren Lücken auf in Studien, die Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Beispielsweise überprüfen sie, ob ein spektakulärer Befund seine Gültigkeit für eine Stichprobe behält, für die das eher unwahrscheinlich ist. Oder sie testen, ob die Berücksichtigung einer noch nicht in Erwägung gezogenen intervenierenden Variablen neue Erkenntnisse zutage fördert. Oder sie probieren neue Messverfahren für eine zentrale Variable aus und verkaufen solche Modifikationen als relevante Weiterentwicklungen“ (Kieser 2020, S. 589).

Diese Entwicklungen müssen im Kontext eines institutionellen Wandels gesehen werden, der Auswirkungen auf das nachgefragte wissenschaftliche Angebot hat. Den Universitäten wird in den letzten Jahrzehnten neben Forschung und Lehre eine dritte Säule eingezogen: Ausbildung. Die Entwicklung zu Massenuniversitäten, die nur einen kleinen Anteil für den akademischen Eigenbedarf rückbehalten, konfrontiert die Studiengänge mit der Erwartung arbeitsmarktverwertbare Kenntnisse und Qualifikationen zu vermitteln. Die Bologna-Reform hat diese Ansprüche bekräftigt und in den Lehrplänen institutionalisiert. Dies trifft zusammen mit neuen Studentengenerationen und -kohorten, die weniger von sozialen Bewegungen und einem bestimmten Zeitgeist motiviert in die Universitäten getragen werden als vielmehr durch nüchterne Einstellungen und pragmatische Erwartungen. Dadurch verschieben sich die Forschungsanteile in Bezug auf soziologische Theorie von der intensiven und intrinsisch motivierten Beschäftigung mit älteren und neuen Klassikern hin zu einem veränderten Bedarf, zur Verfassung von leicht konsumierbaren Lehrbüchern, Überblicksartikeln, Handbüchern etc. Diese Max-Weber-light-Literatur führt zu einer Routinisierung und Trivialisierung, die neueste Forschungsliteratur oft nicht zur Kenntnis nimmt, für die Weiterentwicklung seiner Soziologie unerheblich ist und eher die Gefahr einer „antiquarischen Denkmalpflege“ in sich birgt (Kaesler 2014a, S. 275; vgl. a. Camic 1997, S. 7 f.). Mit dem Erwerb von Kenntnissen der empirischen Sozialforschung verbessert man seine Erwerbschancen, die „Employability“, erfolgsversprechender als durch Klassikerexegese.

Für die USA sieht Stephen Turner (2016, S. 555 ff.) nach dem Ende der Studentenbewegung in den 1970er-Jahren in den folgenden Jahrzehnten einen neuen Typus von sozial engagierten Studenten an die Universitäten kommen, jene, die an Gender- und Black-Studies interessiert sind. „The kind of theory that was attractive to these audiences was the kind that validated the social movements that they were allied to and in particular validated their claims to oppression“ (Turner, St. 2016, S. 555). Die dazu passende Theorie glaubte man aber nicht bei den Klassikern der Soziologie wie etwa Weber zu finden, sondern bei den „oppressive practices thinkers“ wie Michel Foucault, Pierre Bourdieu, Stuart Hall, Judith Butler, Dorothy Smith oder Patricia Hill Collins. „The effect of this new user relation was to exclude as useless much of what theory had traditionally talked about“ (Turner, St. 2016, S. 556).Footnote 33 Diese Art von Studenten ist für Deutschland nicht typisch. Gegenüber den USA besteht hier noch mehr Raum für die Klassiker.

