1 Einleitung

Die letzten drei bis vier Jahrzehnte sind durch eine drastische Zunahme von Einkommensungleichheit gekennzeichnet. Abbildung 1 zeigt die Entwicklung der Lohnquote, dem zentralen Maß der funktionalen Einkommensverteilung, zwischen 1970 und 2014 im Durchschnitt aus 14 MitgliedsstaatenFootnote 1 der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Die Lohnquote bewegt sich gegen den Konjunkturzyklus, da die Profite in einer Rezession stark sinken und im Aufschwung rasch wachsen, während Lohneinkommen aufgrund nominell fixierter Verträge typischerweise stabiler sind. Bemerkenswert ist jedoch der längerfristige Trend: Zwischen 1975, als die durchschnittliche Lohnquote für die Länder unseres Datensatzes ihren höchsten Wert von gut 72 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aufwies, und 2014 gab es einen Fall der Lohnquote um etwa 9 Prozentpunkte.

Abb. 1
figure 1

Lohnquote, 1970–2014, (ungewichteter) Durchschnitt aus 14 OECD Ländern. Datenquelle: AMECO, eigene Berechnungen. Hinweis: Die Lohnquote misst den Anteil des Lohneinkommens am Gesamteinkommen. Sie beinhaltet das Einkommen selbstständig Beschäftigter und bezieht sich auf das Bruttoinlandsprodukt zu Faktorpreisen

Im gleichen Zeitraum lässt sich noch eine andere sozioökonomische Entwicklung beobachten, die oft als Finanzialisierung bezeichnet wird und zum einen durch das Wachstum des Finanzsektors, zum anderen durch den stärkeren Einfluss finanzieller Motive und Interessen in der Gesamtwirtschaft gekennzeichnet ist. Darunter werden verschiedene Phänomene gefasst, unter anderem finanzielle Liberalisierung und Deregulierung, Verbriefung von Wertpapieren und Wachstum von Schattenbanken, Shareholder-Value-Orientierung und steigende Haushaltsverschuldung. Die empirische Literatur über Finanzialisierung hat sich bisher vor allem auf ihre Effekte auf finanzielle Instabilität und Finanzkrisen (Lapavitsas 2009; Herr 2013; Guttmann 2016, Kap. 2 und 4), Realinvestitionen (Stockhammer 2004; Orhangazi 2008; Davis 2013; Tori und Onaran 2017) sowie Unternehmensführung und Beschäftigung (Lazonick 1992; Lazonick und O’Sullivan 2000) konzentriert. Des Weiteren wurden die Subjektivitäten und Normen finanzialisierter Individuen analysiert (Langley 2007; Fligstein und Goldstein 2015). Der Effekt von Finanzialisierung auf die funktionale Einkommensverteilung wurde bisher weniger intensiv untersucht. Einige Autoren weisen auf einen Zusammenhang zwischen Finanzialisierung und zunehmender Ungleichheit hin (Palley 2007; Lapavitsas 2013), aber identifizieren keine konkreten Mechanismen und liefern keine empirische Evidenz.Footnote 2 Hein (2015) präsentiert die bisher elaborierteste theoretische Diskussion des Einflusses von Finanzialisierung auf die Lohnquote. Jayadev (2007), Lin und Tomaskovic-Devey (2013), Alvarez (2015), Dünhaupt (2016), Wood (2016) und Stockhammer (2017) legen ökonometrische Evidenz für einen negativen Effekt von Finanzialisierung auf die Lohnquote vor. Allerdings testen die existierenden Studien meist nur je ein Maß für Finanzialisierung, was angesichts des multidimensionalen Charakters dieses Phänomens unbefriedigend ist. Zudem gibt es bisher kaum Studien, die den Zeitraum nach der Großen Rezession (2009) mitberücksichtigen.Footnote 3

Dieser Artikel verfolgt drei Ziele. Erstens präsentieren wir eine präzise Beschreibung der Schlüsselaspekte von Finanzialisierung im Außen‑, Finanz‑, Firmen- und Haushaltssektor. Zweitens werden vier distinkte kausale Effekte, über die Finanzialisierung die funktionale Einkommensverteilung beeinflussen kann, identifiziert. Drittens operationalisieren wir die theoretischen Hypothesen durch empirische Maße und testen ihren Effekt auf die Lohnquote auf Grundlage von Daten für 14 OECD Länder über den Zeitraum 1992–2014.

Wir verstehen Finanzialisierung als multidimensionales Phänomen, das sich nicht auf ein einziges quantitatives Maß reduzieren lässt, sondern sich räumlich und zeitlich auf unterschiedliche Art manifestiert (Karwowski et al. 2017). Auf der internationalen Ebene stellt sie sich als Liberalisierung von Kapitalmärkten dar, die zu volatilen Kreditströmen und stärkerer finanzieller Interdependenz führt. Auf der nationalen Ebene beobachten wir wachsende Finanzsektoren, die sich auf Investmentbanking und Schattenbankengeschäfte konzentrieren, was mit kurzsichtigem Investitionsverhalten und Vermögenspreisblasen einhergeht. Finanzialisierung schlägt sich auf Firmenebene in Form von steigenden finanziellen Kosten, aber auch finanziellen Investitionen nieder. Eine Shareholder-Value-Orientierung drängt Manager dazu, kurzfristige Gewinne für Aktionäre zu gewährleisten, oft auf Kosten langfristiger Investitionen. Schließlich erfahren Haushalte Finanzialisierung zum einen als leichteren Zugang zu Krediten und damit steigender Verschuldung, zum anderen aber auch als stärkere Teilhabe in Finanzmärkten.

Wir identifizieren in der Finanzialisierungsliteratur folgende Effekte auf die funktionale Verteilung: verbesserte Exit-Optionen von Firmen, steigende finanzielle Kosten für Firmen, wachsender Wettbewerb auf Kapitalmärkten und Shareholder-Value-Maximierung sowie schwächere Verhandlungsmacht von Arbeitern durch Verschuldung. Unsere empirische Analyse zeigt starke regressive Verteilungseffekte von Finanzialisierung: Finanzzahlungen von Unternehmen und finanzielle Offenheit für internationale Kapitalströme üben statistisch signifikante negative Effekte auf die Lohnquote aus.

In Abschn. 2 führen wir das Konzept der Finanzialisierung ein und beschreiben ihre Schlüsselmerkmale in vier Sektoren der Volkswirtschaft. Anschließend diskutieren wir verschiedene Mechanismen und empirische Studien, die analysieren, wie Finanzialisierung auf die funktionale Einkommensverteilung wirkt. In Abschn. 3 beschreiben wir unseren Datensatz, unsere ökonometrische Methode und präsentieren die empirischen Ergebnisse. Der letzte Abschn. 4 zieht Schlussfolgerungen und gibt einen Ausblick auf zukünftige Forschung.

2 Finanzialisierung: Definition, Dimensionen und Verteilungsfolgen

2.1 Definition und Dimensionen

Der Begriff der Finanzialisierung wird seit Anfang der 2000er Jahre verstärkt in der sozialwissenschaftlichen Forschung verwendet, um mehrere strukturelle sozio-ökonomische Veränderungen zusammenzufassen, die vor allem in reichen Ländern in den letzten drei bis vier Jahrzehnten stattgefunden haben. Lapavitsas (2013, S. 3) beschreibt diesen Strukturwandel treffend als „unprecedented expansion of financial activities, rapid growth of financial profits, permeation of economy and society by financial relations, and domination of economic policy by the concerns of the financial sector“. Aufgrund der Diversität der empirischen Phänomene, die mit dem Begriff der Finanzialisierung umfasst werden, fällt eine Definition notwendigerweise deskriptiv und breit aus.Footnote 4 Ein Definitionsvorschlag, der mittlerweile von vielen Autoren akzeptiert wird, stammt von Epstein (2005, S. 3): „financialisation means the increasing role of financial motives, financial markets, financial actors and financial institutions in the operation of the domestic and international economies“.

