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Understanding Merton

Eine Erwiderung auf Christian Fleck und Albert Müller

Understanding Merton

A Reply to Fleck and Müller

  • Berichte und Diskussionen
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KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Der Beitrag antwortet auf die Kritik von Christian Fleck und Albert Müller an meinem Artikel „Die Rettung von Juden im Zweiten Weltkrieg. Eine handlungstheoretische und empirische Analyse“ (KZfSS 64/2012). Ich verdeutliche zunächst die Bedeutung der von mir betrachteten initialen Entscheidung zur Hilfeleistung: Sie bestimmte, ob potenzielle Helfer „bystander“ blieben, und beeinflusste so das Ausmaß verfügbarer Hilfe. Meine Analyse hilft zu verstehen, welche Bedingungskonstellationen eine Hilfeleistung auch in Hochkostensituationen begünstigen. Anhand der von Fleck und Müller zu Rate gezogenen methodologischen Prinzipien von Robert K. Merton zeige ich, warum ihre Kritik teils unangemessen, teils nicht nachvollziehbar ist. Das Explanandum wird in meinem Beitrag expliziert und theoriegeleitet spezifiziert, um ungeklärte Forschungsfragen zu beantworten (Mertons „specified ignorance“). Die verwendeten Sekundärdaten weisen zwar Begrenzungen auf, sind aber insgesamt von strategischem Wert für die Analyse von Altruismus in Hochkostensituationen (Mertons „strategic research material“). Dass Fleck und Müller den Forschungsstand, theoretischen Hintergrund und die Fragestellung meines Beitrags unberücksichtigt lassen, macht es ihnen unmöglich, die von mir verwendete Datenbasis adäquat zu diskutieren. Mein Beitrag schließt mit einer Anmerkung zum Verhältnis von Soziologie und Geschichte.

Abstract

This reply deals with Christian Fleck’s and Albert Müller’s critical discussion of my article “Die Rettung von Juden im Zweiten Weltkrieg. Eine handlungstheoretische und empirische Analyse” (KZfSS 64/2012). I begin by pointing out the significance of the initial decision to help, which is at the center of my contribution: This decision determined whether potential helpers would remain bystanders and therefore greatly affected the availability of help. My analysis therefore illuminates the conditions that promote helping behavior, even in high-cost situations. Using Robert K. Merton’s methodological principles, referred to by Fleck and Müller themselves, I demonstrate why their criticism is partly inadequate and partly unconvincing. Guided by theoretical considerations, my original article explicates and specifies its explanandum in order to answer open research questions (Merton’s “specified ignorance”). The analyzed secondary data have acknowledged limitations but nevertheless constitute “strategic research material” (Merton) for the analysis of altruism in high-cost situations. Disregarding the relevant state of research, theoretical background and research question, Fleck and Müller are unable to adequately discuss the data analyzed in my original article. My reply concludes with remarks on the relation between sociology and history.

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Notes

  1. Gleichwohl wäre es selbstverständlich gewinnbringend, eine stärker prozessuale Analyse der Hilfeleistungen und ihres variierenden Erfolges durchzuführen. Auch eine Berücksichtigung motivationaler Dynamiken und entsprechende weitergehende Anwendung des Modells der Frame-Selektion oder anderer Handlungstheorien wäre zweifelsohne möglich und höchst interessant. Für eine quantitative statistische Analyse fehlt es allerdings an den erforderlichen Prozessdaten. Eine qualitative historische Analyse von Einzelfällen ist dagegen möglich und kann im Rahmen einer disziplinären und/oder methodischen Arbeitsteilung einen eigenständigen Beitrag zum Verständnis der Rettung von Juden im Zweiten Weltkrieg leisten (siehe dazu generell noch den letzten Abschnitt).

  2. Auch die weiteren vereinzelten Kritikpunkte von Fleck und Müller sind alles andere als stichhaltig. So wird man etwa den von ihnen kritisierten „Befund“, wonach eine statistisch schwach signifikante erhöhte Entdeckungswahrscheinlichkeit für in Städten lebende Retter bestünde, in meinem Aufsatz vergeblich suchen. Und die Tatsache, dass die Oliner-Daten bestimmte Länder nicht umfassen (was zwar für Bulgarien stimmt, nicht aber für Dänemark), führt aus dargelegten Gründen nicht notwendiger Weise zu Verzerrungen.

  3. In einer Besprechung meines Buches bemerkt etwa Christian Gudehus: „Die (deutsche) historische Retterforschung war lange vor allem additiv und zeichnete sich, und tut das in weiten Teilen noch immer, durch eine fast völlige Nichtberücksichtigung vor allem sozialpsychologischer Forschung zum sogenannten prosozialen Verhalten aus. Entsprechend schwer tat sie sich mit verallgemeinerbaren Aussagen und beklagte wie kürzlich Wolfgang Benz, dass, wann immer man meint einen Faktor zu identifizieren, wieder Ausnahmen auftauchen, in denen alles ganz anders ist. Das mag unter anderem daran gelegen haben, dass lange die falschen Faktoren, wie etwa Region, politische Zugehörigkeit oder Ähnliches untersucht wurden“ (Gudehus 2012).

  4. Die von mir betrachteten handlungstheoretischen Determinanten können daher gleichsam als Schnittstellen zwischen den jeweiligen Mikro-Situationen und den sie einschließenden sozialen Prozessen angesehen werden: „Organisatoren kollektiver Rettungsaktionen konnten insbesondere die Ansprache durch lokale Autoritäten nutzen, um mögliche Loyalitätskonflikte aufzulösen und die Verpflichtung zur Hilfe zu aktivieren, und dadurch Hilfeleistung als Anschlusshandeln wahrscheinlicher machen (Gross 1994, S. 469). Zudem konnten Anreize und Gelegenheiten zur Hilfe geschaffen werden, etwa durch materielle Unterstützung oder Maßnahmen zur Reduktion des wahrgenommenen Risikos“ (Kroneberg 2012, S. 60).

  5. Es sind denn auch Fleck und Müller, die nach der Art der von mir propagierten Soziologie fragen, um dann die von ihnen befürworteten „reale(n) soziale(n) Kräfte und Konstellationen“ mit meinen „Pacman-artigen Datenpunkten“ zu kontrastieren, die für eine Regressionsanalyse „allemal zu reichen“ scheinen. In der Tat werden soziologische Erklärungen zumeist nicht von realen Menschen mit Wikipedia-Eintrag, sondern von Akteuren bevölkert.

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Kroneberg, C. Understanding Merton. Köln Z Soziol 66, 643–653 (2014). https://doi.org/10.1007/s11577-014-0286-1

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