Unterqualifikation, Standardisierung und Schließung
Eine formale Fehlqualifikation („educational mismatch“) liegt vor, wenn das Anforderungsniveau einer beruflichen Tätigkeit nicht zu der individuellen formalen Qualifikation passt (vgl. Leuven und Oosterbeek 2011).Footnote 2 Bei einer formalen Unterqualifikation liegt das individuelle formale Qualifikationsniveau unterhalb jenes Qualifikationsniveaus, das für die Ausübung einer Tätigkeit üblicherweise notwendig ist. Formal Unterqualifizierte sind dadurch aber nicht per se ungeeignet für ihre Tätigkeiten. Ob eine tatsächliche Fehlallokation der Kompetenzen vorliegt, wird durch die sogenannte fähigkeitsbezogene Fehlqualifikation („skill mismatch“) beschrieben. Die Forschung zu Fehlqualifikationen nahm gerade zu Beginn an, dass formale Fehlqualifikationen auch fähigkeitsbezogene Fehlqualifikationen sind (Freeman 1976; Smith und Welch 1978). Neuere Untersuchungen kommen hingegen zu dem Ergebnis, dass dies nur selten der Fall ist (Allen und van der Velden 2001; Green und McIntosh 2007; Prokic-Breuer und McManus 2016). So konnten beispielsweise Rohrbach-Schmidt und Tiemann (2016) auf Grundlage der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung des Jahres 2006 für Deutschland zeigen, dass sich formal Unterqualifizierte genauso selten überfordert fühlen wie adäquat Qualifizierte. Formal Unterqualifizierte verdienen hierbei in der Regel mehr als Beschäftigte mit gleicher formaler Qualifikation, die auf entsprechend niedrigeren Positionen passend qualifiziert sind. Allerdings müssen sie im Vergleich zu formal passend qualifizierten Arbeitnehmern auf den gleichen Stellen häufig einen Lohnabschlag in Kauf nehmen (Hartog 2000; Leuven und Oosterbeek 2011; Rubb 2003).
Unter der beruflichen Standardisierung wird in diesem Beitrag der Grad verstanden, zu dem Berufe durch räumlich und zeitlich vergleichbare (Aus‑)Bildungsabschlüsse (in diesem Fall „Zertifikate“) geprägt sind. Solche Zertifikate können innerhalb von Berufen eine Hürde im Zugang zu höheren Positionen darstellen, da die Ausübung einer Tätigkeit zwar nicht rechtlich, aber informell an standardisierte Zertifikate geknüpft werden kann. Eine formale Reglementierung der Berufsausübung liegt hingegen vor, wenn sie rechtlich an (Aus‑)Bildungstitel (in diesem Fall „Lizenzen“) geknüpft ist. Weil eine formale Unterqualifikation in lizenzierten Berufen rechtlich in den allermeisten FällenFootnote 3 ausgeschlossen ist, wird die berufliche Lizenzierung in der vorliegenden Arbeit nicht explizit untersucht.
Das Konzept der beruflichen Schließung, welches im folgenden Kapitel detaillierter diskutiert wird, beruht auf dem Konzept der sozialen Schließung von Max Weber. So sind Beziehungen (Gruppen, Organisationen, Märkte) nach Weber sozial „nach außen“ geschlossen, wenn sie die „Teilnahme ausschließen oder beschränken oder an Bedingungen knüpfen“ (Weber 1964, S. 31). Die Geschlossenheit hat für die Mitglieder den Vorteil, dass der Wettbewerb mit Außenstehenden reduziert ist. Neben dieser Geschlossenheit „nach außen“ führt Weber auch die Geschlossenheit „nach innen“ an (Weber 1964, S. 31 ff.). Hierbei sind Beziehungen unter den „Beteiligten selbst und im Verhältnis dieser zueinander“ (Weber 1964, S. 33) sozial „nach innen“ geschlossen. Mit Blick auf die berufliche Strukturierung von Arbeitsmärkten wäre ein Beruf demnach „nach außen“ geschlossen, wenn die grundsätzliche Ausübung eines Berufs nur einem ausgewählten Kreis von Personen gewährt wird. Gerade reglementierte Berufe sind stark „nach außen“ geschlossen, weil die Berufsausübung rechtlich nur jenen vorbehalten ist, die eine Lizenz vorweisen können. Ein Beruf ist hingegen „nach innen“ geschlossen, wenn die Positionierung in berufsspezifischen Hierarchien – und damit das Verhältnis der an einem Beruf Beteiligten – an Bedingungen geknüpft wird. Eine solche Bedingung können standardisierte (Aus‑)Bildungsabschlüsse darstellen, obwohl sie grundsätzlich auch den Zugang zu Berufen erschweren und damit „nach außen“ schließen können. Da sich dieser Beitrag aber mit der formalen Unterqualifikation innerhalb von Berufen und der Abhängigkeit dieser von der beruflichen Standardisierung beschäftigt, wird die berufliche Geschlossenheit im Folgenden vor allem als Geschlossenheit „nach innen“ verstanden.