4.2 Rückläufige Karrierechancen und Kritik der großen Erzählung

Neben diesen allgemeinen gibt es spezifische in der Weber-Forschung selbst zu suchende Gründe für das nachlassende Interesse an unserem Klassiker. Die in den 1970er-Jahren beginnende Weber-Rezeption wurde durch eine Generation von Forschern geprägt, die bereits verstorben sind oder in absehbarer Zeit abtreten (Friedrich Tenbruck, Wolfgang Mommsen, Wolfgang Schluchter, Wilhelm Hennis, Rainer Lepsius, Stefan Breuer). Angesichts dieses Generationenwechsels ist es im Moment nicht absehbar, wie es weitergeht, ob der Stab der Weberforschung an folgende Generationen weitergegeben werden kann. Einige Gründe sprechen dagegen, erschweren dies zumindest. Wissenschaftsgeschichtlich folgt dem Ansturm auf ein neues Forschungsthema eine Phase der „Mainstream-Forschung“ mit abnehmender Originalität der Beiträge (Heinze und Jappe 2020). Zu Max Weber, Werk und Person, gibt es mittlerweile eine nicht mehr überschaubare Sekundärliteratur von tausenden Artikeln und Büchern. Auch die Originaltexte von Weber sind in der 2020 vollendeten Max-Weber-Gesamtausgabe in 47 Bänden verfügbar.Footnote 34 Schon rein quantitativ ist dieser Berg an Primär- und Sekundärliteratur furchteinflößend und abschreckend. Jüngere Wissenschaftler, die erwägen, mit und über Weber sich zu qualifizieren, benötigen Mut oder ein gewisses Maß an Masochismus „to prove that the last word has not been said on Weber“ (Strazzeri 2016, S. 91). Kultursoziologisch sind die Status- und Prestigerenditen von Geistesarbeitern zu Beginn, beim Durchbruch eines neuen Gedanken- oder Ideensystems, am größten (Archer 1988, S. 211 ff.). Der durch eine Interpretationsavantgarde initiierte ideelle Ausarbeitungs- und Komplexitätsgrad erreicht in der Folge ein Niveau, von dem aus es immer schwieriger wird, noch irgendetwas substanziell Neues und Innovatives anzubringen. Der die institutionalisierte Weber-Rezeption begründenden Forschergeneration folgen Kohorten mit abnehmenden Karrierechancen auf diesem Feld. Die Beschäftigung mit neuen Theoretikern und Themen verspricht mehr wissenschaftliches Prestige und akademisches Kapital.

Mit dem Ende der Phase der großen Theoriedebatten lässt auch das Interesse an einer Theoriegeschichte in systematischer Absicht nach. Das lässt sich etwa an den Reaktionen auf Schluchters neuere Arbeiten – er hat wie kaum ein anderer die Systematisierung Webers vorangetrieben – ablesen, die „auf ein zwar höfliches, aber reserviertes Interesse [gestoßen sind]. Schluchters Grundlegungen können deshalb als Endmoräne der großen Zeit der Theorie gelesen werden“ (Müller und Sigmund 2017, S. 4). Heutige Studierende bekommen einen Weber mit auf den Weg, der nach dem dritten Rezeptionsmuster enumerativ in die plurale Theoriegeschichte eingestellt wird oder dessen Werk wie ein „Steinbruch“ benutzt wird, aus dem man die jeweils passenden Stücke herausbricht, ohne sich um theoriesystematische Fragen zu kümmern.Footnote 35 Die Implikationen für die zukünftige Entwicklung und Wahrnehmung Webers als „Klassiker“ sind noch nicht absehbar.

Webers Soziologie ist auch inhaltlich in die Kritik geraten oder man hat sich von ihr abgewendet. In den letzten Jahrzehnten wurde ein genereller Angriff auf die großen weißen, westlichen Männer der Wissenschaft lanciert, „um die dominante Epistemologie und die universalistischen Fundamente der Sozialwissenschaften zu hinterfragen“ (Heilbron et al. 2015, S. 423).Footnote 36 In diesem Zusammenhang gerät auch Webers große Erzählung der okzidentalen Entwicklung in die Kritik. Seine langen Prozess- und Persistenzbehauptungen, die mit Begriffen wie Rationalisierung, Entzauberung, Differenzierung arbeiten, werden genauso mit Skepsis betrachtet wie die Sonderwegsthese Europas. Dies ist eine offene Diskussion, die zu keinen einheitlichen Ergebnissen geführt hat (Schwinn 2013, 2019, 2020a; Knöbl 2016; Hübinger 2019, S. 373 ff.). Es wird vermehrt und verstärkt eine relationale Globalgeschichtsschreibung vorgeschlagen, in der an die Stelle von kulturkreis-gebundenen Entwicklungspfaden, wie sie Weber in der Wirtschaftsethik der Weltreligionen vorschlägt, eine verwobene Globalgeschichte treten müsse. In der sogenannten postkolonialen Literatur verliert Europa gar sein Monopol auf Modernität generell – aktuell wie historisch. In einer Art ökumenischer Bewegung wird auch den anderen Kulturen ein Anteil an der Geschichte der Moderne zugestanden. Diese wissenschaftlichen Auseinandersetzungen kippen bisweilen ins Politische, wenn Weber im Namen von political correctness scharf angegriffen und denunziert wird: „Max Weber was an imperialist, a racist, and a Social Darwinistic nationalist, and these political positions fundamentally shaped his social scientific work“ (Zimmermann 2006, S. 53).

