Einleitung

Das akute Nierenversagen („acute kidney injury“, AKI) ist die häufigste und kostenintensivste Nierenkrankheit im Krankenhaus. Im Zuge der demographischen Entwicklung und verbesserter therapeutischer Optionen tritt das AKI zunehmend häufiger auf und wird öfter überlebt. Somit steigt auch die Anzahl derer, die ein potenzielles Risiko für die Entwicklung einer Progression einer vorbestehenden chronischen Nierenkrankheit („chronic kidney disease“, CKD) oder einer De-novo-CKD haben [1]. Die häufig multifaktorielle Genese und komplexe pathophysiologische Mechanismen des AKI haben bisher die Entwicklung kausaler Therapieoptionen erschwert. Gleichzeitig hat die Dauer eines AKI entscheidenden Einfluss auf das Patientenüberleben. Ein frühzeitiges Erkennen des AKI und eine nephrologische Mitbetreuung können wesentlich zu einem besseren Outcome beitragen [2]. In der Vergangenheit wurden dafür sog. AKI-Alertsysteme entwickelt und in das Krankenhauslaborsystem implementiert. Durch die Digitalisierung werden zunehmend auch Konzepte aus dem Bereich Data Science in der Nephrologie genutzt. In diesem Artikel werden die technischen Möglichkeiten und der klinische Nutzen von AKI-Alertsystemen sowie der aktuelle Stand im Hinblick auf AKI- und CKD-Vorhersagemodelle mittels Künstlicher Intelligenz (KI) beleuchtet.

Definition und Prinzip eines AKI-Alertsystems

Bei einem AKI-Alertsystem handelt es sich um ein elektronisches Warnsystem, welches mit dem Krankenhauslaborsystem verbunden ist. Darin sind die Diagnosekriterien für eine akute Nierenschädigung in Form eines Algorithmus hinterlegt, sodass kritische Serumkreatininerhöhungen automatisch erfasst werden und eine entsprechende Meldung an den behandelnden Arzt ausgelöst wird. Da für Diagnose und Stadieneinteilung eines AKI nur Serumkreatininwerte und Urinausscheidung benötigt werden, kann ein AKI-Alertsystem mit den ohnehin im Krankenhaussystem vorhandenen Werten recht einfach implementiert werden. AKI-Alertsysteme sind meist (aber nicht immer) mit einem sog. „care bundle“ verknüpft. Dabei handelt es sich um kontextspezifische Behandlungsempfehlungen (z. B. Dosierungen an die glomeruläre Filtrationsrate [GFR] adaptieren, Volumenstatus prüfen) und praktische Empfehlungen zur Differenzialdiagnostik, die bei einem Alert ebenfalls auf dem Bildschirm des behandelnden Arztes erscheinen. In einigen Fällen sind auch eine direkte Benachrichtigung eines Nephrologen sowie die Aufnahme der Diagnose „AKI“ in das AKI-Alertsystem implementiert [3].