Berufliche Schließung durch Standardisierung
Mit dem Konzept der beruflichen Schließung überträgt Weeden (2002) Webers Argumente zur sozialen Schließung auf beruflich strukturierte Arbeitsmärkte und unterscheidet bei den zugrunde liegenden Mechanismen zwischen der Angebots- und der Nachfrageseite. Mit Blick auf die in einem Beruf relevanten (Aus‑)Bildungsabschlüsse und deren Standardisierung sind zwei der insgesamt vier MechanismenFootnote 4 hervorzuheben: die Verknappung des Arbeitskräfteangebots und die Signalisierung der fachlichen Qualität von Leistungen.
Die berufliche Standardisierung hängt unmittelbar mit dem Mechanismus der Verknappung des Arbeitskräfteangebots zusammen. So wird im Sinne dieses Mechanismus der Wettbewerb um Stellen auf Personen reduziert, die bestimmte Zertifikate vorweisen können. Das kann ein zentrales Informationsdefizit reduzieren, mit dem Arbeitgeber bei Einstellungs- und Beförderungsentscheidungen konfrontiert sind. So versuchen sie, die Bewerber oder Mitarbeiter mit dem höchsten Humankapital auszuwählen (Becker 1964), das beispielsweise durch formale Bildung und informelles Lernen am Arbeitsplatz erworben wurde (vgl. Mincer 1974). Allerdings ließe sich das gesamte Humankapital nur näherungsweise und durch aufwendige Auswahlprozesse feststellen, die mit langen Vakanzzeiten und hohen Kosten einhergingen. Aufgrund dieser asymmetrischen Informationslage verlassen sich Arbeitgeber im Sinne der Signalingtheorie (Spence 1973; Stiglitz 1975) auf leicht beobachtbare Signale wie beispielsweise Zertifikate. Die Auswahlentscheidung basiert dann auf Wahrscheinlichkeitsannahmen über die tatsächliche Leistungsfähigkeit von Personen mit bestimmten Zertifikaten (Spence 1973, S. 359). Hierbei kann angenommen werden, dass Arbeitgeber standardisierten Zertifikaten eine höhere Signalkraft beimessen als unstandardisierten Zertifikaten (vgl. Sengenberger 1987, S. 127). Bei ausreichendem Angebot an qualifizierten Bewerbern dürfte es demnach für Arbeitgeber in Berufen mit standardisierten (Aus‑)Bildungsabschlüssen einfacher sein, vakante Stellen zu besetzen. Dengler et al. (2016) konnten diesbezüglich auf Basis administrativer Daten der Bundesagentur für Arbeit zeigen, dass stark standardisierte Berufe tatsächlich eine erhöhte AllokationseffizienzFootnote 5 aufweisen. Je standardisierter ein Beruf also ist, desto geringer sind die Suchkosten für Arbeitgeber.Footnote 6
Hierbei können zwei unterschiedliche Perspektiven auf die Wirkung dieses Schließungsmechanismus eingenommen werden (vgl. Weeden 2002). Die erste Perspektive stellt darauf ab, dass die (Aus‑)Bildung die tatsächlich notwendigen Fähigkeiten vermittelt, die zur Ausübung einer beruflichen Tätigkeit erforderlich sind. Dadurch wird die Anzahl der potenziellen Kandidaten für höhere Stellen auf jene Personen reduziert, die die relevanten Fähigkeiten mitbringen (Parkin 1979). Die zweite Perspektive stellt den Kompetenzerwerb in den Hintergrund und fokussiert den kulturellen Wert von Zertifikaten (Bourdieu 1983; Collins 1979). Demnach ist es vor allem wichtig, dass alle relevanten Marktteilnehmer „daran glauben“, dass die Zertifikatsinhaber die relevanten Fähigkeiten besitzen (Weeden 2002, S. 62) – eine Interpretation, die auch als Kredentialismus bekannt ist. Interessanterweise kann das auch bei einer geringen Korrelation zwischen Zertifikaten und Kompetenzen dazu führen, dass Berufe stark geschlossen sind. Unter Auslassung weiterer Einflussfaktoren vereint beide Perspektiven die folgende Schlussfolgerung: Je stärker Berufe durch standardisierte (Aus‑)Bildungsgänge geprägt sind, desto stärker wird sich der Wettbewerb um die vakanten Stellen auf Inhaber der entsprechenden Zertifikate konzentrieren.