Die Weber-Rezeption der 1970er- und 1980er-Jahre war eine Zeit, in der Soziologie und Geschichtswissenschaft aufeinander zugingen. Die Wege haben sich in der Folgezeit wieder getrennt.Footnote 37 Langfristige Entwicklungen in den Blick nehmende Prozesskategorien, wie sie Weber im Blick hatte, sind in der heutigen Geschichts- und Sozialwissenschaft nicht prominent. Kontingenzen und Zufälligkeiten wird mehr Gewicht eingeräumt und „all dies noch dem Flackerlicht ständig wechselnder Interpretationen“ ausgesetzt (Schulze 1990, S. 85; vgl. a. Mergel 1997; Nolte 1997; Pohlig und Pollack 2020). Daher schreiben Historiker heute enorm dicke Bücher, nicht selten über 1000 Seiten, da ihnen ein konzeptioneller Rahmen fehlt, der Hinweise gibt, wann eine Erzählung zu beenden ist.

In diesem Zusammenhang kommt es zu einer Neuverhandlung von Epochenbegriffen. Während Weber die Weichenstellungen der okzidentalen Entwicklung langfristig von der Antike über das Mittelalter bis zur Reformation verfolgt, wird in einigen neueren Arbeiten die „Great Divergence“ ins 19. Jahrhundert verlegt (vgl. Cotesta 2014; Knöbl 2016, S. 407 f.; Hübinger 2019, S. 376 f.). Warum es in England und nicht in China zu einer industriellen Revolution kam, verdanke sich dem kontingenten Umstand der leichten Zugänglichkeit von Kohle und kolonialer Absatzmärkte in Nordamerika und der Karibik. Die neueren Arbeiten tun sich schwer mit der Klärung der Zurechnungsproblematik längerfristiger Entwicklungen oder gehen ihr ganz aus dem Wege. Der Historiker Paul Nolte (1997) stellt für seine Disziplin eine „widersprüchliche Vielfalt von Epochenbegriffen“ fest, in der die Einheit der Neuzeit gegenüber dem Mittelalter verschwimme. Das lässt sich auch an den Debatten über den Stellenwert der Reformation als weichenstellendem Ereignis demonstrieren (Dalferth 2017; Gregory 2017; Strohm 2008; Stolleis 2011; Strohm 2017). So wird etwa in der deutschsprachigen Konfessionalisierungsforschung keiner einzelnen Konfession mehr eine spezifische modernitätsfördernde Kulturwirkung zugestanden. Freilich ist dies eine offene Diskussion und die Fragen werden kontrovers diskutiert. Das gilt auch für die neuere sozialwissenschaftliche Debatte zur Säkularisierungstheorie (Schwinn 2019, 2020a). Auffallend ist, dass man Abstand zu Max Weber hält oder er seine Bedeutung als wichtiger Referenzautor einbüßt.

Der sinkende Stern Webers verdankt sich u. a. den bisher dargelegten allgemeinen Entwicklungen der Sozialwissenschaften, die durch die Weber-Forschung kaum zu beeinflussen sind. Allerdings hat die Weberforschung selbst auch einiges versäumt und aufzuholen. Die skizzierte nachlassende Rezeption steht in Kontrast zur Betonung der Aktualität des Klassikers für das Verständnis und die Analyse heutiger Problemlagen in der weberianischen Literatur. „Wir sind im Grunde über die Probleme, vor die sich Weber damals gestellt sah, bis heute nicht wesentlich hinausgekommen“ (Hennis et al. 1988, S. 197). An dieser Einschätzung der ungebrochenen Aktualität hält die neuere Weber-Literatur fest (Chalcraft und Whimster 2000; Scaff 2013, S. 302 ff.; Lepsius et al. 2015, S. 562; Strazzeri 2016, S. 97; Hanke et al. 2019, S. 6 f., 14 f.; Hübinger 2019, S. 372 ff.; Filippov und Farkhatdinov 2019, S. 12; Müller 2020) – zu Recht, wie ich meine, aber sie ruht sich darauf zu sehr aus. Es bleibt mehr bei der Behauptung der Aktualität Webers, sie wird nicht ausreichend durch Analysen eingelöst im Sinne der Übersetzung von Webers analytischen Konzepten und seiner Begrifflichkeit für aktuelle Diskussionen und Problemlagen.Footnote 38 Die „Weber-Industrie“ verharrt zu sehr in den eingeschliffenen Denkroutinen, dem Nachturnen der immer gleichen Gedankenfiguren. Auch das gesteigerte Interesse für die Person bringt seine Soziologie nicht voran. Dafür benötigt es einerseits die Weiterentwicklung seiner Begriffsbildung (Theoriegeschichte in systematischer Absicht) und andererseits die Aktualisierung seiner komparativen historischen Soziologie. Jene Forschergeneration, die in den 1970er-Jahren die Weberrezeption in Gang setzte, hat die ab den 1990er-Jahren diskutierten Problemlagen wie Globalisierung, ökologische Verschmutzung und Digitalisierung nicht mehr aufgegriffen. Es handelt sich dabei um Friktionen in der Abfolge von Wissenschaftlergenerationen. Wolfgang Knöbl (2016, S. 416 f.) sieht etwa in der heutigen Globalgeschichtsschreibung ein reichhaltiges Betätigungsfeld für eine weberianische Soziologie. Angesichts einer immer weiter anschwellenden Datenflut und den ausschweifenden Erzählungen zur Globalisierung werde „irgendwann der Ruf nach stärkerer Theoretisierung laut werden“. Und hier sollten sich gerade die Weberianer verpflichtet und herausgefordert fühlen, diesem Ruf zu folgen. Das Werk Max Webers ist nicht erschöpft, es muss auf die heutigen gesellschaftlichen Entwicklungen hin übersetzt und gelesen werdenFootnote 39. Das wäre dann die vierte Rezeptionsphase, die erst noch zu leisten ist.

