Wie in vielen Statistiken bestätigt, ist der Dienstleistungssektor in nahezu allen Industrienationen sowohl der größte als auch der am schnellsten wachsende Wirtschaftssektor. So liegt z. B. in Deutschland der Wertschöpfungsanteil bei knapp 70 % sowie der Anteil der dort beschäftigten Arbeitnehmer bei knapp 60 % – in den USA bereits bei 70% (Maglio et al. 2006, S. 82). Einen substanziellen Beitrag zum Gesamtumfang und -wachstum leisten IT-gestützte bzw. informationsintensive Dienstleistungen, wie sie z. T. bereits in der Wirtschaftsinformatik erforscht werden. Es verwundert daher nicht, dass sich Zweige bestehender Disziplinen (z. B. Physik oder Maschinenbau) und neue Gruppierungen (z. B. unter den Namen „Service Science“ oder „Service Science, Management, and Engineering“) zum Ziel setzen, dienstleistungsorientierte Forschungsfragen ganzheitlich zu untersuchen (Satzger 2008).

In diesem Zusammenhang stellen sich für die Wirtschaftsinformatik folgende Fragen: Ist die Dienstleistungsforschung für die Wirtschaftsinformatik relevant? Falls ja, welche Rolle kann und soll die Wirtschaftsinformatik innerhalb der sich etablierenden Dienstleistungsforschungs-Community spielen?

Um diese Frage zu beantworten, bedarf es zunächst einer Klärung des Dienstleistungsbegriffs. Dieser wird nämlich keineswegs einheitlich verwendet. So lassen sich u. a. ein betriebswirtschaftlich und ein IT-orientiertes Begriffsverständnis unterscheiden (Buhl et al. 2008, S. 60). Dienstleistungen im Sinne des ersten Begriffsverständnisses zeichnen sich u. a. durch Immaterialität, Simultanität von Produktion und Konsum (Uno-actu-Prinzip) und Integration des Dienstleistungsnehmers als externen Faktor aus. Dienstleistungen im IT-orientierten Sinne – auch kurz als Dienste oder Services bezeichnet – sind softwaretechnische Artefakte, die abgegrenzte Funktionalität anbieten. Dienste werden i. d. R. als selbstbeschreibend, plattformunabhängig, komponierbar, Standard-basiert sowie gelegentlich als lose gekoppelt und ortstransparent charakterisiert.

Wo kann die Wirtschaftsinformatik nun einen Beitrag leisten? Im Folgenden werden dazu die hybride Wertschöpfung als Beispiel für das betriebswirtschaftlich orientierte Begriffsverständnis und anschließend die Entwicklung internetbasierter Dienste als Beispiel für das IT-orientierte Begriffsverständnis betrachtet.

  • Während in den sog. Industrienationen der Anteil des produzierenden Gewerbes über lange Zeit nahezu stabil war, stieg der Anteil der Dienstleistungen, die in Verbindung mit physischen Produkten auf den Markt gebracht werden. So werden z. B. im gewerblichen Umfeld nicht mehr „der Kopierer“ bzw. „der Drucker“, sondern „Kopieren“ und „Drucken“ als Produkt-Dienstleistungs-Kombination inklusive Finanzierung, Wartung, Entsorgung etc. verkauft. Dieser Trend geht bis zu hochkomplexen technischen Produkten (z. B. im medizinischen Bereich) und gesamten Großanlagen (z. B. zur Energieerzeugung). In diesem Sinne greift das Konzept der Dienstleistungen heute in nahezu alle Industriebereiche hinein. Diese Entwicklung zeigt, dass die Gestaltung von Dienstleistungen nicht mehr nur ein Thema für klassische Dienstleister (wie z. B. den gerne zitierten Frisör oder das Hotel- und Gaststättengewerbe) ist, sondern auch und insbesondere für die produzierende Industrie. Die richtige Gestaltung einer solchen hybriden Wertschöpfung bedarf der Kenntnisse verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen. Die Wirtschaftsinformatik kann hierbei einen Beitrag in der Unterstützung der Diensterbringung leisten, wie z. B. bei der Planung und Koordination verteilter Servicekräfte (siehe dazu Schwerpunktheft 3/2008).