Einige Autoren begreifen Finanzialisierung als zentrale Triebkraft des Neoliberalismus, der auf der Wiederherstellung der sozialen Macht der RentierklasseFootnote 5 beruhe (z. B. Duménil und Lévy 2005), während andere Finanzialisierung eher als Nebenprodukt neoliberaler Deregulierung auffassen (z. B. Kotz 2010). In diesem Abschnitt beschränken wir uns auf eine deskriptive Perspektive und heben einige empirische Aspekte und Folgen von Finanzialisierung hervor, die wir als zentral erachten. Wir folgen Stockhammer (2013) und Lapavitsas (2013) und analysieren Finanzialisierung in vier volkswirtschaftlichen Hauptsektoren: dem Außensektor, das heißt der internationalen Ebene, dem Finanzsektor, dem Firmensektor und dem Haushaltssektor.

2.1.1 Erhöhte internationale Kapitalmobilität und finanzielle Interdependenz

Das Ende des Bretton-Woods Systems fester Wechselkurse und regulierter Kapitalströme (1944–1973) läutete eine Phase schrittweiser Liberalisierung internationaler Kapitalmärkte ein. Eine Folge der Aufhebung rechtlicher Schranken für grenzüberschreitende Finanztransaktionen ist erhöhte Kapitalmobilität. Eng damit verbunden ist eine verstärkte internationale finanzielle Interdependenz in Form eines drastischen Anstiegs externer Forderungen und Verbindlichkeiten. Beide Entwicklungen werden von vielen Autoren als zentrale Aspekte von Finanzialisierung betrachtet (ILO 2008, Kap. 2; Stockhammer 2013; Herr 2013). Erhöhte Kapitalmobilität schlägt sich in einer starken Zunahme des Volumens internationaler Finanzströme nieder. Vermögensbesitzer und Banken haben Zugriff auf ein breiteres Angebot an Finanzprodukten unterschiedlicher Liquidität, Risiko und Profitabilität. Dadurch bieten sich auch Schuldnern günstigere Gelegenheiten, sich auf internationaler Ebene mit Geld zu versorgen. Ein sich häufendes Phänomen sind Perioden starker Kapitalzuflüsse, während derer sich heimische Banken, Firmen oder auch Regierungen im Ausland verschulden (Reinhart und Reinhart 2009). Diese Episoden enden oftmals in Schulden- und Währungskrisen, sogenannte Zwillingskrisen (Kaminsky und Reinhart 1999), in denen die heimische Währung stark abwertet und zahlreiche Banken und Firmen bankrottgehen. Oft liegen die Auslöser der Krise in externen Faktoren, zum Beispiel veränderten Risikoeinschätzungen internationaler Anleger oder der Geldpolitik in den globalen Finanzzentren, die zu abrupten Richtungswechseln internationaler Kapitalströme führen (Ghosh et al. 2016). Solche Krisen gehen in der Regel mit einem starken Rückgang der Wertschöpfung und hoher Arbeitslosigkeit einher. Regierungen sehen sich daher zunehmendem Druck ausgesetzt, das Vertrauen internationaler Investoren zu erhalten, zum Beispiel durch stärkere Haushaltsdisziplin (Kim 2003).

2.1.2 Wachstum des heimischen Finanzsektors, „short-termism“ und Vermögenspreisblasen

Die nationalen Finanzsektoren sind seit etwa der zweiten Hälfte der 1970er Jahre ebenfalls durch beachtliche Strukturveränderungen gekennzeichnet. Zunächst lässt sich eine Zunahme der Größe des Finanzsektors relativ zu anderen ökonomischen Sektoren konstatieren (Deutschmann 2011; Stockhammer 2013). Dies betrifft sowohl finanzielle Profite (Duménil und Lévy 2004; Krippner 2005) als auch Wertschöpfung und Beschäftigung (Greenwood und Scharfstein 2013; Guttmann 2016, Kap. 4). Neben dem bloßen Wachstum des Finanzsektors haben sich auch die Hauptquellen der Umsätze im Finanzgeschäft verändert. So kann ein Wechsel vom traditionellen Bankgeschäft (Kredite vergeben und Einlagen entgegennehmen) hin zu Investmentgeschäften wie Vermögensverwaltung, Verbriefung (securitization) und Handel mit Finanzprodukten beobachtet werden (Windolf 2005; Greenwood und Scharfstein 2013; Guttmann 2016, Kap 4). Ein Großteil des Gewinns von Banken speist sich mittlerweile aus Gebühren für Vermögensverwaltung und Veräußerungsgewinnen (capital gains).Footnote 6 Das traditionelle Bankengeschäft, bei dem Bankprofite durch Zinsmargen, also der Differenz aus Kredit- und Einlagezinssätzen, erwirtschaftet werden, hat hingegen an Bedeutung verloren. Eng damit verbunden ist die Entstehung beachtlicher Schattenbankensysteme (Windolf 2005; Guttmann 2016, Kap. 5). Das sind Netzwerke verschiedener finanzieller Institutionen, die zur Tranchierung und Verbriefung von Hypothekenkrediten jenseits öffentlicher Bankenregulierung dienen. Verbriefung mittels des Schattenbankensystems erlaubt es Geschäftsbanken, Kreditgeschäfte auch mit weniger kreditwürdigen Haushalten einzugehen (Lapavitsas, 2009): Wertpapiere verschiedener Güte werden gebündelt und mit scheinbar geringem Kreditausfallrisiko weiterverkauft, weil die zu Grunde liegenden Risiken oftmals nicht transparent sind. Dies kann verheerende Folgen für die Stabilität des Finanzsektors und damit des gesamten Wirtschaftssystems haben, wie während der Finanzkrise 2007/2008 deutlich wurde. Ein weiteres Phänomen ist das Wachstum institutioneller Anleger wie Pensions- und Investmentfonds, die in starker Konkurrenz um die Einlagen von Kunden stehen. Einlagen werden dementsprechend durch möglichst hohe, kurzfristige Gewinnversprechen angelockt. Diese Konstellation führt zu einem starken Anstieg der Umlaufgeschwindigkeit von Wertpapieren, insbesondere Aktien, mit denen institutionelle Anleger handeln. Der Zeithorizont finanzieller Anleger verschiebt sich dadurch von lang- zu kurzfristigen Investitionen. Mit Blick auf die USA konstatiert Crotty: „Intense competition between institutional investors to get and hold contracts to manage large portfolios led to constant asset ‚churning‘ in pursuit of short-term capital gains. […] On average, stocks are now held for just one year“ (2003, S. 274). Dieses Verhalten wird auch als Kurzsichtigkeit (short-termism) bezeichnet.

Das Wachstum institutioneller Anleger und Kurzsichtigkeit stehen in enger Verbindung mit der Zunahme von Vermögenspreisblasen, zum Beispiel in Aktien oder Immobilienmärkten (Herr 2013). Blasen beruhen typischerweise auf einem Anstieg des Kreditangebots, das genutzt wird, um Wertpapiere oder Immobilien zu erwerben. Diese Vermögensbestände dienen wiederum als Sicherheiten für die Vergabe weiterer Kredite, sodass Vermögenspreisblasen eine sich selbstverstärkende Tendenz aufweisen (Minsky 2016 [1982], Kap. 5). Die Existenz von institutionellen Anlegern und Schattenbanken, die mit neuartigen Finanzprodukten in deregulierten Märkten handeln, hat die Häufigkeit und Intensität von Finanzblasen erhöht. In den USA, beispielsweise, gab es in den letzten drei Jahrzenten drei Vermögenspreisblasen: Zwei Aktienblasen, getrieben durch eine Welle von Fusionen und Firmenübernahmen (1984–87) und den Boom der Internetfirmen (1997–2000), und eine Immobilienpreisblase (2002–07), die schließlich in der großen Finanzkrise von 2008 geendet ist (Guttmann 2016, Kap. 4). Steigende Vermögenspreise werden auch in Studien, die mehrere Länder umfassen, als zentrale Bestandteile von Finanzzyklen betrachtet, deren obere Wendepunkte oft mit systemischen Finanzkrisen und Rezessionen einhergehen (Borio 2014).