Effekt von AKI-Alerts auf Morbidität und Mortalität nach einem AKI

Eine rechtzeitige und optimale Versorgung des AKI reduziert signifikant den Progress und verbessert dadurch die Morbidität und Mortalität nach einem AKI [1, 2]. Welchen Nutzen dafür AKI-Alertsysteme haben, wird in der Literatur kontrovers diskutiert. In einem systematischen Review haben Haase et al. 2017 ein erstes Fazit dazu gezogen. Es wurden Daten aus 16 Studien mit insgesamt 32.842 Patienten ausgewertet. Dabei zeigte sich eine Verbesserung von Prozessindikatoren, wie Verbesserung der Hämodynamik, Medikationsintervention oder Umsetzung eines „care bundle“, in 7 von 8 kontrollierten, nichtrandomisierten Studien. Eine Verbesserung von Behandlungsprozessen oder Behandlungsergebnissen konnte in den untersuchten randomisierten Studien nicht gezeigt werden. Eine Vergleichbarkeit der Studien ist jedoch aufgrund der Vielzahl an verwendeten Endpunkten begrenzt [3]. Auch eine aktuelle Metaanalyse zum Effekt von AKI-Alertsystemen kommt zu dem Ergebnis, dass zwar tendenziell das Fortschreiten eines AKI beeinflusst werden kann, allerdings nicht signifikant [4]. Als Gründe dafür werden mangelnde Akzeptanz und Vertrauen, eine unpräzise Anleitung und ein verspäteter Therapiebeginn genannt. Auch ein „overalerting“ (d. h. zu viel falsch-positive Alarme) kann gerade bei kleinen Schwankungen des Kreatinins initial zur Zunahme der Arbeitsbelastung und später dann zur Alarmmüdigkeit führen, sodass die Warnungen nicht mehr adäquat gewürdigt werden. Hingegen führen zu späte Warnungen (d. h., wenn das AKI schon manifest ist) zu einer schlechteren Beeinflussbarkeit und geringeren Outcome-Effekten. Gerade der zeitliche Zusammenhang zwischen Auftreten eines AKI, Benachrichtigung des behandelnden Arztes und Einleitung von Maßnahmen scheint der Schlüssel zur Verbesserung des Outcomes bei AKI zu sein, wie eine Interventionsstudie, durchgeführt am Universitätsklinikum Magdeburg, zeigen konnte [5]. Die Autoren legten dar, wie Konsile, gestützt durch ein AKI-Alertsystem, einen patientenbezogenen Nutzen bewirken können. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch eine randomisierte, kontrollierte Studie, die 6030 Patienten an 6 US-Krankenhäusern untersuchte [6]. Der primäre Endpunkt innerhalb von 14 Tagen nach Randomisierung war kombiniert aus AKI-Progression, Beginn eines Nierenersatzverfahrens und Tod. In der Interventionsgruppe gab es zwar mehr AKI-spezifische Therapiemaßnahmen, es konnte aber keine Risikoreduktion für den primären Endpunkt durch Nutzung eines AKI-Alertsystems gezeigt werden (21,3 % vs. 20,9 %). Zudem gab es Hinweise auf vermehrte Kosten durch das AKI-Alertsystem. Die Nutzung eines AKI-Alertsystems kann aber auch mit einer Kostenersparnis verbunden sein. Conell et al. konnten im Streams-AKI Trial zeigen, dass bei frühzeitiger und vollständiger Umsetzung des „care bundle“ durch weniger radiologische und pathologische Untersuchungen und eine kürzere mediane Verweildauer die Ausgaben um £ 2123 pro Patient gesenkt werden konnten [7].

Einen Schritt weiter in der Datennutzung gehen sog. Clinical Decision Support Systems (CDSS). Diese automatisierten Meldesysteme sollen die Entscheidungsfindung im Klinikalltag unterstützen [8]. Ein Beispiel für ein solches CDSS zur Verbesserung des Outcomes bei AKI ist der AMPEL-AKI-Algorithmus der Universitätsmedizin Leipzig [9]. Dieser nutzt nicht nur die zuletzt bestimmten Laborwerte, sondern auch Befunde aus anderen stationären Aufenthalten oder Anforderungen durch andere Fachabteilungen und liefert den Behandelnden so einen vollständigeren Blick auf die aktuelle Krankheitsprogression des Patienten. Dabei konnte das Modell der Universitätsmedizin Leipzig dazu beitragen, die Zahl der AKIN(Aute Kidney Injury Network)-3-Diagnosen zu verringern, und wurde mittlerweile auch auf Störungen des Elektrolythaushalts ausgeweitet [10].

