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Sozioökonomische Entwicklung und Wertvorstellungen in elf Regionen der Türkei

Socio-Economic Development and Value Orientations in Eleven Regions of Turkey

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KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Die Türkei als EU-Beitritts-Kandidat findet gegenwärtig große Beachtung in der Werteforschung. Im Unterschied zu der Länder vergleichenden Perspektive bisheriger Studien werden in diesem Artikel ausgewählte Regionen der Türkei in den Blick genommen, um dem immensen Entwicklungsgefälle innerhalb der Türkei Rechnung zu tragen. Es wird untersucht, inwieweit sich Wertvorstellungen zwischen Regionen der Türkei unterscheiden und inwieweit diese in Übereinstimmung mit Annahmen der Modernisierungstheorie mit unterschiedlichen Graden an sozioökonomischer Entwicklung einhergehen. Dabei wird zwischen Werten der demokratischen Kultur, Säkularität sowie Familien- und Geschlechtergleichstellung unterschieden. Es wird angenommen, dass weniger liberale Einstellungen, eher intolerante Haltungen und eine Orientierung an Autoritäten in den wirtschaftlich schwach entwickelten Regionen zu finden sind, während wirtschaftlich starke und sozial differenzierte Regionen ein höheres Ausmaß an Toleranz und Befürwortung individueller Autonomie aufweisen. Die Entwicklungsgrade von elf verschiedenen Regionen werden zunächst anhand von Daten aus der amtlichen Statistik der Türkei wie dem BSP, Bildungsniveau, Verstädterungsgrad, der Verteilung von Beschäftigten in den wirtschaftlichen Sektoren und der Anzahl der Kinder pro Frau identifiziert. Auf Grundlage der Daten der europäischen Wertestudie aus dem Jahr 2000 werden dann die Thesen durch die Anwendung multipler Korrespondenzanalysen überprüft. Die Ergebnisse zeigen, dass analog zu den Annahmen der Modernisierungstheorie gravierende Werteunterschiede zwischen den untersuchten Regionen der Türkei in den genannten drei Wertebereichen zu finden sind. Unabhängig vom sozioökonomischen Entwicklungsgrad scheinen aber auch spezifische Kontexteffekte wie die Minderheitensituation und die politische Lage in einer Region Werte zu beeinflussen.

Abstract

Being an official EU candidate country since 2005 Turkey has also become an interesting object of investigation for empirical social science, especially in the field of value research. In this article we examine value orientations in different regions of Turkey. Contrary to previous country-comparing studies our regional approach accounts for the immense developmental gaps which exist within Turkey. In line with central assumptions of modernization theory we expect values of tolerance and individual autonomy in high developed regions and, on the other side, dogmatic beliefs, intolerance and authoritarian attitudes being predominant in weaker developed regions.

First, regional stages of modernization are specified using macro indicators like GDP, education, urbanity, the occupational structure, and fertility rate from the official statistics of Turkey. The regional spectrum varies from extremely poor developed rural-agrarian regions in the east to industrialized regions with high degrees of urbanization up to the rich regions in the west with well developed infastructure and service sector.

Second, Multiple Correspondence Analyses carried out with data from the European Values Study 2000 show that value differences concerning democratic culture, religiosity, secularity and sexual tolerance occur as expected according to socio-economic disparities between regions. Additionally, we find evidence that independent from socio-economic factors value orientations of people are also shaped by other influences like the minority situation or political stability in a region.

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Abb. 1
Abb. 2
Abb. 3
Abb. 4

Notes

  1. Spaemann meint, die Forderung nach gleichen Wertvorstellungen innerhalb der EU sei politisch nicht korrekt und widerspräche demokratischen Prinzipien: „Die EU ist kein Werteverbund, sondern eine Rechtsgemeinschaft“ (Spaemann 2004). D. h., politische Entscheidungen dürften nicht durch Werte begründet werden, sondern allein durch geltendes Recht. Das gemeinsame Anerkennen des Rechts ermöglicht das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen Wertvorstellungen und wann immer Werte die Begründung für politisches Handeln liefern, drohe die Gefahr einer „Gesinnungsdiktatur“, wie z. B. das Dritte Reich eine gewesen sei (Spaemann 2004).

  2. Vier der befragten Regionen mussten aufgrund zu geringer Fallzahlen aus der Vergleichsanalyse ausgeschlossen werden (s. unter Abschn. 4).