2.1.3 Finanzialisierung von Firmen: finanzielle Kosten, finanzielle Anreize und Shareholder-Value-Orientierung

Die Finanzialisierung nicht-finanzieller FirmenFootnote 7 hat ihren Ursprung in den USA in den 1980er Jahren mit der Entstehung eines Marktes für Unternehmenskontrolle (Lazonick 1992; Holmstrom und Kaplan 2001; Windolf 2005) – eine Entwicklung, die in engem Zusammenhang mit der vorhergegangenen Konzentration von Aktieneigentum in den Händen institutioneller Anleger steht (Lazonick und O’Sullivan 2000; Crotty 2003). Auf dem Markt für Unternehmenskontrolle können ganze Firmen gekauft und verkauft werden. Dadurch steht das Firmenmanagement zunehmend unter Druck, für steigende Aktienpreise zu sorgen, um feindliche Übernahmen und damit verbundene Restrukturierungen des Betriebs zu vermeiden. Unternehmen sehen sich oftmals gezwungen, höhere Schulden aufzunehmen, um entweder ihre eigenen Aktien zurückzukaufen und dadurch deren Preis in die Höhe zu treiben (Lazonick und O’Sullivan 2000) oder schlichtweg um ihre Bilanzen unattraktiver für feindliche Übernahmen zu machen (Lazonick 1992). Dividendenausschüttungen sind eine weitere Maßnahme um Aktienpreise zu erhöhen, was zu einem Rückgang des Anteils einbehaltener Gewinne am Einkommen des Firmensektors geführt hat (Crotty 2003; van Treeck 2009). Unternehmen sehen sich daher einer verstärkten finanziellen Last in Form hoher Schulden und finanzieller Zahlungen (Dividenden) ausgesetzt. Um die Interessen der Aktionäre zu bedienen (die sogenannte Shareholder-Value-Orientierung) und feindliche Übernahmen abzuwenden, stehen Manager unter Druck, Ineffizienzen abzubauen und Kosten zu reduzieren, insbesondere durch Entlassungen und Lohnkürzungen:

„In the name of ‚creating shareholder value‘, the past two decades have witnessed a marked shift in the strategic orientation of top corporate managers in the allocation of corporate resources and returns away from ‚retain and reinvest‘ and towards ‚downsize and distribute‘. Under the new regime, top managers downsize the corporations they control, with a particular emphasis on cutting the size of the labour forces they employ, in an attempt to increase the return on equity“ (Lazonick und O’Sullivan 2000, S. 18).

Das Erzwingen einer finanziellen Profitabilitätsnorm wurde vom ökonomischen Mainstream durchaus positiv gesehen. Holmstrom und Kaplan (2001) zum Beispiel begrüßen die dadurch induzierten Veränderungen in der Unternehmensführung, weil sie nicht nur den Marktwert der Firma erhöhen, sondern Manager dazu zwingen, Ineffizienzen abzubauen. Ökonomen außerhalb des Mainstreams argumentieren hingegen, dass steigende Dividenden- und Zinszahlungen von Firmen einen negativen Effekt auf Investitionen in reales Kapital ausüben, da sie einbehaltene Gewinne reduzieren, die sonst für Realinvestitionen genutzt werden könnten. Orhangazi (2008), Davis (2013) sowie Tori und Onaran (2017) finden negative Effekte von Finanzzahlungen, Firmenschulden und Aktienrückkäufen auf Investitionen.

Eine weitere Methode, um zu garantieren, dass Manager im Interesse der Aktionäre handeln, ist Entlohnung in Form von Aktienoptionen, die einen Anreiz für steigende Aktienkurse schafft (Holmstrom und Kaplan 2001; Crotty 2003). Damit einher geht eine Veränderung in der Investitionsstrategie von Managern, die der Kurzsichtigkeit von Finanzinvestoren entgegenkommt. Statt dem langfristigen Überleben und Wachstum der Firma werden vielmehr kurzfristige Profite zum Ziel der Unternehmensführung, um das eigene Einkommen und die Zufriedenheit der Aktionäre sicherzustellen. Langfristige Realinvestitionen in illiquides Fixkapital, wie zum Beispiel Maschinen, werden zugunsten kurzfristiger Anlagen in liquidere Wertpapiere reduziert (Duménil und Lévy 2004), für die zudem weniger Arbeitskräfte eingesetzt werden müssen. Ökonomen außerhalb des Mainstreams konstatieren auch hier einen Mechanismus, der Investitionen in Realkapital schwächt. Die Möglichkeit, kurzfristige Gewinne unter Einsatz geringerer Kosten zu erheischen, macht Finanzinvestitionen attraktiver als langfristige Realinvestitionen. Stockhammer (2004), Orhangazi (2008) sowie Tori und Onaran (2017) finden in ökonometrischen Studien negative Effekte finanzieller Profite von Unternehmen auf Investitionsausgaben.

2.1.4 Steigende Haushaltsverschuldung und Finanzinvestitionen

Die Finanzialisierung von Haushalten schlägt sich vor allem in einer rasant zunehmenden Haushaltsverschuldung nieder. Diese Entwicklung ist stark verknüpft mit der bereits erwähnten Entstehung von Schattenbankensystemen und Hypothekenverbriefung, die es Geschäftsbanken ermöglicht, Kredite auch an geringverdienende Haushalte zu vergeben. Neben diesen Angebotsfaktoren wird oft eine Erhöhung von Einkommensungleichheit als Ursache gestiegener Nachfrage nach Krediten genannt. Barba und Pivetti (2009) argumentieren, dass Arbeiterhaushalte ihren Konsumstandard angesichts fallender Reallöhne mittels Schulden zu erhalten versuchen. Frank et al. (2014) und Barba und Pivetti (2009) weisen außerdem auf die Zunahme personaler Einkommensungleichheit hin, die ärmere Haushalte, die mit dem Konsumverhalten der nächst höheren Einkommensschicht mithalten wollen, in die Verschuldung drängt.

Lapavitsas (2013, S. 238–240) zeigt, dass die Verbindlichkeiten von Haushalten in den USA, Großbritannien und Japan zum größten Teil aus Hypothekenkrediten, gefolgt von Konsumkrediten bestehen. In vielen angelsächsischen Ländern spielen auch Studienkredite eine zunehmende Rolle. Haushalte stehen dementsprechend unter verstärktem Druck, finanzielle Verbindlichkeiten zu bedienen, um Privatinsolvenz zu vermeiden und vertrags- und kreditwürdig zu bleiben (Anderloni et al. 2012). Auf der anderen Seite partizipieren Haushalte auch zunehmend in Finanzmärkten als Investoren, oftmals vermittelt durch privatisierte Rentensysteme und institutionelle Anleger (Lapavitsas 2009). Einige Autoren heben die Veränderungen in den Subjektivitäten der Individuen durch die Finanzialisierung des Alltags hervor. Langley (2007) argumentiert, dass Finanzinvestitionen integraler Bestandteil der Freiheit und Sicherheit autonomer neoliberaler Subjekte geworden seien und mit der Herausbildung von Investoren-Identitäten und finanzieller Selbstdisziplin einhergingen. Trotz der Tatsache, dass der aggregierte Haushaltssektor in den USA eine beachtliche Anzahl an Aktien hält, muss jedoch festgehalten werden, dass das Eigentum an Wertpapieren extrem ungleich verteilt ist und von einer Gesellschaft von Aktienbesitzern keine Rede sein kann (Deutschmann 2011, S. 363). Weiter verbreitet ist das oftmals hypothekenfinanzierte Eigentum an Immobilen – typischerweise das eigene Haus. Immobilienpreisblasen können das nominelle Vermögen von Hausbesitzern zeitweise stark erhöhen und erleichtern damit die Aufnahme weiterer Kredite (mortgage equity withdrawal). Wenn die Refinanzierung eines Hypothekenkredites allerdings ausschließlich auf steigenden Hauspreisen beruht, geraten Haushalte in starke Abhängigkeit von den Preisentwicklungen am Immobilienmarkt. Der Einbruch der Hauspreise in den USA kurz vor der großen Finanzkrise hat daher viele Haushalte in den Bankrott getrieben.