Der eher indirekte, aber dennoch relevante Schließungsmechanismus ist jener der Qualitätssignalisierung, der stark mit der Verknappung des Arbeitskräfteangebots zusammenhängt. Den Akteuren, die innerhalb von Berufen aktiv sind (Unternehmen, Verbände, etc.), helfe die berufliche Standardisierung dabei, den Kunden zu signalisieren, dass Leistungen von gut ausgebildeten Personen auf einem bestimmten Qualitätsniveau erbracht werden (vgl. Weeden 2002). Je mehr Personen also beispielsweise ohne entsprechende Zertifikate höhere Tätigkeiten ausüben, desto schwieriger ist es für die Akteure, mithilfe der Zertifikate eine hohe Qualität von Leistungen zu signalisieren. Auch dies spricht dafür, dass in stärker standardisierten Berufen der Anreiz geringer ausfallen dürfte, höhere Stellen mit Personen ohne entsprechende Zertifikate zu besetzen. Aufgrund der diskutierten Mechanismen der beruflichen Schließung durch Standardisierung ist mit Blick auf die Unterqualifikation insgesamt zu erwarten:
H 1
Je höher der Standardisierungsgrad eines Berufs ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit für Beschäftigte, in diesem Beruf formal unterqualifiziert zu sein.
Gleiche Schließung bei in- und ausländischen Abschlüssen?
Des Weiteren stellt sich nun die Frage, ob sich ein solcher Schließungseffekt zwischen Migranten und Personen ohne Migrationshintergrund unterscheidet. Unter der Annahme, dass die berufliche Schließung durch Standardisierung vor allem den Ausschluss von formal nicht ausreichend (also zu gering) qualifizierten Beschäftigten bewirkt, dürfte es keine Rolle spielen, woher die nicht ausreichenden Zertifikate stammen. Hierbei würden institutionelle Unterschiede zwischen Drittstaaten und Deutschland bei der Einstellung und Positionierung von Arbeitnehmern nicht berücksichtigt. Wenn die berufliche Schließung entlang der Standardisierung in dieser Form kontextunsensibel ist und vor allem entlang der Qualifikationshöhe wirksam wird, sollten nicht ausreichende (also zu niedrige) in- und ausländische Zertifikate in standardisierten Berufen gleich stark sanktioniert werden. Eine formale Unterqualifikation müsste demnach in standardisierten Berufen für beide Gruppen gleichsam schwieriger sein:
H 2
Der schließende Effekt der beruflichen Standardisierung wirkt sich bei Migranten und Personen ohne Migrationshintergrund gleich stark auf die Wahrscheinlichkeit aus, formal unterqualifiziert beschäftigt zu sein.
Wenn diese Hypothese nicht zutreffen sollte, fällt der schließende Effekt der beruflichen Standardisierung bei Migranten entweder stärker oder schwächer aus als bei Personen ohne Migrationshintergrund. Dies würde bedeuten, dass Arbeitgeber (fehlende) ausländische Zertifikate systematisch unterschiedlich bewerten als (fehlende) inländische Zertifikate.
Sollten Migranten in standardisierten Berufen stärker von höheren Stellen ausgeschlossen sein, so könnte dies darauf hindeuten, dass Arbeitgeber gerade in standardisierten Berufen die zu niedrigen ausländischen Zertifikate aufgrund ihrer geringeren Signalkraft sanktionieren. Während angenommen werden kann, dass Arbeitgeber in Deutschland bereits klare Wahrscheinlichkeitsannahmen über die Signalkraft deutscher (Aus‑)Bildungsabschlüsse haben, ist dies bei ausländischen Abschlüssen eher unplausibel. Damelang und Abraham (2016) konnten diese Vermutung mit einer Vignettenstudie zum Einstellungsverhalten von Unternehmen bestätigen. So bevorzugen Arbeitgeber in Deutschland Bewerber mit deutschen Zertifikaten gegenüber Migranten mit ausländischen Zertifikaten. Das könnte beispielsweise bedeuten, dass sich Arbeitgeber bei der Besetzung einer Akademikerstelle im Zweifel eher für den – zwar zu niedrigen, aber immerhin bekannten – deutschen Ausbildungsabschluss und gegen einen vergleichbaren ausländischen Abschluss entscheiden. Selbst bei fehlender beruflicher Qualifikation können Arbeitgeber in der Regel noch auf deutsche Schulabschlüsse zurückgreifen, deren Signalwert wohl häufig ebenfalls höher sein dürfte als jener von ausländischen Schulabschlüssen.