  • Mit der rasanten Verbreitung des Internets wird das Angebot entsprechender Dienste zunehmend bedeutender und ihre Nutzung geradezu selbstverständlich. Bspw. ersetzt Google Maps Straßenatlanten nahezu vollständig und u. a. deutsche Firmen kämpfen hart um die Marktanteile der verbleibenden Umsätze im Navigationsgeschäft. Aber auch andere Anbieter bieten ihre Dienste rund um die Uhr und rund um den Globus an – manche auf den ersten Blick ohne Bezahlung, andere mit ernsthafter Registrierung und gegen Bezahlung. Dafür gibt es wiederum Dienste, die wir als gegeben hinnehmen, „einfach“ anklicken und mit Unterstützung derer wir täglich unzählige Transaktionen ausführen. Daran wird u. a. deutlich, wie wichtig das Zusammenspiel von Diensten ist. Dieses Zusammenspiel wird u. a. am Beispiel eBay deutlich. Dort geht es um die Orchestrierung eines Auktionsdienstes mit Billing- bzw. Payment-Diensten von weiteren Anbietern. Ein schlechtes Design kann hier schnell zum Scheitern des Geschäftsmodells führen.

Der wesentliche Unterschied zwischen IT-orientierten und betriebswirtschaftlich orientierten Dienstleistungen ist, dass bei Ersteren nicht alle Ressourcen an einem Ort vorgehalten werden müssen. Deren Lieferung ist auf Basis des Internets örtlich nahezu völlig ungebunden – sowohl auf Anbieter- als auch auf Kundenseite. Dienste und „Subdienste“ werden nicht nur räumlich, sondern in gewisser Weise auch zeitlich ungebunden voneinander komponiert – und dies auf unterschiedlichstem Granularitätsniveau. Dies hat enorme Auswirkungen auf die Gestaltung entsprechender Geschäftsmodelle (Weinhardt et al. 2009, S. 38). Dass diese reibungslos funktionieren – dazu kann die Wirtschaftsinformatik wesentlich beitragen.

Die Leistungserbringung findet somit verstärkt in dienstbasierten Wertschöpfungsnetzwerken statt, die sich äußerst dynamisch und flexibel aus Anbietern und Nutzern formen, die lokal völlig unabhängig miteinander kommunizieren und interagieren können. Damit geht eine viel raschere und deutlichere Veränderung des traditionellen Konzepts der Wertschöpfungskette einher. Das Aufkommen immer leichtgewichtigerer Technologien und Protokolle ermöglicht es zudem, Dienste situativ und flexibel zu sog. „Mashups“ zu orchestrieren. Organisiert in sog. „Service Value Networks“ können komplexe Dienste nach Bedarf – neudeutsch: „on demand“ – bereitgestellt werden, was wiederum eine Vielzahl interessanter Fragen aufwirft. In der traditionellen Forschung geht man zumeist davon aus, dass vollständige Information über die Qualitätsmerkmale von Diensten sowie über die Wertschätzung/Reputation von Anbietern vorliegt. Jedoch verfolgen gerade im Kontext von Service Value Networks Dienstanbieter und -nutzer in der Realität eigene Interessen und verhalten sich basierend auf ihrer privaten Information strategisch, um ihren individuellen Nutzen zu maximieren. Solche individuellen Ziele sind oftmals gegenläufig zu übergeordneten Zielen wie z. B. der Maximierung des Gesamtnutzens aller Beteiligten. Auch hier obliegt die Koordination der Wirtschaftsinformatik – dieses Mal jedoch auf einer wesentlich ökonomischeren Ebene.

Anhand beider Beispiele wird deutlich, dass die Wirtschaftsinformatik einen wesentlichen Beitrag zur Beantwortung von Fragestellungen im Bereich der Dienstleistungsforschung leisten kann. Natürlich geht das nicht allein, sondern nur im Zusammenspiel mit anderen Disziplinen wie z. B. den Wirtschafts- und Ingenieurwissenschaften im Allgemeinen, dem Operation Research, der Informatik sowie der Soziologie und der Psychologie. Nichtsdestotrotz ist es insbesondere in Bezug auf IT-orientierte Dienstleistungen sowie die IT-gestützte Realisierung betriebswirtschaftlich orientierter Dienstleistungen wichtig und richtig, dass sich die Wirtschaftsinformatik verstärkt in die Dienstleistungsforschungs-Community einbringt. Gerade mit ihren inhärenten Stärken wie Interdisziplinarität, Methodenpluralismus, gestaltungs- und ingenieurwissenschaftliche Tradition, Innovationsstärke und Praxisnähe hat sie ein großes Potenzial in diesem strategisch wichtigen, dynamisch wachsenden Gebiet.