Im Folgenden werden die Effekte von Finanzialisierung auf die funktionale Einkommensverteilung diskutiert, wobei wir uns wieder an den vier volkswirtschaftlichen Sektoren (internationale Ebene, Finanzsektor, Firmensektor und Haushalte) orientieren.

2.2 Finanzialisierung und funktionale Einkommensverteilung: Theoretische Effekte und empirische Literatur

Das aggregierte Nationaleinkommen (Y) wird in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung binär in Lohneinkommen (W) und Profiteinkommen (∏) aufgeteilt (Y = W + ∏). Lohnzahlungen stellen die Einkommen abhängig Beschäftigter dar, wohingegen Profite aus dem Einsatz von Kapital, fremder Arbeitskraft und Land bezogen werden. Angesichts der Tatsache, dass das Eigentum an Land und Kapital stark ungleich verteilt ist, ist der Großteil der Bevölkerung von Lohnarbeit abhängig. Die Lohnquote (LQ) als Maß der funktionalen Einkommensverteilung misst die aggregierten Lohneinkommen als Anteil am Gesamteinkommen (LQ = W/Y). Der verbleibende Anteil stellt die Profitquote dar (∏/Y = 1 – LQ). Die funktionale Einkommensverteilung drückt daher die Verteilung des Gesamteinkommens zwischen zwei sozialen Klassen aus – wie bereits von der klassischen Politischen Ökonomie anvisiert (Glyn 2009; Atkinson 2009). Die Determinanten der funktionalen Einkommensverteilung sind theoretisch umstritten. Wir begreifen Finanzialisierung als multidimensionales Phänomen und argumentieren, dass einige seiner Ausprägungen die Lohnquote über verschiedene kausale Effekte beeinflussen können. Diese Effekte verstehen wir analytisch als eigenständig. Sie können unabhängig voneinander einen Einfluss auf die Lohnquote ausüben, treten aufgrund von Finanzialisierung allerdings häufig gemeinsam auf.

2.2.1 Internationale Kapitalmobilität und Verhandlungsmacht

In der Politischen Ökonomie wird von der Annahme ausgegangen, dass Marktbeziehungen von Machtverhältnissen durchdrungen sind. Die Verteilung von Markteinkommen zwischen Löhnen und Profiten wird als Ergebnis eines Verhandlungsprozesses und nicht als Markträumungsmechanismus betrachtet. In formalen Verhandlungsmodellen wird angenommen, dass Firmen in oligopolistischen Märkten Einkommen erwirtschaften, deren Verteilung auf der relativen Verhandlungsmacht von Firmen und Arbeitern basiert (z. B. Blanchard und Giavazzi 2003). Beide Parteien haben ein Interesse am erfolgreichen Abschluss des Verhandlungsprozesses (unter anderem um zukünftige Kooperationen zu ermöglichen), können aber im Extremfall den Verhandlungstisch verlassen, wenn das Angebot des Verhandlungspartners nicht den Erwartungen entspricht. Die jeweiligen Exit-Optionen der Verhandlungspartner, also das Einkommen, das sie erzielen, wenn sie die Kooperation beenden, bestimmen ihre Verhandlungsmacht. Verbessern sich die Exit-Optionen einer Partei, wird sie typischerweise einen höheren Anteil am generierten Einkommen aushandeln können. Wenn beispielweise das Arbeitslosengeld erhöht wird, stärkt das die Verhandlungsmacht von Arbeitern und ermöglicht es ihnen, unter Umständen höhere Reallöhne auszuhandeln.

Verhandlungsmacht wird oft durch Arbeitsmarktinstitutionen operationalisiert (z. B. Blanchard und Giavazzi 2003). Darcillon (2015) argumentiert, dass Finanzialisierung die Verhandlungsmacht von Arbeitern indirekt durch einen Abbau von Arbeitsmarktinstitutionen geschwächt hat. In einer ökonometrischen Untersuchung über 16 OECD Länder zeigt er, dass Finanzialisierung in Form eines wachsenden Finanzsektors den Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrades, die Dezentralisierung von Lohnverhandlungen, und den Abbau des Kündigungsschutzes mitverursacht hat. Er begründet dieses Phänomen mit der starken Shareholder-Value-Orientierung und Kurzsichtigkeit des Managements, das auf einen flexibleren und weniger von Gewerkschaften beeinflussten Arbeitsmarkt drängt.

Finanzialisierung wurde auch als ein Faktor genannt, der direkt die Exit-Optionen und damit die Verhandlungsmacht von Firmen stärkt. Zentral ist hier die oben erwähnte Liberalisierung internationaler Finanzmärkte in den 1980er und 1990er Jahren. Jayadev (2007) argumentiert, dass die zunehmende Offenheit von Volkswirtschaften für globale Finanzströme Druck auf die Lohnquote ausübt, da Firmen angesichts steigender Lohnforderungen leichter ins Ausland abwandern können. In einer ökonometrischen Untersuchung mit einem breiten Paneldatensatz findet er einen statistisch signifikanten negativen Effekt von finanzieller Offenheit auf die Lohnquote. Neben solchen de jure Maßen internationaler Kapitalmobilität haben einige Autoren auch de facto Maße finanzieller Globalisierung vorgeschlagen, wie zum Beispiel das Verhältnis ausländischer Forderungen und Verbindlichkeiten im Verhältnis zum BIP (Lane und Milesi-Ferretti 2007). Stockhammer (2009, 2017) und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO 2011, Kap. 3) finden empirische Evidenz für negative Effekte finanzieller Globalisierung auf die Lohnquote.

Eine letzte Gruppe von Studien argumentiert, dass sich die Exit-Optionen von Firmen durch leichteren Zugang zu profitablen Finanzinvestitionen verbessert haben, was Firmen unabhängiger von der Beschäftigung von Arbeitern macht. Lin und Tomaskovic-Devey (2013) messen die größere Bedeutung finanzieller Profite für Firmen durch das Verhältnis von Finanzprofiten (Zinsen, Dividenden und Veräußerungsgewinne) zu Firmenprofiten und finden für die USA einen negativen Effekt auf die Lohnquote. Alvarez (2015) zeigt in einer Analyse mit Firmendaten einen negativen Zusammenhang zwischen dem Netto-Finanzeinkommen von Unternehmen und der Lohnquote in Frankreich auf.

2.2.2 Stärkerer Wettbewerb auf Kapitalmärkten und Shareholder-Value-Maximierung

Wie bereits im Abschnitt über die Finanzialisierung von Unternehmen angesprochen, behaupten einige Ökonomen, dass Finanzialisierung in Form von Shareholder-Value-Orientierung zu einem Wechsel von Unternehmensstrategien von der Einbehaltung von Profiten und Reinvestition zu Rationalisierungen und Profitausschüttung geführt hat (Lazonick und O’Sullivan 2000). Einige Autoren (Martin et al. 2008; Bryan et al. 2009; Sotiropoulos und Lapatsioras 2014) argumentieren, dass insbesondere verstärkter Wettbewerb auf Kapitalmärkten Druck auf das Management ausübt, die Arbeitsintensität zu erhöhen und Lohnerhöhungen zu vermeiden. Die Herausbildung von Hochfrequenz- und Derivatenhandel und Verbriefung führt zur Bewertung von Wertpapieren auf Sekundärmärkten. Der Marktpreis dieser Wertpapiere fungiert zunehmend als Indikator der Effizienz des emittierenden Unternehmens. Dadurch geraten Firmen in größere Abhängigkeit dieses Preismechanismus. „A capitalist firm that goes to the markets to raise funds acquires a risk profile which depends to a significant extent on its ability to pursue effective exploitation strategies in a competitive economic environment“ (Sotiropoulos und Lapatsioras 2014, S. 94 f.). Firmen sehen sich dadurch gezwungen, ihre Effizienz zu erhöhen, indem sie drastisch Kosten reduzieren, Löhne senken oder zumindest nicht erhöhen und die Arbeit intensivieren. Empirische Studien, die diesen Mechanismus explizit untersuchen, liegen bisher allerdings nicht vor.