Wenn der schließende Effekt der Standardisierung allerdings schwächer ausfällt, könnte dies darauf hindeuten, dass Arbeitgeber die Möglichkeiten („opportunity sets“, Spence 1973, S. 370) des Signalerwerbs berücksichtigen. Da ein berufliches Ausbildungssystem wie in Deutschland vor allem in Drittstaaten kaum existiert, kann davon ausgegangen werden, dass sich bei formal nicht qualifizierten Migranten um eine sehr heterogene Gruppe hinsichtlich ihrer Fähigkeiten handelt. Viele Berufe werden gerade in Drittstaaten informell am Arbeitsplatz und ohne formale Zertifizierung erlernt. Wenn in solchen Fällen die Einstellung und Positionierung trotzdem an formale Qualifikation geknüpft wird, erhöht dies das Risiko für Arbeitgeber, leistungsfähige Personen fälschlicherweise nicht auszuwählen oder zu niedrig zu positionieren (vgl. Schaeffer et al. 2015; Solga 2005). Diesbezüglich konnten Damelang et al. (2019a) in einer Vignettenstudie zum Einstellungsverhalten von Unternehmen zeigen, dass Arbeitgeber fehlende Zertifikate mit der Berufserfahrung aufwiegen, wenn das (Berufs‑)Bildungssystem des Herkunftslands nicht standardisiert ist und kaum spezielle berufspraktische Kompetenzen vermittelt. Hinsichtlich der beruflichen Standardisierung kann ferner angenommen werden, dass das Bewusstsein über die (Nicht‑)Existenz ausländischer Abschlüsse bei Arbeitgebern in standardisierten Berufen höher ist. Vor allem die institutionellen Unterschiede in den (Berufs‑)Bildungssystemen könnten also dazu führen, dass die berufliche Schließung bei Migranten ohne berufsqualifizierende Abschlüsse weniger wirksam wird.
Ökonomischer Druck, Diskriminierung und Netzwerke als alternative Erklärungen
Wie erläutert, beruht die berufliche Schließung auf der Angebotsseite vor allem auf der Verknappung des Arbeitskräfteangebots. Daher ist es grundsätzlich möglich, dass ein Schließungseffekt durch einen höheren ökonomischen Druck in standardisierten Berufen verdeckt wird. So kann ein geringes Arbeitskräfteangebot nämlich dazu führen, dass Arbeitgeber von ihren üblichen Auswahlentscheidungen abweichen (müssen) (vgl. Damelang et al. 2019a), was zunächst nicht unmittelbar mit der hier vermuteten Wirkung der Standardisierung zusammenhängt. Um möglichst auszuschließen, dass die Ergebnisse durch ein sehr geringes Arbeitskräfteangebot in standardisierten Berufen verzerrt werden oder sich gerade unterschiedliche Schließungseffekte zwischen Migranten und Personen ohne Migrationshintergrund durch unterschiedlich starken ökonomischen Druck in den Berufen ergeben, wird die Arbeitslosigkeit in den Berufen bei den Analysen berücksichtigt.
Die erläuterten Wahrscheinlichkeitsannahmen über die mutmaßlich höhere Produktivität von Zertifikatsinhabern können dazu führen, dass Personen mit einer vergleichbaren Produktivität ausschließlich aufgrund des fehlenden Zertifikats ausgeschlossen werden. Eine solche Auswahl bei Einstellungs- und Beförderungsentscheidungen könnte auch reine statistische Diskriminierung darstellen (Phelps 1972). Dies lässt sich zwar nicht direkt ausschließen, widerspricht den dargelegten theoretischen Argumenten im Sinne des kulturellen Werts von Zertifikaten allerdings auch nicht. Neben dieser statistischen Diskriminierung lässt sich gerade mit Hinblick auf Migranten auch die „härtere“ Diskriminierung aufgrund von individuellen Präferenzen der Entscheidungsträger als alternative Erklärung anführen („taste-based discrimination“, Becker 2010). So könnten Arbeitgeber die Herkunft der Beschäftigten nutzen, um (un-)bewusst Personen auszuwählen, die ihnen ähnlich sind und jene auszuschließen, die ihnen unähnlich sind. Solche und ähnliche Entscheidungen werden empirisch häufig beobachtet und sind unter dem Begriff Homophilie bekannt (McPherson et al. 2001).Footnote 7 Darüber hinaus könnten sich Unterschiede in den Unterqualifikationswahrscheinlichkeiten ergeben, die sich durch Netzwerkeffekte erklären lassen (Alaverdyan 2018; Chort 2017; Haas et al. 2013). So könnten Migranten durch persönliche Empfehlungen gerade in Berufen eine Anstellung in Unterqualifikation bekommen, in denen bereits viele Migranten arbeiten. Um möglichst sowohl Homophilie- als auch Netzwerkeffekte auszuschließen, wird der Anteil der Beschäftigten ohne deutsche Staatsangehörigkeit in den Berufen bei den Analysen berücksichtigt.