Translationales maschinelles Lernen in der Nephrologie

Aufgrund der immer größer werdenden Komplexität klinischer Daten ist es schwierig, klinische Merkmale manuell unter Verwendung statistischer Methoden wie der linearen Regression zu analysieren. Regressionsbasierte Vorhersagemodelle weisen mehrere Limitationen auf [11]. Darunter sind insbesondere folgende Aspekte zu nennen:

  • Bei Modellen mit mehreren Risikoprädiktoren muss entschieden werden, welche Risikoprädiktoren einbezogen werden müssen. Regressionsmodelle können jedoch nur eine begrenzte Anzahl von Kovariablen verwenden.

  • Der zu untersuchende Risikoprädiktor steht nicht immer in einer linearen Beziehung zum „outcome of interest“.

  • Eine Regressionsanalyse kann keine Wechselbeziehungen zwischen den Risikoprädiktoren untersuchen

Daher führt die Digitalisierung des Gesundheitssystems immer mehr zur Nutzung von KI, um ärztliche Entscheidungsprozesse zu unterstützen und so die Behandlung von PatientInnen zu verbessern. Im Bereich der Nephrologie wird KI zunehmend eingesetzt, um die Diagnose und Prognose von akuten und chronischen Nierenkrankheiten zu verbessern. Dazu zählen die kontinuierliche Prognose des Risikos für Nierenkrankheiten anhand von Daten aus der elektronischen Patientenakte und die nicht-invasive Diagnostik und Überwachung der CKD mittels Bestimmung von geschätzter GFR (eGFR) und CKD-Stadium durch Ultraschall und Nierenbildgebung. In der Nephropathologie ist die automatisierte Analyse von Transplantatbiopsien und Nephrektomieproben bereits weiter fortgeschritten [12].

Eine Einführung in Fachtermini und Funktionsweisen im Bereich KI gibt ein aktueller Artikel von Kleesiek et al. [13]:

  • Algorithmus: eindeutige Handlungsvorschrift, die aus endlich vielen, wohldefinierten Einzelschritten besteht. Zur Lösung einer Aufgabe wird eine definierte Eingabe in eine definierte Ausgabe überführt.

  • Künstliche Intelligenz: maschinelle Variante der allgemeinen Intelligenzdefinition.

  • Maschinelles Lernen (ML): Computeralgorithmen, die autonom aus Daten lernen. Der Mensch definiert die Merkmale, die aus den Daten extrahiert werden und dann als Eingabe für Algorithmus dienen.

  • Deep Learning (DL): Variante des ML, künstliches neuronales Netz mit besonders vielen Neuronenschichten („hidden layers“); Merkmalsdetektoren bilden sich während des Trainings aus.

Machine Learning und AKI-Risiko

Trotz einiger Fortschritte im Bereich der medikamentösen Therapie bleibt das AKI ein komplexes Syndrom mit häufig multifaktorieller Genese. Daher kommt der Progressionsbeeinflussung eine zentrale Rolle zu. Ein entscheidender Vorteil wird in Zukunft in der Vorhersage eines AKI liegen: Werden Risikopatienten schon vor einer kritischen Serumkreatininerhöhung identifiziert, kann man diese vulnerable Phase nutzen, um die Medikamentendosierung anzupassen, die Hämodynamik zu verbessern oder Diagnostikumfang und -frequenz zu erhöhen.