Die relevante Frage lautet: Was ist im Allgemeinen und aus Sicht der Wirtschaftsinformatik im Speziellen zu tun, um einerseits die bisherigen Maßnahmen zur Förderung der Dienstleistungsforschung voranzutreiben und andererseits die eigene Rolle innerhalb der Dienstleistungsforschungs-Community wahrzunehmen und nachhaltig zu stärken?

  1. 1.

    Es gilt, die Dienstleistungsforschung innerhalb der Wirtschaftswissenschaften und insbesondere im Bereich der Wirtschaftsinformatik international auszubauen und den in den meisten Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften nach wie vor bestehenden Schwerpunkt von den primären und sekundären Wirtschaftssektoren weg und hin zu mehr Dienstleistungsforschung zu verlagern. Die Politik kann hier z. B. strukturelle Innovationen und synergetische Ressourcenbündelung in Form von Lehrstuhl-, Fakultäts- und Hochschul-übergreifenden sowie interdisziplinär ausgerichteten Forschungszentren fördern. Dies ist erforderlich, da Forschung bisher stark auf Teilbranchen fragmentiert ist und eine Bündelung bestehender Kompetenzen sowie die Nutzung der Synergien zwischen verschiedenen inhaltlichen und methodischen Schwerpunkten unabdingbar ist.

  2. 2.

    Ferner ist die Vernetzung mit der Wirtschaft im Sinne eines geschlossenen Kreislaufs zu intensivieren. Dabei gilt es, einerseits den wechselseitigen Transfer von erworbenem Hochschulwissen in die Unternehmen sowie von unternehmenspraktischen Erkenntnissen und Fragestellungen in die Universitäten umfassend zu stärken. Andererseits ist die Anwendung neuer dienstleistungsorientierter Methoden und Entwicklungen in der Wirtschaft nachhaltig zu fördern. Technische und wirtschaftliche Herausforderungen sind gemeinsam zu erarbeiten sowie die Erfolge in Forschung und wirtschaftlicher Umsetzung durch koordinierte, vernetzte Aktivitäten systematisch zu erschließen.

  3. 3.

    Aus Sicht der Wirtschaftsinformatik sollte ein Schwerpunkt auf IT-basierten Dienstleistungen wie auch den daraus entstehenden Wertschöpfungsnetzwerken liegen, die bislang noch nicht umfassend wissenschaftlich untersucht wurden. Wissenschaftliche Methoden bergen dabei sehr großes Potenzial für die effiziente Gestaltung von Dienstleistungen, zum Beispiel durch die Modellierung von Dienstleistungen und Dienstleistungsprozessen zur Unterstützung ihrer Entwicklung, Planung und Erbringung.

  4. 4.

    Zudem kann die Wirtschaftsinformatik aufgrund ihrer Vermittlerrolle zwischen Betriebswirtschaftslehre und Informatik in der interdisziplinären Dienstleistungsforschung einen Beitrag dazu leisten, die noch existierende Lücke zwischen den disziplinären Begriffsverständnissen zu schließen und das sich daraus ergebende Potenzial zu nutzen. Dazu ist es erforderlich, auch in der Wirtschaftsinformatik die Profilbildung von Lehrstühlen und/oder Studiengängen – wie bereits vereinzelt geschehen – in Richtung Dienstleistungsorientierung voranzutreiben. Dadurch wird den Nachwuchskräften das notwendige Handwerkszeug vermittelt und der Schwerpunkt stärker auf Dienstleistungen im betriebswirtschaftlichen Sinne sowie deren IT-gestützter Realisierung gelegt – und nicht wie bisher vorrangig auf Sachleistungen (und deren Produktion und Logistik).

Sind wir in diesen Initiativen mittel- bis langfristig erfolgreich, schaffen wir es, die Dienstleistungsforschung zu beflügeln, die damit verbundenen volkswirtschaftlichen Potenziale zu katalysieren und der Wirtschaftsinformatik auch einen wichtigen Platz in der interdisziplinären Dienstleistungsforschungs-Community zu sichern.

Prof. Dr. Hans Ulrich Buhl

Prof. Dr. Christof Weinhardt