2.2.3 Finanzzahlungen von Unternehmen und Mark-up-Preise

Heterodoxe ökonomische Theorien gehen von der Hypothese aus, dass Preise in imperfekten Märkten kostenbasiert sind, das heißt, dass Firmen einen Gewinnaufschlag (Mark-up) auf die Stückkosten berechnen und daraus ihre Profite generieren. Der Mark-up wird typischerweise als Ausdruck des Monopolisierungsgrades eines Marktes aufgefasst. Hein (2015) argumentiert, dass die Zunahme von Zins- und Dividendenzahlungen von Firmen einen Anstieg der Fixkosten darstellt, auf die diese mit der Erhöhung des Preisaufschlags reagieren. Die dadurch entstehenden Preiserhöhungen reduzieren die Reallöhne zu Lasten der Lohnquote. Dieses Argument setzt allerdings voraus, dass der Monopolgrad eine Erhöhung des Mark-ups zulässt.

Diese Hypothese wurde durch drei ökonometrische Studien überprüft. Hein und Schoder (2011) finden einen positiven, statistisch allerdings nur schwach signifikanten Effekt von Zinszahlungen auf die Profitquote für Deutschland und die USA. Dünhaupt (2016) berichtet einen negativen Effekt von Dividendenzahlungen auf die Lohnquote mit einem größeren Datensatz aus OECD Ländern, kann aber keinen statistisch signifikanten Effekt von Zinszahlungen finden. Alvarez (2015) hingegen findet einen statistisch signifikanten negativen Effekt von Zinszahlungen auf die Lohnquote in Frankreich.

2.2.4 Zunehmende Haushaltsverschuldung

Interessanterweise gibt es bisher kaum Arbeiten, die den Effekt von Haushaltsverschuldung auf die Lohnquote diskutieren. Bryan et al. (2009) und Barba und Pivetti (2009) deuten an, dass die Verschuldung von Arbeitern deren Verhandlungsmacht verringern könnte, aber bieten kein detailliertes Argument.Footnote 8 Es gibt allerdings einen Strang in der Literatur über Finanzialisierung, der die performative Rolle von Finanzialisierung hervorhebt. Dieser bereits erwähnte Ansatz argumentiert, dass Finanzialisierung neue Identitäten konstruiert, die mit veränderten Interessen einhergehen (Langley 2007). Ohne sich explizit auf dieses theoretische Argument zu beziehen, finden Fligstein und Goldstein (2015) in einer empirischen Studie über die USA, dass es vor allem die Mittel- und obere Mittelschicht ist, die eine neue Finanzkultur entwickelt hat, die sich in einer größeren Bereitschaft niederschlägt, Risiken in Form von Finanzinvestitionen einzugehen und ein hohes Konsumniveau durch Schulden zu finanzieren. Im Einklang mit dieser Literatur lässt sich argumentieren, dass eine arbeitende, aber stark individualisierte Mittelschicht, die sich auf finanzielle Einkommensströme, Portfoliomanagement und schuldenfinanzierten Luxuskonsum konzentriert, weniger zu kollektiven Arbeitskämpfen für höhere Löhne motiviert ist.

Ein anderer Strang der Literatur diskutiert finanzielle Gefährdung, ein Konzept, das die finanzielle Unfähigkeit ärmerer Haushalte bezeichnet, monatliche Ausgaben für die physische und medizinische Grundversorgung und unerwartete Zahlungsverpflichtungen zu decken sowie die Ansammlung von Zahlungsrückständen umfasst (Anderloni et al. 2012). Die Autoren entwickeln einen Index finanzieller Gefährdung für italienische Haushalte im Jahr 2009 und finden positive Effekte von Haushaltsverschuldung auf finanzielle Gefährdung. Obwohl die Autoren ihre Ergebnisse nicht mit Klassenbewusstsein oder Verhandlungsmacht in Verbindung bringen, liegt es nahe, dass finanzielle Gefährdung einen negativen Einfluss auf die Verhandlungsmacht von Arbeitern ausüben kann. Verschuldete Arbeiterhaushalte könnten besorgt um ihren Zugang zu Kredit und die negativen Folgen von Privatinsolvenz sein und wären daher stark bemüht, ihre Schulden zu bedienen. Dies kann im Falle von Ländern mit hohen Studiengebühren insbesondere frisch graduierte Studenten betreffen, die den Arbeitsmarkt gerade erst betreten haben und hoch verschuldet sind. Haushaltsverschuldung würde somit die Exit-Optionen von Arbeitern verringern. Auf der anderen Seite muss aber vermerkt werden, dass verschuldete Haushalte normalerweise auch entsprechende Vermögenswerte halten (zum Beispiel ein Haus im Falle von Hypothekenkrediten). Das Argument ist somit zwar theoretisch plausibel, erfordert aber stärkere empirische Forschung über die genauen Mechanismen, wie Haushaltsverschuldung die Verhandlungsmacht von Arbeitern beeinflusst. Wood (2016) und Guschanski und Onaran (2016) sind bislang die einzigen Studien, die den Einfluss von Haushaltsverschuldung in Form von Hypothekenkrediten auf die Lohnquote untersuchen. Wood (2016) findet einen negativen Effekt in Großbritannien und den USA, während es keine Evidenz für einen Effekt in Schweden und Dänemark gibt. Guschanski und Onaran (2016) benutzen sektorale Daten und finden einen negativen Effekt von Haushaltsverschuldung auf Landesebene auf die Lohnquote in Österreich, Großbritannien und den USA, allerdings keinen Effekt für die Schätzungen mit allen Ländern. Weitere quantitative und qualitative soziologische Untersuchungen wären wünschenswert, um mehr Licht auf diesen Mechanismus zu werfen.

Tab. 1 Finanzialisierung und funktionale Einkommensverteilung: Mechanismen

Tab. 1 fasst die theoretischen Mechanismen und empirische Evidenz über den Zusammenhang von Finanzialisierung und Lohnquote zusammen.

2.3 Andere Determinanten der Einkommensverteilung

Verteilung kann auch von anderen Faktoren als Finanzialisierung beeinflusst werden. Studien im Rahmen des Varieties of Capitalism-Ansatzes haben vor allem die Bedeutung von Arbeitsmarktinstitutionen und Bildung für die Ungleichheit zwischen Lohnempfängern hervorgehoben. Wallerstein (1999) identifiziert den Zentralisierungsgrad von Lohnverhandlungen, die Stärke der Gewerkschaften und den tariflichen Deckungsgrad als signifikante Faktoren einer egalitäreren Verteilung von Lohneinkommen. Estevez-Abe et al. (2001) argumentieren, dass neben dem Lohnverhandlungssystem auch die Möglichkeiten der beruflichen Fortbildung eine zentrale Rolle für die Lohnungleichheit spielt. Der Fokus dieser Studien liegt allerdings auf der personalen, nicht der funktionalen Einkommensverteilung. Im Hinblick auf letztere unterscheidet Kristal (2010) drei Felder der Verhandlungsmacht von Arbeitern: Organisationsmacht in der ökonomischen Sphäre, die sie durch den gewerkschaftlichen Organisationsgrad und Streikaktivität operationalisiert; Organisationsmacht in der politischen Sphäre, gemessen durch die politische Ausrichtung der Regierung und die öffentlichen Sozialausgaben; und Organisationsmacht auf der internationalen Ebene, die durch den Anteil der Importe aus nicht-OECD-Ländern am BIP, Nettomigration und ausländische Direktinvestitionen (FDI) gemessen wird. Positive Effekte des gewerkschaftlichen Organisationsgrades auf die Lohnquote finden neben Kristal (2010) auch ILO (2011) und Stockhammer (2017). Andere Arbeitsmarktinstitutionen, wie Kündigungsschutz, Mindestlohnhöhe, die Bruttoarbeitslosenunterstützung, Streikaktivität und der tarifliche Abdeckungsgrad, haben in vergangenen Untersuchungen gemischte Ergebnisse erzielt, mit zum Teil statistisch insignifikanten Effekten oder unerwarteten Vorzeichen.Footnote 9