Wie das konkret funktionieren kann, zeigten Dong et al. [14]. Sie entwickelten ein ML-Modell, mit dem Risikomuster für AKI aus physiologischen Messungen erkannt werden konnten. Ziel war hierbei eine AKI-Vorhersage (bis zu 48 h im Voraus) nach den aktuellen KDIGO(Kidney Disease: Improving Global Outomes)-Kriterien. Dazu wurden KIS(Krankenhausinformationssystem)-Daten von 16.863 pädiatrischen Intensivpatienten im Alter von 1 Monat bis 21 Jahren an mehreren Zentren in den USA und in Großbritannien ausgewertet. Als primärer Endpunkt wurde die Vorhersage eines AKI im Stadium KDIGO II oder III festgelegt, als sekundäre Endpunkte die Vorhersage eines AKI (alle Stadien) oder die Einleitung einer Nierenersatztherapie. Das Modell generierte aus diesem Datensatz Warnungen, die eine schnelle Einschätzung und Reduzierung des AKI-Risikos ermöglichten, und zeigte diese zusammen mit Kontextinformationen und Handlungsempfehlungen dem Behandlungsteam an. So konnte vor der Erkennung nach konventionellen Kriterien ein AKI-Stadium II/III mit einer medianen Vorlaufzeit von 30 h bei einer AUROC („area under the receiver operating characteristic“) von 0,89 prognostiziert werden. Die Prognose von nachfolgenden Dialyseepisoden lag bei 70 %, 58 % der AKI im Stadium II/III und 41 % aller AKI-Episoden wurden vorhergesagt. Das Verhältnis von Fehlalarmen (falsch-positiven) zu Wahrheitsalarmen (echt-positiven) betrug etwa 1:1 (PPV [„positive predictive value“]: 47 %). Von den Patienten, bei denen ein AKI vorhergesagt wurde, erhielten 79 % potenziell nephrotoxische Medikamente, nachdem sie im Modell identifiziert wurden, aber noch vor der Entwicklung eines AKI. So konnte bei einer Mehrheit der Patienten ein einfach zu korrigierender Parameter im Hinblick auf die Entwicklung eines AKI günstig beeinflusst werden. Das von Dong et al. entwickelte ML-Modell ist ein erstes multizentrisch validiertes AKI-Vorhersagemodell für pädiatrische Intensivpatienten mit präziser Prognose von mittelschweren bis schweren AKI bis zu 48 h vor Auftreten. Dabei hat sich dieser Algorithmus auch deshalb als sinnvoll für den klinischen Alltag erwiesen, weil die Vorhersage in einem nutzerfreundlichen Layout aufbereitet und die Zahl der Fehlalarme überschaubar war. Der behandelnde Arzt erhielt eine Risikoangabe in Form einer konkreten Prozentzahl und konnte nachvollziehen, welche Prädiktoren am meisten für die Vorhersage gewichtet wurden. Mit diesem hohen Maß an Transparenz ist der Grad an durchgeführten Therapieanpassungen ungleich höher.

Deep Learning und AKI-Risiko

Ein entscheidender Schritt hin zu einer personalisierten Behandlung bietet die Nutzung von DL. Dabei ist der Programmierungsansatz ein anderer als beim ML. Ein Problem in der frühzeitigen Erkennung eines AKI ist, dass sich die meisten Alertsysteme auf kreatininbasierte Algorithmen konzentrieren und damit das Überleben nicht verbessern konnten, da der Anstieg des Serumkreatinins erst zeitverzögert zum AKI messbar ist. Beim DL werden einige der Datenvorverarbeitungen beseitigt, die typischerweise mit „klassischem maschinellen Lernen“ verbunden sind. Diese DL-Algorithmen können unstrukturierte Daten wie Text und Bilder aufnehmen und verarbeiten. Zudem lernen diese Programme mit jeder neuen verfügbaren Information dazu, bewerten diese im Kontext der bereits gelernten Inhalte und stellen Verknüpfungen her. Das „data mining“, also der Prozess der Ermittlung aussagefähiger Informationen aus großen Datensätzen und die Reduktion der Dimensionalität, sind 2 Hauptziele der Datenverarbeitung für neuronale Netze [15].

