Zusammenfassung
Clemens Kroneberg vertrat in seinem Beitrag (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 64:37–65, 2012) die These, dass eine Rational-Choice-Erklärung auf der Basis des Modells der Frame-Selektion eine gehaltvollere Erklärung von prosozialem Verhalten bereitstellen könnte und demonstrierte das am Beispiel der Rettung von Juden. In dieser Kritik wird argumentiert, dass dieser Versuch zum Scheitern verurteilt ist, weil das Explanandum unzureichend formuliert wurde und die herangezogenen Daten des Altruistic Personality and Prosocial Behavior Institute (Oliner und Oliner, The altruistic personality: Rescuers of Jews in Nazi Europe 1988) so selektiv sind, dass sie weitreichende Folgerungen nicht zulassen. Der Erklärungsanspruch kann daher zurückgewiesen werden, weil er von den Daten nicht getragen wird.
Abstract
Clemens Kroneberg suggested in his paper (Cologne Journal of Sociology and Social Psychology, 64:37–65, 2012) that based on the Model of Frame Selection rational choice theory would offer a sound explanation of pro-social behavior which is demonstrated in the case of the rescue of Jews. This criticism argues that this attempt fails both because the explanandum is insufficiently formulated and the data from the Altruistic Personality and Prosocial Behavior-Institute (Oliner and Oliner, The altruistic personality: Rescuers of Jews in Nazi Europe 1988) are highly selective and do not allow far reaching conclusions. Therefore the proposed explanation can be rejected because the data do not fit.
Notes
Vgl. Kroneberg et al. (2010) und Kroneberg (2011a, b). Die Anwendung der Handlungsoption „Veröffentliche stets die kleinste publizierbare Einheit“ mag durchaus Folge der Selbstbindung an eine Handlungstheorie sein, in deren Zentrum die Idee der Nutzenmaximierung steht. Damit verbundene wissenschaftssoziologische und –ethische Überlegungen interessieren uns hier allein schon deswegen nicht, weil wir in den folgenden Ausführungen den Kritikpunkt der systematischen Verzerrung eines Forschungsgegenstandes für weitaus folgenreicher halten. Der Umstand, dass eine fragliche empirische Basis und ein unzulässig simplifiziertes Explanandum durch ein und denselben Autor mehrfach veröffentlicht werden kann, weil jeweils verschiedene (statistische) Prüfverfahren zur Anwendung kamen, könnte allerdings Anlass sein, Gutachter und Herausgeber zu tadeln, weil sie sich offenbar von der Raffiniertheit der verschiedenen zum Einsatz gekommenen Prüfverfahren darüber täuschen ließen, dass sachlich eine wiederholte Prüfung eines schlecht definierten Objektes nichts zum Erkenntnisfortschritt beiträgt.
Das Literaturverzeichnis von Kroneberg (2012) weist mehr als ein halbes Dutzend Titel aus, die eine Rational-Choice-Erklärung der Rettung von Juden zu liefern behaupten.
http://www.yadvashem.org/yv/en/righteous/statistics.asp (Zugegriffen: 31. Oktober 2012).
Welche Schwierigkeiten dabei zu bewältigen sind schildert beispielsweise kürzlich ein ausführlicher Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung: Stefan Osterhaus und Jan-Christoph Kitzler, Die unbekannte Seite des Radchampions Bartali, 14. 9. 2012, http://www.nzz.ch/aktuell/sport/uebersicht/die-unbekannte-seite-des-radchampions-gino-bartali-1.17609100 (Zugegriffen: 24. Oktober 2012).
Über Josef Schleich gibt es mittlerweile einen aussagekräftigen Wikipedia-Eintrag, wo sich auch Hinweise auf weiterführende Literatur über ihn finden.
“Yet since many of our results are consistent with those of other studies, […] it seems safe to suggest that our findings appear to go beyond a limited historical time and space” (Oliner 2004, S. 169).
Literatur
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Kroneberg, Clemens. 2011b. Zusatzmaterialien zum Titel Die Erklärung sozialen Handelns. http://www.springer-vs.de/Privatkunden/Zusatzmaterial/978–3-531–17389-4/Die-Erklaerung-sozialen-Handelns.html (Zugegriffen: 24. Oktober 2012).
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Fleck, C., Müller, A. Kann das Modell der Frame-Selektion etwas zur „Rettung von Juden im Zweiten Weltkrieg“ beitragen?. Köln Z Soziol 66, 629–642 (2014). https://doi.org/10.1007/s11577-014-0289-y
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DOI: https://doi.org/10.1007/s11577-014-0289-y
Schlüsselwörter
- Rettung von Juden
- Holocaust
- Pro-soziales Verhalten
- Modell der Frame-Selektion
- Rational Choice-Ansatz
- Selektivität von Daten
- Yad Vashem
- Gerechte unter den Völkern