Insbesondere Veränderungen der Verhandlungsmacht durch Globalisierung haben im Zuge der Globalisierungsdebatte größeres Interesse auf sich gezogen. In Übereinstimmung mit Kristal (2010) argumentieren auch andere Autoren, dass die Zunahme an FDI und OffshoringFootnote 10 aufgrund der Globalisierung von Produktionsprozessen die Mobilität und damit Verhandlungsmacht von Firmen und Kapitaleignern stark erhöht haben. Während Harrison (2002) mit einem breiten Paneldatensatz keine Evidenz für einen negativen Effekt von FDI auf die Lohnquote findet, bestätigt Choi (2001) diese Hypothese für den US-amerikanischen Manufaktursektor. Weitere Evidenz finden Kristal (2010) mit Daten von 16 OECD Ländern für FDI und Onaran (2012) für FDI und Auslandsverlagerung für Österreich. Bassanini und Manfredi (2014) bestätigen einen negativen Effekt von Offshoring auf die Lohnquote, der allerdings über eine Veränderung der sektoralen Komposition wirkt.Footnote 11

Neoklassische Ökonomen erklären die Zunahme funktionaler Einkommensungleichheit durch qualifikationsverzerrten technologischen Fortschritt (skill-biased technical change) im Kontext von Globalisierung. Finanzialisierung wurde in diesem theoretischen Ansatz bisher nicht als Ursache in Erwägung gezogen. In der reinen neoklassischen Theorie sind die Faktoreinkommen durch ihre Grenzproduktivität bestimmt. In der angewandten Forschung wird argumentiert, dass qualifikationsverzerrter technologischer Fortschritt die Nachfrage nach hochqualifizierter Arbeit erhöht und die nach geringqualifizierter Arbeit verringert habe. Die Reallöhne in den Industrien, die hochqualifizierte Arbeiter beschäftigen, seien gestiegen, weil in diesen Sektoren auch die Arbeitsproduktivität zugenommen habe, wohingegen die Löhne in Sektoren mit geringqualifizierter Beschäftigung stagniert oder sogar abgenommen haben. Dadurch nimmt Lohnspreizung zu. Wenn der zweite Effekt den ersten quantitativ überwiegt, weil hochqualifizierte Arbeit einen geringeren Teil der Gesamtbeschäftigung ausmacht, sinkt auch die aggregierte Lohnquote. Globalisierung beschleunige diesen Prozess durch internationale Spezialisierung, die aufgrund von Produktionsverlagerungen besonders schädlich für geringqualifizierte Arbeiter in entwickelten Ländern sei sowie durch eine Zunahme des globalen Arbeitsangebots. Diese Hypothesen wurden empirisch durch die Europäische Kommission (EC 2007, Kap. 5), den Internationalen Währungsfonds (IMF 2007, Kap. 4) und Bassanini und Manfredi (2014) überprüft, aber keine der Studien berücksichtigt Finanzialisierungsvariablen.

2.4 Zusammenfassung

In diesem Abschnitt haben wir einen Überblick gegeben, wie Finanzialisierung sich in den Hauptsektoren der Volkswirtschaft niederschlägt, und einige Hypothesen diskutiert, wie sie sich auf die Einkommensverteilung auswirkt. Finanzialisierung bedeutet zunehmende internationale Kapitalmobilität und finanzielle Integration in Form ausländischer Forderungen und Verbindlichkeiten. Auf nationaler Ebene stellt sie sich als Wachstum und Strukturveränderung des Finanzsektors hin zum Investment- und Schattenbankgeschäft dar, das sich auf Herstellung und Handel mit verbrieften Wertpapieren und Derivaten spezialisiert. Firmen orientieren sich stärker an den Interessen der Aktionäre und kurzfristigen Investitionen, um hohe Dividendenausschüttungen zu ermöglichen. Haushalte erfahren Finanzialisierung vor allem in Form einer höheren Verschuldung.

Wir haben vier verschiedene kausale Effekte identifiziert, durch die Finanzialisierung die Lohnquote beeinflussen kann. Erstens, Finanzialisierung verbessert die internationale Kapitalmobilität und erhöht damit Exit-Optionen von Firmen, wodurch diese eine bessere Verhandlungsposition gegenüber Arbeitern haben. Zweitens, Konkurrenzdruck auf Kapitalmärkten zwingt Manager dazu, Arbeiter zu entlassen und Löhne zu drücken. Drittens, zunehmende Finanzzahlungen von Unternehmen stellen Fixkosten dar, die sich in einem steigenden Mark-up niederschlagen. Viertens, zunehmende Haushaltsverschuldung unterminiert das Klassenbewusstsein und die Verhandlungsposition von Arbeitern durch finanzielle Gefährdung oder Investoren-Identitäten.

3 Datensatz, ökonometrische Methode und empirische Ergebnisse

3.1 Schätzgleichung, Variablendefinitionen und ökonometrische Methode

Die ökonometrische Gleichung, die wir schätzen, hat folgende allgemeine Form:

$$LQ_{it}=\alpha _{i}+{\beta _{1}}\mathrm{FIN}_{it}+{\beta _{2}}\mathrm{ABM}_{it}+{\beta _{3}}\mathrm{GLOB}_{it}+\beta _{4}\mathrm{TECH}_{it}+{\beta _{5}}\mathrm{ZYK}_{it}+\varepsilon _{it}$$
(1)

Die Indices i und t stehen jeweils für Länder und Zeitperiode, \(\alpha _{i}\) bezeichnet länderspezifische Konstanten und \(\varepsilon _{it}\) ist der Fehlerterm. LQ steht für die Lohnquote, unser Maß für die funktionale Einkommensverteilung. Die Lohnquote (LQ) ist definiert als die Lohnsumme geteilt durch das BIP zu Faktorpreisen, das heißt nach Abzug indirekter Steuern.Footnote 12 Sie beinhaltet das Einkommen selbstständig Beschäftigter, das auf Basis des Durchschnittslohns abhängig Beschäftigter approximiert wird. Basierend auf unserer theoretischen Diskussion gehen wir davon aus, dass die Einkommensverteilung durch multiple Faktoren bestimmt wird, die sich gruppieren lassen. Unser Hauptinteresse gilt der Gruppe von Variablen, die die Finanzialisierung erfassen (FIN). Die anderen vier Variablengruppen beinhalten Kontrollvariablen, die Determinanten der Verteilung erfassen, die nicht der Finanzialisierung zugerechnet werden. Dazu gehören zwei Variablen, die Institutionen und Zustand des Arbeitsmarktes (ABM) erfassen, eine Variable für die Globalisierung des Handels (GLOB), eine Variable, die den technischen Fortschritt (TECH) ausdrückt, und eine Variable, die den Konjunkturzyklus erfasst (ZYK).

Wir operationalisieren die Dimensionen von Finanzialisierung, von denen wir einen Effekt auf die Lohnquote erwarten, durch eine Reihe verschiedener Variablen. Wir messen finanzielle Globalisierung, die die Exit-Optionen von Firmen verbessert, durch einen de jure Index finanzieller Offenheit (FINOFFEN), der die Existenz multipler Wechselkurse, Beschränkungen für Leistungsbilanztransaktionen und Gesetze zur Repatriierung von Exporterlösen misst (vgl. Chinn und Ito 2006).