Eine wegweisende Arbeit zur Nutzung von DL zur Vorhersage eines AKI stellt das von Tomasev et al. entwickelte Modell dar [16]. Grundlage bildete ein longitudinaler Datensatz aus elektronischen Patientenakten mit Daten von 703.782 erwachsenen Patienten aus 172 stationären und 1062 ambulanten Standorten in den USA. In dieser Kohorte aus US-Veteranen konnten 55,8 % aller stationären AKI und 90,2 % aller AKI mit Notwendigkeit einer Nierenersatztherapie mit einer Vorlaufzeit von bis zu 48 h prognostiziert werden. Diese Publikation zeigt das realistische Potenzial für einen derartigen Algorithmus, allerdings sind die Daten aus dem amerikanischen Veteranensystem (94 % Männer) nur bedingt auf Deutschland übertragbar. Zudem kamen auf jeden korrekten Alarm 2 falsch-positive Alarme, und es fehlte die Evaluation von prospektiven und Echtzeitdaten, sodass hier deutliches Verbesserungspotenzial für den klinischen Einsatz in der Routineversorgung besteht.

Demgegenüber konnten Alfieri et al. zeigen, dass eine kontinuierliche Vorhersage eines schweren AKI bei kritisch kranken Patienten auch über einen DL-Algorithmus möglich ist, der die Urinausscheidung als zentralen Parameter nutzt [17]. Dabei wurde ein DL-Algorithmus mit einer „klassischen“ logistischen Regressionsanalyse im Hinblick auf die Vorhersage eines AKI im Stadium II/III (definiert als Anstieg des Serumkreatinins bei gleichzeitiger Abnahme der Urinausscheidung) verglichen. Es wurden 2 retrospektive Datensätze mit 35.573 Intensivpatienten ausgewertet. Ausgangsdaten zur Urinausscheidung wurden verwendet, um die logistische Regression und das DL-Modell zu trainieren und zu testen. Das DL-Modell definierte eine bessere AUC („area under the curve“) von 0,89 (± 0,01) mit einer Sensitivität von 0,8 und einer Spezifität von 0,84 als die logistische Regression. Das DL-Modell war in der Lage, 88 % der AKI-Fälle mehr als 12 h vor ihrem Auftreten vorherzusagen: Von 6 Patienten, für die im DL-Modell ein AKI-Risiko identifiziert wurde, erlebten 5 das Ereignis. Im Gegensatz dazu entwickelten 2/12 Patienten ein AKI, die nach dem Modell nicht als gefährdet eingestuft wurden.

Eine Arbeitsgruppe um Azra Bihorac hat die insbesondere im Bereich der nephrologischen Intensivmedizin schnell voranschreitenden Entwicklungen zur AKI-Vorhersage in einem aktuellen Review zusammengefasst und stellt dabei auch Beispiele für andere ML-Modelle wie GBT(„gradient boosting trees“)-, Random-forest‑, SVM(„support vector machines“)-, Naive-Bayes- und k‑Nearest-Neighbor(kNN)-Algorithmus vor [18].

Bisherige Arbeiten zu ML-basierten Risikovorhersagesystemen haben überwiegend mit strukturierten Primärdaten (z. B. Labordaten) gearbeitet. Im klinischen Alltag werden Informationen vielfach auch als unstrukturierte Textdaten wie klinische Notizen, Arztbriefe oder (Radiologie‑)Berichte gespeichert. Diese haben das Potenzial, die Performanz von ML-basierten Risikovorhersagesystemen zu verbessern, und zwar durch die Integration der zusätzlichen Informationen [19]. Erste Arbeiten konnten bereits im Bereich AKI zeigen, dass semistrukturierte Daten zum Training vom ML-System erfolgreich eingesetzt werden können [20].