  3. Eine Ausnahme bildet das sogenannte Südostanatolien-Projekt (GAP), in dessen Rahmen u. a. der Atatürk-Stausee in Sanliurfa gebaut wurde. Zum Zeitpunkt seiner Einweihung 1992 war er der viertgrößte Stausee der Welt und wird mit zahleichen kleineren Staudämmen und Wasserkraftwerken zur Bewässerung und Elektrizitätserzeugung im ansonsten strukturschwachen Südosten der Türkei eingesetzt (Şen et al. 1998, S. 276 ff.).

  4. Genauere Informationen unter: http://www.europeanvaluesstudy.eu oder http://spitswww.uvt.nl/fsw/evs/documents/Surveys/Countries%20PDF/1999-2000/EVS_Turkey_2001_1.pdf.

  5. Um auch im Bereich des Achsenkreuzes eine lesbare Darstellung zu erhalten, wurden einige Merkmalsausprägungen nicht wiedergegeben. Es handelt sich durchweg um Mittelkategorien, die für die Interpretation der Ergebnisse nicht zentral sind. Im Einzelnen handelt es sich um: „Demo: Wirtschaft (+)“, „Demo: Streit (+) und (−)“, „Demo: Ordnung (−)“, „Politik: News (+) und (−)“, „Politik: wichtig (+) und (−)“, „Politik: Freunde (/)“, „Betrunkene“. Bei den dichotomen Variablen (genannt/ nicht genannt) wurden nur die Angaben für „genannt“ abgebildet, da die korrespondierenden Ausprägungen durch Spiegelung am Achsenmittelpunkt ineinander überführt werden können und die Informationen demzufolge redundant sind.

  6. Da in Bezug auf Alter und Geschlecht kaum Varianz im Hinblick auf die untersuchten Merkmale vorliegt, wurden diese aus der Abbildung entfernt.

  7. „Trotz verschiedener Initiativen zur Förderung der Transparenz im öffentlichen Leben der Türkei bleibt die Korruption ein ernstes Problem.“ (Europäische Kommission, Fortschrittsbericht vom 13.11.2001, S. 35). Im Korruptionsindex der NRO „Transparency International“ lag die Türkei im Mai 2008 auf Platz 64 von 179 Ländern.

  8. In den Jahren 1960, 1971 und 1980 wurde die Regierung durch eine Militärintervention gestürzt. Auch wenige Jahre vor dem Befragungszeitpunkt (1997) wurde die Regierungspartei vom Militär zum Rücktritt gezwungen (vgl. u. a. Seufert u. Kubaseck 2006; Şen et al. 1998).

  9. Die Kategorien „stimme voll und ganz zu“ und „stimme eher zu“ der Items, die Säkularität messen, wurden aufgrund zu geringer Fallzahlen zusammengefasst.

  10. Die Merkmalsausprägung „Men: Job (/)“ wurde für die Übersichtlichkeit aus der Darstellung herausgenommen; diese ist weit außerhalb des Raumes positioniert. Eine kategoriale Hauptkomponentenanalyse hat zudem ergeben, dass diese Kategorie genau dasselbe misst wie „Men: Job (+)“. Folglich handelt es sich nicht um eine ordinale, sondern um eine nominale Variable.

  11. Zur Aktualität der Diskussion um Abtreibung in (post)modernen, westlichen Gesellschaften vgl. Boltanski 2007.

  12. Erste Analysen zeigen, dass selbst in insgesamt hoch entwickelten Ländern wie Deutschland zum Teil gravierende regionale Unterschiede in Fragen der Geschlechtergleichstellung zu finden sind. Während in Berlin 77 Prozent eine Bevorzugung von Männern bei der Jobvergabe ablehnen, sind es in Sachsen-Anhalt gerade mal 19 Prozent. Vor dem Hintergrund der DDR-Vergangenheit und der dort zentralen Bedeutung von Geschlechtergleichstellung ist dieses Ergebnis überraschend. In Bayern beträgt der Anteil, der die geschlechtliche Ungleichbehandlung ablehnt, etwa 30 Prozent; in Nordrhein-Westfalen sind es 63 Prozent.

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Correspondence to Yasemin El-Menouar.

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Wir danken Jörg Blasius, Ingvill C. Mochmann, Andreas Mühlichen sowie zwei anonymen Gutachtern für ihre wertvollen Hinweise.

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El-Menouar, Y., Fritz, M. Sozioökonomische Entwicklung und Wertvorstellungen in elf Regionen der Türkei. Köln Z Soziol 61, 535–561 (2009). https://doi.org/10.1007/s11577-009-0082-5

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