Eine weitere Finanzialisierungsvariable, von der negative Effekte auf die Lohnquote erwartet werden, sind die Finanzzahlungen von Firmen. Diese werden gemessen als Summe der Zins- und Dividendenzahlungen des Firmensektors im Verhältnis zur Wertschöpfung des Sektors. Der existierenden Literatur zu dieser Hypothese folgend (Hein und Schoder 2011; Dünhaupt 2016), nehmen wir die Nettofinanzzahlungen (Finanzzahlungen minus Finanzeinkommen, FINZAHLNET). Wir erwarten einen negativen Effekt auf die Lohnquote, wenn Firmen steigende finanzielle Kosten auf die Preise abwälzen.Footnote 13

Eine weitere Finanzialisierungsvariable, deren Verteilungseffekte wir untersuchen, ist die Haushaltsverschuldung. Im Hinblick auf die Lohnquote erwarten wir einen negativen Effekt unter der Annahme, dass Haushaltsverschuldung die Verhandlungsmacht von Arbeitern schwächt. Wir messen die Haushaltsverschuldung (HHS) als Anteil am verfügbaren Haushaltseinkommen.

Um die Hypothese zu testen, dass stärkerer Wettbewerb auf Kapitalmärkten Manager dazu drängt, Lohnkosten zu senken und die Arbeitsproduktivität zu erhöhen, benutzen wir die Aktienumschlagsrate (stock market turnover ratio) (AUR), die die Umlaufgeschwindigkeit von Aktien misst. Sie ist definiert als der Gesamtwert aller pro Jahr gehandelten Aktien, geteilt durch die durchschnittliche Marktkapitalisierung, und kann daher als Indikator der kurzfristigen Orientierung finanzieller Investoren interpretiert werden. Wir erwarten einen negativen Effekt auf die Lohnquote.

Institutionen und Zustand des Arbeitsmarkts erfassen wir durch den gewerkschaftlichen Organisationsgrad (GOG) und die Arbeitslosenrate (ALR). GOG wird als der Anteil der Lohn- und Gehaltsempfänger berechnet, der Mitglied einer Gewerkschaft ist. Die Arbeitslosenrate ist das Verhältnis arbeitssuchender Personen zur gesamten Erwerbsbevölkerung. Wir erwarten positive Verteilungseffekte des GOG und negative Verteilungseffekte der ALR. Beide Variablen beeinflussen die Verhandlungsmacht von Arbeitern.Footnote 14

Globalisierung im Handel von Gütern und Dienstleistungen wird durch die Summe der Exporte und Importe im Verhältnis zum BIP gemessen. Dieses Maß wird als Offenheitsindikator (OFFEN) interpretiert (EC 2007). Größere Offenheit erhöht die nicht-finanziellen Exit-Optionen von Firmen, zum Beispiel in Form von Offshoring, und kann somit negativ auf die Lohnquote wirken.

Die neoklassische Literatur hebt qualifikationsverzerrten technologischen Fortschritt hervor und argumentiert, dass dieser die Nachfrage nach wenigen hochqualifizierten Beschäftigten stark erhöht habe und Tätigkeiten, die nur geringe Qualifikationen erfordern, zunehmend überflüssig mache. Wir messen diese Art von technischem Wandel durch den Anteil der Wertschöpfung im Informations- und Kommunikationstechnologiesektor an der Gesamtwertschöpfung (IKT). Konjunkturzyklusbedingte Schwankungen in der Lohnquote werden durch die Wachstumsrate des realen BIPs gemessen (WRATE).

Schließlich sei darauf hingewiesen, dass aggregierte Daten auf Landesebene es nicht erlauben festzustellen, ob der Rückgang der Lohnquote durch eine Veränderung der sektoralen Komposition oder durch einen simultanen Rückgang der Lohnquote in allen Sektoren verursacht wurde. Im Zuge der Finanzialisierung könnte der wachsende Anteil des Mehrprodukts des Finanzsektors am Gesamtprodukt zu einer Verringerung der Lohnquote beigetragen haben, weil die Lohnquote im Finanzsektor typischerweise geringer als in anderen Sektoren ist (Hein 2015). Studien mit sektoralen Daten haben allerdings festgestellt, dass der überwiegende Teil des Rückgangs der Lohnquote innerhalb der Sektoren stattgefunden hat (Karabarbounis und Neiman 2014). Eigene Schätzungen mit dem relativen Mehrprodukt des Finanzsektors bestätigen, dass der Rückgang der Lohnquote nicht auf das Wachstum des Finanzsektors zurückgeführt werden kann.

Unser Datensatz ist ein unausgeglichenes Panel, bestehend aus 14 OECD LändernFootnote 15 mit jährlichen Daten von 1992 bis 2014.Footnote 16 Dadurch ergibt sich eine Gesamtzahl von 265 Beobachtungen. Die Auswahl der Länder erfolgt im Wesentlichen auf Basis von Datenverfügbarkeit. Zentral- und osteuropäische OECD-Mitgliedsländer wurden ausgeschlossen, um mögliche verzerrende Effekte durch den historisch einzigartigen Transformationsprozess von Plan- zu Marktwirtschaften zu vermeiden. Wir verwenden ein auto-regressive distributed lag model (ARDL), um Gl. 1 ökonometrisch zu schätzen. Aufgrund der Tatsache, dass die meisten unserer Zeitreihen nicht-stationär (I(1)) sind (das heißt die Varianz und ggf. der Mittelwert verändern sich über die Zeit) schätzen wir das ARDL in Differenzen. Dadurch verschwinden die länderspezifischen Konstanten \(\alpha _{i}\) und wir vermeiden Scheinkorrelation durch Nicht-Stationarität. Für die Lohnquote schätzen wir zunächst eine allgemeine Form des ARDL in Differenzen, mit zwei verzögerten abhängigen Variablen und je einer kontemporären und einer verzögerten erklärenden Variable.Footnote 17 Während bei einigen Effekten davon ausgegangen werden kann, dass sie einen unmittelbaren Einfluss auf die Verteilung ausüben, wirken andere Effekte möglicherweise erst mit Zeitverzögerung.Footnote 18 Um die optimale Lag-Struktur des Modells zu bestimmen, exkludieren wir sukzessiv entweder die kontemporären oder die verzögerten Variablen mit der niedrigsten absoluten t‑Statistik, bis die statistisch am wenigsten signifikanten Effekte beseitigt sind, aber jede Variable einmal vorhanden ist (entweder kontemporär oder als erstes Lag).

3.2 Empirische Ergebnisse

Nach der Bestimmung der optimalen Lag-Struktur erhalten wir folgende geschätzte Regressionsgleichung für die Lohnquote:Footnote 19

$$\Updelta LQ_{it}=\begin{array}{c} 0,20\Updelta LQ_{it-1}\\ \left(3,81\right)^{***} \end{array}-\begin{array}{c} 2,32\Updelta \text{FINOFFEN}_{it-1}\\ \left(-1,82\right)^{*} \end{array}-\begin{array}{c} 5,88\Updelta \text{FINZAHL}_{it-1}^{\mathrm{NET}}\\ (-2,21)^{**} \end{array}-\begin{array}{c} 0,05\Updelta \mathrm{AUR}_{it-1}\\ \left(-0,30\right) \end{array}+\begin{array}{c} 0,18\Updelta \mathrm{HHS}_{it}\\ \left(0,19\right) \end{array}-\begin{array}{c} 18,34\Updelta \mathrm{ALR}_{it}\\ \left(-3,54\right)^{***} \end{array}-\begin{array}{c} 11,22\Updelta \mathrm{GOG}_{it-1}\\ \left(-1,54\right) \end{array}-\begin{array}{c} 5,71\Updelta \text{OFFEN}_{it}\\ \left(-4,77\right)^{***} \end{array}-\begin{array}{c} 52,53\Updelta \mathrm{IKT}_{it}\\ (-1,87)^{*} \end{array}-\begin{array}{c} 23,22\Updelta \text{WRATE}_{it}\\ \left(-7,66\right)^{***} \end{array}+\varepsilon _{it}$$
(2)