AKI und CKD – miteinander verbundene Syndrome

Eine wegweisende Arbeit, die den Zusammenhang zwischen einem AKI und der späteren Entwicklung einer CKD ausführlich illustriert, ist die Metaanalyse von Coca et al. [21]. In einem systematischen Review wurden dazu 13 Kohortenstudien mit insgesamt 1 Mio. Patienten ausgewertet, die zwischen 6 und 75 Monate nach einem AKI im Hinblick auf die Entwicklung einer CKD nachbeobachtet wurden. Patienten mit AKI hatten ein höheres Risiko für die Entwicklung einer CKD (gepoolte adjustierte Hazard Ratio [HR]: 8,8; 95 %-Konfidenzintervall [KI]: 3,1–25,5), für ESRD („end-stage renal disease“; gepoolte adjustierte HR: 3,1; 95 %-KI: 1,9–5,0) und für Mortalität (gepoolte adjustierte HR: 2,0; 95 %-KI: 1,3–3,1) als Patienten ohne AKI. Eine Arbeitsgruppe der Charité hat in einer aktuellen Studie Daten von mehr als 100.000 Patientinnen und Patienten retrospektiv untersucht, die von 2014 bis 2017 stationär behandelt wurden [22]. Dabei wurde bei rund 20 % dieser Patienten ein AKI diagnostiziert, was mit einer erhöhten kurz- und langfristigen Sterblichkeit (1,4- bis 15,4-fach) verbunden war. Zudem blieb ein AKI vielfach unerkannt: So lag die Rate korrekter Diagnosekodierungen in Stadium 1 lediglich bei 18 %, und selbst bei einem schweren AKI (Stadium 3) wurde die Diagnose bei nur 64 % korrekt kodiert.

AKI und CKD sind nicht als 2 unabhängige oder nacheinander auftretende Erkrankungen, sondern vielmehr als 2 miteinander verbundene Syndrome zu verstehen, die sich durch ähnliche Faktoren gegenseitig beeinflussen, nämlich durch die Schwere des AKI, das Stadium der CKD, Anzahl und Dauer der AKI-Episoden und die Ausprägung der Proteinurie. Gleichzeitig verbinden beide Entitäten die Risikofaktoren Alter, Ethnie, genetische Faktoren, Hypertonie, Diabetes mellitus und metabolisches Syndrom. Einer der größten Risikofaktoren für ein AKI ist eine bereits bestehende CKD, und umgekehrt ist das AKI ein zentraler Risikofaktor für die Entstehung einer CKD. Auch mögliche Outcome-Parameter (kardiovaskuläre Ereignisse, renale Komplikationen, ESRD, Behinderung, verringerte Lebensqualität und Tod) spiegeln dies wider [1].

KI zur Vorhersage von CKD und CKD-Progression

Aktuelle Forschungsansätze zur Nutzung von KI bei Patienten mit CKD konzentrieren sich insbesondere auf 2 Themengebiete:

  • Zusammenwirken von CKD und kardiovaskulären Ereignissen,

  • Vorhersage einer CKD-Progression.

In einem aktuellen Review geben Jamthikar et al. einen ausführlichen Überblick zu aktuellen Forschungsansätzen, die das Risiko von kardiovaskulären Ereignissen bei CKD-Patienten oder die Entwicklung einer CKD bei Patienten mit kardiovaskulären Vorerkrankungen mittels ML- oder DL-Algorithmen vorhersagen können [23]. Davon sind die Arbeiten von Forné et al. [24] und Alloghane et al. [25] von besonderem Interesse für die Nephrologie. Forné et al. benutzten einen Random Survival Forest (RSF), um signifikante Serumbiomarker für die Vorhersage von kardiovaskulären Ereignissen bei CKD-Patienten zu identifizieren. Von 19 Serumbiomarkern wurden Osteopontin, Osteoprotegerin, Matrix-Metalloproteinase 9 und VEGF („vascular endothelial growth factor“) als signifikante Prädiktoren von kardiovaskulären Ereignissen identifiziert, insbesondere für einzelne Subgruppen von Patienten. Alloghani et al. haben in einer aktuellen Studie 12 Arten von ML-basierten Algorithmen zur Vorhersage des CKD-Risikos bei Patienten mit hohem kardiovaskulären Risikoprofil verglichen. Dabei war ein Polynomial-Support-Vector-Machine-Algorithmus mit einer Effizienz von 93,4 % und einer Klassifikationsgenauigkeit von 91,7 % das genaueste Modell.