5 Schlussbemerkungen

Ausgehend von einer Kleinstadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist Max Webers Karriere zu einem weltweit rezipierten Autor ein Jahrhundert später eine erstaunliche und beispiellose Erfolgsgeschichte. Heute ist wissenschaftliches Arbeiten verstärkt einer Fremdlegitimierung ausgesetzt. Universitäten verfügen über Kommunikations- und Marketingabteilungen, die Forschungsergebnisse durch Wissenschaftskommunikation öffentlichkeitswirksam vertreiben sollen und Vertreter des Faches nutzen jede Gelegenheit, medial in Erscheinung zu treten. Wie sind diese Anstrengungen im Lichte von 100 Jahren Rezeptionsgeschichte Max Weber zu beurteilen? Lassen sich Theorien oder Wissenschaft generell durch Öffentlichkeitsarbeit auf einen Erfolgskurs bringen? Die Rezeptionsgeschichte zu unserem Klassiker spricht dafür, dass „Klappern zum Geschäft gehört“. Im Falle Webers waren es keine Abteilungen, sondern Einzelpersonen, die die Werbetrommel in Gang setzten. Das genügt aber nicht. Fehlt die wissenschaftliche Qualität, der begriffliche und konzeptionelle Reichtum eines Werkes, sein Anschluss- und Aufschlusspotenzial für drängende Problemlagen, wird es sich nicht über Jahrzehnte in der wissenschaftlichen und öffentlichen Aufmerksamkeit halten können.

Die Faszination, die von Weber ausging und -geht, bezog sich immer zentral auf sein Werk. Dies gilt auch für die Biografien, die sich darüber einen Aufschluss für das Werk versprechen. Öffentlichkeitsarbeit wirkt an den Aufmerksamkeitskonjunkturen von Theorien und Autoren mit, über deren akademische Langlebigkeit wird aber in der Wissenschaft selbst entschieden. Insofern steht die 100-jährige Rezeptionsgeschichte zu Max Weber auch für ein Funktionieren des Wissenschaftsbetriebs selbst: Er hat das Werk eines Autors, der durch seine Krankheit über die längste Zeit seines Lebens außerhalb der Universität stand und über Jahrzehnte nach seinem Tod nur wenig Aufmerksamkeit bekam, ins Zentrum geholt. Ob allerdings das Entdeckungspotenzial von Wissenschaft heute noch in dieser Breite angelegt ist, mag man bezweifeln. Sie ist weniger offen für nichtstandardisierte Karrieren und sie honoriert heute andere Qualitäten. Die Klassikerdämmerung Webers ist unverkennbar. Es steht nicht zu befürchten, dass er aus dem soziologischen Kanon und Gedächtnis verschwindet. Die Soziologie hatte nie ein Monopol auf ihn. Und so mag es sein, dass das Interesse an Weber außerhalb der akademischen Welt lebendiger bleibt, wie dies in der ersten Rezeptionsphase schon einmal der Fall war. „It is telling that on the commentary pages of the Financial Times, a newspaper read most assidueously by the international elite, Weber is routinely invoked—far more frequently than empirical sociology is, and more often than the kind of ‚public sociology‘ that aspires to influencing public opinion. The audience of the Financial Times is interested in understanding the world … The fact that century-old texts help them do it is evidence enough that the concepts of classical social theory … are often as useful as ever, and that the needs remain“ (Turner, St. 2016, S. 563). Es besteht also Anlass zur Hoffnung!