Im Hinblick auf die Finanzialisierungsvariablen lässt sich feststellen, dass drei der vier Variablen das erwartete negative Vorzeichen haben: FINOFFEN, FINZAHLNET und AUR üben einen negativen Effekt auf die Lohnquote aus. Der Effekt von FINZAHLNET ist statistisch signifikant auf dem 5 % Niveau und der Effekt von FINOFFEN auf dem 10 % Niveau. Die Transformation zu standardisierten Regressionskoeffizienten zeigt, dass eine Erhöhung von FINOFFEN und FINZAHLNET um je eine Standardabweichung die Veränderungsrate der Lohnquote um je etwa 0,2 bzw. 0,4 Prozentpunkte reduziert. Für AUR kann die Nullhypothese, dass es keinen Effekt auf die Lohnquote gibt, nicht abgelehnt werden. HHS weist ein unerwartetes Vorzeichen auf, allerdings ist der Effekt statistisch nicht signifikant.Footnote 20

Von den Kontrollvariablen weisen vier von fünf das erwartete Vorzeichen auf. ALR übt einen statistisch hochsignifikanten negativen Effekt aus. OFFEN und IKT üben einen negativen Einfluss aus, jeweils auf dem 1 % und 10 % Signifikanzniveau. Wir finden ein unerwartetes negatives Vorzeichen für den GOG, doch diese Variable ist auf keinem konventionellen Level statistisch signifikant. WRATE hat einen statistisch signifikanten negativen Effekt auf die Lohnquote aufgrund ihres antizyklischen Charakters.

3.3 Schlussfolgerungen

Unsere ökonometrische Analyse deutet auf starke regressive Verteilungseffekte von Finanzialisierung hin, die über verschiedene kausale Effekte vermittelt werden. Wir finden starke Effekte von FINZAHLNET und moderate Effekte von FINOFFEN. Der Effekt von FINZAHLNET bestätigt die Hypothese, dass Firmen zunehmende finanzielle Kosten auf die Preise abwälzen und somit die Reallöhne reduzieren (Hein 2015; Alvarez 2015; Dünhaupt 2016). Der Einfluss von FINOFFEN liefert Belege dafür, dass finanzielle Globalisierung in der Form von Liberalisierung die Exit-Optionen von Firmen und damit ihre Verhandlungsmacht gegenüber Arbeitern verbessert hat (Jayadev 2007; Stockhammer 2017).Footnote 21 Für die Hypothese, die Verteilungseffekte von zunehmendem Wettbewerb auf Kapitalmärkten und wachsender Haushaltsverschuldung postuliert, können wir in unserem Datensatz keine Evidenz finden. Verglichen mit Wood (2016) und Guschanski und Onaran (2016), welche regressive Effekte von Haushaltsverschuldung auf Einkommensverteilung in Großbritannien, den USA und Österreich finden, spricht das möglicherweise dafür, dass der Effekt nur in einzelnen Ländern wirksam war. Im Unterschied zu früheren Studien bestätigen wir die Effekte von finanzieller Offenheit und Finanzzahlungen in einer Schätzung, in der mehrere Finanzialisierungsaspekte gemeinsam berücksichtigt werden. Zudem ziehen wir auch Daten aus der Periode nach der großen Rezession (2009) heran, sodass unsere Ergebnisse belegen, dass diese Effekte auch nach der Krise aktiv waren.

Unsere Kontrollvariablen zeitigen im Wesentlichen die erwarteten Effekte. Der negative und statistisch signifikante Effekt von ALR bestätigt die Annahme, dass Arbeitslosigkeit die Verhandlungsmacht von Arbeitern schwächt. Der Effekt von OFFEN ist ein Beleg für die These, dass sich die Exit-Optionen für Firmen durch Offshoring verbessert haben (Kristal 2010). Die statistische Signifikanz von IKT kann als Evidenz für die neoklassische Hypothese des qualifikationsverzerrten technologischen Fortschritts gedeutet werden (EC 2007, Kap. 5; IMF 2007, Kap. 4).

4 Konklusion

Ziel dieses Artikels war es erstens, die Hauptaspekte von Finanzialisierung im Außen‑, Finanz‑, Firmen- und Haushaltssektor zu beschreiben; zweitens, Hypothesen zu identifizieren, wie Finanzialisierung die funktionale Einkommensverteilung beeinflusst, und drittens, diese Effekte ökonometrisch zu testen. Wir haben Finanzialisierung als multidimensionales Phänomen beschrieben, das verschiedene Formen in den unterschiedlichen Sektoren der Volkswirtschaft annimmt. Auf der internationalen Ebene haben wir Finanzialisierung als Liberalisierung von Kapitalmärkten diskutiert, die zu volatilen Kreditströmen, finanzieller Interdependenz und stärkerer Krisenanfälligkeit führt. Des Weiteren haben wir wachsende Finanzsektoren und Investitions- sowie Schattenbankengeschäfte beschrieben, die oft mit kurzsichtigen Investitionsstrategien und Vermögenspreisblasen einhergehen. Finanzialisierung hat die Fragilität des Finanzsektors erhöht und somit die Grundlagen für die große Finanzkrise 2007/2008 gelegt. Auf Firmenebene lassen sich steigende finanzielle Kosten, aber auch finanzielle Investitionen aufgrund von Shareholder-Value-Orientierung beobachten. Damit geht oftmals ein Rückgang langfristiger produktiver Investitionen einher. Schließlich haben wir Haushaltsverschuldung und stärkere Teilhabe von Haushalten in Finanzmärkten diskutiert und eine stärkere finanzielle Verletzlichkeit und finanzielle Selbstdisziplin von Individuen konstatiert.

Theoretische und empirische Studien gehen von negativen Verteilungseffekten von Finanzialisierung aus. Wir haben vier Hypothesen identifiziert, die einen Einfluss auf die funktionale Verteilung postulieren: verbesserte Exit-Optionen von Firmen, steigende finanzielle Kosten für Unternehmen, wachsender Wettbewerb auf Kapitalmärkten und Shareholder-Value-Maximierung sowie schwächere Verhandlungsmacht von Arbeitern durch Verschuldung.

Auf Basis eines Datensatzes aus 14 OECD Ländern über die Periode 1992–2014 finden wir negative Verteilungseffekte von Finanzialisierung. Finanzzahlungen von Unternehmen und finanzielle Offenheit für internationale Kapitalströme üben einen statistisch signifikanten negativen Effekt auf die Lohnquote aus. Unsere Ergebnisse lassen sich dahingehend interpretieren, dass sich die Verhandlungsposition Beschäftigter durch verbesserte Exit-Optionen von Firmen aufgrund von finanzieller Liberalisierung verschlechtert hat und ihre Realeinkommen durch finanzielle Kosten für Firmen unterminiert wurden.

Zukünftige Forschung könnte einzelne Aspekte von Finanzialisierung stärker analysieren. Aufschlussreich wären detaillierte Länderstudien über die institutionelle Struktur von Schattenbankensystemen oder unterschiedliche Formen der Finanzialisierung von Haushalten je nach Einkommensklasse. Weiterhin könnte genauer beleuchtet werden, wie Finanzialisierung die Einkommensverteilung beeinflusst, zum Beispiel mit Hilfe einer für Spitzeneinkommen bereinigten Lohnquote. Ebenso aufschlussreich wäre Forschung mit Mikro-Daten über den Zusammenhang von finanzieller Offenheit und den Exit-Optionen von Firmen sowie dem Preissetzungsverhalten angesichts steigender Finanzkosten. Angesichts der Grenzen statistischer Analysen auf Basis nicht-experimenteller Daten sollte der Zusammenhang von Finanzialisierung und Einkommensverteilung auch mit Hilfe qualitativer Methoden analysiert werden, um mehr Licht auf die exakten kausalen Mechanismen werfen zu können. Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass die von uns identifizierten vier kausalen Effekte nicht zwangsläufig erschöpfend sind. Weitere Forschung könnte versuchen, zusätzliche Ursachen aufzudecken, die zum Beispiel auch die Vermögen oder Finanzeinkommen von Arbeiterhaushalten mit in Betracht ziehen.