Ein zweites Forschungsfeld im Bereich KI und CKD beschäftigt sich mit der Vorhersage einer CKD-Progression. Dazu sollen in Zukunft v. a. Ultraschallbilder systematisch ausgewertet werden. Kuo et al. haben 4505 hochwertige Ultraschallbilder von 1299 Patienten ausgewählt, um anhand derer einen DL-Algorithmus zu trainieren, der einen eGFR-Verlust aus den Ultraschallbildern unter Verwendung eines DCNN („deep convolutional neural network“) vorhersagt [26]. Die Beziehung zwischen dem KI-Modell und der auf konventionelle Weise ermittelten eGFR wies einen Pearson-Koeffizienten von 0,741 auf und war deutlich präziser als die jeweilige Expertenmeinung. Auch ein Modell zur Vorhersage einer CKD-Progression unter Nutzung von wenigen Routinelabordaten zeigte erste vielversprechende Ergebnisse [27]. Zudem werden im Rahmen des Projekts BigMedilytics Ansätze für ein Vorhersagemodell aus routinemäßig erhobenen Krankenkassendaten ohne Laborwerte entwickelt. Dies könnte ein Weg sein, frühzeitig Patienten „at risk“ für eine CKD zu erkennen und einer adäquaten Behandlung zuzuführen [28].

Einen Überblick über KI-Modelle für einzelne glomeruläre Erkrankungen liefert der im Jahr 2022 erschienene Review von Schena et al. [29]. Darin kommen die Autoren zu dem Fazit, dass ML-Algorithmen zur frühzeitigen Erkennung einer CKD und zur Abschätzung der eGFR mittels Nierenultraschall vielversprechend, aber noch nicht solide genug sind, um Anwendung in der klinischen Praxis zu finden.

Zusammenfassung und Ausblick

KI bietet ein enormes Potenzial, das Management von AKI und CKD effektiver und effizienter zu gestalten. Dabei spielen neben der Integration in den Workflow die zur Verfügung stehenden Primärdaten, also die Eingabeinformationen, eine entscheidende Rolle. Es gibt einen großen Entwicklungsbedarf zur intelligenten Nutzung bereits vorhandener Daten in der Medizin, weil relevante klinische Daten in Echtzeit heute (zumindest technisch) einfach analysiert und Therapiemaßnahmen sofort abgeleitet werden können. Einer erfolgreichen Umsetzung und Implementierung in Deutschland stehen aber häufig Infrastrukturprobleme wie z. B. das Fehlen eines datenschutzkonformen, interoperablen Daten-Repositorys im Krankenhaus entgegen. Weitere häufige Probleme stellen Datenlücken und mangelnde Datenqualität dar, die zum Teil auf unzureichende Authentifizierungs- und Standardisierungsvorgaben bei unterschiedlichen KIS beruhen, sodass mögliche Verlaufswerte eines Patienten nicht analysiert werden können und die Entwicklung von „personal health trains“ gehemmt wird. Durch den nur lückenhaften Einsatz von Standards wie LOINC/UCUM/SNOMED/HL7-FHIR sind Daten nur schwer auswertbar und Warnsysteme nicht von einem Krankenhaus auf ein anderes übertragbar.

Fazit für die Praxis

  • Künstliche Intelligenz (KI) bietet ein enormes Potenzial, das Management von akutem Nierenversagen (AKI) und hronisher Nierenerkrankung (CKD) im ambulanten und stationären Sektor effektiver und effizienter zu gestalten.

  • Im Zentrum der Forschung stehen Machine-Learning- und Deep-Learning-Modelle zur Vorhersage von AKI und CKD-Progression.

  • Herausforderungen auf dem Weg zur Implementierung von KI in den Klinikalltag sind Infrastrukturprobleme wie z. B. das Fehlen eines datenschutzkonformen, interoperablen Daten-Repositorys.

  • Um langfristig Akzeptanz und Nutzen innerhalb der Nephrologie zu erreichen, müssen Algorithmusergebnisse nachvollziehbar und konkret anwendbar sein.